11192.pngÜber den Autor

Autorenfoto%20Mezrich_sw.tif© Tracy Aiguier Photography
 
 

Ben Mezrich studierte in Harvard und schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine. Er ist Autor von acht Büchern, die sich insgesamt über eine Million Mal verkauft haben und in neun Sprachen übersetzt wurden, darunter der ebenfalls bei riva erschienene Bestseller Die Gründung von Facebook, auf dem der Oscar-prämierte Film The Social Network basiert.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Für Fragen und Anregungen:
benmezrich@rivaverlag.de

 

1. Auflage 2012

© 2012 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

 

© der Originalausgabe 2011 by Ben Mezrich

Die englische Originalausgabe erschien 2011 bei Doubleday, a division of Random House, unter dem Titel Sex on the Moon. The Amazing Story Behind the Most Audacious Heist in History.

This translation published by arrangement with Doubleday, an imprint of The Knopf Doubleday Group, a division of Random House, Inc.

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Übersetzung: Birke Bossmann
Redaktion: Birgit Walter
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München

Umschlagabbildung: Maria Wittek, München, unter Verwendung von Motiven von iStockphoto

Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech

Epub: Grafikstudio Foerster, Belgern

 

ISBN Epub: 978-3-86413-208-7

 

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Für Asher – dieses Buch wird immer ein ganz besonderes für mich sein, denn irgendwann zwischen dem ersten und dem zehnten Kapitel bist Du auf die Welt gekommen. Und wenn Du alt genug bist, um es zu lesen, wer weiß, vielleicht werden wir beide dann tatsächlich zusammen zusehen, wie ein Mensch zum ersten Mal den Mars betritt ...

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Vorbemerkung des Autors

Der Mann, der den Mond gestohlen hat ist eine spannende Erzählung auf der Grundlage vieler persönlicher Gespräche, zahlreicher Quellen und Tausender Seiten von Gerichtsakten. Ich habe versucht, die Chronologie der Ereignisse und die Details so genau wie möglich wiederzugeben. Thad Roberts hat mir großzügig viel von seiner Zeit geopfert, um mir bei der Rekonstruktion dieser faszinierenden Geschichte zu helfen. Schon allein deshalb entsprechen viele Schlussfolgerungen seiner persönlichen Auffassung und die Geschehnisse werden möglichst getreu seiner Sichtweise beschrieben, ohne dass ich diese notwendigerweise teile. Da es im Grunde um Thads Lebensweg geht, wird die Geschichte größtenteils aus seiner Perspektive erzählt. Ich möchte ihm besonders dafür danken, dass er mir gestattet hat, aus den Briefen zu zitieren, die er im Gefängnis geschrieben hat. Die Zitate sind immer wieder zwischen den Kapiteln eingestreut.

An manchen Stellen wurden Details und Beschreibungen von Schauplätzen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verfremdet, auch wurden manche Namen, Charakterisierungen und Lebensgeschichten geändert, um die Privatsphäre der betreffenden Personen zu schützen, zum Teil auf deren ausdrücklichen Wunsch.

Ich greife beim Erzählen auf die Technik des nachempfundenen Dialogs zurück. Dieser Dialog basiert auf den Erinnerungen der Beteiligten, die ich befragt habe. Da jedoch viele dieser Gespräche schon mehr als zehn Jahre zurückliegen, habe ich sie in komprimierter Form rekonstruiert.

Meine Gewährsleute werden am Ende des Buches noch in gebührender Weise gewürdigt, doch möchte ich mich bereits an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei Thad Roberts für seine wunderbare Großherzigkeit bedanken. Mein Dank gilt auch Axel Emmermann, Gordon McWhorter und Matt Emmi, die mir so viel Zeit gewidmet haben, sowie auch den vielen anderen, die es vorgezogen haben, ungenannt zu bleiben.

10936.pngProlog

Es war die wahrscheinlich merkwürdigste Flucht aller Zeiten.

Thad Roberts versuchte, die Nerven zu behalten, während er durch die Windschutzscheibe des im Leerlauf haltenden Geländewagens nach oben starrte. Es goss in Strömen, und der sintflutartige Regen prasselte so heftig herab, dass Thad das rote Licht der Ampel kaum erkennen konnte, die nur wenige Meter über ihm hing. Er stand hier schon eine halbe Ewigkeit. Ein endlos langes Stück Asphaltstraße verlor sich schlängelnd im trüben Regenschleier hinter ihm, vorbei an einem halben Dutzend weiterer Ampeln – und an jeder einzelnen hatte er anhalten und warten müssen, genau wie jetzt auch. Schlimmer noch: Zwischen den einzelnen Ampeln hatte er den Jeep auf quälend langsame 10 Kilometer pro Stunde drosseln müssen, um förmlich im Schneckentempo über die verlassenen, regengepeitschten Straßen des streng bewachten Geländes zu kriechen. Es war fast unmöglich, sich an die Geschwindigkeit von 10 Stundenkilometer zu halten, vor allem dann, wenn die blank liegenden Nerven gerade das reinste Synapsenfeuerwerk abfeuerten und einem das Herz in der Brust zu zerspringen drohte. Aber die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem Gelände betrug nun einmal 10 Kilometer pro Stunde, daran mahnten die alle paar Meter aufgestellten Verkehrsschilder, und hatte man mit 10 Kilometer pro Stunde erst einmal eine rote Ampel erwischt, dann blieb es bei der roten Welle.

