Coverbild

Mark Polizzotti

Highway 61 Revisited

Bob Dylan’s Road Album

Aus dem Englischen von

Christine Heikamp

FUEGO

– Über dieses Buch –

Seit 50 Jahren dreht sich nun schon Highway 61 Revisited auf den Plattentellern der Welt, aber Mark Polizzottis Buch zeigt all das auf, was man bisher überhört hat. Mit seinen durchdachten und kompetenten Analysen fasst er das Wissen über das Album zusammen und fügt neue Ideen und Details hinzu. Damit trägt er zu einem tiefen Verständnis darüber bei, wie dieser Meilenstein in der Musikgeschichte entstand. Das Buch bietet eine eigenwillige, fesselnde Einführung und beschert allen Dylan-Fans einige neue Einsichten.

Bemerkenswert ist seine Sezierung der musikalischen Schichten eines jeden Songs des Albums und des Beitrags eines jeden Musikers zu den einzelnen Stücken. Aus vielen seiner Beschreibungen von den Entwicklungen der Stücke im Studio gewinnt man ein neues Verständnis von dem, was dort wirklich passierte.

Mark Polizottis Stil ist ruhig und einfühlsam, elegant und nie aufgeregt oder marktschreierisch. Man merkt ihm dennoch seine Begeisterung für das Werk an. Ein intelligentes Buch, das einen über die gesamte Lektüre hinweg fesselt.

 

 

»Die beneidenswerte Errungenschaft dieses Buches ist es, wirklich neue Dinge zu sagen, und das in knappen, energiegeladenen Sätzen ... Elementare Wahrheiten, die ich vorher noch nie gelesen habe.«

Michael Gray, Autor von The Bob Dylan Encyclopedia

I.

 

 

Tod und Gemüse

 

 

 

 

 

 

Die Platte zieht einen in ihren Bann, noch bevor man sie aus der Hülle nimmt. Es liegt an diesem Blick. Von niemandem sonst wurde man vom Plattencover herab so herausgefordert. Und auch für Dylan war das ungewöhnlich, obwohl bei ihm das Foto auf der Hülle ebenso Teil des Auftritts war wie die Musik darin – man denke nur an die selbstgefällige Anmache auf seinem Debüt 1962 und den fragenden Blick auf Bringing It All Back Home. Dieser Blick, den er einem von Highway 61 Revisited aus zuwirft, nötigt einen schon fast dazu, die Platte zu kaufen und auf den Plattenteller zu legen.

Heutzutage ist man finster dreinblickende Rockstars ja gewohnt; aber im Sommer 1965, inmitten von Sonny und Cher, den Beach Boys, den Lovin’ Spoonful und all den anderen grinsenden Combos, war das einfach unvorstellbar. Dylan war schon zehn Jahre vor Johnny Rotten der größere Punk.

Das Coverbild von Daniel Kramer ist inzwischen so berühmt geworden, dass es eigentlich keiner Beschreibung mehr bedarf: Dylan sitzt im Aufgang des Gramercy Park-Appartments seines Managers, das er nach Belieben nutzen konnte, und hinter ihm steht, allerdings nur bis zur Hüfte sichtbar, sein Reisekumpan und Hofnarr Bob Neu­wirth.

Unter einem blau-lila gemusterten Seidenhemd trägt Dylan ein T-Shirt mit nur teilweise lesbarem Triumph Motorcycles-Schriftzug, in der rechten Hand hält er zusammengeklappt die berühmte Ray-Ban-Sonnenbrille. Sein Gesichtsausdruck unter der aufgelösten Haartolle, der sich kein Kamm zu nähern wagt, liegt irgendwo zwischen Herausforderung und Verdruss: er weiß, dass die Musik gut ist – die beste, die er je gemacht hat –, aber er erwartet nicht, dass wir das verstehen, und rüstet sich zum Kampf. Die leichte Neigung des Kopfes nach links betont die Ansage noch. (Auf einem anderen Bild dieser Serie sieht Dylan mit gerunzelter Stirn und geradem Kopf einfach nur gereizt aus.) Hinter seiner linken Schulter scheinen die Umrisse eines Motorradlenkers und -schein­werfers erkennbar, möglicherweise ein Hinweis auf die Reiseassoziationen, die der Albumtitel weckt. Tat­säch­lich sind es nur die Griffe eines Kinderwagens, der dem Pärchen im Obergeschoss gehörte.

