1. Einleitung

Die Geschichte der Lösungsversuche der Palästina-Frage ist eine Geschichte der fortlaufenden Minimierung palästinensischer Rechte. Nach der ethnischen Säuberung Palästinas 1948 zielten die internationalen Lösungsversuche auf die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und die Lösung der Jerusalem-Frage. Seit der israelischen Besetzung der Westbank und des Gazastreifens 1967 ging es unter der Führung der USA nur noch um die Aufhebung dieses neuen Unrechts, das zuvor begangene wurde stillschweigend als Fait accompli »normalisiert.«

Die Zwei-Staaten-Option, die in den 1970er Jahren von den USA und Europa ins Spiel gebracht wurde, sollte anfangs die palästinensischen Rechte auf Selbstbestimmung und Rückkehr zumindest teilweise verwirklichen. Während des Oslo-Prozesses wurden die Rechte weiter beschnitten und es ging es nur noch um begrenzte Selbstverwaltung in einem Teil der von Israel weiterhin kontrollierten, 1967 besetzten Gebiete. Die Verhandlungen drehten sich in zunehmendem Maße nur noch darum, wie groß der Teil der selbstverwalteten Gebiete und wie eng oder weit die Grenzen der Selbstverwaltung sein sollten. Durch die Fixierung auf Konfliktlösung statt auf Rechte wurde das Wesentliche aus den Augen verloren: die Erlangung des Rechte der Palästinenser innerhalb und außerhalb des historischen Palästinas auf Rückkehr und Selbstbestimmung.

Die Möglichkeit zur Realisierung eines souveränen palästinensischen Staates an der Seite Israels im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung hat sich als Illusion herausgestellt. Alles deutet darauf hin, dass es überhaupt keine Lösung der Palästina-Frage geben wird, solange der Zionismus weiter besteht.

Nach dem Scheitern der letzten, unter Druck der USA zustande gekommenen Verhandlungsrunde zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde im April 2014 wird auch in europäischen diplomatischen Kreisen zunehmend davon ausgegangen, dass die Zwei-Staaten-Lösung passé ist, dass Israel durch fortgesetzten Siedlungsbau, Landraub und die faktische Annexion von 60% der Westbank (Zone C) die Möglichkeit zur Errichtung eines palästinensischen Staates zunichte gemacht hat. Durch die Siedlungen und die Integration der Infrastruktur und Verkehrsverbindungen ist faktisch bereits ein Staat auf dem Boden des historischen Palästinas entstanden. Dem ethnokratischen Charakter Israels gemäß ist dies ein Apartheidstaat, in dem die palästinensische Minderheit innerhalb der Grünen Linie einer systematischen institutionellen Diskriminierung unterworfen ist, während die Palästinenser in der Westbank in Ghettos eingesperrt und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen sowie ethnischen Säuberungsprozessen ausgesetzt sind.

Da dies auf die Dauer keine Perspektive sein kann, schlägt die aus Palästinensern und anti-zionistischen Israelis bestehende Ein-Staat-Bewegung als Alternative dazu einen demokratischen, säkularen Staat auf dem Boden des historischen Palästinas vor, in dem Christen, Juden und Muslime – einschließlich der 1948 und 1967 vertriebenen Flüchtlinge – auf der Basis von gleichen Rechten und gemeinsamer Staatsbürgerschaft zusammen leben.

