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Zum Buch

Der Journalist Manuel Svensson wird von Vera beauftragt, den Überfall auf ihren Vater genauer zu untersuchen. Svenssons Nachforschungen werden zu einer Reise in seine eigene Vergangenheit in Mexiko und in die Kindheit von Vera, Stefan und Johannes, die gemeinsam aufgewachsen sind und sich dann aus den Augen verloren haben.

In kunstvoll verknüpften Episoden erzählt Horst Moser vom Scheitern und vom Standhalten. Und immer wieder führen die Fäden der Handlung zurück in eine nur scheinbar unbeschwerte Kindheit.

„Ein Krimi? Ja, vielleicht. Schließlich wird ermittelt. Aber kein Konfektionsschmöker von der Stange. In glasklaren Sätzen zerlegt Horst Moser allzu einfache Wahrheiten, allzu naheliegende Schlüsse. Fraglos, ein behutsamer Text, unaufgeregt und doch drängend, ja dramatisch – und, das vielleicht Wichtigste: von zeitloser Aktualität.“

Joachim Leitner, Tiroler Tageszeitung

Zum Autor

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Horst Moser

Geboren 1975 in Meran, aufgewachsen in Bruneck. Unternehmer und Autor, wöchentlicher Blog „Innensicht“ (www.horstmoser.com). Bereits erschienen: „Am Ende der Liebe“ (2012)

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Autonomen Provinz Bozen – Abteilung deutsche Kultur über den Südtiroler Künstlerbund.

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© Edition Raetia, Bozen 2015

Umschlag: Dall’O & Freunde

ISBN Print: 978-88-7283-520-3

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Inhalt

Kapitel 1

Vielleicht lag es an der schlechten Tonqualität des Aufnahmegeräts oder an der Stimme des alten Mannes, die kratzig und rau war und durch den kleinen Lautsprecher klang, als käme sie aus der Ferne, von weit weg, mit einem Rauschen im Hintergrund, das der ganzen Geschichte einen abgehobenen, fast unwirklichen Klang verlieh. Svensson nahm sein Glas und ging hinaus auf die Terrasse, setzte sich auf einen der Stühle, streckte seine Beine von sich, lehnte den Hinterkopf an die Mauer und betrachtete die Stadt. Es dauerte eine Zeit, bis er das Gehörte als das zu begreifen vermochte, was es offensichtlich war, während es ihm vorkam, als wären die Lichter in der Dunkelheit hell leuchtende Punkte am Grund eines Sees, auf den er hinunterschaute.

Manchmal, so dachte er Stunden später, liegt die Wahrheit jenseits des Vernehmbaren und nimmt verzweigte Wege, bis sie langsam an die Oberfläche kommt und durchsickert, um dann liegen zu bleiben, und nur manchmal wird sie als das wahrgenommen, was sie ist, nämlich eine Abfolge von Ereignissen, die uns begegnen, ohne oder durch unser Zutun, zuweilen scheint auch das egal zu sein. Wir sind die Summe all dessen, was wir in unserem Leben zulassen, das ist die Wahrheit, dachte Svensson, und begann die ersten Sätze aufzuschreiben.

Auf seinem Schreibtisch lagen Dokumente und Papiere ungeordnet herum, bedeckten den zugeklappten Laptop und häuften sich dort schon seit Wochen. Es befanden sich keinerlei Fotos oder ähnliche Erinnerungsstücke auf seinem Arbeitsplatz. Manuel Svensson lebte allein, und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, es entsprach nicht seiner Art, Dinge aufzubewahren oder irgendwo etwas aufzustellen, das nicht mit einem praktischen Nutzen einherging. Einige selbstklebende Kärtchen, vollgeschmiert mit Telefonnummern, Namen und Kritzeleien, ein alter und leicht verbeulter Stifthalter, der Rest war Papierkram. Der Versuch einer Arbeitskollegin, durch ein Geburtstagsgeschenk in Form einer Topfpflanze etwas Leben auf Svenssons Arbeitsfläche zu bringen, scheiterte an dessen mangelndem Interesse, sich um das Gewächs zu kümmern, entsprechend ausgetrocknet war es, und da dies Bollettis letzter Versuch einer Annäherung sein sollte, nachdem auch alle vorherigen gescheitert waren, wehrte sie den beim Betrachten des verkümmernden Gewächses immer wiederkehrenden Gedanken, selbst die Pflanze zu gießen, ab.