Thad umklammerte das Lenkrad des Jeeps mit weißen Fingerknöcheln und blickte beschwörend auf das rote Licht, damit es endlich auf Grün umschaltete. Am liebsten hätte er den Motor aufheulen lassen, das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, auf jede Geschwindigkeitsbeschränkung gepfiffen – und dann nichts wie ab durch die Mitte. Doch sein Verstand sagte ihm, dass überall Überwachungskameras waren, dass die ganze Fluchtaktion gerade aufgezeichnet und auf die Bildschirme von mindestens einem Dutzend Kontrollstationen übertragen wurde. Wenn das alles hier glattgehen sollte, dann musste er einen kühlen Kopf bewahren und sich an die Spielregeln halten. Er durfte vor allem nicht auffallen.

Er atmete tief durch und hielt das Gesicht in das rote Licht der Verkehrsampel. Nur noch ein paar Sekunden. Er nutzte die Zeit, um einen Blick in Richtung Beifahrersitz zu werfen – was auch kein Trost war. Nicht genug damit, dass ihm selbst die Angst im Nacken saß, sie war Sandra überdeutlich anzusehen. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen groß wie Untertassen. Er hätte gerne etwas zu ihrer Beruhigung gesagt, aber ihm fiel nichts ein. Sie war hübsch, mit ihrem dunkelblonden Haar, und mit knapp 19 sogar noch ein Stück jünger als Thad. Vielleicht nicht die ideale Komplizin für so etwas, aber immerhin war sie Elektronikspezialistin und hatte ihn geradezu bekniet, bei dem Coup mitmachen zu dürfen.

Thads Blick wanderte zum Mittel»sitz« zwischen ihnen, und er musste unwillkürlich grinsen, als er sah, wie seine Freundin unter dem Armaturenbrett kauerte, den geschmeidigen Körper zu einer festen, kleinen Kugel zusammengerollt. Rebeccas kurzes, rabenschwarzes Haar unterstrich ihren makellosen Schneewittchenteint, und sie war noch eine Spur hübscher als Sandra. Sie war gerade 20 geworden. Doch trotz ihres jugendlichen Alters war sie die Einzige von ihnen dreien, die furchtlos wirkte. Ihre blauen Augen funkelten förmlich vor Aufregung. Für sie war das alles nicht nur spannend, sondern eine Art echter James-Bond-Abenteuerkram. Ihr Anblick ließ Thads Adrenalinspiegel sprunghaft ansteigen. Sie waren sich verflixt nahe.

Plötzlich schaltete die Ampel um und grünes Licht fiel auf sein Gesicht. Als Thad auf das Gaspedal trat, machte der Jeep einen Satz nach vorne – schleunigst nahm er den Fuß vom Gas und achtete peinlich darauf, dass der Tacho exakt 10 Kilometer pro Stunden anzeigte. So setzten sie ihre Zeitlupenflucht fort, und nur das brummende Motorengeräusch des Jeeps und der auf die Frontscheibe prasselnde Regen waren zu hören.

Nach wenigen Minuten erreichten sie die letzte Ampel, die natürlich auch wieder rot war. Zu allem Überfluss entdeckte Thad ein paar Meter weiter links die Baracke eines Sicherheitspostens mit mindestens zwei uniformierten Wachen im Innern. Er hielt den Atem an, als er den Jeep an der Ampel zum Stehen brachte, er blickte starr geradeaus und hoffte, dass Sandra das Gleiche tat. Thad wollte wirklich nicht in die Verlegenheit kommen, erklären zu müssen, was er samstags nach Mitternacht auf dem Gelände zu suchen hatte. Er setzte darauf, dass keiner der Wachleute große Lust haben würde, bei diesem scheußlichen Regenwetter nach draußen zu kommen, um ihm unangenehme Fragen zu stellen. Dennoch hätte man bei genauerem Hinsehen sehr wohl bemerken können, dass der Jeep hinten stark durchhing. Genau genommen war die Hinterachse so tief nach unten gedrückt, dass das Fahrwerk fast auf dem Boden schleifte, als sie an der Fahrzeugkontrolle hielten.

Der durchhängende Jeep war nur eine von mehreren Komplikationen, die Thad und seine beiden Komplizinnen nicht eingeplant hatten. Im Grunde nur ein kleiner Rechenfehler – der Safe, den Thad und die beiden jungen Frauen vor knapp 10 Minuten hinten auf die Ladefläche gewuchtet hatten, wog einiges mehr, als Thad gedacht hatte, bestimmt gute 250 Kilo. Mit vereinten Kräften und einem Hubwagen hatten sie das Kunststück zwar fertiggebracht, allerdings hatte Thad jeden einzelnen Rücken- und Beinmuskel anspannen müssen, bis das vertrackte Ding endlich richtig verladen war. Er war heilfroh, dass die Hinterachse des Jeeps unter dem Gewicht nicht völlig zusammengebrochen war. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass selbst bei einer oberflächlichen Kontrolle die ganze Operation auffliegen würde.

Zum Glück machte keiner der Wachmänner irgendwelche Anstalten, aus der Baracke nach draußen zu kommen. Als die Ampel auf Grün sprang, kostete es Thad ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung, um das Gaspedal nur sachte anzutippen und sie mit der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit von 10 Kilometer pro Stunde weiterzulotsen. Dann kam auch schon das Eingangstor in Sicht. Zentimeter um Zentimeter näherten sie sich, bis im allerletzten Moment das schwere Tor nach oben schwang und den Weg freigab. Und schon hatten sie es passiert. Allmählich beschleunigte Thad.