Viele bezeichnen die Ein-Staat-Lösung als unrealistisch. Als Hauptargument für die Unrealisierbarkeit des demokratischen säkularen Staates auf dem Boden des historischen Palästinas wird stets angeführt, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis sie nicht wolle. Dieses Argument zeugt von statischem Denken. Es bleibt dem Ist-Zustand verhaftet und schließt die Möglichkeit der Veränderung aus. Da es in Palästina um die Abschaffung kolonialer Privilegien geht, ist es selbstverständlich, dass diejenigen, die in ihren Genuss kommen – nämlich alle jüdischen Israelis –, diese zunächst nicht freiwillig aufgeben wollen. In anti-kolonialen Kämpfen kann jedoch der aktuelle Ist-Zustand niemals als unveränderbar gegebene, gleichsam in Stein gemeißelte Realität betrachtet werden. Situationen, Kräfteverhältnisse und Menschen verändern sich. Die Meinung der Siedlerbevölkerung ist nicht der einzige und am Ende auch nicht der entscheidende Faktor, der über den Ausgang des Konflikts entscheidet. In Südafrika war die überwiegende Mehrheit der Siedlerbevölkerung fast bis zum Schluss gegen die Aufhebung der Apartheid. Die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse und die internationale Boykottbewegung waren ausschlaggebend dafür, dass das Apartheidregime dennoch aufgehoben werden musste. Heute befürwortet das die Mehrheit der weißen Südafrikaner.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch im Falle Israels eine Dynamik, die die Überwindung des Zionismus in absehbarer Zeit durchaus möglich erscheinen lässt. Seit dem Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 ist der Zionismus in eine Krise geraten, die sich vor allem an drei Punkten zeigt: in mehreren verlorenen Kriegen gegen arabische Widerstandsbewegungen, im Verlust der jüdisch-israelischen Bevölkerungsmehrheit auf dem Boden des historischen Palästinas und der Entwicklung der internationalen Boykott-Desinvestment-Sanktionen-Kampagne. Als weitere Faktoren kommen hinzu: die ersten Risse und Brüche im zionistischen Konsens der jüdisch-israelischen Bevölkerung, die Abwendung vieler US-amerikanischer und europäischer Juden vom Zionismus und die Schwächung der USA.

Unter dem Etikett »Ein-Staat-Lösung« kursieren indessen die verschiedensten Vorstellungen und Modelle, die nicht alle mit den Prinzipien einer emanzipatorischen Ein-Staat-Bewegung, die auf fortlaufenden internationalen Konferenzen sowie von ihren Vordenkern formuliert werden, übereinstimmen. So wird zum Beispiel auch auf der zionistischen Rechten eine »Ein-Staat-Lösung« propagiert, die jedoch mit den Vorstellungen der fortschrittlichen Ein-Staat-Bewegung nur wenig zu tun hat. Diese Variante der Ein-Staat-Lösung lässt sich auf den Begriff Groß-Israel bringen: sie beinhaltet die Annexion der Westbank mit teilweisen Bürgerrechten für die palästinensische Bevölkerung. Der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibeh, der der Palästinensischen Autonomiebehörde nahe steht, brachte ein auch in Deutschland wahrgenommenes Buch heraus, in dem er ebenfalls für eine Annexion der 1967 besetzten Gebiete durch Israel eintritt, wobei die Palästinenser auf das Recht auf Rückkehr und alle anderen politischen und nationalen Rechte verzichten sollten. Dieser Vorschlag kommt den Ein-Staat-Vorstellungen der israelischen Rechten sehr nahe, die allerdings den annektierten Palästinensern noch weniger Rechte einräumen möchten als Nusseibeh. Von der Mehrheit der Palästinenser werden Nusseibehs Vorschläge als Verstöße gegen den nationalen Minimalkonsens abgelehnt und sie haben keinerlei Gemeinsamkeit mit der sich entwickelnden Ein-Staat-Bewegung, die auf Entkolonisierung zielt. Daneben gibt es verschiedene Vorschläge von kritischen Israelis und internationalen Wissenschaftlern zu einer Ein-Staat-Lösung, die stärker zionistisch geprägt sind. Aber einzig die emanzipatorische Ein-Staat-Bewegung kann einen Weg zu einer tatsächlichen Lösung des Konflikts aufzeigen, in der sowohl die Rechte der einheimischen palästinensischen Bevölkerung als auch die Rechte der eingewanderten Siedlerbevölkerung und ihrer Nachkommen gewahrt werden. An drei Punkten werden die Widersprüche zwischen der Linie der genuinen demokratischen Ein-Staat-Bewegung und stärker zionistisch geprägten Vorschlägen zu einer Ein-Staat-Lösung am deutlichsten. Der erste Punkt ist die Frage, ob der neue gemeinsame Staat ein formal binationaler Staat sein soll, in dem Ethnie und Religion weiterhin bestimmend sind oder ob er ein demokratischer Einheitsstaat sein soll, in dem Demokratie und Staatsbürgerschaft über ethnischer Zugehörigkeit, Nationalismus und Religion stehen. Die Ein-Staat-Bewegung hat sich für die zweite Option entschieden. Der zweite Punkt, an dem sich stärker zionistisch geprägten Vorschläge von der emanzipatorischen Ein-Staat-Bewegung scheiden, ist das Recht auf Rückkehr der 1948 und 1967 vertriebenen Palästinenser. Während mehrere Vorschläge von einzelnen jüdischen Israelis oder internationalen Wissenschaftlern das Recht auf Rückkehr ausklammern oder reduzieren möchten, misst die emanzipatorische Ein-Staat-Bewegung diesem eine zentrale Bedeutung bei. Der neue gemeinsame Staat wird gedacht als demokratischer Staat all jener, die jetzt in dem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss leben UND der zurückgekehrten palästinensischen Flüchtlinge sowie ihrer Nachkommen. Der dritte Punkt, an dem sich die verschiedenen Ein-Staat-Vorschläge voneinander unterscheiden, ist die Frage der Entkolonisierung. In den Reihen der Ein-Staat-Bewegung wird ein Prozess der Entkolonisierung – der in Israel gleichbedeutend mit der Entzionisierung ist – als unverzichtbare Voraussetzung für eine Ein-Staat-Lösung angesehen. Die emanzipatorische Ein-Staat-Lösung zielt auf die Befreiung vom zionistischen Siedlerkolonialismus, während die verschiedenen zionistisch geprägten Ein-Staat-Modelle auf dessen Fortsetzung in modifizierter Form zielen. Angesichts des Scheiterns der Zwei-Staaten-Lösung bleibt jetzt nur noch der Weg in einen gemeinsamen demokratischen Staat, wenn der Konflikt nicht für die eine oder andere Seite in eine Katastrophe führen soll. Alle Versuche, die israelische Apartheid aufrechtzuerhalten, werden nur zu einem Andauern des Konflikts mit neuen vorhersehbaren blutigen Höhepunkten und einer anhaltenden Destabilisierung der arabischen Welt führen. Alle Konfliktlösungsstrategien, die eine Befriedung der Palästinenser und Stabilität in der Region erreichen wollen, ohne die international garantierten Rechte der Palästinenser – primär das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung – zu verwirklichen, sind zum Scheitern verurteilt. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Vorschläge zu einer regionalen Lösung, bei der die arabischen Nachbarstaaten Israels einbezogen werden sollen. Die arabischen Aufstände von 2010/2011 haben nicht zuletzt gezeigt, wie radikal und tief verankert der Antizionismus in der arabischen Bevölkerung ist. Eine so weit gehende Normalisierung der Beziehungen mit dem Kolonialstaat Israel ist für die arabischen Regierungen nicht möglich, wenn sie nicht erneut unter starken Druck ihrer Bevölkerungen geraten wollen.