Es lag nicht an Bolletti. Sie war jung und durchaus attraktiv, andere Kollegen kämpften erfolglos um eine Verabredung, wie Grundler, der sich vielleicht deshalb vergeblich abmühte, weil er von der Sorte Mann war, die auf Gefühle anderer reagiert wie ein Stück Holz auf Elektrospannung. Hinzu kam seine unumstößliche Überzeugung, er wirke auf Frauen anziehend, was er bei jeder Begegnung mit hübschen Vertreterinnen des anderen Geschlechts durch einen einseitig hochgezogenen Mundwinkel zu unterstreichen versuchte, wobei er mit seinen Augen den Körper der Frau von oben bis unten musterte und dabei pfiff, als wäre es normal, sich zu verhalten wie ein Leierschwanz, der singend und tanzend das Weibchen umgarnt, mit dem Ziel, sich anschließend zu paaren. Deshalb bemerkte Grundler auch nicht, dass Bolletti ihm eine Lektion erteilen wollte, als sie ihn eines Tages, um seinen aufdringlichen Avancen ein Ende zu setzen, in den Kopierraum führte. Grundler, der ihr erwartungsvoll folgte, malte sich bereits aus, wo er Bolletti als Erstes berühren würde, und als sie schließlich auch noch die Tür hinter sich zusperrte und ihn aufforderte, die Hose und das Hemd auszuziehen, während sie ihn mit Augen ansah, die ihn erregten, auch weil sie ihren Finger an den Mund gelegt hatte, an die vollen Lippen eines halb geöffneten Mundes, beeilte er sich, sodass er Sekunden später nackt bis auf die Unterhose und die schwarzen Socken vor ihr stand. Bolletti drehte Grundler um und schob ihn in eine Ecke des kleinen Zimmers, mit herrischem Unterton in ihren Anweisungen, band sein Hemd um seine Augen, worin Grundler eine weitere erotische Steigerung vermutete, hob dann aber die restlichen, am Boden liegenden Kleidungsstücke auf, verließ das Kämmerchen und warf die Klamotten sichtbar für alle auf Grundlers Schreibtisch, wo sie noch länger liegen blieben, weil Grundler sich erst spät wieder aus dem Raum traute, bekleidet mit seinem Hemd und rot im Gesicht, aus Scham und aus Wut. Ein Vorfall, der die Unerreichbarkeit Bollettis weiter untermauerte und den Jagdtrieb der männlichen Kollegen um ein Vielfaches steigerte.

Svensson begegnete Bolletti zumeist mit Gleichgültigkeit, fast, als fühle er sich belästigt durch die stete Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft, die sie ihm gegenüber an den Tag legte. In Wahrheit aber war es Svenssons Art, etwas abzuwenden, von dem er glaubte, dass es ihm womöglich nicht gut bekomme oder ihn zumindest in eine gewisse Unsicherheit stürze. Frauen wie Bolletti machten ihn nervös. Sie hatten etwas, das ihn anzog, das ihn, gesetzt den Fall, er würde sich dem stellen, möglicherweise in eine Lage versetzte, die er nicht mehr kontrollieren konnte, und um dies zu vermeiden, wehrte er, einem inneren Instinkt folgend, jeden Versuch einer Annäherung ab, indem er mit höflicher Distanziertheit reagierte.