Kramer, der auch den verschwimmenden Innenraum auf Bringing It All Back Home in Szene gesetzt hatte, erzählte: »Wir sind einen Tag lang in New York herumspaziert, haben verschiedene Schauplätze ausprobiert und in einem Klamottenladen noch Outfits für Bob gekauft; auf dem Foto trägt er allerdings seine eigenen Sachen (…) Ich stellte [Neuwirth] hinter ihn, um mehr Farbe ins Bild zu kriegen«.v1 Das so entstandene Foto wurde zum ultimativen Dylan-Porträt jener Zeit.

Doch die Geschichte hinter dem Bild, das einem heute so unvermeidlich erscheint, dient auch als Warnung. Schließlich war es nur eines von mehreren, die für den Titel zur Auswahl standen, und die Verbindung, die man zwischen dem Cover und der Musik entdeckt, existiert vor allem in der eigenen Vorstellung. Aber genau wie jener manisch streitlustige Journalist nicht aufhören konn­te, Dylan auf der Pressekonferenz in San Francisco am Ende jenes Jahres zu löchern, warum er ein Triumph-T-Shirt getragen habe, kann man selbst einfach nicht aufhören, dieses Bild zu interpretieren. Irgendwas zwingt einen dazu, unbedingt wissen zu wollen, was dieses Bild bedeutet. Tatsächlich entstand das enigmatische Portät eher zufällig. Nachdem an drei, vier Schauplätzen bereits Aufnahmen gemacht worden waren, erzählte Kramer, »gingen wir irgendwann zurück zum Appartment (…) Da ich das Licht draußen immer noch geeignet fand, schossen wir noch ein paar Bilder auf den Stufen. Als wir später meine Vorauswahl durchgingen, fokussierte Bob sich völlig auf dieses Bild und fand, dass es sein Albumcover werden sollte. Obwohl da noch ein oder zwei andere Bil­der dabei waren, die einen ebenso guten Titel abgegeben hätten. Und dann sagten die Leute: ›Dieses Foto ist Kult, was für ein Glück, dass du genau das ausgesucht hast.‹«v2

Kramer verweist auf das Beispiel des russischen Regisseurs Sergej Eisenstein und dessen berühmte Kompositionen, in denen er Nahaufnahmen von Gesichtern neben eine Vielzahl kontrastierender Szenen stellte: Soldaten, die nachladen; ein Kinderwagen, der die Stufen hinunterrumpelt. »Und wenn die Zuschauer das Gesicht nach einer dieser Szenen sehen, sagen sie: ›Der Gesichtsausdruck ist perfekt getroffen. Das zeigt, was die Person fühlt: Horror, Freude, Überraschung.‹ Man interpretiert das hinein.« Denn tatsächlich wurde das Foto für Highway 61 Wochen vor dem Album gemacht, nicht als Reak­tion darauf: »Das Bild wurde vor der Musik aufgenommen. Wobei ich schon eine Ahnung hatte von dem, was Bob zu erreichen versuchte und wonach er suchte.« So wie wir jetzt, fünfzig Jahre später, glauben, dass wir in diesem Gesicht, das uns so trotzig ansieht, die Musik sehen, nach der wir suchen: Musik, die keine Konzessionen an den zeitgenössischen Geschmack macht und niemanden zu Rate zieht als sich selbst; Musik, die sich genau aus diesen Gründen so zeitlos anhört wie die alten Balladen, in denen sie wurzelt; Musik, die uns selbst nach all diesen Jahren immer noch das hören lässt, was wir hören wollen.

 

 

Highway 61 Revisited wurde am 30. August 1965 veröffentlicht, landete im November in den Billboard-Charts auf Platz 3 und bescherte Dylan das zweite Gold in Folge. Es steht an der Spitze einer monumentalen Trilogie von Alben, die – angefangen mit dem forschenden Geschreie auf Bringing It All Back Home und endend mit dem faszinierenden Exzess von Blonde on Blonde – in wenig mehr als einem Jahr aufgenommen wurden. Man könnte auch sagen: es stellt die Verbindung her zwischen Bringings unverfrorenem »Was könnt ihr mir sonst noch zeigen?«*1 und Blondes erschöpftem »Ich war­te darauf herauszufinden, welchen Preis man bezahlen muss, um all das nicht zweimal durchzumachen«.*2 Die Platte ist von einzigartiger Direktheit, von Pragmatismus sogar: hart wie ein Diamant, kraftvoll wie ein V-8-Zylin­der, auch mal fröhlich spontan, aber immer kontrolliert. Dylan beschrieb seine damalige Musik als »mathematisch«, und tatsächlich zeigt keines seiner Alben ein derartiges Gefühl für Präzision, während es gleichzeitig so tollkühn vorwärts rast. Mit »Like a Rolling Stone« enthält es zumindest einen Song, der zum Klassiker gesalbt und 2004 von der Zeitschrift, die seinen Namen trägt, zum größten Rock-Song aller Zeiten gekrönt wurde, dazu noch einige andere – »Ballad of a Thin Man«, »Just Like Tom Thumb’s Blues«, das epische »Desola­tion Row« –, die den Zenit von Dylans Songwriter-Karriere verkörpern. Und es ist eines der wenigen Alben, die Dylans erbarmungsloser Selbstkritik standhalten. In den Begleitheften bezeichnete er die Songs scherzhaft als »Übun­gen in tonaler Atemkontrolle«. Da war es sehr un­ge­wöhnlich, dass er später im gleichen Jahr in einem Interview sagte: »[Meine Platten werden] ab jetzt nicht mehr besser werden (...) [Highway 61 ist] einfach zu gut. Da ist eine Menge Zeug drauf, das sogar ich mir anhören würde.«v3