Die positive Rezeption meines ersten Buches1 hat gezeigt, wie sehr sich der Blick der kritischen Öffentlichkeit auf Palästina und Israel in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Die alten »Antisemitismus«- Vorwürfe greifen längst nicht mehr in dem Maße wie zuvor. Sie vermögen kaum mehr, die kritische Auseinandersetzung mit dem zionistischen Siedlerkolonialismus zu verhindern. Die demagogische Trickkiste hat jedoch noch mehr auf Lager. So wird Kritikern der israelischen Politik gerne vorgeworfen, sie wären einseitig, und unablässig wird »Ausgewogenheit« eingefordert. »Ausgewogenheit« bedeutet jedoch in diesem Fall einzig, dass die vorgegebenen roten Linien nicht überschritten werden dürfen, was nichts anderes heißt als dass zwar hier und da Kritik geübt werden, aber nicht außerhalb des zionistischen Narrativs gedacht werden darf. Da sowohl die Politiker aller Parteien, die Mainstream-Medien und die bürgerliche Wissenschaft im Wesentlichen auf der Grundlage der zionistische Sichtweise argumentieren, erscheint diese als objektiv, obwohl sie ihrem Wesen nach einseitiger ist als jede Kritik am zionistischen Siedlerkolonialismus. Wenn zum Beispiel Israel als »Demokratie« bezeichnet wird, so ist das keine neutrale Feststellung, sondern die Wiedergabe dessen, wie Israel sich selbst sieht. In der Forschung wird Israel als Ethnokratie oder Siedlerdemokratie bezeichnet. Ethnokratie bedeutet, dass Israels Staatsverständnis auf einer ethnisch-religiösen Grundlage basiert und nur Juden volle Staatsbürgerrechte und uneingeschränkten Zugang zu Ressourcen haben. Siedlerdemokratie bedeutet, dass die exklusive Siedlergesellschaft unter sich demokratisch ist, die einheimische Bevölkerung aber, die im Kernstaat Israel immerhin über 20% der Bevölkerung ausmacht, daran nicht beteiligt wird. Wer Israel als Demokratie bezeichnet, argumentiert aus der Perspektive der Siedlergesellschaft und zeigt, dass er Partei ergreift.