Trotzdem kam es in unregelmäßigen Abständen immer wieder zu der einen oder anderen Verabredung mit Frauen. Svensson selbst trug wenig dazu bei, meistens waren es die Frauen, die auf ihn zugingen und ihn ansprachen. Dabei endeten solche Treffen, wenn sie denn stattfanden, nicht selten auf vollgeschwitzten Laken, neben einem erschöpften, friedlich daliegenden weiblichen Körper. Hin und wieder kam es auch vor, dass er sich mit ein und derselben Frau mehrmals traf, auf ein Abendessen oder sie besuchten ein Konzert. Anschließend aber, als ginge es im Grunde nur um das Eine und alles vorher war Teil eines langen und gut vorbereiteten Vorspiels, küsste er seine Partnerin am Hals, flüsterte ihr etwas ins Ohr, ließ sich küssen und anschließend von ihr verführen. Alles geschah im gegenseitigen Einvernehmen und mit einer gewissen Unverbindlichkeit, nie sollte das Gefühl von zu starker Verbundenheit oder Nähe aufkeimen. Spätestens dann, wenn er spürte, dass die Frau mehr zu empfinden begann, suchte er das Weite. Zu sehr war er seinen geregelten Tagesablauf gewohnt, er fürchtete den Verlust seiner Privatsphäre, war nicht bereit, diese für eine Beziehung aufzugeben. Sein Leben mit jemandem zu teilen oder jemanden an seinem Leben so intensiv teilhaben zu lassen, wollte er sich gar nicht erst vorstellen. Sein Leben, wie es war, sollte sich nicht ändern. Deshalb blieb er auch nie bis zum Morgen, und war das Erlebte auch noch so intensiv oder schön gewesen, wusch er sich anschließend, zog sich an und ging nach Hause, nachdem er die Lippen zu einem Kuss geformt und seinen Mund zum Abschied auf die Wange seiner Begleitung gelegt hatte.

Svensson war vor Kurzem in eine Dachgeschosswohnung am Rande der Innsbrucker Altstadt gezogen. Seit einer Woche verbrachte er die Abende damit, die im Wohnzimmer gestapelten Umzugskartons auszuräumen. Er nutzte die Gelegenheit und stöberte in alten Unterlagen, studierte gesammelte Zeitungsartikel, am Boden sitzend, seinen Besitz Karton für Karton einzeln herausnehmend und begutachtend. Die alten Schallplatten stellte er in eine der Ablagen des neu erstandenen Regals, nachdem er die Hüllen vorsichtig mit einem Staubwedel abgewischt hatte. Die neue Wohnung war größer als die alte, weshalb er in einem Möbelhaus im Osten der Stadt ein, zwei neue Einrichtungsgegenstände gekauft hatte, der ganze Rest, darunter eine Steh- und zwei Tischlampen, eine alte Kommode und ein großer, abgetretener Teppich, stammte vom Flohmarkt, der jeden Samstag auf dem Parkplatz eines Veranstaltungszentrums Hunderte Besucher anlockte. Hin und wieder nahm er eine der Platten heraus, legte sie auf den Plattenspieler und führte die Nadel auf die äußerste Rille. Das Kratzen während der Wiedergabe verlieh den Tönen einen ganz eigenen Klang, so real, als käme die Musik nicht aus den Boxen der Anlage, sondern von draußen herein, durch die geöffnete Terrassentür, von einem in unmittelbarer Nähe stattfindenden Konzert.

Svensson fühlte sich geborgen im immer gleichen Ablauf. Die täglichen Rituale, am Morgen das langsame Erwachen, das Trinken des Kaffees aus immer derselben abgenutzten Tasse, während er sich die Nachrichten im Radio anhörte, das alles verlieh ihm ein Gefühl von Sicherheit. Mit dem Verlassen der Wohnung, mit den ersten Schritten auf dem brüchigen Asphalt am Gehsteig vor seinem Haus, vorbei am Landesgericht und weiter Richtung Triumphpforte, kam die endgültige Gewissheit, Teil dieser Welt zu sein, in die er hinausschritt. Trotz allem, was in seinem Leben vorgefallen war, war Svenssons Auftreten eher zurückhaltend, seine Gemütslage ruhig. Und doch war in seiner Stimme und in den gewählten Worten eine Bestimmtheit zu vernehmen, die seinem Auftreten Souveränität verlieh. Er war nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, er hatte gelernt, den Dingen mit einer gewissen Distanz zu begegnen, um sie nicht wichtiger zu nehmen, als sie sind.