20 Stundenkilometer.

40 Stundenkilometer.

50 Stundenkilometer.

Er sah flüchtig in den Rückspiegel. Das Gelände war bereits hinter den Regenschleiern verschwunden.

Er blickte zu Sandra – und sie starrte ungläubig zurück. Rebecca setzte sich zwischen ihnen auf und legte ihm den Arm um die Schulter. Dann kreischten sie alle gleichzeitig los vor Freude. Sie hatten es geschafft. Halleluja, sie hatten das Ding tatsächlich durchgezogen.

Nachdem sich der erste Jubel gelegt hatte, sah Thad noch einmal in den Rückspiegel, diesmal jedoch nicht auf die hinter ihnen liegende Straße. Er konnte die massigen, dunklen Umrisse des Safes erkennen, eingewickelt in eine Plastikplane, die sie vor nicht einmal 24 Stunden in einem Baumarkt gekauft hatten. Allein bei diesem Anblick stockte ihm der Atem – in einer Mischung aus Vorfreude und reinster Ehrfurcht.

In diesem Safe lag das kostbarste Material der Welt. Ein Nationalheiligtum von unschätzbarem Wert, kein Mensch hatte je zuvor etwas Derartiges gestohlen – etwas wirklich Einmaliges und Unersetzliches. Zwar kannte Thad den Wert des Safe-Inhaltes nicht genau, aber er wusste eines: Auch wenn er nur mit einem Bruchteil von dem Zeug davonspaziert wäre, hätte ihn das immer noch zum reichsten Mann der Welt gemacht. So, wie es aussah, hatten er und seine Komplizinnen einen der größten Raubzüge der US-Geschichte gestemmt.

Aber Thad hatte weniger der finanzielle Wert des Safe-Inhaltes gereizt. Im Grunde wollte er nur ein Versprechen einlösen, das er der jungen Frau gegeben hatte, die jetzt neben ihm saß und ihren Arm um seine Schulter legte. Ein ganz einfaches Versprechen, das Millionen anderer Männer im Laufe der Zeit schon Millionen anderen Frauen gemacht hatten.

Er hatte versprochen, ihr den Mond vom Himmel zu holen.

Doch im Unterschied zu allen anderen war Thad Roberts der erste Mann, der dieses Versprechen auch wirklich halten sollte.


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Ich werde Dich, Liebste, vielleicht nie wieder in den Armen halten, vielleicht nie wieder die Wärme Deiner Berührung spüren, Deine sanfte Stimme hören oder das Abenteuer in Deinen Augen finden, und doch wird all dies für immer ein Teil von mir sein.

In jeder wahren Liebe lebt Ewigkeit, in jedem Moment, der uns die Augen für Neues öffnet und unsere inneren Kräfte stärkt. Mit Dir, Rebecca, erhob sich meine Seele hoch über den Horizont hinaus. Diese Erinnerung werde ich für immer tief in mir tragen. Ich kann das niemals preisgeben, kann mein Herz nicht verleugnen. Ich werde Dich immer lieben, werde immer an Dich denken.

10938.pngKapitel 1

Fünf Jahre früher, Februar 1997

Die Aktenordner hatten etwas Bedrohliches. In gebrochenem Weiß mit Dreilochsystem türmten sie sich Reihe für Reihe in den wolkenkratzerartigen, geriffelten Metallregalen, die alle vier Wände des kleinen, fast fensterlosen Raumes im Parterre einnahmen. Genau genommen war weniger die Farbe der Aktenordner das Problem, ein Farbton, der in der Natur nicht vorkam, nicht einmal an einem so überreich mit Natur gesegneten Ort wie Salt Lake City, Utah. Es hatte auch nichts mit der schwarzen, senkrechten Blockschrift zu tun, die vom Ordnerrücken aus den Inhalt in einer Sprache verkündete, die jeder Drittklässler verstanden hätte. Das eigentliche Problem war die Grundidee hinter diesem Aktenordner-Manhattan. Das, wofür die Aktenordner standen: eine buchstäbliche Etappe auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Vielleicht nicht gerade nach dem Sinn des Lebens – aber doch nach dessen Richtung.

Thad Roberts stand vor einem der turmhohen Regale, die Hände nervös in den tiefen Taschen einer grünen, viel zu großen Windjacke vergraben. Sein zerzauster hellbrauner Haarschopf warf wirre Schatten auf seine hohen Wangenknochen. Er nahm an, dass es in allen Städten des Landes einen solchen Raum gab, vielleicht sogar rund um den Globus. Vermutlich hatte sogar jeder Universitätscampus einen. Die meisten waren bestimmt viel repräsentativer als diese viereckige, mit Aktenordnern vollgestopfte Schuhschachtel, die sich hochtrabend Career Center der Universität Utah nannte.

Der Sinn und Zweck dieses Raums war aber wohl in aller Welt kopiert worden. Ein leicht gruseliger Ort, an dem sich verlorene Seelen auf der Suche nach einer Zukunft begegneten, besser gesagt auf der Suche nach der Art von Zukunft, die sich zwischen den Aktendeckeln eines Hochglanzordners mit Dreilochsystem abheften ließ.

