Umschlag

Jan Zweyer

Das Haus der grauen Mönche

Freund und Feind

Historischer Roman

Freund und Feind ist der zweite Teil der dreiteiligen Mittelaltersaga Das Haus der grauen Mönche:

 

Das Haus der grauen Mönche – Das Mündel

Das Haus der grauen Mönche – Freund und Feind

Das Haus der grauen Mönche – Im Dienst der Hanse (Februar 2016)

 

 

 

 

Der Autor

Jan Zweyer wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren. Mitte der Siebzigerjahre zog er ins Ruhrgebiet, studierte erst Architektur, dann Sozialwissenschaften und schrieb als ständiger freier Mitarbeiter für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Er war viele Jahre für verschiedene Industrieunternehmen tätig. Heute arbeitet Zweyer als freier Schriftsteller in Herne.

Nach zahlreichen zeitgenössischen Kriminalromanen hat er sich mit der Goldstein-Trilogie Franzosenliebchen, Goldfasan und Persilschein das erste Mal historischen Themen zugewandt. Es folgte zuletzt der Auftakt seiner Mittelaltersaga Das Haus der grauen Mönche – Das Mündel.

www.jan-zweyer.de

Dramatis Personae

(Die mit einem * gekennzeichneten Figuren sind historisch belegt. In einigen Fällen wurde bei ihnen der Vorname Johann geändert, um eine Verwechslungsgefahr mit anderen Figuren zu vermeiden.)

Familie von Enghusen, Hattingen

Hinrick van Enghusen, Patrizier, Kaufmann (Viehhändler), Bürgermeister *

Ella van Enghusen, seine Frau

Lucas, sein Sohn

Marlein, seine Tochter, Freundin Jorges

Familie von Krekenbeck, Hattingen

Reinhard von Krekenbeck, Erbhofschultheiß des Hofs Hattingen und Herr von Haus Cliff

Apolonia, seine erste Frau

Clara, seine zweite Frau

Agnes, seine Tochter aus erster Ehe, Ehefrau Lucas van Enghusens

Heinrich, sein Sohn

Sonstige Hattinger Bürger

Jorge von Linden

Aron ben Zacharias, Jude und Freund Jorges

Kracht von Mylendonk, 1494 bis 1503 Droste und Amtmann Burg Blankensteins *

Geistliche in Köln und Deutz

Bartholomäus, genannt ›der Römer‹, Benediktiner, Abt des Klosters Deutz, weltlicher Name Kasper Bardowick

Jakobus, Abt des Dominikanerklosters Heiliges Kreuz in Köln, Inquisitor

Zwickauer und Schneeberger Bürger

Friedrich Rappolt, Kaufmann und Bergbaubetreiber *

Hans Fischer, von 1499 bis 1509 Bürgermeister in Schneeberg *

Melchior, genannt ›der Schnüffler‹, Scheidejunge auf der Grube Rappolt

Mickel, Hauer in der Grube Rappolt und Knappschaftsältester

Nicol Meiner, Bergmeister und -richter in Schneeberg *

Paul Theile, genannt ›der Hinker‹, Hauer in der Grube Rappolt

Utz, Scheidejunge auf der Grube Rappolt

Ritter Adolf von der Planitz, Hauptmann der Stadtwache Zwickau und Berghauptmann *

Lübecker Bürger

Albrecht Schulten, Kaufmann und Partner Jobst van Enghusens

Heinrich Witte, Ratsmitglied in Lübeck zwischen 1496 und 1520 *

Jobst van Enghusen, Kaufmann, Hinricks Bruder

Irmla van Enghusen, seine Frau

Sonstige

Anne, Lautenspielerin

Brid, Ziehschwester Jorges

Der tolle Steffen, Räuberhauptmann

Dreifinger, Mitglied der Räuberbande

Narbengesicht, Mitglied der Räuberbande

Gerhard Struckelmann, seit 1487 Oberfreigraf des Arnsberger Oberfreistuhls, des Femegerichts *

Lentz, fahrender Händler

Veit von Loerbrocks, Kaufmannssohn, Geisel des tollen Steffen

Wenzel Gerolstein, Kaufmann aus Arnsberg, Mitglied der Feme

Peter und Fritz, Meuchelmörder

Konrad der Einäugige, Handlanger des Kölner Erzbischofs

DER GEHILFE

März 1502 bis September 1502

1

Bei Arnsberg, 29. März 1502

Cerbus sprang hoch, als Jorge sich regte. Schwanzwedelnd leckte er seinem Herrn das Gesicht. »Lass das«, meinte dieser lachend und stieß den Hund beiseite. Das Tier schätzte diese Reaktion richtig ein und sprang, spielerisch knurrend, wieder auf den Jungen zu. Mehrmals wiederholten die beiden ihr morgendliches Ritual von Angriff und Verteidigung. Nach Minuten des Herumtollens klang Jorges Kommando energischer. Sofort legte sich Cerbus nur wenig entfernt nieder und beobachtete jede Bewegung seines Herrn. Der stand auf, reckte sich und verließ den Schutz des überhängenden Felsens, um sich in der nahe gelegenen Ruhr zu waschen und etwas zu trinken. Sein Hund folgte ihm.

Das Wasser der Ruhr schmeckte brackig. Sofort spuckte der Knabe es aus und verbot auch Cerbus, aus dem Fluss zu saufen. Nicht weit entfernt von seinem Übernachtungsplatz hatte er gestern einen kleinen Bach passiert. Dem würde er einige Hundert Schritte in die Berge folgen. In der Nähe der Quelle, so hoffte er, wäre das Wasser des Baches trinkbar und nicht vom Fluss oder anderem verschmutzt.

Sein Lager lag unweit der Straße, die von der Stadt Hüsten zur Festung Arnsberg führte. Straße war übertrieben, dachte Jorge. Eigentlich handelte es sich um einen unbefestigten Weg. Immer wieder hatte er Umwege machen müssen, um Überschwemmungen und morastigen Stellen auszuweichen. Das kostete Zeit.

Vor sechs Tagen hatte er Hattingen verlassen und die Osterfeiertage auf seiner Wanderung verbracht. Ihm wurde schwer ums Herz, wenn er an seinen erzwungenen Abschied dachte.

Seine Eltern waren vor Jahren einer Intrige zum Opfer gefallen, die ein betrügerischer Hauptmann der Stadtwache Herzog Johanns II. angezettelt hatte. An seine Mutter hatte Jorge keine Erinnerung, sie war kurz nach seiner Geburt als Hochverräterin hingerichtet worden. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt, da dieser noch vor seiner Frau ums Leben gekommen war.

Bevor Jorges Mutter zum Galgen schritt, hatte sie ihrem Beichtvater, einem Dominikanermönch namens Bernardo, mit einem Schwur auf die Bibel das Versprechen abgerungen, sich um ihr ungeborenes Kind zu kümmern. Der hatte sein Wort gehalten und die Waise zunächst bei einer Pflegefamilie untergebracht.

Jorge schossen Tränen in die Augen, als er an die Familie dachte, die ihn während seiner ersten Lebensjahre wie einen eigenen Sohn aufgezogen hatte. Auch sie hatte er verloren. Martha, Brid und die zwei Kleinen waren nach dem Tod seines Pflegevaters vor ein paar Jahren spurlos verschwunden.