Gerade fertiggestellt waren sein Bericht über eine Serie von Diebstählen sowie der Artikel über einen Bestechungsskandal auf lokaler Politikebene, für dessen Veröffentlichung die Freigabe durch den Redaktionsleiter fehlte, der noch zögerte und ohne Zweifel Änderungen vornehmen würde. Am Ende würde der Artikel ein anderer sein, ohne jene skandalösen Entdeckungen, die Svensson während seiner Recherchen gemacht hatte und welche die weitere Karriere eines Politikers auf durchaus entscheidende Weise beeinflussen oder gar beenden könnten.

Svensson war es im Laufe der Jahre gelungen, in seinen Publikationen einen eigenen Ton anzuschlagen, einen einfühlsamen und leidenschaftlichen gleichermaßen. Verbunden mit der Tatsache, dass er die Aufgabe eines Journalisten im Aufdecken von Missständen sah, hatte er einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, nicht zuletzt durch einen erst kürzlich veröffentlichten Artikel, dem ein ausführliches Porträt über ihn beigefügt gewesen war. In dem Beitrag war es um die Geiselnahme eines Jugendlichen durch seinen Lehrer gegangen, der bis zu jener Tat als der ruhigste aller Lehrkräfte an der Schule gegolten hatte, mit dem die Schüler tun konnten, was sie wollten, und es auch taten, bis zu besagtem Tag, an dem sich alles änderte. Georg Häusler, so hieß der Lehrer, ließ einen seiner Schüler, den frechsten und vorlautesten, im Klassenzimmer nachsitzen, zuerst über die Mittagszeit, dann den restlichen Nachmittag, bis hinein in die Abendstunden. Häusler stand regungslos neben dem Jugendlichen, starrte vor sich hin oder an die Tafel, als laufe vor seinem inneren Auge ein Film ab. Der Junge begriff erst nach geraumer Zeit, dass es kein gewöhnliches Nachsitzen war, dass mit dem Lehrer etwas nicht stimmte, während dieser in Gedanken längst schon abgeschweift war, seine ganze Tätigkeit als Zeitverschwendung, als unnützes Vorhaben begriff. Er war stets bemüht gewesen, den Kindern etwas fürs Leben beizubringen. Doch keinen interessierte, was er tat, im Gegenteil, er war zum Gespött geworden, zum Gespött der Schüler, aber auch der Kollegen, die ihn kaum beachteten und ihn als ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten ansahen. Der Junge war indessen damit beschäftigt, sich die unterschiedlichsten Möglichkeiten vorzustellen, was denn mit ihm passieren würde, von der Spezialeinheit der Polizei, die das Gebäude stürmte, nachdem sie Tränengas durch eine Scheibe geworfen hatte, bis zum Einsatz eines auf Geiselnahmen spezialisierten Psychologen, der über Lautsprecher mit dem Lehrer verhandelte. Dies alles fantasiereich in Szene gesetzt, inspiriert von Filmen und Krimiserien, die der Junge gesehen hatte. Im Unterschied zu den Bildschirmgeschichten aber fand sich in seinen Vorstellungen nie ein guter Ausgang. Währenddessen suchten die Eltern des Jungen erfolglos nach ihm und verständigten schließlich die Polizei. Eine Putzfrau wurde zuerst auf das Licht aufmerksam, dann auf das von innen versperrte Klassenzimmer, aus dem leises Schluchzen zu vernehmen war. Sie schlug Alarm, eine Polizeistreife machte sich auf den Weg. Svensson, der davon Wind bekam, fuhr ebenfalls zu der Schule, und weil er den Lehrer kannte und einer der Polizisten dies wusste, wurde er gebeten, mit dem Lehrer zu sprechen. Nach kurzem Zureden durch die versperrte Tür stellte sich der Geiselnehmer, nicht etwa, weil Svensson geübt in solchen Aktionen war oder ihm Worte einfielen, die zur Beendigung der angespannten Lage geführt hätten, sondern weil Häusler nur Zeit gebraucht hatte, um sich wieder zu beruhigen, was aber niemanden wirklich interessierte. Svensson jedenfalls machte ihm, gewohnt sachlich und direkt in seiner Art, klar, dass die Zeit um sei, es reicht, sagte er, komm jetzt raus, Georg, und mach dich nicht zum Affen. Verschreckt, aber unversehrt konnte der Schüler nach Hause gebracht werden, der Lehrer wurde der Schule verwiesen und wegen Freiheitsberaubung angezeigt. Svensson bescherte das Ganze ein paar lobende Worte und Schulterklopfer vonseiten der Polizisten, deren Neid nicht zu verkennen war, und eine neue Story. Stolz darauf war er nicht.