Obwohl es erst kurz nach sieben Uhr abends war, konnte sich Thad in seinen abgewetzten Timberland-Stiefeln vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten, als er zum x-ten Mal die Regale musterte. Er war jetzt schon seit zwei Stunden im Career Center und steuerte inzwischen fast wahllos die verflixten Ordner an. Ein paar hatte er aus den Regalen gezogen und auf einem der schmalen, in der Zimmermitte aufgereihten Holztische gestapelt: Finanzberater, Geologe, Fluglotse, Physiotherapeut. Aber nichts davon sagte ihm wirklich zu und er war langsam mit den Nerven am Ende. Am liebsten hätte er die restlichen Ordner mit beiden Händen aus den Regalen gefegt, um dann mit geschlossenen Augen einfach den erstbesten zu nehmen, der zufällig ganz oben gelandet war.

Lass die Würfel rollen, das Leben ist eine Lotterie.

Er musste heftig blinzeln, um die Müdigkeit aus seinen sonst so strahlenden grünen Augen zu vertreiben. Vielleicht war es ja auch einfach Zeit aufzugeben. Er plagte sich schon viel zu lange damit herum, ohne einen einzigen Schritt weitergekommen zu sein in der Frage, was er mit seinem Leben anfangen sollte.

Mit 20 erstickte er wegen der Studienkredite in Schulden, und das auch noch ohne Abschluss in der Tasche. Er hatte sein Studium abgebrochen, um sich mit allen möglichen Jobs über Wasser zu halten. An diesem Tag war er schon seit vier Uhr morgens auf den Beinen und hatte die letzten 15 Stunden als besserer Laufbursche auf einer Provinzbaustelle geschuftet. Er hatte knapp 300 Dollar auf dem Bankkonto, die Windjacke und die Stiefel waren drei Jahre alt und das Hemd, das er unter der Jacke trug, wurde nur noch dank zahlloser Flickarbeiten Sonyas zusammengehalten, seiner bildhübschen Ehefrau, die mindestens genauso pleite war wie er. Er hatte kein Geld und auch sonst keinen Rückhalt: Bei seinen Eltern hatte er sich seit über einem Jahr nicht mehr gemeldet, und er würde auch mit Sicherheit nie wieder ein Wort mit ihnen wechseln. Was auf Gegenseitigkeit beruhte, denn laut seiner Eltern durfte Thad künftig nicht mehr auf sie zählen.

Worauf er stattdessen zählen konnte, das stand in Form turmhoher Regale voller Aktenordner mit Dreilochsystem vor ihm.

Dabei wusste er nicht einmal genau, wonach er eigentlich suchte. Als Student hatte er in allen Seminaren brilliert, ob Wirtschaft oder Philosophie. Als Heranwachsendem hatte man ihm immer wieder versichert, was für ein heller Kopf er doch sei, und auch wenn einige herbe Rückschläge ihn seitdem etwas aus der Bahn geworfen hatten, wusste er doch, dass seine Lernfähigkeit zu seinen größten Stärken zählte. War das denn nicht das Wichtigste?

Er strich sich die Haare aus der Stirn und ging zur allerersten Aktenordnerreihe zurück. Obwohl er hundemüde war, wollte er noch einmal ganz von vorne anfangen und jeden einzelnen Ordner sichten.

Zu seiner Überraschung weckte eine Beschriftung fast sofort seine Aufmerksamkeit, gleich der fünfte oder sechste Aktenordner ab Regalbeginn. Vor diesem Ordner war er schon einmal stehen geblieben, kurz nachdem er das Career Center betreten hatte, aber ohne ihn hervorzuholen. Er hatte ihn gar nicht erst in Betracht gezogen, weil er den Gedanken für zu albern und völlig unrealistisch gehalten hatte. Aber jetzt, ein paar Stunden später, schwanden seine Skrupel.

Er nahm den Ordner und las noch einmal die Blockschrift.

ASTRONAUT.

Allein schon die Tatsache, dass es einen Ordner für diese Berufslaufbahn gab, schien unglaublich. Thad hatte ihn anfangs übersprungen, weil er dachte, man müsse bestimmt bei der Air Force sein, um auch nur mit dem Gedanken spielen zu dürfen, Astronaut zu werden. Doch inzwischen fand er, dass es ja nicht schaden konnte, einmal einen Blick hineinzuwerfen. Schließlich liebte er den Himmel. Sobald er Student an der Uni von Utah war, hatte er dem dortigen Observatorium einen Besuch abgestattet. Seither hatte er immer wieder einmal in der kleinen Sternwarte oben auf einer Hügelkuppe vorbeigeschaut, meistens dann, wenn er Raum zum Nachdenken brauchte. Den Weltraum, quasi.

Er begann den Ordner durchzublättern, der sich zu seiner Überraschung in zwei Teile gliederte: Piloten und Missionsspezialisten. Die Piloten waren fast ausschließlich Militärs, denn sie flogen schließlich die Ausrüstung. Die Einsatzspezialisten konnten jedoch aus den verschiedensten Fachrichtungen kommen. Sie waren diejenigen, die es gewohnt waren, sich die Hände schmutzig zu machen, die sich in den unterschiedlichsten Umgebungen zurechtfinden mussten und die auch die wissenschaftlichen Experimente durchführten. Also mussten die beiden Männer, die bei Mondlandungen da oben herumgelaufen waren und Golf gespielt hatten, Missionsspezialisten gewesen sein. Und der Mann, der im Raumfahrzeug gewartet hatte, war der Pilot. Thad stellte sich vor, wie neidisch es einen wohl machen musste, wenn man erst den ganzen langen Weg bis zum Mond geflogen war und dann nicht einmal die Nase rausstrecken durfte. Sollte Thad jemals Astronaut werden, würde er jedenfalls viel lieber zu den Männern gehören, die auf dem Mond herumspazierten.