Als Siebenjähriger hatte ihn Bernardo ins Haus der grauen Mönche nach Hattingen geholt, wo er von den Dominikanern lesen, schreiben und rechnen gelernt hatte. Er verlebte unbeschwerte Jahre in der Stadt. Dann starb sein Mentor Bruder Bernardo und die Dominikaner gaben ihr Haus in Hattingen auf. Jorges Bitte, in das Kloster des Bettelordens in Soest aufgenommen zu werden, wurde durch den dortigen Abt barsch abgelehnt. Geblieben war ihm nur sein treuer Hund Cerbus, den er als Welpe gefunden und selbst aufgezogen hatte.

Als ihm auch der Hattinger Bürgermeister Hinrick van Enghusen den weiteren Aufenthalt in der Stadt verbot, begab er sich auf Wanderschaft. Er wollte seinem Freund Aron folgen, dessen Familie zusammen mit den anderen Juden vor etwa zwei Jahren ebenfalls aus der Stadt gewiesen worden war. Aron, so hatte ihm Bruder Albertus, einer der Dominikaner, erklärt, sei nach Krakau ins ferne Königreich Polen geflüchtet. Und in dieser Stadt wollte nun auch Jorge sein Glück suchen.

Der Junge war der groben Wegskizze Bruder Albertus’ und dem Lauf der Ruhr flussaufwärts gefolgt. Sein Zwischenziel hieß Winterberg. Der Dominikaner hatte ihm erklärt, dass diese Stadt an der Heidenstraße liege, dem jahrhundertealten Heer- und Handelsweg, der die großen Städte Leipzig und Köln verband. Dieser Weg führe über die Berghöhen, nicht durch die vor allem im Frühling bei Schneeschmelze schwer passierbaren Täler. Von Leipzig aus gehe es immer weiter Richtung Osten, hatte Albertus erklärt, dahin, wo die Sonne aufgehe. Dort liege Polen mit seiner Königsstadt Krakau.

Seine Habseligkeiten waren schnell gepackt und das Bächlein erreichte Jorge in wenigen Minuten. Er wandte sich nach Norden, in Richtung des dunklen Walds. Schon bald stieg das Gelände stark an. Der Bach hatte sich tief in den Waldboden eingegraben und war von dichten Farnen umwachsen, sodass man ohne Anstrengung nicht aus ihm trinken konnte. Mühsam kämpfte Jorge sich durch das Unterholz. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, immer wieder musste er größere oder kleinere Felsbrocken umgehen. Zeitweise verlor er den Wasserlauf vollständig aus den Augen. Dann wies ihm nur das leise Plätschern die Richtung. Jorge wollte schon aufgeben und zur Ruhr zurückkehren, als das Gelände etwas abflachte und der Bach zwischen einigen niedrigen Büschen sichtbar wurde.

Erleichtert schnallte er sein Bündel ab, griff den Trinkschlauch, der fast leer war, und lief zu dem kleinen Gewässer, das in dem Flachstück nur träge dahinfloss. Jorge ging in die Knie und schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser aus dem Bachbett. Er probierte einen Schluck. Es war kalt und schmeckte frisch. Schnell löste er den Verschluss des Schlauchs und füllte ihn vollständig. Zwar würde der Wein so noch stärker verwässert, aber das war dem Jungen egal. Schließlich konnte er nicht wissen, wann er wieder so köstliches Nass finden würde.

Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, wusch er sich oberflächlich. Erst danach gab er Cerbus das Handzeichen. Schnell wie der Blitz schoss der Hund vor und trank ebenfalls. Dann legte er sich neben seinen Herrn in das noch feuchte Gras und sah ihn aufmerksam an.

Jorge wusste, was das Tier erwartete. Er kramte in seinem Beutel und holte etwas Brot hervor, brach es sorgfältig in zwei gleich große Stücke und warf eines davon Cerbus hin, der es gierig verschlang. Jorge selbst kaute langsam. Das Brot stellte ihre Ration für den ganzen restlichen Tag dar. Mehr würde es für beide heute nicht geben.

Viel war ihm nicht von seinen Nahrungsvorräten geblieben. Er hatte von Anfang an alles mit seinem Hund geteilt und dessen Appetit deutlich unterschätzt. Der Vorrat an Käse und das wenige Trockenfleisch, das eigentlich für zwei Wochen hätte reichen sollen, waren bereits gestern zur Neige gegangen. Essbare Beeren oder Pilze waren um diese Jahreszeit nicht zu finden. Jorge musste etwas zu essen auftreiben, wollte er nicht verhungern. Nur wo? Ohne ausreichende Nahrung würde er Polen und damit Aron nie erreichen.

Mit hängendem Kopf packte der Junge seine Siebensachen wieder zusammen. Dann gab er sich einen Ruck. Er würde es schaffen, redete er sich ein. Er würde Aron finden. Und dann würde sich alles zum Guten wenden. Schon hatte er seinen Mut wiedererlangt.

Als er sich aufrichtete, um den Weg zurück zur Ruhr anzutreten, war Cerbus nicht mehr an seiner Seite.

Jorge rief nach seinem Hund. Ohne Erfolg. Das Tier blieb verschwunden. Der Junge geriet in Panik. Wo war sein Begleiter? Er schrie sich die Seele aus dem Leib. Dann, weit entfernt, hörte er ihn bellen. Jorge rannte in die Richtung, aus der das Kläffen kam, sprang über kleinere Steinbrocken und ignorierte die Gefahr, die von dem steilen Abhang ausging, der rechts von ihm zur Ruhr abfiel.

Endlich sah er Cerbus’ Gestalt im Unterholz. Der Hund stand vor einem Busch, schnüffelte und gab keinen Laut mehr von sich, sobald er seinen Herrn wahrnahm.

Erleichtert fiel Jorge neben dem Tier auf den Waldboden und nahm es in den Arm. »Was machst du für Sachen? Du kannst doch nicht einfach wegrennen.«

Cerbus lief zu dem Gebüsch, bellte, kehrte schwanzwedelnd zurück, nur um erneut zu der Stelle zu laufen.

»Was ist denn da?«

Jorge stand auf und schob die Äste des Strauchs beiseite. Ein eigentümlicher Geruch lag in der Luft. Der Junge drängte sich unter das Gehölz. Da lag etwas auf dem Boden. Das war … Entsetzt wich er zurück. Unter dem Busch lag eine fast vollständig skelettierte Leiche. Es dauerte einige Minuten, bis er seinen Schrecken überwunden hatte. Dann klaubte er einen Stock vom Boden auf und wagte sich näher heran. Die Kleidung des Toten war zerrissen, machte aber den Eindruck, als ob sie früher von guter Qualität gewesen war. Es war die Bekleidung eines Mannes. Neben ihm lag auf dem Boden ein unversehrter Beutel aus verwaschenem Leder. Auch die Schuhe waren aus diesem Material gefertigt. Als Jorge noch genauer hinschaute, fiel ihm auf, dass der rechte Arm der Leiche vollständig fehlte. Auch die linke Hand war nicht da, wo sie sein sollte, sondern fand sich zwei Schritte neben den sterblichen Überresten des Mannes. War der Tote zerstückelt worden? Jetzt erst bemerkte er, dass Cerbus an etwas leckte, das an einem Zweig des Busches festgebunden war. Es sah aus wie die Reste eines toten Kaninchens. Er rief den Hund zurück. Cerbus gehorchte widerstrebend. Plötzlich wusste Jorge, warum das Skelett nicht mehr vollständig war: So wie Cerbus die Kaninchenreste fressen wollte, hatten sich bestimmt andere Tiere an der Leiche zu schaffen gemacht.