Wie so oft bei Dylan ist auch bei Highway 61 Revisited der Titel Programm. Ein paar Bemerkungen gegenüber seinem Biographen Robert Shelton zeigen, wie wichtig er ihn nahm und wie viel Aufwand es war, ihn durchzusetzen: »Ich wollte das Album Highway 61 Revisited nennen. Niemand hat das verstanden. Ich musste bis ganz nach oben gehen, damit von dort endlich der Befehl erlassen wurde: ›Lasst ihn das Album so nennen, wie er es nennen will.‹«v4

Das Album ist der Fahrplan in neues Gelände, und zwar sowohl eine Rückkehr in jene Gegend, in der der Künstler seine Jugend verbracht hat, als auch die Erforschung der Achse, die sein nord- und sein südamerikanisches Erbe (im weitesten Sinne Weiß und Schwarz, Folk und Blues) verbindet, die zwei Pole, zwischen denen Dylans rastlose Entwicklung stattfindet. Jack Kerouac schildert in On the Road – eine der großen Inspirationen von Dylan – die Blitzbesuche von Sal Paradise and Dean Moriarty bei verschiedenen Bekannten während ihres wahnsinnigen Zickzacks quer durch Amerika. Auf Highway 61 behandelt Dylan die Elemente seiner musikalischen Ausbildung wie sonst die Freunde und Beziehungen auf seiner Reise: manchen wird ihre Gastfreundschaft vergolten, andere werden ausgenutzt.

Über Dylan and Highway 61 wurde schon so viel geschrieben, dass jeder weitere Kommentar überflüssig erscheint. Dylan ist nun mal der Rockstar der Intellektuellen und diente bereits Generationen von Kommentatoren als geistige Katzenminze. Andere beliebte Künstler, von den Beatles über Michael Jackson bis zu Mariah Carey, haben wesentlich mehr Platten verkauft, aber nicht einer hat eine ähnliche Menge an Referenzen, wenn nicht gar an Ehrerbietung errungen.

Die Magie von Dylans Werken besteht zum Teil genau darin, dass es einen drängt, sie mit Worten in den Griff zu bekommen, mehr damit zu tun, als sie einfach mit nach Hause und dort in sich auf zu nehmen. Die emotionale Reaktion auf Dylan kann – zumindest bei bestimmten Zuhörern – so mächtig sein, dass sie in irgendeiner Form zurückgegeben werden muss. Joan Baez meinte dazu: »Manche Menschen sind einfach nicht interessiert. Aber wenn Du interessiert bist, dann geht er einem sehr, sehr tief.«v5

Doch egal wie aufschlussreich ein Kommentar, wie vollständig eine Analyse auch sein mag: Dylans Musik lässt sich nicht einfangen, sie fordert den unerschrockenen Kritiker zu immer noch einem Versuch heraus, denn sie weiß, dass er niemals das letzte Wort finden wird. Und auch das ist Teil ihrer Magie.