In einem kolonialen Konflikt wie in jedem anderen Konflikt, dem fundamentale Ungerechtigkeiten und Unterdrückung zugrunde liegen, dient die Forderung nach Ausgewogenheit nur dem Schutz des Aggressors. Ausgewogenheit heißt, dass über die Untaten der Kolonialisten nur berichtet werden darf, wenn zugleich auch reale oder vermeintliche Untaten der Kolonisierten erwähnt werden. Unterdrücker und Unterdrückte werden auf die gleiche Stufe gestellt. Wenn überdies den Narrativen beider Seiten die gleiche Berechtigung und der gleiche Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden, wird Erkenntnis unmöglich. Ausgewogenheit ist das Gegenteil von wissenschaftlicher Arbeit, deren Aufgabe die Erkenntnis ist oder, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es formulierte, »die Anstrengung des Begriffs.«

Petra Wild

Berlin, im Januar 2015

1. Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat. Wien 2013

2. Der Status quo: Die bittere Realität der Zwei-Staaten-Lösung

»Die Zwei-Staaten-Lösung, die den Mainstream-Diskurs über die Politik zu dieser Sache dominiert, ist vor allem eine Lösung für ein Problem: Israels Problem.« (Youssef Munayyer)2

Seit dem Beginn der Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern vor 23 Jahren in Madrid und Oslo wird im politischen, medialen und wissenschaftlichen Mainstream vom »Friedensprozess« und der »Zwei-Staaten-Lösung« gesprochen. Dieser wahrscheinlich längste Verhandlungsprozess in der neueren Geschichte hat sich indessen zum Selbstzweck entwickelt, dessen primäre Funktion es ist, Israel Zeit für weiteren Landraub und Expansion in der Westbank einzuräumen und es vor internationalen Sanktionen zu schützen.

Diejenigen, die sich auf die »Zwei-Staaten-Lösung« und den »Friedensprozess« beziehen, tun es in der Regel in abstracto, ohne Ansehen der konkreten Ergebnisse dieses Prozesses und der Realität in Palästina, die er geschaffen hat. Der Oslo-Prozess war kein Friedensprozess und sein Ziel war nicht »die Lösung des Nahost-Konflikts« sondern die Unterwerfung der Palästinenser und die Liquidierung der Palästina-Frage. Ein Blick auf die Oslo-Abkommen von 1993, mit denen der Prozess eingeleitet wurde, zeigt, dass eine reale Zwei-Staaten-Lösung in dem Sinn, dass die Palästinenser die 1967 besetzten Gebiete einschließlich Ost-Jerusalem zurückbekommen, um darauf einen unabhängigen und souveränen Staat zu errichten, niemals beabsichtigt war.

Die Oslo-Abkommen

Im September 1993 unterzeichneten die PLO und Israel, begleitet von großem und euphorischem Medienrummel auf dem Rasen vor dem Weißen Haus die Oslo-Abkommen, denen das Kräfteverhältnis eingeschrieben war, aus dem sie hervorgingen. Es war die Zeit, in der das internationale Kräfteverhältnis sich durch die Implosion des realsozialistischen Lagers eindeutig zugunsten des kapitalistischen Lagers gewendet hatte. Die USA waren zur einzigen Weltmacht geworden und nutzten diese neue Stärke, um mit der Neuordnung der arabischen Welt zu beginnen. Der Krieg gegen den Irak 1991 war der erste Schritt, die Oslo-Abkommen der zweite. Dadurch sollten die Palästinenser befriedet, Israels Position gestärkt und der Boden für die neoliberale Durchdringung der Region bereitet werden. Die PLO war zu diesem Zeitpunkt politisch und finanziell am Nullpunkt, sie war so schwach wie zu kaum einem anderen Zeitpunkt in ihrer Geschichte. Dieses Kräfteverhältnis erklärt die »wahrhaft erstaunlichen Proportionen der palästinensischen Kapitulation«, die Edward Said feststellte, der das Abkommen als »ein Instrument der palästinensischen Aufgabe, ein palästinensisches Versailles« bezeichnete.3 Die Verhandlungen wurden unter Schirmherrschaft der USA, die dazu ehemalige Israel-Lobbyisten wie Dennis Ross entsandte, und unter Ausklammerung internationalen Rechts und aller relevanten UNO-Resolutionen geführt.