Jorge überlegte. Die Schuhe des Verstorbenen schienen besser als seine eigenen zu sein. Sicher würde es dem Toten nichts ausmachen, wenn er ihm diese wegnahm. Tote waren tot und konnten kein Eigentum besitzen. Deshalb war das, was er zu tun gedachte, auch kein Diebstahl, beruhigte er sich. Und außerdem würde er für den Mann ein Gebet sprechen. Das war aber auch schon alles, was er für ihn tun konnte. Denn ihm fehlte das Werkzeug und vor allem die Zeit, ein Grab auszuheben. Und Steine, die er über die Leiche hätten schichten können, waren auch nicht in genügender Zahl vorhanden.

Es kostete Jorge viel Überwindung, die Leiche zu berühren. Erst probierte er es mit dem Stock. Aber das klappte nicht wie gewünscht. Er würde selbst zupacken müssen. Als er den ersten Fuß des Toten anhob, um den Schuh abzustreifen, fiel das Bein zurück auf den Grund. Der Junge fuhr zurück. Er hatte den Schuh in der Hand. Allerdings steckte der Fuß noch darin. Wohl oder übel musste er die Knochen mit den Fingern aus dem Schuhwerk herausklauben.

Beim zweiten Fuß ging er vorsichtiger zu Werke. Er ließ ihn auf dem Boden liegen, löste die Bindung und zog den Schuh vorsichtig ab. Dieses Mal blieb das Skelett intakt. Erleichtert untersuchte Jorge seine Beute. Die Schuhe würden passen. Und als er die darin hausenden Insekten entfernt und die Schuhe auf einem kleinen Stein ausgeschlagen hatte, war er sicher, das Richtige getan zu haben.

Dann griff er den Lederbeutel und sah hinein. Zunächst zog Jorge völlig verschimmelte Lebensmittel daraus hervor. Er warf sie beiseite. Danach ein Stück feines Seil, schließlich ein Messer, ähnlich dem, das er von seinen Pflegeeltern erhalten hatte. Dann fand er einen zweiten, kleineren Lederbeutel. Als Jorge ihn hervorzog, klimperte es vernehmlich. Sein Herz schlug schneller. Geld! Und tatsächlich waren einige Albus und Pfennige darin. Zwar nicht gerade viel, aber es würde reichen, um Cerbus und ihn ein paar Tage zu ernähren.

Mutiger geworden, durchsuchte er auch die Taschen des Toten, entdeckte noch Nadel sowie Faden und mehrere Lederstreifen, die er ebenfalls an sich nahm.

Dann fiel sein Blick auf das Kaninchenskelett, das in der Nähe hing. Es war mit einem stabilen Draht an den Ästen des Busches befestigt. Etwas Draht, ein Seil und einen Ast – mehr brauchte es nicht, um eine Angel herzustellen. Ihm fielen die Worte des Alten wieder ein, den er vor Jahren an der Ruhrfurt getroffen hatte: Wer angeln und Feuer machen kann, hat immer etwas zu essen. Und nun konnte er beides.

Jorge brach den Ast ab, an dem das tote Tier hing, löste die Drahtschlinge auf und ließ die Überreste des Kaninchens fallen. Er reinigte den Draht im feuchten Waldboden und verstaute ihn und die anderen Sachen sorgfältig in seinem Beutel. Dabei zögerte er. Seine Tasche war aus grobem Leinen, die des Toten aus Leder. Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Er packte den Inhalt seines Beutels in den des Toten und murmelte: »Du hast mir Geld, eine Angel und auch Schuhe geschenkt. Woran auch immer du hier gestorben bist, mir hast du möglicherweise das Leben gerettet. Und dafür gebührt dir mein Dank.«

Jorge faltete die Hände und betete für den Toten und um Vergebung, weil er dessen Ruhe gestört hatte. Dann bekreuzigte er sich. Er überlegte, ob er so wie die Mönche ein Kreuz über dem Verstorbenen schlagen und ihn damit ehren sollte, entschied sich jedoch dagegen. Schließlich war er kein Geistlicher, sondern nur ein Junge. Vermutlich würde ihm Gott eine solche Handlung übel nehmen. Das wollte er nicht riskieren. Heute hatte er schon genug Gebote übertreten.

Als er wieder an der Ruhr ankam, zogen dunkle Wolken auf. Wenig später fielen die ersten Tropfen. Doch es blieb bei einem Schauer, der Jorge nicht sonderlich störte. Er zog lediglich seine Kappe tiefer ins Gesicht und streifte sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf. Frohen Mutes und beschwingt schritt er aus. Die neuen Schuhe waren weicher als seine alten, die Sohlen aber gleichzeitig fester. Der Weg nach Polen erschien ihm nur noch halb so weit. Er hatte Geld. Und er konnte sich eine Angel bauen. Ab sofort gehörte Fisch zu ihrem Speiseplan.

2

Hattingen, 30. März 1502

Sankt Georg war überfüllt. Die Teilnehmer des Hochzeitsgottesdienstes drängten sich im Kirchenschiff und auf den beiden Emporen. Selbst auf dem Platz vor dem Gotteshaus warteten noch Schaulustige, die nicht mehr in die Kirche gepasst hatten. Die Gründe für das Interesse der Hattinger Bürger waren vielfältig. Zum Ersten heirateten heute die Kinder zweier der einflussreichsten Familien der Stadt. Wer eine Einladung zu diesem gesellschaftlichen Ereignis erhalten hatte, dokumentierte damit seine Zugehörigkeit zur Stadtelite. Und die, die nicht eingeladen waren, taten so, als ob sie es wären. Zum Zweiten wollte jeder, vor allem aber die hochgestellten Damen, sehen, wie Agnes von Krekenbeck an diesem Freudentag gekleidet war – und ob es der Staffage gelingen werde, von ihrem Aussehen abzulenken, denn sie war nicht gerade die Schönste in der Stadt. Und zum Dritten hatte der Vater der Braut im Anschluss an die Trauung zu einem Festmahl im Saal und Hof des Hauses Cliff gebeten, was sich auch niemand entgehen lassen wollte.

Die Hochzeit war von den Vätern des Brautpaares arrangiert worden. Reinhard von Krekenbeck, Erbhofschultheiß des Hofs Hattingen und Herr von Haus Cliff, hatte erst vor Kurzem seinen Sohn Wendel durch einen Unfall verloren. Seine Frau war zu alt, um noch einen Erben zu gebären. Und seine Tochter Agnes war ein Weib. Sie konnte niemals Schultheiß werden. Blieb also nur ein Enkel. Aber nicht nur deshalb hatte er einen Ehemann für seine Tochter gesucht, sondern gedachte durch die Verbindung auch die Geschäftsbeziehungen zum Vater des Bräutigams, Hinrick van Enghusen, zu festigen. Van Enghusen war Bürgermeister der Stadt und beide Männer verbanden gemeinsame Interessen, wenn auch ihr früher freundschaftliches Verhältnis in letzter Zeit merklich abgekühlt war. Denn von Krekenbeck hatte sich die Zustimmung van Enghusens zur Eheschließung ihrer Kinder mit der Zusicherung erkauft, van Enghusens Wahl zum Bürgermeister zu unterstützen. Diese Zusage hatte er später zurückgezogen und einen anderen Kandidaten vorgeschlagen, allerdings erst, nachdem van Enghusen sein Einverständnis zur Hochzeit öffentlich im Rat verkündet hatte.