Ist Highway 61 Revisited das vollkommene Dylan-Album? Es gab so viele Dylans, dass diese Frage nicht wirklich zu beantworten ist. Sicher ist, dass es am Kreuzweg eines fundamentalen Wandels in der Landschaft der amerikanischen Unterhaltungsmusik und Kultur steht, eines Wandels, die es selbst mit herbeigeführt hat. Es ebnete den Weg für Formen des Rock, die vielschichtiger und literarischer sind, und lenkte den Weg des Pop weg von »Surf’s Up« zu »In My Life« von den Beat­les und »Paint It Black« von den Stones. (Tatsächlich könnte man die meisten Lieder auf Aftermath, von »Lady Jane« bis zu dem elfminütigen »Goin’ Home«, als billige Kopie von Highway 61 beschreiben.) Andere Platten mögen zwar auch Dylans ständig wechselnde Stimmungen widerspiegeln oder seine quecksilbrige Fähigkeit, seine persona immer wieder neu zu erfinden (man denke an Nashville Skyline und Slow Train Coming), doch keines verkörpert den Nervenkitzel, die Freiheit und das pure waghalsige Draufgängertum, das Highway 61 selbst fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung noch ausstrahlt. Die Zeit hat keine der Kanten abgeschliffen. Sobald man sich erlaubt, sich auf diese Reise zu begeben, klingt jegliche andere Unterhaltungsmusik frivol und konventionell.

 

 

Für viele ist Highway 61 Revisited Dylans erster resoluter Schritt über die Linie, die den »Folkie« vom hyper-dynamischen Rock-Visionär trennt. Doch war, wie er damals immer wieder betonte, die vermeintliche Hinwendung zur E-Musik in Wirklichkeit eine Rückkehr, eine Wiederaufnahme des Little Richard-Rock’n’Rolls, den er als Teenager mit einer Reihe von Garagenbands mit so bezeichnenden Namen wie Golden Chords, Shadow Blasters oder Elston Gunn and The Rock Boppers heraushämmerte.

Sogar sein goldenes akustisches Zeitalter wurde von elektrischen Geistern heimgesucht, angefangen mit seiner ersten Single »Mixed Up Confusion« (1962) bis hin zu vier Songs mit elektrischer Unterstützung, die für das historische Freewheelin’ Bob Dylan-Album von 1963 be­stimmt waren, wobei es von diesen nur das unterbewertete »Corrina, Corrina« auf die Platte schaffte. (Wobei es immer aufs Timing ankommt: Als Cynthia Gooding 1962 Dylan gegenüber in einem Interview erwähnte, dass sie ihn schon mal getroffen habe, als er noch ein »Rock’n’ Roll-Sänger sein wollte«,v6 wechselte Dylan schnell das Thema.)

»Niemand sagte mir, dass ich elektrisch werden solle«, sagte Dylan 1996 zu Shelton. »Hey, ich war auf [Freewheelin’] elektrisch (…) Das Elektrische wurde nur deshalb rausgeschnitten, weil ich es nicht selbst geschrieben hatte.« Rund zwei Jahrzehnte später fügte er hinzu, dass er selbst in den Anfängen beim Spielen »purer« Folksongs »wegen meines Rock’n’Roll-Hintergrunds die zwei Stile irgenwie miteinander gekreuzt habe (…) In anderen Worten, ich habe die Folksongs mit Rock’n’Roll-Attitüde gespielt. Das hat mich von den anderen unterschieden, deswegen bin ich durch all das Durcheinander gedrungen und man hat mir zugehört.«v7 Vielleicht dachte er dabei an seine Darbietung des klassischen Bluessongs »Highway 51«, einer Art Verbindungsstraße zu Highway 61, die er 1961 spielte und die mit ihrem treibenden Everly Brothers-Riff reiner Rock’n’Roll ist – die Instrumentalisierung mal außen vor gelassen.

In der Tat untergraben die Songs auf Highway 61 Revisited die frühen Werke von Dylan nicht, sondern sie verstärken sie, im doppelten Wortsinn. Auch wenn Puristen ihn beschuldigen, dass er seinen Protestmantel abgelegt habe, machte Dylan 1965 ebenso streitbare und wesentlich radikalere Aussagen als in seinen »Schuldzuweisungs«-Songs. Beunruhigendere außerdem: denn wo die empörte Erzählung über »Hollis Brown« und »Hattie Carroll« oder die poetisch formulierten Unwägbarkeiten von »Blowin’ in the Wind« den Zuhörer schlussendlich mit warmer und fluffiger Selbstgerechtigkeit erfüllen und mit dem Gefühl untergehakter Arme und geteilter Visionen zurücklässt, hat man in der tobenden, wirbelnden, schwer fassbaren Kritik, die der »Ballad of a Thin Man« zugrunde liegt, schon massive Schwierigkeiten, auch nur einen Fuß auf den Boden zu kriegen.