Die PLO erkannte das Existenzrecht des Staates Israel an, während Israel lediglich die PLO, aber kein einziges palästinensisches Recht, anerkannte. Für dieses minimale israelische Zugeständnis beendete die PLO die Intifada, widerrief ihre Charta, distanzierte sich von Gewalt und Terrorismus sowie von allen relevanten UNO-Resolutionen, die in Bezug auf die Palästina-Frage verabschiedet worden waren. Es wurde festgelegt, dass sich Israel schrittweise aus allen palästinensischen Städten außer Jerusalem zurückziehen und sie der Kontrolle der neugegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) übergeben würde. Den größten Teil des Landes behielt es. Im Rahmen der Oslo-Abkommen wurden die Westbank und der Gaza-Streifen, die von der UNO als besetzte Gebiete bezeichnet werden und deren Rückgabe gefordert wird mit Einverständnis der PLO-Führung als »umstrittene Gebiete« neu definiert, über die erst am Schluss in den »Endstatus-Verhandlungen« gesprochen werden sollte. Auch alle anderen zentralen Fragen wie der Status Jerusalems und die Flüchtlingsfrage wurden bis dahin verschoben. Ein Hauptthema der Verhandlungen war die Sicherheit Israels, für deren Gewährleistung die PLO nun eingespannt wurde. Sicherheit und Menschenrechte der Palästinenser waren kein Thema. Der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin erklärte auf einer Pressekonferenz am 13. September 1993, dass die Oslo-Abkommen keine Souveränität für die Palästinenser bedeuteten und dass Israel die Kontrolle über die 1967 besetzten Gebiete behalten würde, ebenso wie den Jordan, die Grenzen zu Ägypten und Jordanien, das Meer, Jerusalem, die Siedlungen und die Siedlerstraßen. Der Linkszionist Amos Oz aus dem Friedenslager bezeichnete die Oslo-Abkommen als »zweitgrößten Sieg in der Geschichte des Zionismus.« Da in den Abkommen keine spezifischen Mechanismen erwähnt wurden, mit deren Hilfe der Übergang von der Interimsperiode zum Endstatus bewerkstelligt werden sollte, fragte Edward Said bereits 1993: »Bedeutet das, beunruhigender Weise, dass die Interimsphase die Endphase sein kann?«4

Im Oslo II-Abkommen von 1995 wurde die Westbank in die Zonen A, B und C aufgeteilt. Zone A (18% der Westbank), die die großen palästinensischen Städte umfasst, wurde der Kontrolle der Autonomiebehörde unterstellt, Zone B (20%) wurde der zivilen Kontrolle der Autonomiebehörde unterstellt, während Israel für die Sicherheit zuständig ist, Zone C (62%) verblieb unter der vollständigen Kontrolle Israels. Dadurch wurde die Grundlage für die Bantustanisierung der Westbank gelegt. Das Pariser Protokoll über die ökonomischen Beziehungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) von 1994 sicherte Israel die komplette Kontrolle aller Außengrenzen und damit auch über die palästinensischen Importe und Exporte. Dadurch verstärkte sich die Kontrolle Israels über die palästinensische Wirtschaft. Israelische Waren machen etwa 80% der palästinensischen Importe aus und der Hauptteil der palästinensischen Exporte geht ebenfalls nach Israel. Sogar die palästinensischen Steuereinnahmen wurden in Israels Hände gelegt. Die indirekten Steuern, die auf Importe für die 1967 besetzten Gebiete erhoben werden und 60% der Einnahmen der PA ausmachen, werden von Israel eingesammelt und dann an die Autonomiebehörde weitergeleitet. In der Vergangenheit hat Israel diese Steuereinnahmen wiederholt zurückgehalten, wenn es mit der Politik der Autonomiebehörde nicht einverstanden war. In keinem der im Rahmen des Oslo-Prozesses zwischen 1993 und 1999 geschlossenen Abkommen war die Rede von der Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates in den 1967 besetzten Gebieten. Es war lediglich eine Annahme der PLO und einiger internationaler Sponsoren, dass der »Friedensprozess« dahin führen würde.5 Der Oslo-Prozess verpflichtete die Autonomiebehörde dazu, als Sicherheits-Subunternehmer für Israel zu arbeiten. Der Polizeiapparat der Autonomiebehörde, der eigens dazu von den USA ausgebildet wurde, geht mit eiserner Faust gegen jeden Dissens vor. Demonstrationen und Proteste anderer Art sowie Kritik an der Autonomiebehörde und erst recht Widerstand gegen Israel werden nicht geduldet. Willkürliche Verhaftungen und Folter sind an der Tagesordnung. Dabei arbeitet der palästinensische Repressionsapparat eng mit der israelischen Armee und den israelischen Geheimdiensten zusammen. Er sammelt Informationen für sie und legt Dossiers über Mitglieder der palästinensischen Opposition an, die er ihnen übergibt. Außerdem befolgt er Anweisungen des israelischen Militärgouverneurs und verhaftet im Auftrag des berüchtigten Inlandsgeheimdienstes Shin Bet palästinensische Aktivisten. Wenn die israelische Armee selbst Operationen in dem Gebiet unternimmt, das nominell unter der Kontrolle der Autonomiebehörde steht, wird die palästinensische Polizei vorab informiert und verschwindet von den Straßen. »Wie die Dinge liegen, könnten die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde die einzige militärische Truppe der Welt sein, die speziell dazu bewaffnet und trainiert werden, um ihre Feinde zu schützen,« charakterisiert Ahmad Samih Khalidi die Rolle des palästinensischen Sicherheitsapparates in einer Studie von 2008.6 Der palästinensische Sicherheitsapparat wird gefürchtet und über 70% der Bevölkerung trauen sich nicht, den Mund aufzumachen und die Autonomiebehörde zu kritisieren. Palästinenser aus Ramallah erklärten gegenüber der »International Crisis Group«: »Wenige haben Respekt vor den palästinensischen Sicherheitskräfte, aber wir fürchten sie.« Sie schildern die Rolle des Sicherheitsapparats als überaus negativ: »Die Sicherheitskräfte tragen direkt zur Fragmentierung des palästinensischen sozialen Gewebes bei und unterminieren die Demokratie … Sie verhalten sich im allgemeinen, als stünden sie über dem Gesetz. In den letzten drei Jahren haben wir uns als Gesellschaft zurückentwickelt. Das ist kein Fortschritt.«

