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Laura Diedrich
Sebastian Fischer
Kai-M. Kleinlercher
Wulf Rössler

Gesundheit im Unternehmen

Psychosoziale Ressourcen erhalten, Potenziale entwickeln

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026088-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026089-4

epub:    ISBN 978-3-17-026090-0

mobi:    ISBN 978-3-17-026091-7

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Vorwort

 

 

Arbeit ist ein zentrales Element unseres Lebens. Die Tatsache, dass wir mittels Arbeit unseren Lebensunterhalt sicherstellen, ist ein notwendiges aber bei weitem nicht hinreichendes Argument, warum Arbeit für uns so wichtig ist. Natürlich ist für die meisten Menschen Arbeit erst einmal unerlässlich zur Existenzsicherung. Darüber hinaus haben wir aber viele zusätzliche Erwartungen an unsere Arbeitstätigkeit und Hoffnungen, was wir daraus gewinnen können und wollen.

Über die Arbeitstätigkeit bilden wir unsere Identität und definieren unseren sozialen Status. So bestimmt die Arbeit wesentliche Teile unseres Selbstwertes. Aber die Arbeitstätigkeit ist natürlich ein herausfordernder Prozess der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Wir schätzen es, wenn wir aktiv sind und uns als Handelnde erleben. Wir suchen Problemlösungen und freuen uns, wenn wir Lösungen in der Sache finden. Die Anforderungen, damit dieser Prozess gelingt, sind deutlich gestiegen. Der Kompetenzerwerb in einer kompetitiven Wissensgesellschaft ist ein lebenslanger Prozess geworden. Man hat nicht mehr einfach eine bestimmte Position, sondern man muss sich stets auf das Neue beweisen – eine Hürde, an der nicht wenige scheitern. Hinzu kommen in einer Dienstleistungsgesellschaft ständig steigende Erwartungen an die kommunikative Kompetenz der Mitarbeiter. Hierarchien sind nicht mehr einfach gegeben, sondern müssen kommunikativ erarbeitet und gerechtfertigt werden.

Neben der Qualität der Kommunikation hat sich auch die Quantität der beruflichen Kommunikation deutlich verändert. Die heutige Kommunikationstechnologie hat zu einer zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit geführt, die man vor wenigen Jahren wohl kaum für möglich gehalten hätte. Und zuletzt hat die neue Kommunikationstechnologie die Entscheidungsprozesse enorm beschleunigt mit der Folge, dass Anspannung und Stress bei der Arbeit und Entspannung in der Freizeit keinem natürlichen Zyklus mehr unterliegen.

In der Bilanz überwiegen inzwischen für nicht wenige Arbeitnehmer die negativen gegenüber den positiven Aspekten ihrer Arbeitstätigkeit. Die in den Medien so mit Hingabe geführte Diskussion über die Burnoutrisiken kommt nicht von ungefähr, sondern spiegelt das aktuelle Lebensgefühl vieler Menschen wider. Die »Diagnose« Burnout hat darüber hinaus für viele Arbeitnehmer den Vorteil, die Ursachen ihrer psychischen Belastung in ihrer Arbeitsumgebung lokalisieren zu können anstelle stigmatisierender psychiatrischer Diagnosen, denen in der Allgemeinbevölkerung bis heute das Konzept einer Charakterschwäche unterlegt ist.

Die gestiegenen Arbeitsanforderungen sind auch nicht ohne Auswirkungen auf das Gesundheitswesen geblieben. In der letzten Dekade hat die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen überproportional zugenommen – hauptsächlich wegen Depressionen. Wie viele Erschöpfungszustände sich genau dahinter verbergen, wissen wir nicht.

In der Folge hat auch die Zahl der Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen entsprechend zugenommen. Psychische Erkrankungen sind inzwischen der häufigste Grund für Frühberentungen.

Die heutige Arbeitswelt verlagert nahezu alle psychosozialen Risiken auf das Individuum. Während die Arbeitsmedizin einen Kanon an physikalischen Umweltrisiken definiert hat, gibt es etwas Vergleichbares für psychosoziale Risiken so gut wie nicht. Ein erster Schritt hierfür könnte die gesetzlich notwendig gewordene psychosoziale Risikobeurteilung in Betrieben sein.