Als er sich weiter in die Akte vertiefte, merkte er, wie ihn das Thema immer mehr in seinen Bann zog. Eines war ihm sofort klar: Sollte er sich wirklich dafür entscheiden – eine absolut verrückte Vorstellung, aber trotzdem – dann musste er noch einmal zurück auf die Schulbank. Er brauchte einen Abschluss in einem Fach, das für die NASA von Interesse war. Biologie, Astrophysik, Geologie vielleicht. Er würde sich auch Fachwissen in vielen anderen Bereichen aneignen müssen. Gerätetauchen, denn Astronauten trainierten unter Wasser. Fremdsprachen, denn die Raumfahrt war mittlerweile international und es würde einen regen Austausch von Personal und Material geben. Einen Pilotenschein – auch wenn er da nicht mit den Jungs vom Militär mithalten konnte, so musste er zumindest wissen, wie man ein Flugzeug fliegt.

Das alles klang so faszinierend, abenteuerlich und romantisch. Als Jugendlicher hatte er nicht wirklich von den Sternen und dem Weltall geträumt – er war noch zu jung gewesen, um sich mit den Ereignissen seit der ersten Mondlandung ausführlich zu beschäftigen. Aber die Idee begeisterte ihn auf Anhieb, weil sie in vieler Hinsicht so gut zu ihm zu passen schien. Er war zwar ein Träumer, aber keiner mit zwei linken Händen. Er wollte schon immer all diese Dinge lernen – Gerätetauchen, Fliegen, Russisch, und endlich gab es einen konkreten Grund dafür.

Und mal ehrlich, wer hätte denn nicht Lust, einmal auf dem Mond herumzuspazieren?

Natürlich stand kaum etwas über den Mond im Ordner. Die wenigen Artikel über die aktuelle Situation der NASA schienen vielmehr allesamt auf ein ganz anderes Ziel ausgerichtet zu sein: den Mars. Die NASA-Wissenschaftler hofften, eines Tages ein ganz ähnliches Unternehmen zu starten wie die Mondlandung 1969, diesmal mit dem Ziel, auf den Mars zu gelangen. Thad stellte sich vor, wie es wohl wäre, als Astronaut an dieser Mission teilzunehmen. Die Chance zu haben, als erster Mensch einen völlig unbekannten, völlig unberührten Ort zu betreten. Einen Ort, möglichst weit weg von Utah.

Der erste Mensch auf dem Mars zu sein.

Und auf einmal merkte Thad, dass alle Nervosität von ihm abgefallen war.

Er trat wie ein Verrückter in die Pedale, den Körper weit über den Lenker gebeugt, Wangen und Stirn dem eisigen Fahrtwind ausgeliefert. Thad radelte so schnell, dass die Fahrbahn nur so unter ihm vorbeiflitzte. Er hielt die Augen auf den orangefarbenen Lichtkegel der kleinen Vorderradlampe gerichtet und achtete weder auf die am Straßenrand auftauchenden Bäume noch auf das aufblitzende Licht aus Fenstern, die tief hinter dem Laub verborgen lagen. Er nahm die letzte Steigung mit Höchstgeschwindigkeit, die Fahrradreifen schlitterten noch einmal kurz über die vereiste Straße, dann fiel der orangefarbene Lichtkegel schon auf den Kies der Einfahrt, die zu seinem kleinen Mietshäuschen führte. Er bremste eine Sekunde zu spät, schaffte es aber doch noch über den Kies, wenn auch mit hin- und herschlingerndem Hinterreifen. Im nächsten Moment hatte er das Rad bereits abgestellt und spürte das Gras seines Vorgartens unter den Stiefeln.

Das Häuschen war eher eine Baracke, aber Sonya wartete schon auf der Veranda. Sie hatte das rotblond glänzende Haar zum Pferdeschwanz gebunden und trug einen eng anliegenden weißen Pullover. Thad rannte auf sie zu und streckte ihr die Hände entgegen. Sie hob lächelnd den Saum des Pullovers hoch und entblößte ihren flachen, sonnengebräunten Bauch. Dann nahm sie seine kalten Hände und drückte sie fröstelnd an ihre warme Haut. Es war ein zärtliches kleines Ritual, das sie in den vergangenen Monaten ihres Zusammenlebens entwickelt hatten. Egal ob albern oder nett – Thad wusste genau, dass er sich an diese Augenblicke ein Leben lang erinnern würde.

Eine Minute später waren sie im Haus. Das Wohnzimmer war spärlich eingerichtet: ein paar Holzmöbel, die sie bei Garagenflohmärkten erstanden hatten, ein Fernseher, der so gut wie nie lief, ein Heizkörper, der in hohem Bogen Heißwasserfontänen ausspuckte, wenn man ihn zu hoch aufdrehte. Thad führte seine Frau zur Couch vor dem Fernseher, setzte sich neben sie und eröffnete ihr, dass er Astronaut werden wollte. Er erklärte ihr in allen Einzelheiten, was das bedeutete, was er alles dafür zu tun hatte und wie sie ihr Leben umstellen müssten, um all diese Dinge zu ermöglichen. Es würde Opfer erfordern, von beiden Seiten. Sonya hatte bereits eine Vollzeitstelle als Zahnarzthelferin, und gerade hatte sie auch noch angefangen, abends nebenbei als Model zu arbeiten, sogar mit einem richtigen Vertrag bei einer örtlichen Agentur. Aber das hier würde bedeuten, dass er noch einmal die Schulbank drücken musste, dass er Tauch- und Flugstunden brauchte. Er würde seinen Lebenslauf mit den Sachen aufpeppen müssen, mit denen er bei den NASA-Wissenschaftlern Eindruck schinden konnte. Es würde bestimmt nicht einfach werden.