In Highway 61 Revisited hat Dylan nicht etwa seine Empörung oder seinen Protest aufgegeben, sondern die Illusion von Gemeinschaft. In diesen Songs gibt es keinen eindeutigen Bösewicht und keine klare Zielscheibe mehr: der Spielball in ihrem Spiel, der Mr. Jones, könnte man selbst genauso sein wie Medgar Evers namenloser Mörder oder irgendein ahnungsloser Kritiker. Dylan meinte 1966 ja auch, dass »›Protest‹ nicht Teil meines Vokabulars ist. Ich habe nie so von mir gedacht (…) Es ist ein Freizeitpark-Wort. Jedem normalen Mensch mit klarem Verstand muss so ein Wort aufstoßen, wenn er es ehrlich aussprechen will. Das Wort ›Botschaft‹ klingt in meinen Ohren wie ein Leistenbruch.« Etwas nüchterner fügte er 2004 hinzu: »Ich wollte nie politisch schreiben. Ich wollte kein politischer Moralist sein (…) Wir alle haben viele Facetten, und ich wollte sie alle ausleben.«v8 Letzlich entspricht Dylans sozialer Protest genau dieser misstrauischen, intuitiven Rebellion, die seit den ersten Akkorden des Rock’n’Roll dessen verbindendes Element ist.

Angeblich wurde Joan Baez 1965 von Dylan mit einer schnoddrigen Ansage verspottet: »Hey, Hey, Neuigkeiten verkaufen sich gut, stimmt’s? Ich wusste, dass die Leute mir diesen Scheiß abkaufen würden, stimmt’s?« Wir könnten das einfach als ätzende Übertreibung abtun, eine günstige Gelegenheit, Salz in die Wunden zu streuen. Weniger einfach ist der Verdacht abzutun, dass Dylans Protestlieder nicht nur aus einem echten Gefühl der Empörung heraus, sondern auch aus einer Art von Überheblichkeit heraus geschrieben wurden. Egal was man über »Blowin’ in the Wind« alles sagen könnte, es ist unbestreitbar eine Meisterleistung, in zehn Minuten ein Stück runterzuschreiben, das dann zur Hymne einer ganzen Generation wird, und die beste Bestätigung, die man sich als junger Songwriter nur wünschen kann.

Dylan deutete das in einem der damaligen Interviews auch an, als er mal weniger Zeit auf die Verdammung der Kriegstreiber verwendete als auf die Verspottung der formelhaften Komponisten der Tin Pan Alley*3: »Ich muss nicht so sein wie diese Kerle da oben am Broadway mit ihrem Geschreibe über ›Ich bin scharf auf Dich und Du bist scharf auf mich – ooka dooka dooka dee.‹«v9

Und in der Tat scheint er es selbst in seinen erzählerischsten Songs weniger darauf anzulegen, die darin geschilderten Ungerechtigkeiten anzuprangern, als darum, Gewissheiten und Institutionen zu untergraben – sie zu »nadeln«, wie er es nannte. Ein enger Freund hat darauf hingewiesen, dass Dylans Ansatz in diesen Liedern nicht journalistisch war, sondern »poetisch. Es war alles intuitiv, auf einer emotionalen Ebene.«v10 Nur wenige scheinen das in den aufregenden Zeiten von Dylans frühen Erfolgen schon erkannt zu haben. Das würde zumindest erklären, warum sogar noch vor dem eindeutig nach innen gerichteten Blick des Highway 61 auch eher bekenntnishafte Lieder wie »One Too Many Mornings« und »It Ain’t Me, Babe« einen totalen Richtungswechsel darzustellen schienen. Einer der Gründe für die Verführungskraft von Dylans Widerstand ist allerdings die Tatsache, dass Dylan sich schon immer jeglicher Obrigkeit widersetzt hatte – den Herren, die »die Regeln aufstellen / für die Weisen und die Narren«*4 ebenso wie jenen, die »Obrigkeiten gehorchen müssen / die sie überhaupt nicht res­pektieren«.*5 Dylans Misstrauen gegenüber Machtstruk­turen, jeglichen Machtstrukturen, seien sie nun gesellschaftlicher oder emotionaler Art, bricht in seinen Liedern – von »When the Ship Comes In« über »Subterranean Homesick Blues« zu »Most Likely You Go Your Way and I’ll Go Mine« – immer wieder durch, sei es implizit oder offenkundig. Macht schätzt den Status Quo. Und Dylan erinnert uns ständig daran, dass alle, die nicht gerade damit beschäftigt sind, geboren und dann wiedergeboren zu werden, schon im Sterben liegen.