Unternehmer sollten dies nicht einseitig als eine weitere lästige gesetzliche Verpflichtung betrachten. Stressoren im Betrieb sind nicht einfach Tatsachen, die willensstarke Mitarbeiter in Kauf zu nehmen und ggf. selbst zu bewältigen haben, sondern auch Teil der Betriebs- und Führungskultur eines Unternehmens. Einige dieser organisationsrelevanten Konzepte wie Fairness, Feedback, Wertschätzung oder psychologische Sicherheit werden in diesem Buch erläutert. Mit einem Fokus auf den Arbeitsplatz werden weitere wichtige Elemente einer gesundheitsförderlichen Umgebung diskutiert, wie Umgang mit Rollenkonflikten, auch mit Rollenkonflikten zwischen Arbeit und Beruf oder Umgang mit besonders fordernden Arbeitsaufträgen. Sie sollten Teil einer gelungenen Führungskultur eines Betriebs werden und zwar nicht aus einer diffusen humanistischen Orientierung heraus, sondern, weil diese Maßnahmen der Leistungssteigerung ihrer Mitarbeiter dient.

Wir hoffen Ihnen mit diesem Buch einen Leitfaden an die Hand zu geben, der es ihnen ermöglicht, eine starke Führungskultur in Ihrem Betrieb zu etablieren. Ihre Mitarbeiter werden es Ihnen nicht nur mit einer guten Arbeitsleistung danken, sondern auch in schwierigeren Zeiten zu ihrem Unternehmen stehen.

Wulf Rössler

Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. 1     Schöne neue Arbeitswelt – vom Arbeiten in Zeiten des Wandels
  3. 1.1 Warum sind Arbeitnehmer heute stärker belastet?
  4. 1.2 Wie entsteht Belastung durch den Arbeitsplatz? Prozesse, Modelle und Definitionen
  5. 1.3 Wie äußert sich Belastung durch den Arbeitsplatz?
  6. 1.4 Was können Unternehmen tun?
  7. 1.5 Gute Arbeit! Von Arbeit als Ressource
  8. 1.6 Zusammenfassung Kapitel 1
  9. 2     Die Organisation im Fokus: Wenn die Unternehmenskultur zu Belastung bei Mitarbeitern führt
  10. 2.1 Einleitung
  11. 2.2 Fairness
  12. 2.3 Feedback
  13. 2.4 Wertschätzung
  14. 2.5 Mitgefühl
  15. 2.6 Psychologische Sicherheit
  16. 2.7 Zusammenfassung Kapitel 2
  17. 3     Der Arbeitsplatz im Fokus: Wenn Besonderheiten der Arbeitssituation zur Belastung werden
  18. 3.1 Einleitung
  19. 3.2 Rollenklarheit und Rollenkonflikt
  20. 3.3 Informations- und Kommunikationstechnologien
  21. 3.4 Konflikt zwischen Arbeit und Familienleben
  22. 3.5 Ungleichgewicht zwischen Leistung und Belohnung
  23. 3.6 Belastungen durch den Arbeitsauftrag
  24. 3.7 Zusammenfassung Kapitel 3
  25. 4     Praxisleitfaden: Wie setze ich die Maßnahmen in meinem Unternehmen praktisch um?
  26. 4.1 Einleitung
  27. 4.2 Evidenzbasierte Unternehmensführung
  28. 4.3 Vom Gedanken zur Handlung – wie gehe ich Veränderung im Unternehmen an?
  29. 4.4 Der Gesamtzyklus von Problemidentifizierung, Intervention und Beibehaltung von Veränderung im Gesundheitsbereich in Unternehmen
  30. 4.5 Zu viel des Guten?
  31. 4.6 Zusammenfassung Kapitel 4
  32. 5     Zusammenfassung und Ausblick
  33. Literatur
  34. Sachwortverzeichnis

1          Schöne neue Arbeitswelt – vom Arbeiten in Zeiten des Wandels

 

 

 

Work is about a search for daily meaning as well as daily bread, for recognition as well as cash, for astonishment rather than torpor, in short for a sort of life rather than a Monday to Friday sort of dying.

(Terkel, 1972)

Christopher ist 34 Jahre alt, verheiratet mit Kind, und arbeitet in einem größeren Unternehmen in der Marketingabteilung. Der Job ist anspruchsvoll, und er bietet viele Möglichkeiten zur Weiterentwicklung sowie Freiräume für eigenständiges Arbeiten. Christopher gilt im Unternehmen als »High Potential«. Er hat sein Hochschulstudium in Betriebswirtschaftslehre mit Bestnoten abgeschlossen. Nach einer Ausbildung als Trainee im Unternehmen arbeitet er nun in einer Position für Nachwuchsführungskräfte, ein Job, um den ihn viele beneiden.