»Du willst also wirklich Astronaut werden«, wiederholte Sonya und sah ihn an.

Er war schon darauf gefasst, dass sie gleich in schallendes Gelächter ausbrechen würde. Doch stattdessen fuhr sie ihm mit der Hand zärtlich durch das zerzauste Haar.

»Cool. Da werde ich wohl noch einen zweiten Nebenjob brauchen.«

10938.pngKapitel 2

Ein Jahr zuvor hatte Thad ganz andere Sorgen als Astronauten, Mars und NASA-Wissenschaftler, als er zitternd im Fond des riesigen elterlichen Vans kauerte und darauf wartete, dass sein Vater ihn jeden Moment umbringen würde.

Der Wagen parkte in der Auffahrt zu Thads Elternhaus, einem ranchartigen Gebäude am Ortsrand von Syracuse, Utah. Syracuse, ein kleiner, abgeschiedener Ort, der nur mit Mühe auf der Karte zu finden war, war ein pseudo-idyllisches Provinzstädtchen, in dem sich jeder als Möchtegernfarmer betätigte, natürlich mit Ausnahme der wenigen Familien, die richtige Farmen besaßen. Thads Familie gehörte ein 6000 Quatratmeter großes Grundstück, auf dem sie ihr eigenes Obst und Gemüse anbaute und wo eine kleine Viehweide für gerade genug Fleisch für die hungrigen Mäuler von Thad und seinen sechs Geschwistern sorgte. Es war ein einfaches Leben, das von außen betrachtet einen gewissen urigen Charme besaß. Doch Thad sah das schon längst anders.

Gerade hatte es draußen angefangen zu schneien, ein wütendes Gestöber dicker Flocken. Thad bekam das kaum mit, so angestrengt starrte er auf die Haustür. Jeden Augenblick konnte sein Vater mit dem Gewehr in der Hand durch diese Tür kommen, zum Van marschieren und Thad eine Kugel durch den Kopf jagen. Thad glaubte nicht, dass sein Vater ihm nur drohen wollte. Er war sich ziemlich sicher, dass es gleich ernst würde.

Auf der einstündigen Rückfahrt vom Salt Lake City Airport hatte er genug Muße gehabt, um zu beobachten, wie der Nacken seines vor Wut schäumenden Vaters immer dunkelroter anlief. Seine Mutter, die schweigend auf dem Beifahrersitz saß, hatte sich während der Fahrt nur ein einziges Mal flüchtig nach hinten umgesehen, und ihr Blick hatte seine Befürchtungen nur verstärkt.

Thad wusste, dass er den Bogen überspannt hatte, und nun würde sein Vater tun, was er tun musste.

Thad kämpfte mit den Tränen, als er in das dichte Schneegestöber starrte und sich ausmalte, ob es sehr wehtun würde, ob er sich vielleicht noch mit erhobenen Händen ergeben oder um Vergebung betteln sollte. Er hatte seinen Vater schon immer für brutal gehalten. Trotzdem geschah es ihm ganz recht. Er hatte es vielleicht nicht anders verdient.

Im Grunde hatte er tief im Innern schon immer geahnt, dass es einmal so weit kommen musste, seit dem Tag, an dem er als Erstsemester am College Sonya begegnet war. Ein so schüchterner, eigenbrötlerischer Typ wie er hatte eigentlich nicht das Recht, hinter einem bildhübschen, allseits beliebten Rotschopf her zu sein, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie sich auch in ihn verliebt. In jeder anderen zivilisierten Gegend der Welt wären sie einfach Freund und Freundin gewesen, ein verliebtes Studentenpärchen, das im Hörsaal Händchen hielt und auf der Fußballtribüne verstohlene Küsse tauschte. In der strenggläubigen Mormonenenklave jedoch, in der Thad aufgewachsen war, sah die Sache ganz anders aus.

Da Thads Vater ihm eine Freundin strengstens verboten hatte, machten Thad und Sonya allen etwas vor. Drei Jahre lang tat Thad so, als verabredete er sich mit allen Freundinnen Sonyas, damit es so aussah, als hätte er jede Menge kleiner, harmloser Flirts. Er war gezwungen, seine Schüchternheit abzulegen, zunächst zur Tarnung, dann tatsächlich. Und sobald ihn seine Schüchternheit nicht mehr hemmte, hatte er jenem Impuls nachgegeben, den er als das Natürlichste der Welt empfand, ganz gleich, welche Schuldgefühle ihm seine Religion auch einreden mochte.

Das erste Mal war eine ebenso unbeholfene wie intensive, überschwängliche und doch angstbesetzte Erfahrung gewesen. Auf dem Rücksitz des Wagens von Sonyas Vater, wo die nackte, schweißnasse Haut an den Kunstledersitzen festklebte und das Rückfenster allmählich beschlug, umschlangen sich ihre Körper, während ihr Verstand verzweifelt versuchte, die Gedanken an den mormonischen Sündenfall auszublenden.

Seitdem hatten Thad und Sonya in ständiger Angst gelebt. Thad wusste, dass das, was er und Sonya getan hatten, für seinen tiefreligiösen Vater eine ausgesprochen schwere Sünde darstellte. Es geheim zu halten und die Schuldgefühle zu verdrängen war zwar qualvoll gewesen, aber Thad hatte es irgendwie geschafft. Bis zu jenem Tag, an dem er zu seiner zweijährigen Mission aufgebrochen war – einem Initiationsritus, dem sich jeder 19-jährige Mormone unterziehen musste.