Gleichzeitig liegt Dylans Verhältnis zu Autoritätspersonen eine gewissen Bösartigkeit, einer Art Pervertiertheit zugrunde, die sich sowohl in seinen Kompositionen als auch in der Auswahl seiner Projekte über die vergangenen fünfzig Jahre widerspiegelt, von seinem brüskierenden Auftritt 1965 in Newport bis zu seinem Arrangement mit Victoria’s Secret 2004 oder seiner Zusammenarbeit mit dem Choreographen Twyla Tharp, die für einiges Zähneknirschen unter seinen Anhängern gesorgt hat. Sie ist das verbindende Element in seiner berüchtigten Angewohnheit, Freunde und Mentoren erst zu umarmen und dann wegzustoßen, Teil der sagenhaften stilistischen Migrationen, die ihn vom Folk über Country zu Gospel und zurück geführt haben; sie zeigt sich in seinen manch­mal brillianten, manchmal katastrophalen Wiederaufnahmen seines eigenen Materials und seiner häufig antagonistischen Beziehung zu seinem Publikum – dem gleichen Antagonismus, der im Coverfoto des Highway 61 aufblitzt. Emblematisch dafür ist sein Patentrezept zum Umgang mit widerspenstigen Fans: »Na ja, man (…) wird sie einfach schnell los. Stößt sie vor den Kopf oder sowas. Die schnallen das schon.«v11 Ab dem Moment, in dem Dylan begann, sich einen Bühnennamen zu erarbeiten, begann er auch ein psychisches Tauziehen mit Presse und Öffentlichkeit, indem er sie einerseits wegstieß und andererseits alles tat, damit sie zurückkamen und um mehr bettelten.

Die meisten Menschen versuchen, ihr inneres Kind zu finden – oder, im Falle von zahlreichen Rockstars, ihr inneres Kleinkind. Dylan hingegen scheint seine frühe Karriere damit verbracht zu haben, seinen inneren Griesgram zu befreien. Unter dem kindlichen Äußeren steckt die Stimme und die Stimmung eines grantigen Alten, eines besorgten Mannes mit schweren Gedanken, der auf die Verrücktheiten seiner Generation schaut als wären es die Taten unreifer Jugendlicher, mit denen ihn nichts verbindet. Seine Ablehnung von Woodstock 1969 – und zwar sowohl des Festivals als auch der Hippies, die in seinen Hinterhof strömten, um daran teilzunehmen – ist allgemein bekannt und ein weiterer Beweis für etwas, was viele immer noch nicht anerkennen können: Dylan ist nicht etwa ein Produkt der Zeit und Kultur, die er mit gestaltet hat, sondern von der Zeit und Kultur, die ihn geformt hat – jener Zeit und Kultur, die sich in den düsteren, direkten Balladen auf Harry Smiths Anthology of American Folk Music von 1952 spiegelt, die selbst wiederum ein Abbild der farblos-flachen Wirklichkeit ist, die Dylan als Kind in den 40er Jahren in Minnesota erlebte. Greil Marcus und andere haben betont, wie eng Dylan mit seinem Land und seiner Zeit verbunden ist, wie tief seine Wurzeln in den dunklen, bitteren Untergrund dessen reichen, was Marcus als »das alte, unheimliche Amerika« bezeichnet.*6

Vorsicht beginnt natürlich zu Hause, und Dylans großes Misstrauen äußert sich nicht nur in seiner Beziehung zur Öffentlichkeit, sondern ebenso im privaten Bereich: Liebe und Bewunderung kommen bei ihm selten ohne ein gewisses Maß an Ressentiment und Tadel aus. Auf der Auskopplung von »Hero Blues« vom Freewheelin’-Al­bum, das eine frühe Bearbeitung des »It Ain’t Me, Babe«-Themas ist, tadelt der Sänger »mein Mädchen hier« für ihren Wunsch, dass er rausgehen und kämpfen solle, »damit sie es allen ihren Freunden erzählen kann«. Unbeeindruckt kommt der (mögliche) Held des Songs zu dem Schluss: »Du brauchst eine andere Sorte Mann, du brauchst Napoleon Bone-ey-parte.« Der »Hero Blues«, komödiantisch vor einer unruhigen Bass-Figur gespielt, könnte die Eskalation des amerikanischen Engagements in Vietnam zurückweisen, wie Oliver Trager in Keys to the Rain meint; eine Auffassung, die dadurch untermauert scheint, dass Dylan den Song auf einem Konzert mit den Worten ankündigte, er sei »für all die Jungs, die Mädchen kennen, die wollen, dass sie los gehen und sich dazu bringen zu töten [sich töten zu lassen?]«v12