Obwohl sich die Mägde alle Mühe gegeben hatten, die Braut besonders fein herauszuputzen, war es ihnen nicht gelungen, ihr Aussehen zu kaschieren. Gurkennase blieb eben Gurkennase. Agnes trug einen blauen Rock aus Seide, der in dichten Röhrenfalten fast bis zum Boden reichte. Das weiße Oberteil war aus fein gewebtem Leinen, die Arme trichterförmig geschnitten. Über dem rechteckigen Ausschnitt trug sie eine schwere Goldkette. Ihr widerspenstiges Haar war von einer Spitzenhaube verborgen, die mit goldenen Nadeln in Form gehalten wurde. Ihr Goller aus Seide war ebenfalls blau und mit hellgrauem Pelz besetzt. Ihr von Pickeln übersätes Gesicht war vor Aufregung gerötet, was die Eiterbläschen umso deutlicher hervortreten ließ.

An ihrer Seite stand Lucas van Enghusen und machte nicht gerade ein glückliches Gesicht. Auch er trug seine beste Kleidung: ein enges Wams mit bis zu den Knien reichendem Faltenschoß, eine ärmellose Schaube, die mit Pelz besetzt war, ein knallrotes Barett mit bunten Pfauenfedern. Obwohl er hochgewachsen und schlank war, überragte Agnes ihn deutlich. Nur seinem roten Haarschopf war es zu verdanken, dass er neben der massigen Gestalt seiner zukünftigen Frau nicht völlig unterging. Die kirchliche Messe und die Heiratsliturgie verfolgte Lucas mit geistesabwesendem Gesicht. Erst als Pastor Lucius ihn zum Jawort aufforderte, erwachte er aus seiner Erstarrung und stammelte kaum hörbar seine Zustimmung. Agnes’ Einverständnis hingegen war bis in den hintersten Winkel der Kirche zu hören. Nach einem letzten Gebet und dem Segen des Priesters blieb der Bräutigam regungslos stehen. Sein Vater musste ihn in die Seite stoßen, damit er an der Seite seiner Gattin Richtung Ausgang schritt.

Auf dem Kirchplatz wurden vereinzelte Hochrufe laut, als das Paar ins Freie trat und auf den Wagen kletterte, mit dem die Frischgetrauten zu Haus Cliff fahren wollten. So verlangte es die alte Tradition. Erst diese Heimführung, die unter Zeugen erfolgende Beschreitung des Ehebetts am Abend und die symbolische Darreichung der Morgengabe am nächsten Tag machten die geschlossene Ehe rechtsgültig.

Zwei Stunden später war die Feier im Haus Cliff in vollem Gange. Zahlreiche Aushilfskräfte unterstützten die Mägde des Hauses, um die Hochzeitsgäste zu bedienen. Seit Tagen schon wurde in der Küche gebraten und gekocht. Wein- und Bierfässer stapelten sich seit Wochen in den Kellern des Anwesens. Es fehlte an nichts. Die Tafeln bogen sich unter den Speisen, die unaufhörlich herbeigeschleppt und aufgetragen wurden. Wein und Bier flossen in Strömen. Musikanten spielten zur Unterhaltung der Feiernden. Zwar hatte der Hattinger Rat, wie viele andere Städte auch, eine Hochzeitsordnung verabschiedet, um solche Feierlichkeiten hinsichtlich der Dauer und der Anzahl der Festgäste nicht ausufern zu lassen, Reinhard von Krekenbeck allerdings dachte nicht im Geringsten daran, sich diesen Regularien zu unterwerfen. Und da alle Ratsmitglieder, die beiden Bürgermeister – Hinrick van Enghusen als Vater des Bräutigams ja ohnehin – und der Droste als Vertreter des Landesherrn anwesend waren, bestand keine Gefahr, dass sich der Gastgeber wegen möglicher Regelüberschreitung vor irgendjemand würde verantworten müssen.

Lucas kippte ein Glas des schweren Weins nach dem anderen herunter, wohl um sich für das Kommende zu wappnen. Von Zeit zu Zeit sah er mit wachsendem Unbehagen seine Gattin an, die mit glühendem Kopf neben ihm saß und deren Hand die seine suchte. Wann immer ihn ihre Finger berührten, zog Lucas seine Hand abrupt zurück, was Agnes mit wachsender Enttäuschung registrierte.

Natürlich wusste sie, dass diese arrangierte Ehe geschäftlicher Natur war. Doch in ihrem Herzen hatte sie von einem Mann wie Lucas geträumt. Zugegeben, er hätte einige Jahre älter als sie sein können. Aber er sah gut aus und stammte aus einer ehrbaren Familie. Sie hätte es schlechter treffen können. Deshalb war Agnes auch wild entschlossen, ihrem Mann eine treue Frau zu sein und ohne Murren an seiner Seite zu dienen. Und sie hoffte, ihm den Erben zu schenken, den ihr Vater so dringend benötigte. Dafür allerdings war es erforderlich, dass sich ihr Gatte nicht bis zur Halskrause mit Wein volllaufen ließ.

Sie suchte den Blick ihrer Mutter und zeigte verstohlen auf das Weinglas ihres Mannes. Apolonia von Krekenbeck verstand sofort. Sie winkte die Magd zu sich, die für die Bewirtung des Brautpaares und der Ehrengäste zuständig war, und raunte ihr etwas ins Ohr. Die junge Frau grinste anzüglich und nickte. Ab sofort würde Lucas nur noch stark verdünnten Wein erhalten.

Am frühen Abend waren einige der Feiernden schon so betrunken, dass sie von der langen Bank rutschten und auf dem Saalboden liegen blieben. Die Knechte zogen sie hoch und schafften sie in die Scheune, wo Strohlager auf die Besinnungslosen warteten. Ein Bediensteter hielt dort Wache, um zu verhindern, dass einer der Gäste im Vollrausch irrtümlich das Gebäude abfackelte.

Einige Stunden später war es dann so weit. Das Ehepaar wurde zu Bett geleitet. In Begleitung der Eltern, einiger Mitglieder des Rates und des Drosten schritt das Paar die Stufen zu seinem Gemach hinauf, wobei Agnes in der Tat schritt, Lucas eher stolperte. Nur dank des mehrmaligen, beherzten Zugreifens seines Vaters schlug der Junge auf den Treppen nicht lang hin.

Zwei Fackeln an den Wänden und Kerzen, weit vom Bett entfernt, beleuchteten die Kammer. Hinrick van Enghusen trug seinen Sohn mehr, als dass dieser aus eigenen Kräften ging. Er brachte Lucas zur Bettkante und setzte ihn dort ab.