Man schickte Thad in das MTC, das Missionary Training Center, in Provo, Utah. dort fand sich Thad in der Standarduniform aus weißem Hemd mit Button-down-Kragen und dunkler Hose, manchmal auch im Anzug und vom Rest der Welt abgeschnitten wieder. Er lernte das Sprechen neu, wie man sich kleidet, wie man geht, steht und denkt, und musste sich mit acht anderen Teenagern ein Zimmer mit Etagenbetten im Schlaftrakt teilen.

Thad bekam sofort das Gefühl, dass er unwürdig war, dass sein sorgsam gehütetes Geheimnis in Wahrheit eine Lüge gegenüber seiner Familie, der Kirche und Gott war. Doch in seiner dritten Nacht im MTC, kurz nach zwei Uhr morgens, er hatte gerade in seiner Koje gelegen, an die Decke gestarrt und den Atemzügen der sieben Zimmergenossen gelauscht, unterbrach plötzlich der Junge aus dem Etagenbett gegenüber die nächtliche Stille.

»Ist irgendjemand wach? Ich muss euch nämlich was erzählen, aber ihr müsst schwören, dass ihr es keiner Menschenseele weitersagt …«

Und damit hatte der Junge plötzlich angefangen zu beichten. Wie Thad hatte er bereits mit seiner Freundin Sex gehabt, bevor er ins MTC gekommen war. Rein theoretisch hätten Thad und die anderen in den Etagenbetten jetzt schockiert sein müssen, doch stattdessen fing der nächste an zu erzählen und legte die gleiche Beichte ab. Auch er hatte schon mit seiner Freundin geschlafen.

Bis zum Morgengrauen hatte jeder im Zimmer gebeichtet, dass er schon einmal Sex gehabt hatte. Und es war die erste Nacht seit Jahren, in der Thad ohne Schuldgefühle schlafen konnte. Am nächsten Morgen fragte er sich, ob vorehelicher Geschlechtsverkehr wirklich eine so unverzeihliche Sünde war, wie er immer geglaubt hatte. Vielleicht war es etwas, das man einfach nur beichten musste, so wie der Junge im Schlafsaal.

Bevor ihn der Mut wieder verlassen konnte, beschloss er, die Sache hinter sich zu bringen, und bat den Missionspräsidenten um ein Gespräch unter vier Augen. Sie trafen sich in seinem nüchternen Büro, Thad erzählte dem Mann von Sonya und der Sünde, die sie gemeinsam begangen hatten. Er hatte allen Ernstes geglaubt, der Präsident würde ihm zumindest ein klein wenig Verständnis entgegenbringen und ihm als reuigen Sünder einen Pfad der Buße weisen.

Doch anstatt ihm Buße zu gewähren, hatte der Präsident sofort die beschlussfähige Anzahl von Kirchenmitgliedern zusammengetrommelt, um Thad aus seiner Missionarsschule zu werfen und ihn damit vor der gesamten Mormonengemeinschaft als Sünder abzustempeln. Allein schon die Worte des Mannes sollten Thad sein Leben lang verfolgen.

»Du bist ab sofort ein unwürdiger Diener Gottes.«

Gleich am nächsten Tag hatte man ihn nach Hause geschickt.

Und da saß er jetzt, im Wagen seiner Eltern, spürte weder Schnee noch Kälte. Einen Moment überlegte er, ob er nicht besser davonlaufen sollte, aber dann würde er Sonya nie wiedersehen, und das erschien ihm noch schlimmer als alle Schande und Peinlichkeit, ja sogar noch schlimmer als eine Kugel aus der Flinte seines Vaters. Und so saß er einfach nur da und wartete. Fünf Minuten, zehn Minuten, dann eine halbe Stunde, und bald hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Der Schnee blieb allmählich liegen und deckte den Gemüsegarten, die Viehweide und sogar das Haus zu, bis alles weiß glitzerte. Die Luft im hinteren Teil des Vans wurde langsam frostig und Thad konnte zusehen, wie sein Atem in kleinen Schneekristallen an der Scheibe gefror. Aber er saß immer noch da, ein Häufchen Elend, die Gedanken ein einziges zittriges Chaos.

Erst als die Dämmerung einsetzte und der Schnee schon so dick auf den Autoscheiben lag, dass er das Haus nicht mehr erkennen konnte, beschloss er, dass ihm keine andere Wahl blieb, als seinen Eltern nach drinnen zu folgen. Vielleicht fand sein Vater, dass es zu viel Aufsehen erregen würde, Thad gleich in der Auffahrt zu erschießen, und dass es eine Privatangelegenheit war, die man besser in den eigenen vier Wänden erledigte.

Thad griff sich seinen groben Stoffrucksack mit den paar weißen Ersatzhemden, Toilettenartikeln, einigen Exemplaren des Buches Mormon und einem halben Dutzend Krawatten und stieg aus dem Wagen. Er spürte kaum die beißende Kälte des Schnees auf Nacken und Wangen. Wie in Trance lief er durch den Vorgarten, der zu seinem Zuhause führte.