Aber ich denke, man kann daran auch den Missmut Dylans in seiner damalige Beziehung mit Suze Rotolo erkennen. Suze ist das Mädchen auf dem Cover von The Freewheelin’ Bob Dylan und die Inspiration für Lieder, die vom Erhabenen (»Don’t Think Twice, It’s All Right«) bis zum Bedauernswerten reichen (der wirklich fiesen »Ballad in Plain D«, der Geschichte ihrer Trennung). Zwar hält Dylan ihr zugute, dass sie in den frühen 60er Jahren sein politisches Bewusstsein geweckt und ihn ausgesandt habe, die Ungerechtigkeiten dieser Welt mit seinen Liedern anzuprangern – aber im beißenden Humor von »Hero Blues« schwingt die Ambivalenz darüber mit, in eine Richtung gezogen zu werden, von der er sich nicht sicher war, dass er sie überhaupt nehmen wollte – und ganz generell der Groll darüber, überhaupt in irgend eine Richtung gezogen zu werden.

Dylan bemerkte 1965 gegenüber Nora Ephron, dass »Folkmusik die einzige Musik [sei], in der nichts einfach sei. Es war niemals einfach. Die Musik ist wirklich seltsam, voller Legenden, Mythen, Bibel und Geistern.«v13 Einfachheit ist nicht Dylans Königsdisziplin. Die Folktradition, aus der er stammt, ist nicht von der weichen, sentimentalen Sorte, die so gefällige Hits wie »I Gave My Love a Cherry« und »Walk Right In« hervorgebracht hat; es ist die dunklere, komplexere und moralisch vieldeutige Variante, die seit Jahrhunderten die menschliche Natur ganz ungeschminkt vermittelt. In einer ausgesprochen interessanten Bemerkung zog Dylan 1966 gegenüber Nat Henthoff eine scharfe Trennung zwischen der modischen »Folkszene« der Volksmusikfeste auf der einen und dem fruchtbaren Kompost der Musik des Volkes auf der anderen Seite:

 

»Folkmusik ist ein Haufen dicker Leute. Ich muss das alles als traditionelle Musik betrachten. Traditionelle Musik basiert auf Hexagrammen. Sie ist aus Legenden, Bibeln und Seuchen entstanden und handelt von Tod und Gemüse. Niemand wird es schaffen, die traditionelle Musik zu töten. All diese Lieder über Rosen, die Menschen aus ihren Gehirnen wachsen, und über Liebende, die in Wirklichkeit Gänse sind, und über Schwäne, die zu Engeln werden – die werden niemals sterben (…) Lieder wie ›Which Side Are You On?‹ und ›I Love You, Porgy‹ allerdings – das sind keine Folk­musiklieder: das sind politische Songs. Die sind schon tot.«v14

 

Mit der Aufnahme von Highway 61 Revisited hat Dylan seinen Folkanfängen nicht etwa den Rücken gekehrt, wie oft hysterisch bemerkt wurde; vielmehr folgte er einer Spur, die von den Märchen über sorglose Liebe und mörderische Raserei, die Smiths Anthology schmücken, entlang des Hoodoo-Blues von Robert Johnson und Peetie Wheatstraw läuft, dann quer durch den primitiven Rock’n’Roll seiner High-School-Tage und über den Country-Stil von Hank Williams und Bill Monroe und hinein in seine eigenen »Ketten aus aufblitzenden Bildern«v15 in Kompositionen wie »Hard Rain« über »Chimes of Freedom« zu »It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)« führen.

In Dylans Erinnerung wurden die Samen zu dieser lyrischen Herangehensweise bereits ab 1962 gelegt, und zwar einerseits in der Form der Poesie der Symbolisten und des Beat, die er damals aufsaugte, und andererseits in der Form der visuell überbordenden Maler, die er damals entdeckte – Maler wie Goya, Delacroix, Picasso, Kan­dinsky und vor allem Red Grooms:

 

Red war der Onkel Dave Macon der Kunstwelt. Er integrierte alle Lebewesen in etwas und ließ es schreien – alles war gleichwertig und gleichzeitig erschaffen worden: alte Tennisschuhe, Verkaufsautomaten, Alligatoren, die durch die Kanalisation krochen, Duell-Pistolen, die Staten Island Ferry und die Trinity Church (…) Rodeo-Königinnen und Mickey-Maus-Köpfe, Schloss­türm­chen und Mrs. O’Learys Kuh, Widerlinge und Schleimer und Durchgedrehte und grinsende, juwelenbehängte nackte Models, melancholische Gesichter, Spuren der Trauer (…) Historische Gestalten auch – Lincoln, Hugo, Baudelaire, Rembrandt –, alle voll zeichnerischer Finesse und so überwältigend wie möglich ausgeführt. Ich fand es toll, wie Grooms das Lachen als eine teuflische Waffe verwendete. Unterbewusst habe ich mich gefragt, ob es wohl möglich wäre, Songs so zu schreiben.«v16

 

Drei Jahre später und mit ein bisschen Energie fand er die Antwort.