Zu diesem systematisch erzeugten »Klima der Angst« kommt hinzu, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung zur Sicherung ihres Lebensunterhalts von der Autonomiebehörde abhängig ist. Niemand will riskieren, durch Kritik an der Autonomiebehörde seinen Arbeitsplatz zu verlieren.7 Die Autonomiebehörde wird oft mit den Bantustan-Regierungen in Südafrika oder der »Südlibanesischen Armee (SLA)« verglichen, die 1978 von Israel aufgebaut wurde, um die israelische Grenze zu schützen. Und die Rolle von »Präsident« Mahmoud Abbas, dessen Amtszeit bereits im Januar 2009 abgelaufen ist, wird mit der von Zulu-Chief Kwazulu Buthelezi oder Marshall Petain vom französischen Vichy-Regime in einem Atemzug genannt.8 Der amerikanisch-palästinensische Politikwissenschaftler Joseph Massad schrieb bereits 2002 über sie: »Die PA repräsentiert niemand anderen mehr als sich selbst. Sie sollte als Kollaborateursführung, die sich nicht von der zionistischen Führung unterscheidet, die historisch immer mit den Feinden der Juden kollaborierte, auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden.«9 Die Autonomiebehörde hat dementsprechend wenig Basis in der palästinensischen Bevölkerung. Ahmad Samih Khalidi beschrieb die Position der Autonomiebehörde in einer Studie von 2008 wie folgt: »Heute lebt die PA/PLO-Führung in einer isolierten Blase. Ihr effektiver Auftrag ist auf die paar Inseln begrenzt, die sie in der Westbank kontrolliert. Seit der Auflösung der Regierung der nationalen Einheit im Juni 2007 regiert sie in glattem Widerspruch zu ihrer Behauptung eines demokratischen Mandats per Order und Dekret. Ihre Führer haben mit wenigen Ausnahmen kaum direkten Kontakt mit den Menschen in den besetzten Gebieten und keinerlei Enthusiasmus gezeigt für irgendein Engagement von Belang mit ihrer angeblichen Bevölkerungsbasis. Ihre politische Interaktion mit der Diaspora ist noch begrenzter und ihr Image außerhalb des Landes ist ganz und gar negativ.«10

Statt den israelischen Kolonialismus zu beenden, hat der Oslo-Prozess zu einer Verdopplung der Besatzung geführt, indem er in Gestalt der Autonomiebehörde einen zusätzlichen Puffer zu dessen Schutz eingeführt hat. Der Gründer der »Palästinensischen Nationalen Alternative«, Mustafa Barghouthi, empörte sich 2009: »Es ist schändlich. Die Menschen können nicht mit zwei Besatzungen auf einmal leben.«11

Während des gesamten Oslo-Prozesses intensivierte Israel den Siedlungsbau in den Gebieten, über die verhandelt wurde, um so fortwährend neue Tatsachen zu schaffen. Wie sich Israel den Endstatus vorstellte, zeigte sich bei den Endstatus-Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000.