Seine Eltern waren in der Küche. Der Vater saß am Küchentisch, die Mutter daneben. Keiner von beiden sah ihn an, als er hereinkam. Niemand sprach ein Wort, und Thad verharrte einen Moment lang in der Tür und hörte, wie der auftauende Schnee auf den Fliesenboden tropfte. Dann ließ er den Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich den Eltern gegenüber an den Tisch.

Sein Vater funkelte ihn zornig an. Die Wut in seinen Augen war fast physisch greifbar, sodass es Thad um ein Haar vom Stuhl gehauen hätte. Thads Brustkorb weitete sich, und doch hatte er das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ihm drehte sich der Magen um und es lief ihm heiß und kalt den Rücken hinunter. Seine Mutter starrte auf ihr Spiegelbild in der Glasplatte des Tisches und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Aber es ging hier sowieso nicht um seine Mutter. Es war eine Sache zwischen Thad und seinem Vater, wie es jetzt weitergehen sollte.

»Als deine dich liebenden Eltern,« so sollte sich Thad später an die Worte erinnern, die sein Vater mit zusammengebissenen Zähnen hervorstieß, »geben wir dir genau zwei Monate Zeit.«

Thad spürte, wie sich seine Lungen wieder mit Sauerstoff füllten. Zwei Monate? Er verstand zwar nicht genau, was das heißen sollte, aber wenigstens war kein Gewehrlauf auf ihn gerichtet. Sein Vater würde ihn gar nicht umbringen, wenigstens nicht hier und jetzt, und das war schon mal eine gute Nachricht.

»Zwei Monate«, wiederholte sein Vater. »Und jetzt zu den Bedingungen. Du darfst nicht zurück in dein altes Zimmer. Dir gehört nichts mehr von deinen alten Sachen. Bis auf den Rucksack von deiner Mission.«

Thad nickte. Bis jetzt ging es ja noch. Er lebte, und er war zu Hause. Aber sein Vater war noch nicht fertig.

»Ab sofort schläfst du im Keller. Du wirst mit keinem deiner Geschwister auch nur ein einziges Wort wechseln. Du wirst sie nicht einmal ansehen. Kein Blickkontakt. Keine Zettelnachrichten. Keine Anrufe. Keine Kommunikation, egal welcher Art. Denn du, Thad, wirst unweigerlich in der Hölle landen, und der geringste Kontakt mit uns anderen würde uns mit in den Höllenschlund reißen.«

Thad öffnete den Mund, konnte aber keine Worte finden. Es traf ihn hart, was da so klipp und klar ausgesprochen wurde. Die Hölle war für seinen Vater keine x-beliebige religiöse Vorstellung aus dem Konfirmandenunterricht, für ihn gab es sie wirklich, flammend, grell, gewaltsam und ewiglich. Und genau dort würde Thad enden.

»Du wirst das Haus jeden Morgen punkt sechs Uhr verlassen«, fuhr sein Vater fort, mit tonloser, leiser Stimme. »Du wirst nicht vor zehn Uhr abends zurückkommen. Es ist mir egal, was du in dieser Zeit anfängst, aber du wirst dich nicht hier aufhalten. Niemand wird wissen, dass du überhaupt noch hier wohnst. Niemand wird mit dir sprechen, dich sehen oder auch nur einen Gedanken an dich verschwenden. Du existierst einfach nicht mehr.«

Wortlos stand sein Vater auf und kehrte ihm den Rücken zu. Thads Mutter blieb am Tisch sitzen und starrte weiter auf die Glasplatte. Thad befand sich zwar im selben Raum mit ihnen, aber er war mutterseelenallein.

Er existierte nicht mehr.

Er hob seinen Rucksack auf und ging zur Kellertür.

Später am Abend, als er gerade sein weißes Hemd ausziehen und sich auf die Pritsche legen wollte, die ihm sein Vater als Schlafgelegenheit überlassen hatte, hörte er zu seiner Überraschung Schritte auf der Kellertreppe. Noch mehr überraschte es ihn, dass es seine Mutter war, die auf leisen Sohlen zu ihm herabgestiegen kam. Für einen kurzen Moment keimte in ihm die Hoffnung auf, dass doch noch alles wieder gut werden könnte, dass sie kam, um ihm zu sagen, dass er trotz allem noch zur Familie gehörte, und ihn vielleicht sogar kurz in den Arm nehmen würde. Sie blieb auf der untersten Stufe stehen und sah ihn an. Tränen liefen über ihr Gesicht, und in ihm wuchs die Hoffnung. Bestimmt würde sie ihm jetzt zeigen, dass sie ihn im Grunde noch liebte und dass es nur aus Liebe geschah, wenn sie ihn jetzt so hart bestraften.

Dann verhärtete sich ihr Blick und sie wandte sich ab, als sie sprach.

»Wenn du eines Tages stirbst, willst du dann etwa mir die Schuld für das geben, was aus dir geworden ist?«

Sie drehte sich um und stieg die Treppe hinauf.

Thad stand da und sah ihr nach.

Zwei Monate später zog er zu Hause aus und heiratete Sonya. Seine Eltern waren als Trauzeugen gekommen, warteten aber nicht einmal ab, bis die Hochzeitstorte angeschnitten wurde. Einsilbig gratulierten sie Sonya und ihrer Familie, dann machten sie sich auch schon wieder auf den Weg nach Syracuse. Endlich waren sie die Bürde Thad los. Ab jetzt lag es an ihm, was er aus seinem Leben machte, ob er nun als Handlanger auf dem Bau arbeitete oder ob er etwas ganz anderes anfing.

Etwas Bedeutendes und Wichtiges.

Er ganz allein hatte es in der Hand.