Und dann war da noch die Sache mit dem Zeitungshändler, Hermann Rosenberg, der kurz vor Ladenschluss überfallen und niedergeschlagen worden war und in dessen Kassa die wenigen Scheine fehlten, die vom Verkauf einiger Zeitschriften und Zigarettenschachteln eingegangen waren, eine Tat, um deren Aufklärung sich die Polizei kümmerte und über die Svensson berichtet hatte. Die Hintergründe waren unklar, teilweise verwirrend. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, warum der mutmaßliche Täter nach dem Überfall auf den alten Rosenberg über einen Jugendlichen hergefallen war und diesen krankenhausreif geschlagen hatte. Es fehlte ein nachvollziehbares Motiv, und bis auf die durch Zeugenaussagen bestätigte Feststellung, dass es sich um ein und denselben Täter handelte, fehlte jeder Zusammenhang zwischen den Taten. Der Verdächtige saß in Haft, verweigerte aber jede Aussage.

Svensson hasste die Büroarbei. Nicht seine Arbeit für die Zeitung an sich, sondern das Ausfüllen von Formularen, die Anträge auf Genehmigung zur Veröffentlichung, die Aufzeichnung seiner Spesenrechnung. Mehrmals täglich musste er den Kilometerstand seines privaten Wagens erfassen, mit dem er zwar nur selten zur Arbeit fuhr, öfters aber an jene Orte, an denen etwas vorgefallen war. Ein Bürokratieaufwand, der ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkte, eine Aufgabe, die ihm viel bedeutete und der er – im Unterschied zu den meisten Kollegen – mit Überzeugung nachging.

Im Laufe der Zeit hatte er aufgehört, sich mit Fragen herumzuschlagen, weil er irgendwann die Erlebnisse, die immer wieder in Form von Bildern in seinen Träumen auftauchten, als Teil seines Lebens, als Teil seiner Geschichte akzeptiert hatte. Nur manchmal, wenn ihn alte Erinnerungen einholten, meist abends und allein zu Hause, setzte er sich mit einem Glas Cognac auf die Terrasse, trank ein oder mehrere Gläser und fühlte sich bald wieder besser oder war einfach nur zu angetrunken, um weiter darüber nachzudenken, dann blickte er hinab auf die viel befahrene Straße und die Autos und Mopeds, die eine konstante Geräuschkulisse erzeugten, selbst in der Nacht, aber er empfand es nicht als Lärm oder gar als störend, sondern als eine Art Hintergrundmusik, die beruhigend auf ihn einwirkte. Dann dachte er an jenes fremde Land, das nie weit genug weg sein würde, um es ganz zu vergessen. Im Grunde war er sich gar nicht mehr sicher, ob er es überhaupt vergessen wollte. Ließen sich Lebensabschnitte einfach aus dem Gedächtnis streichen, so würden nicht nur einzelne Erlebnisse verschwinden, sondern auch alles andere. Und überhaupt steckt im Erlebten oft, wenn auch meist verborgen, ein Hinweis für das eigene Weiterkommen, sagte er sich. Zu vergessen hieße auch, am Ende gar nicht mehr zu wissen, wie er dorthin gekommen war, wo er sich jetzt befand. Und so träumte er von den Farben, die durch braungelborange Schattierungen selbst die schlichtesten Formen in einmalige Strukturen verwandelten, wenn die Sonne auf- oder unterging, spürte die Hitze und sehnte sich immer wieder nach der endlosen Weite.