»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, flüsterte er seinem Sprössling ins Ohr. »Augen zu und durch.«

Lucas’ Antwort war nicht zu verstehen. Mit glasigem Blick glotzte er in die Runde. Sein Oberkörper schwankte hin und her. Er stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf dem Bett ab und gab mit einer Bewegung der linken Hand den Anwesenden zu verstehen, dass sie verschwinden sollten.

Als der letzte der Gäste die Tür hinter sich geschlossen hatte, beugte sich Lucas über die Bettkante und übergab sich auf den Boden. Dann schob er sich zurück auf das Lager, lallte etwas Unverständliches und war unmittelbar darauf fest eingeschlafen. Alle Versuche Agnes’, ihren Mann zur Erfüllung seiner ehelichen Pflichten zu bewegen, blieben vergebens.

Apolonia von Krekenbeck war eine kluge Frau. Sie hatte die Hochzeiten ihrer älteren Schwestern begleitet und natürlich ihre eigenen Erfahrungen sammeln können. Deshalb war sie auch auf alles vorbereitet. Sie hatte die vertrauenswürdigste der Mägde angewiesen, in einer Nachbarkammer des Hochzeitszimmers zu warten. Und als Agnes in ihrer Verzweiflung das vereinbarte Klopfzeichen an jener Tür machte, stand die Frau einen Moment später im Schlafgemach des jungen Paares und erfasste die Situation sofort.

Die Magd legte ihren Beutel ab, ging zurück in den Nebenraum, holte Eimer und Lappen und reinigte den Boden vom Erbrochenen. Dann zogen die beiden Frauen dem Betrunkenen die Kleider aus und legten ihn zurück auf das Lager. Lucas reagierte nicht. Die Bedienstete hatte damit gerechnet und griff zu ihrem Beutel. Darin befanden sich eine mit etwas Hühnerblut gefüllte Schweinsblase und ein scharfes Messer. Sie ging zum Bett, schlug die Decke beiseite, schlitzte die Blase auf und ließ das Blut auf das Laken fließen. Sie bedeutete der jungen Herrin, ihr Nachtkleid ebenfalls damit zu beschmutzen. Als alles zu ihrer Zufriedenheit arrangiert war, gab sie Agnes zu verstehen, dass sie sich nun schlafen legen sollte. Danach verließ sie das Zimmer, um ihrer Herrin Bericht zu erstatten und den Lohn für ihre diskrete Arbeit entgegenzunehmen.

Die Magd, die als das größte Klatschmaul im Hause Cliff galt, war von Apolonia von Krekenbeck eingeteilt worden, am nächsten Morgen das Zimmer der Brautleute zu reinigen. So war sichergestellt, dass wenig später die halbe Stadt nicht nur von der Manneskraft des Bräutigams, sondern auch von der Jungfräulichkeit der Braut erfuhr, sodass ein unwiderlegbarer Beweis dafür vorlag, dass die Ehe auch vollzogen worden war. Alles andere würde sich finden. Denn Lucas war jung. Und junge Böcke suchten, so nahm seine Schwiegermutter mit Recht an, über kurz oder lang ein Ventil für ihre Triebe. Es galt nur zu verhindern, dass er seine Befriedigung an anderer Stelle als im eigenen Ehebett fand. Aber dafür gedachte Apolonia zu sorgen. Und so würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis das Haus von Krekenbeck endlich einen männlichen Erben hätte.

3

Arnsberg, 31. März 1502

Die Felsen links von ihm rückten näher zur Ruhr heran. Dunkelbraune, fast schwarze Schieferwände erhoben sich steil nach oben. Nur vereinzelt klammerten sich Birken an Felsvorsprüngen fest. Auf einer kleinen Anhöhe blieb Jorge für einen Moment stehen, um sich zu orientieren. Er sah auf eine Holzbrücke hinunter, die den Fluss überspannte. Der Weg schien hinter der Brücke breiter zu werden, stieg dafür aber kontinuierlich an. Der Junge lief weiter. Die Brückenwächter schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit, als er an ihnen vorbeiging. Kurz darauf sah er vor sich die Giebel der ersten Häuser der Stadt, die sich hinter einer mächtigen Mauer versteckten. Jorge legte Cerbus das Halsband um und band ihn an die Leine. Die meisten Reisenden, denen er in den letzten Tagen begegnet war, hatten verängstigt reagiert, wenn sie sich unvermittelt einem so großen Hund gegenübergesehen hatten. Und Jorge wollte keinen Ärger.

Er folgte der Stadtmauer Richtung Süden, dann etwas nach Osten, bis er vor dem Stadttor stand.

»Wohin willst du, Junge?«, erkundigte sich der Torwächter und versperrte ihm mit seiner Lanze den Durchgang.

»Mir etwas zu essen kaufen«, erwiderte Jorge.

»Hast du Geld? Wir haben schon genug Bettler in unserer Stadt.«

Jorge zückte den Lederbeutel, den er dem Toten abgenommen hatte, und ließ die Geldstücke darin klimpern.

Der Soldat gab den Weg frei. »Aber pass auf deinen Köter auf. Wir haben schon …«

»Ich weiß«, antwortete der Junge und schritt zügig an dem Mann vorbei.

Nicht weit vom Tor entfernt weitete sich die Straße und Jorge erkannte, dass er sich auf dem Marktplatz befand. Zwar waren heute, einen Tag nach Ostern, keine Händler anwesend, aber an der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Backstube, deren Läden geöffnet waren. Jorge trat an das Fenster, fragte, was ein Brot kosten würde, und überschlug schnell seine Barschaft, als er die Antwort hörte. Der Preis war günstiger, als er gedacht hatte. Er kaufte drei Laibe und erkundigte sich nach einem Fleischhauer, um sich mit etwas Gedörrtem oder Gepökeltem einzudecken. Der Bäcker beschrieb ihm den Weg.

Nachdem Jorge seine Einkäufe getätigt hatte, rechnete er erneut nach. Die Nahrung, die er jetzt in seinem Beutel trug, würde für rund eine Woche reichen, wenn es ihm gelänge, den einen oder anderen Fisch zu fangen. Er hatte etwa ein Drittel von dem ausgegeben, was er bei dem Toten gefunden hatte. Blieb also noch genug Geld, damit sich Cerbus und er weitere zwei Wochen satt essen konnten. Über die Zeit danach wollte er sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Irgendwie würde es schon weitergehen.

Der Torwächter erklärte Jorge auf seine Frage, dass die Ruhr um Arnsberg herum in Bögen verliefe, und malte die Flussführung mit seiner Lanze in den Boden.

»Aha«, sagte Jorge. »Wie ein lang gestrecktes S also.«

Der Soldat sah den Jungen erstaunt an, erklärte dann aber: »Wenn du dem Fluss weiter Richtung Osten folgen willst, gehst du zur Ruhr hinunter, überquerst sie, läufst geradeaus die Straße den Hügel entlang, den du weiter hinten erkennen kannst, und erreichst auf der anderen Seite wieder das Wasser, ungefähr an dieser Stelle.« Er zeichnete ein Kreuz in den Dreck.