Die Palästinenser sollten 76% der Westbank in drei miteinander nicht verbundenen Kantonen bekommen. Die Siedlungen, die Siedlerstraßen, das Jordantal, Jerusalem, den Zugriff auf palästinensische Ressourcen und die Kontrolle der Grenzen wollte Israel behalten.12 Dem konnte Jassir Arafat nicht zustimmen, wenn er nicht politischen Selbstmord begehen wollte. Nachdem es Israel nicht gelungen war, die Unterschrift Arafats für die Modifizierung seines siedlerkolonialistischen Projekts in den 1967 besetzten Gebieten zu bekommen, ging es zur unilateralen Umsetzung desselben über. 2006 annektierte es faktisch das fruchtbare und wasserreiche Jordantal und intensivierte die ethnische Säuberung der einheimischen Bevölkerung in allen Teilen von Zone C, die mehr als 60% der Westbank ausmachen, die es zu behalten beabsichtigt. Die Verhandlungen, die in den folgenden Jahren von den USA initiiert wurden, wichen nicht wesentlich von diesen israelischen Vorgaben ab.

Für Israel war der Oslo-Prozess ein voller Erfolg. Durch den »Friedensprozess« konnte die einheimische Bevölkerung formal aus dem Staatsgebiet Israel ausgegliedert werden, um so die gefährdete jüdische Bevölkerungsmehrheit im Land aufrechterhalten. Indem einheimische Mittelsmänner dafür eingespannt wurden, sie unter Kontrolle zu halten, konnte eine relative Befriedung der Kolonisierten erreicht und die internationale Isolation beendet werden. Die arabischen Staaten gaben ihren Boykott, der Israel zwischen 1948 und 1995 40 Milliarden Dollar gekostet hatte, weitgehend auf und internationale Unternehmen konnten nun in Israel investieren, ohne den sekundären Boykott arabischer Handelspartner befürchten zu müssen.13

Der Oslo-Prozess, war die Lösung für das alte zionistische Problem, sich zwar das Land, aber nicht die darauf lebenden Menschen aneignen zu wollen.

Was als »Friedensprozess« und »Zwei-Staaten-Lösung« verkauft wird, ist nichts anderes als die Schaffung kleiner, voneinander isolierten palästinensischen Enklaven, die von israelisch kontrollierten Gebieten umgeben sind, in denen einheimische Mittelsmänner die Verwaltung übernehmen und die Bevölkerung unten halten. Diese Enklaven entbehren der minimalsten Charakteristika von Souveränität und Unabhängigkeit. Zwanzig Jahre nach Oslo konzentriert sich die einheimische Bevölkerung in diesen kleinen ethnischen Enklaven, die an den Rändern des einheitlichen und integrierten Groß-Israel liegen, das während des Oslo-Prozesses geschaffen wurde. Sollte doch noch ein »Friedensabkommen«, zwischen Israel und der Autonomiebehörde zustande kommen, so wird es nicht mehr beinhalten als die Absegnung dieses in den Oslo-Jahren geschaffenen Zustands.

Der Oslo-Prozess hat das palästinensische Befreiungsprojekt zerstört, sowohl seine Inhalte als auch seine Strukturen. Daher wird er von Palästinensern oft als zweite Nakba nach der Vertreibung von 1948 bezeichnet. Er reduzierte die palästinensische Gesamtbevölkerung mit Zustimmung und unter Beteiligung der PLO auf die Palästinenser in den 1967 besetzten Gebiete und das historische Land Palästina auf die Westbank und den Gaza-Streifen, die zusammen nur 22% des historischen Landes ausmachen. Er reduzierte den Konflikt mit Israel, der auf die Kolonisierung und ethnische Säuberung des historischen Palästinas 1948 zurückgeht, auf die Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens.14 Durch diese Politik wurde die palästinensische Gesamtbevölkerung gespalten und gegeneinander ausgespielt. Die Flüchtlinge sollten auf ihre Rechte verzichten, damit wenigstens die Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten einen Teil ihrer Rechte erhalten. Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung lebt jedoch außerhalb der 1967 besetzten Gebiete. 38% der Palästinenser leben in den 1967 besetzten Gebieten einschließlich Jerusalem, 12% der Palästinenser leben innerhalb der Grünen Linie und 50% leben gezwungenermaßen im Exil. Zwei Drittel aller Palästinenser sind Flüchtlinge.15