Gerade als Svensson sein Büro verlassen wollte, klingelte das Telefon. Im Stehen und während er sich den Blazer anzog, den er über seinen Poloshirts oder Hemden zu tragen pflegte ohne ihn zuzuknöpfen, nahm er den Hörer ab. Eine weibliche Stimme fragte, ob Manuel Svensson zu sprechen sei, und als er antwortete, ja, das bin ich, sagte die Frau, es gebe da etwas, das sie ihm anvertrauen wolle. Noch bevor Svensson weiterfragen konnte, fügte sie hinzu, aber nicht am Telefon. Svensson schlug als Treffpunkt ein Café im Stadtzentrum unweit der Redaktion vor.

In einer halben Stunde bin ich dort, sagte die Frau und legte auf, ohne sich zu verabschieden, nachdem Svensson einverstanden geantwortet hatte.

Fünfunddreißig Minuten später betrat Svensson das Café. Die Frau wartete bereits auf ihn, leicht zu erkennen, weil der einzige weibliche Gast im Lokal. Ohne ein Wort zu sagen, reichte sie ihm die Hand, nickte leicht mit dem Kopf und wies auf einen der beiden Stühle, sie selbst saß hinter dem ovalen Tisch auf einer Lederbank, aufrecht und doch mit lässiger Haltung, jedenfalls machte sie auf Svensson einen äußerst selbstsicheren Eindruck.

„Danke, dass Sie sich Zeit nehmen.“

„Sie haben mich neugierig gemacht“, gab Svensson zu verstehen.

„Er war es nicht“, sagte sie unvermittelt, wobei sie sich nach vorne beugte, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, sich wieder zurücklehnte und nach draußen schaute. Ihre langen braunen Haare trug sie offen, das künstliche Licht des Lokals warf einen leichten Schimmer auf die glatte Oberfläche ihres Kopfes. Kastanienbraune Augen stachen aus ihrem schön geformten Gesicht hervor, die Haut wirkte weich und gepflegt.

„Wer war was nicht?“, fragte Svensson.

„Sie haben darüber geschrieben“, antwortete die Frau ruhig und starrte weiter durch die Fensterfront, „er hat ihn nicht überfallen, das war er nicht.“

Svensson beobachtete sie. Ihrem Aussehen nach zu urteilen war die Frau ein paar Jahre jünger als er, vielleicht Mitte dreißig, wobei er das Alter bei Frauen nur selten richtig einzuschätzen vermochte, wohingegen er die Wesensmerkmale seiner Gesprächspartner nach eingehender Beobachtung und aufmerksamem Zuhören einigermaßen zielsicher erkannte, seine zurückhaltend, manchmal verschlafen wirkende Art half ihm unwillentlich dabei, sein Interesse an seinem Gegenüber zu vertuschen.

„Nun mal ganz langsam. Wer sind Sie und woher wollen Sie das wissen?“, bemühte sich Svensson ruhig zu sagen.

„Vera, mein Name ist Vera Rosenberg.“

Der Zeitungshändler war ihr Vater. Svensson wusste von Vera Rosenberg, weil einer der Beamten, seine Quelle oder sein Informant – wobei Informant ein ungeeigneter Begriff zu sein schien, angesichts der oft recht gewöhnlichen Informationen bezüglich alltäglicher Delikte wie Hausfriedensbruch oder banaler Rechtsstreitigkeiten –, ihm bei einem Feierabendbier, das natürlich Svensson bezahlte (das zweite auch), vom Verlauf der Untersuchungen erzählt hatte und gleich sämtliche Details über das Opfer und dann, beim dritten Bier (diese Runde zahlte der Polizist), über dessen Tochter mitgeliefert hatte: Wohnadresse in einem Villenviertel oberhalb der Stadt, unverheiratet, Arbeit im Finanzsektor, zwei Strafen wegen überhöhter Geschwindigkeit und sonst nichts Erwähnenswertes.

„Das mit Ihrem Vater tut mir leid. Was aber hat das Ganze mit mir zu tun?“, fragte Svensson.