 

 

Es ist ja nicht so, als wären wir nicht gewarnt worden. Bringing It All Back Home, das gerade mal fünf Monate vor Highway 61 veröffentlicht wurde, beginnt mit dem rauhen elektrischen Angriff von »Subterranean Homesick Blues«, dessen Klang und maschinengewehrartiger Vor­trag Woody Guthrie mit Chuck Berry verschmilzt. Die A-Seite endet mit »Bob Dylan’s 115th Dream«, einer quäkenden Neufassung früherer Lieder wie dem »Talkin’ World War III Blues«, wo Dylan den Einsatz elektrischer Unterstützung noch dadurch unterstreicht, dass er den Fehlstart wiederholen lässt, den ihn und seinen Produzenten in hysterisches Gelächter ausbrechen lässt, weil die Band nicht rechtzeitig einsetzt. Die B-Seite scheint bei oberflächlicher Betrachtung ein Zugeständnis an die Folkpuristen zu sein, tatsächlich aber zieht »Mr. Tambourine Man« den Sänger textlich auf völlig anderes Terrain, hinein in einen vagen Tanz, der seine Stiefelabsätze weit weg wandern lässt von jenen Sorgen, die Pete Seeger und Co so lieb und teuer sind. »Gates of Eden« und »It’s Alright, Ma«, die in einem einzigen langen Take zusammen aufgenommen wurden, erlauben einen frühen Blick in jene Richtung, in die Dylans verbale Fluchten ihn noch führen werden. Und der letzte Track »It’s All Over Now, Baby Blue« mit seinen triumphierenden Beleidigungen und dem traurig-spöttischen Ton ist mit Ausnahme des Arrangements schon ein klarer Fingerzeig in Richtung »Like a Rolling Stone«, Dylans nächster Veröffentlichung.

Trotz all des fiebrigen Gerassels gelingt es Bringing It All Back Home immer noch, im Wesentlichen wie elektrisierter Folk zu klingen. Dylan ist dafür bekannt, dass er Aufzeichnungen lieber »live« einspielt, was heißt, dass alle Musikern gleichzeitig aufgenommen werden statt im Nachhinein getrennt aufgenommene Tonspuren übereinanderzulegen. Die Songs hören sich trotzdem so an, als wären sie im Wesentlichen Solostücke, auf die dann Instrumentalspuren geschichtet wurden. Die frühe reine Akustik-Aufnahme von »Subterranean Homesick Blues« zum Beispiel klingt überraschenderweise schon fast wie die fertige Aufnahme, wobei der Unterschied weniger in der Abwesenheit von Al Gorgonis Elektrik liegt als daran, dass Dylans Schnellfeuergesang noch nicht perfekt ist.

Highway 61 hingegen nutzt die üppige Instrumentierung der Mitstreiter dazu, eine komplexere Klangwelt und einen volleren Sound zu erschaffen. Nun sind die Musiker nicht mehr nur zur Begleitung da wie noch auf Bringing It All Back Home (oder bei anderen Folksängern wie Tim Hardin oder Richard Fariña, die in dieser Zeit mit elektrischer Unterstützung experimentierten), sondern werden zum integralen Bestandteil des Geschehens. »Ich wusste, dass ich [den Song] mit einer Band singen musste«, erzählte Dylan dem Journalisten Ralph J. Gleason über »Rolling Stone«. »Ich singe immer, wenn ich schreibe, auch Prosa, und ich hörte es auch so.«v17 Von Mike Bloomfields klagender Leadgitarre über Dylans tiefenlastige Strums bis zur widerhallenden Spritzigkeit von Bobby Greggs Schlagzeug ist der Gesamtsound des Albums eine unentwirrbare Verschmelzung unterschiedlicher Instrumente. Und was Highway 61 möglicherweise am meisten unterscheidet sind die Strand-ähnliche Weite und die wolkigen Strudel von Al Koopers Orgelspiel: auf Bringing ist die Orgel gar nicht vorhanden, auf Blonde on Blonde dünner und eindringlicher, hier aber donnert, wirbelt und schleift sie und umspült die restlichen Instru­mente wie mit zähflüssigem, umhüllendem und elementarem Schlamm. Diese Musik holt sich den Rock’ n’Roll zurück, den Dylan in seiner Jugend geprobt hatte: Musik, die geschrieben wurde, um laut und vulgär gespielt zu werden, eine Jugendliebe, der er nie ganz abgeschworen hatte.

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