Die PA, die auf den verbliebenen 8% des historischen Palästinas einen palästinensischen Staat auszurufen gedenkt, hofft natürlich auf eine Zwei-Staaten-Lösung, die auch von Israel sanktioniert wird, denn damit würde ihr Status als koloniale Hilfstruppe Israels zementiert und aufgewertet. Wirtschaftlich nicht lebensfähig, wäre dieser palästinensische Pseudostaat wie jetzt auch auf die Finanzierung durch die EU und andere Geldgeber angewiesen. Für die palästinensische Bevölkerung würde sich durch diesen »Staat« an ihrer Situation nichts ändern.

Israel hat jedoch kein Interesse mehr an einer »Zwei-Staaten-Lösung«, wie Joseph Massad bereits 2006 feststellte: »Während die PA und ihre begünstigten Klassen darum kämpfen, den ›Prozess‹ am Leben zu halten, haben die Israelis alle Anzeichen dafür gezeigt, dass der ›Prozess‹ für sie schon vor langer Zeit zu Ende war. Für sie war der Oslo-Prozess ein notwendiger, aber historisch begrenzter Schritt, um die palästinensische Führung zu kooptieren, Israels Griff auf gestohlenes palästinensisches Land zu festigen und Israels diplomatischen Status sowohl in der arabischen Welt als auch global zu normalisieren. Da die Israelis alle diese Ziele erreicht haben, hat der Prozess für sie keinen Zweck mehr.«16

2. Munayyer, Youssef, Thinking outside the two-state box, The New Yorker 20.9.2013

3. Said, Edward W., The Morning After, New Left Review Vol.15 No.20, 21.10.1993

4. Ebd.

5. Massad, Joseph, Repetent Terrorists or Settler Colonialism revisited. The PLO-Israeli-Agreement in Perspective, in: ders., The Persistence of the Palestinian Question, Abingdon/New York 2006, S.96-103; Massad, Joseph, How Surrendering Palestinian Rights became the Language of Peace, Electronic Intifada 27.1.2010; Hanieh, Adam, The Oslo Illusion, Jacobin Issue 10, 2013, See Hillal, Jamil, Reclaiming the Palestinian Narrativee, Al-Shabaka, 7.1.2013

6. Khalidi, Ahmad Samih, The Palestinian National Movement: What went wrong? The Jerusalem Fund, Distinguished Lecture Series Number 4, Washington D.C. 2008, S. 5

7. Vlazna, Vacy, The PA: Israel’s Doppelgänger, Al-Ahram Weekly 3.4.2014, siehe auch International Crisis Group Squaring the Circle: Palestinian Security Reform under Occupation, Ramallah u. a. 7.9.2010

8. Vgl. Khalidi, a.a.O., S.4

9. Massad, Joseph, The Binational State und the Reunification of the Palestinian People, Global Dialogue Volume 4 Nr. 3, Summer 2002

10. Khalidi, Ahmad Samih, The Palestinian National Movement: What went wrong ?, The Jerusalem Fund, Distinguished Lecture Series Number 4, Washington D.C. 2008, S. 4

11. Thrall, Nathan, Our Man in Palestine, New York Review of Books 14.10.2010

12. Abunimah, Ali. One Country. A bold Proposal to end the Israeli-Palestinain Impasse, New York 2006, S. 67-72; Palestine Aceademic Society for the Study of International Affairs (PASSIA), Palestine Facts, Maps, Projection of the West Bank Final Status Map presented by Israel, Camp David, July 2000 unter: passia.org/palestine_facts/MAPS/wbgs_campdavid.html

13. Hanieh, Adam, The Oslo Illusion, Jacobin Issue 10. April 2013

14. Vgl. Hillal, Jamil, Reclaiming the Palestinian Narrative, Al-Shabaka, 7.1.2013; Massad, Joseph, Reducing the Palestinians, Electronic Intifada 27.12.2003

15. Barghouthi, Omar, Is the BDS Campaign against Israel reaching a Turning Point ?, Aljazeera 22.12.2013

16. Massad, Joseph, The (Anti-)Palestinian Authority, Electronic Intifada 18.6.2006