„Mit der Polizei kann ich nicht sprechen. Die verstehen das nicht. Sie hingegen, Sie sind nicht von hier, ich hab mich informiert. Johannes war auch dort, in dem Land, aus dem Sie kommen. Dieses Land und die Menschen dort, sie haben ihn verändert. Alles, was dort geschieht, verändert einen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wollen Sie die Wahrheit wissen? Er war es nicht. Ist es nicht das, was zählt?“

Sie presste die Finger aneinander und biss sich auf die Unterlippe. Gerade aufgewühlt wirkte sie so präsent, als hülle ihre Anwesenheit den gesamten Raum in eine spannungsgeladene Atmosphäre. Sie war auf eine eigene, einnehmende Art schön.

„Am Ende ist das alles auch meine Schuld“, fügte sie hinzu und starrte Svensson mit einem eindringlichen und gleichermaßen herausfordernden Blick an. Dann wartete sie, als prüfe sie seine Reaktion, um dann langsam und mit Überzeugung zu sagen: „Schreiben Sie einfach die ganze Geschichte, mehr will ich gar nicht“, legte einen Umschlag auf den Tisch, einen verschlossenen braunen Umschlag ohne Beschriftung, stand auf und ging.

Svensson schaute ihr nicht nach. Ein frischer Blumenduft, der Vera Rosenberg wie ein unsichtbarer Schleier umgab, drang in seine Nase. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und atmete tief ein. Das Parfüm passt zu ihr, dachte er.

Hermann Rosenberg hatte die Angewohnheit, gelegentlich Dinge aufzuschreiben, eine Art Tagebuch zu führen und damit das zu tun, was nur Tagebuchschreibern zugänglich ist, nämlich das Bedürfnis zu befriedigen, seine Überlegungen und Erfahrungen aufzuzeichnen, für wen auch immer. Nur ganz selten nahm Rosenberg eines der Hefte heraus, eines dieser kleinen schwarzen Hefte, die er in einer Kommode aufbewahrte, und nur wenn er sich ganz sicher sein konnte, nicht gestört zu werden, las er im Ledersessel sitzend und auf eine fast kindliche Art aufgeregt jene Zeilen, die er geschrieben hatte, die ihm aber nicht wie seine Geschichten vorkamen, als sei nicht er es gewesen, der sie erlebt hatte, als seien es nur ihm entfernt bekannte Ereignisse, die er irgendwo schon einmal vernommen hatte.

An jenem Tag aber, am Tag des Überfalls, hatte er kein Heft bei sich, sondern ein Aufnahmegerät, von dem niemand wusste, auch Vera nicht, vielleicht, weil er es sich eigens besorgt hatte, um etwas damit aufzuzeichnen, das ihm besonders wichtig war, etwas, das er nicht aufschreiben, sondern aufnehmen wollte.

Als die Polizei auf der Suche nach Spuren im Laden das Aufnahmegerät fand, wurde es zur Untersuchung ins Labor gebracht. Auf dem Band selbst war nichts Aussagekräftiges oder für den Verlauf des Ermittlungsverfahrens Dienliches zu finden, nur die Stimme des alten Rosenberg, der von sich erzählte, von seinem Leben, als wolle er noch einmal einen Blick zurück wagen, wie es alte Menschen manchmal tun, aus Langeweile oder um zu beweisen, dass auch sie ein bewegtes Leben hatten, von dem nicht viel mehr als Erinnerungen übrig waren. Nachdem die Ermittler das Band abgehört hatten, übergaben sie den Rekorder mitsamt Kassette an Vera Rosenberg.

Svensson wusste von all dem noch nichts. Er öffnete den Umschlag, nahm das Aufnahmegerät heraus und hielt es in seinen Händen, überlegte, ob er das Band an Ort und Stelle abspielen konnte, beschloss dann aber, es auf den Abend zu verschieben. Svensson hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Unterlagen mit nach Hause zu nehmen, um sich in den späten Abend- oder frühen Nachtstunden damit zu beschäftigen, wenn es ruhiger wurde, weil ein anderer Rhythmus einsetzt, die Hektik durch die Dunkelheit wie verschleiert wirkt.