Aber in den letzten Wochen fühlte Christopher sich ständig müde und hatte Probleme, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Am liebsten hätte er sich den ganzen Tag in seinem Bett verkrochen. An einigen Tagen hat er sich auch schon krankgemeldet, und dann den ganzen Tag im Bett verbracht und ferngesehen.

Seine Arbeit findet Christopher plötzlich nicht mehr herausfordernd und interessant, sondern sie kommt ihm sinnlos vor. Seine Leistungen werden immer schlechter, auch, weil seine Gedanken bei der Arbeit ständig von seinen Aufgaben weg wandern. Häufig kommt er zum Beispiel in diesen Gedanken in sein Büro hereinspaziert, schaut sich selbst bei der Arbeit zu, und dann lacht er sich und seine Arbeit aus.

Auch im Kontakt mit Kollegen1 hat Christopher sich verändert. Wenn seine Kollegen mit Fragen oder Ideen zu ihm kommen, dann reagiert er neuerdings zynisch und kann allein die negativen Anteile dieser Vorschläge sehen, nicht mehr die kreativen und interessanten Aspekte, wie es früher einmal war. Vor kurzem beschwerte sich auch seine Frau, dass er genauso auch mit ihr umginge, als sie einen gemeinsamen Ausflug planten.

Immer häufiger wird Christopher in letzter Zeit gefragt, wie es ihm geht, und auf diese Frage weiß er keine rechte Antwort – er sagt dann immer, es gehe ihm gut. Aber wegen der ständigen Müdigkeit und den häufigen Krankmeldungen ist Christopher dann doch einmal zu seinem Hausarzt gegangen. Nach einigen weiteren Arztbesuchen stehen die Diagnosen Depression bzw. Burnout im Raum.

Was im ersten Moment wie ein persönlicher Schicksalsschlag wirkt, ist Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung, wie wir sie derzeit erleben. Diagnosen psychischer Störungen nehmen zu, und Personen aus der arbeitenden Bevölkerung sind hiervon besonders häufig betroffen. Aus diesem Grund werden psychische Störungen bei Mitarbeitern auch zunehmend zum Problem für Unternehmen. Denn heute sind leistungsfähige und gesunde Mitarbeiter für Unternehmen wichtiger denn je. Letztlich sind sie es, die durch ihr einzigartiges Know-how, ihre Persönlichkeit und ihre Motivation über Unternehmenserfolg oder Misserfolg in einer kompetitiven Wirtschaftswelt entscheiden. Unternehmen haben dies erkannt und haben seit einigen Jahren einen Kampf um die besten Köpfe ausgerufen. Doch viele Unternehmen plagen vermehrt Personalsorgen. Nicht nur der demografische Wandel führt dazu, dass immer weniger Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind. Es fallen auch immer häufiger Arbeitskräfte aufgrund psychischer Störungen vorrübergehend oder dauerhaft aus dem Beruf heraus. Arbeitnehmer fehlen heute aufgrund psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit so häufig wie niemals zuvor (Bundespsychotherapeutenkammer, 2013). Zudem sind Mitarbeiter, die sich aufgrund psychischer Probleme arbeitsunfähig melden, im Durchschnitt deutlich länger krankgeschrieben als Mitarbeiter, die sich aufgrund körperlicher Probleme arbeitsunfähig melden (Bundespsychotherapeutenkammer, 2013). Weil Arbeitnehmer, die in Deutschland aufgrund psychischer Störungen frühverrentet werden, im Durchschnitt zudem erst ca. 50 Jahre alt sind, verlieren Unternehmen Jahr für Jahr Mitarbeiter im besten Alter, die noch über eine hohe Leistungsfähigkeit und einen großen Schatz an Erfahrungswissen verfügen.

Aber können Unternehmen überhaupt etwas gegen diese Entwicklung tun? Immerhin spielen bei der Entwicklung von psychischen Störungen verschiedenste Gründe eine Rolle – viele davon sind persönlicher Art, von genetischen Prädispositionen bis hin zum Lebenswandel einer Person (Duncan et al., 2014). Aus zwei Gründen gehen wir trotzdem davon aus, dass Unternehmen einen Einfluss auf die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter nehmen können. Diese beiden Gründe sind Zeit und Bedeutung von Arbeit:

Erstens verbringen Vollzeiterwerbstätige zwischen 25–50% ihrer Lebenszeit bei der Arbeit. Wenn nur die Zeit, in der diese Personen auch wach sind, gemessen wird, steigt der Anteil der Arbeitszeit an der Gesamtlebenszeit noch einmal deutlich. Wenn es Christopher in dieser Zeit nicht gut geht, dann ist zu erwarten, dass es ihm auch insgesamt schlechter geht als seiner Kollegin – nennen wir sie Jessica –, der ihre Arbeit Freude macht. Zweitens stellt die Arbeit auch nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich einen wesentlichen Teil unseres Lebens dar. Uns selbst und anderen gegenüber drücken wir uns über unsere Handlungen aus. Wenn Christopher nun Schwierigkeiten bei der Arbeit hat, dann beeinflussen diese Schwierigkeiten sein Selbstbild negativ – und können so auch Schwierigkeiten in anderen Bereichen seines Lebens hervorrufen. Aus diesen Gründen lässt sich natürlich keine alleinige Verantwortung der Arbeit für Christophers Probleme ableiten. Auch viele andere Arbeitstätige geben an, beruflich unter zunehmendem Stress und Arbeitsdruck zu stehen (Lohmann-Haislah, 2012), und erkranken trotzdem nicht an einer psychischen Störung. Aber Arbeit kann, wenn sie nicht gesundheitsförderlich gestaltet wird, zu Belastung führen, die sich zum Beispiel in einer psychischen Störung wie einem Burnout oder einer Depression äußern kann. Doch Arbeit kann auch ein positiver Faktor für die psychische Gesundheit sein, denn sie stiftet Einkommen, Struktur und Sinn. Unternehmen wünschen sich als Gegenleistung belastbare und motivierte Mitarbeiter, mit denen sie ihre Unternehmensziele erreichen können. Damit dies gelingt, sollte Arbeit bei ihren Mitarbeitern nicht zu Belastung führen. In diesem Buch erhalten Sie daher einen Überblick über mögliche Ursachen von Belastung, über Formen von Belastung, aber insbesondere über Möglichkeiten, das Risiko für die Entstehung von Belastungen zu reduzieren. Zuletzt gehen wir auf Möglichkeiten ein, wie Interventionen zu Prävention und Gesundheitsförderung von Seiten des Managements ausgewählt, umgesetzt und evaluiert werden können.

Beginnen wir mit den möglichen Ursachen von Belastung:

Arbeitnehmer sind heute tiefgreifenden Veränderungen ihres Arbeitsplatzes und Arbeitsumfelds ausgesetzt, die hohe Anforderungen an ihre Belastbarkeit, Flexibilität und sozialen Kompetenzen stellen. Diese Veränderungen finden auf mindestens drei unterschiedlichen Ebenen statt: Wirtschaftliche Veränderungen schaffen den Rahmen, in dem Unternehmen operieren (Makroebene). Unternehmen prägen dann die organisationalen Rahmenbedingungen (Mesoebene). Zudem gestalten sie die konkreten Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter (Mikroebene).

Die Makroebene: Wirtschaftliche Veränderungen

Die Wirtschaftswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten globalisiert. Unternehmen – auch Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) – stehen heute in einem globalen Wettbewerb mit Unternehmen aus aller Welt. Diese Internationalisierung hat dazu geführt, dass die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gesellschaft deutlich komplexer geworden sind. Durch technologischen Fortschritt ist es heute möglich, in wenigen Sekunden E-Mails in alle Welt zu versenden und zu empfangen. Viele Geschäftsprozesse können aus diesem Grund nun deutlich beschleunigt durchgeführt werden. Zudem ist durch die globale Konkurrenzsituation der Kosten- und Leistungsdruck auf viele Unternehmen gestiegen.

Die Mesoebene: Veränderungen im Unternehmen

Durch den globalisierten Wettbewerb stehen Unternehmen heute unter Kosten- und Leistungsdruck. Sie versuchen im Wettbewerb zu bestehen, indem sie alle ihre Einheiten so effizient wie möglich gestalten, und deren Effizienz regelmäßig überprüfen. Dafür wurden viele Prozesse standardisiert, sodass Effizienzkennzahlen zwischen Abteilungen, Standorten und Unternehmen verglichen werden können. In diesem Sinne werden in Unternehmen seit einigen Jahren in regelmäßigen Abständen tiefgreifende Restrukturierungsprozesse angestoßen, wobei bei einem Großteil der Maßnahmen die wichtigsten Ziele die Reduzierung von Kosten bzw. die Erhöhung von Produktivität sind (Kozlowski et al., 1993). Personalkosten werden hierbei als eine von vielen Kostenarten gesehen und mit anderen Arten von Kosten gleich behandelt, d. h. sie werden auch eingespart, zum Beispiel, indem man Personal durch günstigere Maschinen ersetzt.