»Verstehe. Danke für die Auskunft.«

»Gern geschehen. Nur sei vorsichtig. In den Wäldern östlich und südlich von hier soll eine Räuberbande ihr Unwesen treiben. Es sind bereits Reisende überfallen worden, erzählt man sich in der Stadt.« Er warf einen Blick auf Cerbus. »Einen einzelnen Schurken mag dein Hund vielleicht abschrecken, nicht aber eine ganze Gruppe.«

Eine krächzende Stimme sprach sie von der Seite an: »Schnickschnack, ›Räuber‹. Es ist der Teufel, der in den Wäldern wartet.« Ein runzeliges Weib mit buckligem Rücken streckte die Hand aus. »Einen Pfennig für eine alte Frau.«

Jorge erinnerte die Alte an Enndlin, die er im verfallenen Kotten seiner Eltern getroffen hatte. Deshalb gab er ihr ein paar Münzen.

»Du hast ein gutes Herz. Sei schlau und vergiss nie die Gastfreundschaft, auch wenn du dem Teufel gegenüberstehst.«

»Verschwinde, du alte Hexe. Sonst mache ich dir Beine!« Der Wachsoldat schickte sich an, die Bettlerin gewaltsam zu vertreiben.

»Dir wird der Teufel deine Gastfreundschaft auch vergelten, aber anders, als es dem Herrn von Rüdenberg vergönnt war«, drohte sie der Wache. Dann wandte sie sich an Jorge: »Und bedenke, Knabe, der Teufel kommt in schwarzer Kleidung. Und mit einer roten Feder auf seinem Hut. Daran kannst du ihn erkennen. Ganz in Schwarz. Mit einer roten Feder.« Sie schlurfte davon.

»Was meint sie damit?«, erkundigte sich Jorge bei dem Soldaten.

»Weibergewäsch. Eine alte Geschichte, die Mütter ihren kleinen Kindern erzählen. Westlich von hier soll einmal eine Burg gestanden haben, die Rüdenburg. Deren Herr bewirtete eines Tages einen Reisenden, der sich später als der Teufel vorstellte und verschwand. Wenig später wurde die Rüdenburg von Feinden belagert. Die Übermacht war erdrückend. In der Nacht, bevor die Feinde die Burg stürmen wollten, hörten die Verteidiger Baulärm. Als sie am Morgen auf den Mauern standen, sahen sie eine lederne Brücke, die sich über das Ruhrtal zur Arnsberger Burg spannte. Die Mannen des Rüdenbergers nutzten den unverhofften Ausweg und flüchteten mit ihrem Herrn. Als die Angreifer ihnen folgten, erschien der Teufel und schnitt die Tragegurte durch. Die Angreifer stürzten in den Fluss und ertranken. Als die Männer fielen, ertönte ein schreckliches Gelächter aus den Spalten des Burgberges. So dankte der Teufel die Gastfreundschaft des Rüdenbergers.«

»Eine grausige Geschichte.«

»Für kleine Kinder vielleicht. Dich sollten die Räuber mehr als der Teufel interessieren.«

»Ich werde schon achtgeben.«

Jorge verabschiedete sich und machte sich auf den Weg, den ihm der Soldat gewiesen hatte.

Zwei Stunden später stand er tatsächlich an dem Punkt, den der Wächter in den Sand gezeichnet hatte. Von dort wandte Jorge sich flussaufwärts. Bis zum Abend wollte er noch einige Meilen hinter sich bringen. Er war etwa eine Stunde gelaufen, als Cerbus plötzlich die Ohren spitzte und stehen blieb. Jorge bemerkte das Zurückbleiben seines Begleiters erst nach einigen Schritten. Er drehte sich um, erkannte die Anspannung des Tieres und fragte: »Was ist los? Hast du etwas gehört?«

Ein dumpfes Grollen war die Antwort.

»Komm, weiter.« Jorge setzte seinen Marsch fort und der Hund folgte ihm. Allerdings war der Junge irritiert. Irgendetwas hatte die Aufmerksamkeit von Cerbus erweckt. Fragte sich nur, was. Er beschloss, vorsichtig zu sein.

Nach der nächsten Wegbiegung bekam er die Antwort. Vielleicht fünfzig Schritte von ihm entfernt stand am Wegrand ein beladenes Pferdefuhrwerk. Aber es war keine Menschenseele zu sehen. Langsam näherte sich Jorge dem Karren. Cerbus folgte ihm. Plötzlich blieb der Hund erneut stehen, nahm Witterung auf und ließ ein tiefes Knurren hören. Auch Jorge ging nicht weiter.

»Ich hoffe, du hast deinen Köter unter Kontrolle«, rief jemand. »Ich möchte ihn nicht erschießen müssen.«

Der Junge schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und entdeckte hinter einem Busch, auf einem Felsen sitzend, einen Mann mit einem Bogen in der Hand.

»Keine Angst, er gehorcht mir aufs Wort.«

»Hoffentlich.«

Jorge rief Cerbus zu sich und leinte ihn an. »Seht Ihr?«, rief er und setzte sofort hinzu: »Wenn ich aber die Leine loslasse …«

»Du brauchst mir nicht zu drohen, Junge. Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun. Im Gegenteil. Ich bin es, der Hilfe benötigt.« Der Unbekannte stand langsam auf und schlurfte aus der Deckung des Busches.

Der Mann war deutlich älter als Jorge, aber nur unwesentlich größer. Sein dunkler Bart war lange nicht mehr gestutzt worden und hing ihm fast bis auf die Brust. Auch seine struppigen Haare fielen bis auf die Schultern. Er trug die Kleidung der Landbevölkerung: einfache Beinlinge, darüber ein knielanges Schlupfkleid und einen Überwurf aus grobem Leinen, alles in schlichtem Grau gehalten. Nur sein Barett setzte einen Farbtupfer. Es war giftgrün und mit einer kleinen schneeweißen Feder verziert.

Während der Fremde näher kam, stützte er sich auf den Bogen. Er setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, fast so, als befürchtete er zu stürzen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bereitete ihm jeder Schritt Schmerzen. Der Mann, der sich da Jorge näherte, sah nicht so aus, als ob er ihm gefährlich werden könnte.

»Ich bin Lentz aus Kassel. Fahrender Händler«, stellte er sich vor, als er wenige Meter von Jorge entfernt stehen blieb.

Erst jetzt bemerkte der Junge den roten Fleck, der sich knapp unter der Schulter auf dem Schlupfrock am rechten Oberarm des Mannes ausbreitete.

»Und du bist?«

»Jorge von Linden.«

»Linden? Ist das nicht ein Ort in der Nähe von Hattingen?«

Jorge nickte.

»Und was machst du hier in dieser gottverlassenen Gegend?«

»Ich will nach Winterberg. Und von da weiter nach Polen.«

Lentz grinste. »Ein weiter Weg für einen Knaben.«

»Mag sein«, erwiderte Jorge knapp. Dann zeigte er auf den Blutfleck. »Seid Ihr verletzt?«

»Ja. Aber vergiss die Höflichkeitsfloskeln. Ich bin Lentz. Nicht ›Ihr‹ oder ›Euch‹.« Er ließ den Bogen, auf den er sich gestützt hatte, zur Seite gleiten und tippte mit den Fingern der linken Hand auf seinen rechten Oberarm. »Ein ärgerliches Missgeschick. Ich bin auf dem Bock eingeschlafen. Eigentlich kein Problem, denn der Gaul findet auch alleine seinen Weg. Aber der Karren ist in ein Schlagloch geraten und ich bin seitwärts vom Wagen gestürzt, genau in den Busch dahinten. Einer der dickeren Äste hat sich dummerweise in mein Fleisch gebohrt. Ich habe ihn zwar herausziehen können, aber die Verletzung hat heftig geblutet. Na, wird schon wieder heilen.«

»Ihr … Äh, du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Jorge dachte an seinen Pflegevater, der einer solchen Verletzung erlegen war. »Du könntest das Fieber bekommen. Soll ich mir deine Wunde ansehen?«

»Verstehst du dich auf solche Dinge?« Der Händler blickte überrascht.