Für einen Augenblick noch blieb er sitzen und betrachtete sich in dem Spiegel, der ihm gegenüber angebracht war, die Skyline irgendeiner Großstadt in schwarzer Farbe als Hintergrund, zwischen den Hochhäusern sein Gesicht. Zwei Haarsträhnen hingen ihm seitlich über die Stirn, mit einer Handbewegung warf er sie zurück. Er dachte daran, wie er sich als Kind gern gesehen hatte, und überlegte, ob das Bild, das er im Spiegel betrachtete, dem seiner frühen Vorstellung, wie ein Erwachsener sein sollte, entsprach: furchtlos und stark. Ein besänftigendes Lächeln zeichnete sich im Spiegelbild ab, als sehe er den jungen Svensson an und wolle ihm bedeuten, dass es nicht wichtig sei, nicht mehr. Dann verließ er das Lokal.

Manu, wie seine Mutter ihn nannte, wurde in Mittelamerika geboren, Mexiko, um genau zu sein. Damals trug er noch den Namen seines Vaters, Hernandez. Seine Mutter hieß Anna, Anna Svensson.

Annas außergewöhnliches Interesse für dieses Land war einem ebenso außergewöhnlichen Ereignis während einer Reise geschuldet. Ihr Vater, Manuels Großvater, war schwedischer Diplomat und manchmal, wenn er im Ausland zu tun hatte, nahm er seine Frau und seine Tochter mit, so auch zu einem Aufenthalt in Mexiko.

Anna, damals neun oder zehn Jahre alt, hatte sich während eines Ausflugs in Mexico City von der schützenden Hand der Mutter gelöst, sich vom Trubel der belebten Straße ablenken oder von ihm gefangen nehmen lassen. Sekundenlang war sie mit der Menschenmasse mitgeschwommen wie ein Hering in einem Schwarm, der Bewegung und der Richtung folgend, die die Masse vorgab, vom Gefühl begleitet, beschützt und behütet zu sein. Wenige Sekunden, die ausreichten, um vom Strudel mitgerissen zu werden. Stunden vergingen, in denen man nach der kleinen Anna suchte, bange Stunden, weil diese Stadt immer wieder Menschen verschluckt, Erwachsene und Kinder, als gebe es einen unersättlichen Hunger zu stillen, der in den Straßen und Gassen, unter den heißen Betonplatten und Rissen im Asphalt nach Beute giert. Eine Stadt mit zahllosen Augen, die hinter verschlossenen Fensterläden hervorschielen und doch nichts sehen oder das Gesehene schnell wieder vergessen. Eine alte Frau las Anna auf irgendeiner Straße auf, kilometerweit entfernt von dem Ort, an dem ihre Eltern sie aus den Augen verloren hatten, und brachte sie zur nächstgelegenen Polizeistation. Anna wirkte weder orientierungslos noch panisch, im Gegenteil, ruhig schritt sie auf ihre Mutter zu, als diese den Raum betrat, in dem man Anna mit einem Kugelschreiber und einem Blatt Papier an einen Schreibtisch gesetzt hatte, damit sie sich die Zeit vertrieb. Doch Anna schrieb nichts und zeichnete auch keinen Strich auf das Blatt, sie schaute nur in die Gesichter der Polizisten, vertiefte sich in den Anblick ihrer Augen und folgte aufmerksam allen ihren Handlungen, ohne dabei auch nur ein Wort zu sagen. Auch als man sie befragte, was geschehen und wie sie dorthin, wo man sie gefunden hatte, gekommen sei, sagte sie nichts. Eine Polizistin, die Englisch sprach, stellte die Fragen, Anna saß auf dem Schoß ihrer Mutter, diese übersetzte und stellte ihr die Frage erneut, diesmal auf Schwedisch, ihr Vater stand daneben. Anna aber blieb stumm. Nach mehreren Versuchen gaben sie es auf, die Polizistin schüttelte besänftigend lächelnd den Kopf. Selbst nachher, als Anna mit ihren Eltern im Auto saß, war ihr kein Wort zu entlocken, entweder weil sie nichts mehr wusste oder weil sie es aus einer unerklärbaren Laune heraus für sich behalten wollte, vielleicht auch, weil sie entschieden hatte, dass es ein Geheimnis war und als solches nur ihr gehörte, oder aber, weil es alle anderen ohnehin nicht verstehen würden.