»Ich bin kein Bader, wenn du das meinst. Aber ich kenne mich ein wenig mit Heilkräutern aus. Vielleicht kann ich dir helfen. Hast du Tücher, die ich als Verband nutzen kann?«

Lentz stolperte zum Karren, während Jorge die Kräuter aus seinem Beutel suchte, die ihm Bruder Thomas überlassen hatte. Als der Verletzte zurückkehrte, ordnete der Junge an: »Zieh deine Sachen aus. Ich feuchte eines der Tücher im Fluss an. Kann ich den Hund wieder loslassen?«

»Wenn er mich nicht frisst …«

»Das wird er nicht.« Er löste die Leine des Tieres. Cerbus legte sich auf Befehl neben Jorges Beutel und rührte sich nicht vom Fleck, als der Junge zum Fluss lief. Allerdings folgten seine Augen misstrauisch jeder Bewegung des Händlers.

Etwa eine halbe Stunde später war die Wunde gereinigt. Jorge hatte eine Paste aus Salbei und Melisse darauf geschmiert und die Verletzung so gut es ging verbunden. Er erhob sich, ging einige Schritte zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. »Mehr kann ich nicht für dich tun. Der Rest liegt in Gottes Hand.«

»Danke. Wie lange wird es dauern, bis ich den Arm wieder benutzen kann?«

Jorge zuckte mit den Schultern. »Zwei, drei Wochen vielleicht. Ich weiß es nicht. Wenn du den Arm allerdings zu früh belastest, reißt die Wunde womöglich wieder auf.«

Lentz dachte einen Moment nach. »Verstehst du dich auch auf das Führen von Pferden?«

»Nein.«

»Willst du es lernen?«

»Warum nicht?«

»Ich mache dir einen Vorschlag: Du begleitest mich einige Wochen, lenkst das Fuhrwerk, hilfst mir beim Verkauf meiner Waren und ich bringe dich dann bis nach Winterberg. Natürlich sollst du das nicht umsonst tun. Ich bezahle dich für deine Arbeit. Und Essen bekommst du auch.«

Eine Verzögerung von einigen Wochen. Das war nun nicht gerade in Jorges Sinne. Andererseits müsste er nicht allein durch die Wälder streifen. Und in Winterberg würde er bestimmt wieder Anschluss an andere Reisende finden. Da wäre eine Verzögerung nicht so schlimm. Ausschlaggebend für seine Entscheidung aber war der letzte Satz des Händlers. So musste er sich keine Gedanken mehr darum machen, wovon Cerbus und er sich ernähren würden. Und wenn er genug Geld verdiente, wäre auch seine Weiterreise ab Winterberg kein Problem mehr. »Wie viel zahlst du?«, wollte er deshalb wissen.

»Einen Zehnten vom Verkaufserlös. Da dürfte ein schöner Batzen zusammenkommen.«

Jorge zögerte nun nicht mehr. »Einverstanden«, meinte er und reichte seinem neuen Partner die Hand.

»Nur eine Bedingung habe ich«, sagte Lentz.

Jorge zog seine Hand zurück. »Welche?«

»Du musst deinen Hund nachts festbinden, wenn du schläfst. Er scheint mich nicht gerade zu mögen und macht mir ein wenig Angst.«

»Wenn’s mehr nicht ist.« Jorge streckte seinen Arm wieder aus.

Und der Händler schlug ein.

4

Lübeck, 1. April 1502

Seit neun Monaten lebte Marlein van Enghusen nun schon bei ihrem Onkel Jobst und seiner Frau Irmla in Lübeck. Langsam wurden ihr die Straßen und Plätze der großen Stadt vertraut, wenngleich sie sich ohne Begleitung noch nicht zu weit von dem Wohnhaus ihrer Verwandten in der Engelsgrube entfernen wollte. Vom Dom im Süden bis zum Burgtor im Norden zu laufen, war ja noch einfach. Die Türme des Doms, von Sankt Marien und Sankt Jakobi stellten gut sichtbare Wegmarken dar, außerdem musste man über weite Strecken nur der Königsstraße folgen. Verwirrend hingegen war die große Zahl an Gassen, Gängen und Höfen, die von den Hauptstraßen abgingen. Lübeck war in Marleins Augen ein riesiges Labyrinth.

Das Haus ihres Onkels war aus massiven Ziegeln errichtet worden. Es hatte zwei Stockwerke, war mit zwanzig Schritt jedoch nicht sehr breit. Alle Fenster, die zur Straßenseite gingen, waren zu ihrem Erstaunen verglast, selbst jenes rechts neben dem Eingang, das genauso hoch wie das Stockwerk selbst war und hinter dem die Stube lag. Marlein hatte die Butzenscheiben in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes immer wieder gezählt. Es waren über einhundert.

Links neben der Haustür ging der Gang ab, der zum Hof führte. Dort stand die Bude, ein einfacher Holzbau von nur geringer Größe, in der die beiden Mägde des Haushalts hausten. Außerdem lag dort auch der Abort. Wasser schöpften sie aus einem Brunnen auf der Straße, der allen Anwohnern zur Verfügung stand.

Als Marlein zum ersten Mal bei Tageslicht vor dem imposanten Gebäude gestanden hatte, war sie aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Es erschien ihr um so viel stattlicher als das Wohnhaus ihrer Eltern. Der gemauerte Giebel, der sich weit in den Himmel erstreckte. Die runde Türöffnung. Und die Ornamente, die die Fassade verschönerten. So etwas gab es in Hattingen nicht. Schon nach kurzer Zeit kam ihr ihre Heimat im Vergleich zu der Großstadt Lübeck klein und schäbig vor. Hier pulsierte das Leben. Die Schiffe, die in den Häfen anlegten, brachten Waren aus aller Herren Länder. Der Klang fremder Sprachen schwirrte durch die Gassen. Und an den Markttagen war die Luft erfüllt von exotischen Gerüchen.

Trotzdem vermisste sie Hattingen. Besonders Jorge. Sie bedauerte, sich nicht von ihm verabschiedet zu haben. Aber ihr erzwungener Aufbruch war zu überraschend gekommen. Ihr Vater hatte erfahren, dass Jorge sie heimlich unterrichtete. Und als dann auch noch Lucas, der Jorge abgrundtief hasste, behauptet hatte, Jorge habe seiner Schwester Marlein nachgestellt, sie belästigt und sogar bestohlen, verbot der Vater ihr jeden Umgang mit Jorge, schlimmer noch: Sie musste sich entscheiden. Das Kloster oder ein Leben in Lübeck. Sie hatte Lübeck gewählt.

Zwar war es Marlein gelungen, Jorge vom Verdacht des Diebstahls reinzuwaschen, aber den freundschaftlichen Kontakt zu ihm konnte und wollte sie nicht leugnen. So musste sie die ersten Monate, nachdem sie den perfiden Plan ihres Bruders vereitelt hatte, im Haus bleiben und durfte es ausschließlich in Begleitung ihrer Mutter verlassen. Dann war eines Tages im Spätsommer plötzlich ein Knecht ihres Onkels aufgetaucht. Ihre wenigen Habseligkeiten waren von den Mägden bereits gepackt worden. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen: Ihre Eltern hatten sie noch bis zum Weiltor begleitet. Dort hatte ein mit zwei Pferden bespanntes Fuhrwerk gewartet. Der Fahrer hatte im Auftrag ihres Onkels feines Tuch von Lübeck nach Hattingen gebracht und machte sich nun mit vollen Weinfässern auf den Rückweg.

Die Reise hatte fast zwei Wochen gedauert. Der Knecht, ein mürrischer Kerl mit Händen wie Schaufeln, hatte nur wenige Worte mit ihr gewechselt. Nur morgens war er etwas gesprächiger gewesen.

»Wenn du versuchst wegzulaufen, schlage ich dich grün und blau und binde dich für den Rest der Fahrt. Hast du das verstanden?«, hatte er jeden Tag gedroht und dann wieder geschwiegen.

Marlein hatte nicht vorgehabt, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu überprüfen. Also war sie die meiste Zeit neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen geblieben, hatte sich die Gegend angeschaut und dann und wann mit anderen Reisenden geschwatzt, die ihnen begegneten. Wenn es regnete, hatte sie sich in einen winzigen Verschlag verkrochen, der auf der Ladefläche stand und Schutz gegen das Wetter bot. Dort verbrachte sie auch die Nächte, während der Knecht unter dem Wagen Platz fand. Sie aßen gedörrtes Fleisch und Brot, als Getränk diente verdünnter Wein. Die Ankunft in Lübeck hatte sie in ihrem Unterschlupf auf dem Karren verschlafen. Als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte sie in einem Wandbett in einer Kammer gelegen, die von nun an für die nächsten Jahre ihr Zuhause darstellen sollte.

Obwohl fast zehn Jahre jünger als sein Bruder, war auch ihr Onkel ein wohlhabender Mann. Gewiss, er war nicht so reich wie die alteingesessenen Kaufmannsfamilien, deren Prachtbauten die Königsstraße säumten. Aber das Haus in der Engelsgrube gehörte ihm und war frei von Schulden.

Vor etwa zwanzig Jahren war Jobst van Enghusen als Vierzehnjähriger nach Lübeck gekommen. Er hatte Hattingen verlassen, weil er als Zweitgeborener nach dem Tode des Vaters lediglich das Pflichtteil geerbt hatte, während sein älterer Bruder den Großteil des Besitzes übernahm. Dessen Angebot, als sein – allerdings kleinerer – Teilhaber zu fungieren, hatte Jobst abgelehnt und war stattdessen gen Norden gezogen. In den ersten drei Jahren hatte er sich auf einem Lübecker Handelsschiff als Maat verdingt, bis er dann auf einem Dreimaster, einer kraweelgebauten Kogge, anheuerte. Dort brachte er es in nur wenigen Jahren bis zum zweiten Steuermann, der fast die gesamte Nord- und vor allem Ostsee befahren hatte und viele der in den Hafenstädten dieser Meere ansässigen Kaufleute persönlich kannte. Vor zehn Jahren nutzte Jobst van Enghusen diese Kontakte und ließ sich als Kaufmann nieder, machte in den Folgejahren einige sehr gute Geschäfte, wurde Mitglied des Schiffergelags, der Gilde der Seeleute, kaufte mit einem Partner eine Kogge und war bald ein angesehener Kaufmann der Stadt. Jobst handelte mit allem, was in die Laderäume seines Schiffes passte. Besonders aber verstand er sich auf den Handel mit wertvollen Stoffen, die er überwiegend aus Flandern importierte und bis in den hohen Norden weiterverkaufte. Aber auch mit Gewürzen und Waffen aus dem Mittelmeerraum, die über Brügge den Weg nach Lübeck und von da weiter zu den anderen Ostseehäfen fanden, machte die Gesellschaft gute Gewinne, obwohl das Geschäft nicht mehr so lief wie in den vergangenen Jahren. Und auf dem Rückweg stapelten sich im Bauch der Kogge Bernstein, Wachs und Honig aus Riga und den anderen Häfen im Osten. Das junge Unternehmen war bisher von Unglücken verschont geblieben, sodass Jobst van Enghusen darüber nachdachte, in ein zweites Handelsschiff zu investieren. Seinen Teilhaber allerdings musste er von diesem Vorhaben erst noch überzeugen.

Jobsts Frau Irmla, die er vor drei Jahren zum Traualtar geführt hatte, stammte aus einer der wohlhabenderen Handwerksfamilien der Stadt und hatte keine Geschwister. Das Ehepaar van Enghusen war kinderlos, was insbesondere die knapp zwanzigjährige Irmla zutiefst bedauerte. Möglicherweise deshalb kümmerte sie sich um Marlein wie um eine eigene Tochter und auch Jobst van Enghusen führte ein wesentlich weniger strenges Regiment in seinem Hause, als das Mädchen es aus Hattingen gewohnt war.

Beide ließen Marlein viele Freiheiten – bis auf eine: Ihr war jeder Kontakt zu Jungen strikt untersagt. Dieses Versprechen hatte Hinrick dem jüngeren Bruder abgenommen, bevor er seine Tochter in dessen Obhut gegeben hatte. Für Marlein stellte das kein besonders großes Opfer dar. Jungs interessierten sie ohnehin nicht besonders. Die einzigen, die vor ihren Augen Gnade fanden, lebten weit entfernt. Alles in allem hatte sie es gut getroffen. Aber ihre Freunde Jorge und Aron fehlten ihr. Und sie fragte sich nicht nur einmal, wie es ihnen wohl ergangen war.

Die Engelsgrube lag nicht weit entfernt vom Hafen an der Trave im Norden der Stadt. Marlein lief häufig dorthin, um das Treiben am Wasser zu beobachten. Direkt gegenüber dem Kai, wo die Schiffe entladen wurden, hatte die Handelsgesellschaft ihres Onkels eines der Lagerhäuser gepachtet. Dorthin schafften Dutzende von Hafenarbeitern die Waren, die nicht sofort weiterverkauft werden sollten. Stundenlang konnte Marlein auf den Treppen des Lagerhauses sitzen, dem Entladen der Koggen, ihrem Ein- und Auslaufen zusehen und den Rufen der Seeleute lauschen. Sie träumte sich selbst an Bord eines der Handelsschiffe, das in die weite Welt hinausfuhr. Sie wollte jedoch nicht kaufen oder verkaufen, sondern Abenteuer erleben, ferne Länder entdecken und vor allem lernen.

»Marlein, deine Tante wartet.« Eine der Mägde griff ihre Hand. »Wir müssen gehen. Es ist spät.«

Gehorsam erhob sich die Zwölfjährige. Morgen würde sie ohnehin wiederkommen.