Die Mikroebene: Veränderungen des Arbeitsplatzes

Die fortschreitende Technologisierung der Arbeitswelt hat auch Auswirkungen auf das tägliche Leben der Mitarbeiter. Die ursprüngliche Forderung der Arbeiterbewegung nach einer 8-8-8-Struktur ihrer Arbeitstage, d. h. acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf wirkt heute fast wie ein Anachronismus. Die Technologisierung lässt die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben langsam verschwimmen. Um flexibel erreichbar zu sein, nutzen Arbeitnehmer zunehmend mobile Geräte wie Laptops, Tablets und Smartphones, was dazu führt, dass auf dem Heimweg und zu Hause noch berufliche E-Mails und Anrufe beantwortet werden. Aber umgekehrt kommt es auch dazu, dass durch die Nutzung von mobilen Endgeräten das Privatleben stärker in den Arbeitsalltag dringt, zum Beispiel, indem bei der Arbeit private Nachrichten verschickt werden.

Darüber hinaus hat die steigende Technologisierung zur Folge, dass viele ursprünglich persönliche Kontakte auf der Arbeit durch E-Mail und Telefon ersetzt worden sind. Ganz besonders trifft dies auf multinationale Konzerne und diejenigen Unternehmen, in denen Personen aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, zu. Hier müssen häufig Mitarbeiter in virtuellen Teams wichtige Angelegenheiten verhandeln. Die Technologisierung hat aber noch weitere Auswirkungen: Jede benötigte Information ist meist nur einen Mausklick entfernt. Dies ist bequem, führt aber auch dazu, dass täglich eine Vielzahl an Informationen in kürzester Zeit aufgenommen, verarbeitet und in Handlungen übersetzt werden müssen.

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Abb. 1.1: Die Arbeitswelt im Wandel

Diese Veränderungen wirken mittelbar und unmittelbar auf die Mitarbeiter eines Unternehmens ein und können zu steigender Belastung führen. Im nächsten Abschnitt wird genauer betrachtet, wie Belastungen von Mitarbeitern entstehen.

1.1       Warum sind Arbeitnehmer heute stärker belastet?

1.1.1     Arbeit und die Erfüllung von Bedürfnissen – eine schwierige Beziehung

Der Beruf als Erfüllung? Die meisten unserer Vorfahren hätten diese Vorstellung belächelt. Arbeit war für viele Generationen vor allem ein Mittel zum Broterwerb. Statt einer freien Berufswahl, einer Errungenschaft der Moderne, herrschten Anerbenrecht, Frondienst und Zunftzwang. Heute haben sich die Dinge gewandelt. In einer Zeit, in der das materielle Überleben von Menschen in den industrialisierten Staaten mehrheitlich gesichert ist, tritt der Wunsch nach Erfüllung psychologischer Bedürfnisse in den Vordergrund (Maslow, 1943). Mischel and Morf (2003) bezeichneten bereits das 20. Jahrhundert als »Jahrhundert des Selbst«, und es ist wohl nicht zu gewagt zu behaupten, dass sich dieser Trend zukünftig fortsetzen wird. Schon jetzt ist die Rede von der »Psychologisierung der Gesellschaft« (Gebhardt, 2002). Die Erfüllung psychologischer Bedürfnisse wird von Menschen zunehmend auch bei der Arbeit erwartet, auch, weil die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben durchlässiger werden. Vor allem die sog. »Generation Y « der heute 20- bis 30-Jährigen fordert beruflich eher Selbstverwirklichung als ein gut gefülltes Bankkonto.

Wir sehnen uns dabei offenbar alle nach der Erfüllung derselben Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit (Ryan/Deci, 2000):

•   Kompetenz beschreibt das Bedürfnis, Verhaltensweisen erfolgreich ausüben zu können. Somit spiegelt Kompetenz nicht so sehr die objektiven Fähigkeiten einer Person wider, sondern eher ein generelles Gefühl der Effektivität. Ein Gefühl von Kompetenz kann im Arbeitskontext zum Beispiel dann entstehen, wenn eine anspruchsvolle Präsentation bei einem Kunden erfolgreich gehalten wurde.

•   Autonomie beschreibt im Rahmen dieser Theorie das angeborene Bedürfnis, sein eigenes Handeln kontrollieren zu können. Somit bezieht sich Autonomie in diesem Zusammenhang stärker auf psychologische Freiheit, nicht so sehr auf Merkmale des Arbeitsalltags, zum Beispiel die Arbeitszeitgestaltung, wie es sonst in der Arbeits- und Organisationspsychologie in der Regel der Fall ist, wenn von Autonomie die Rede ist (Van den Broeck et al., 2010). Ein Gefühl von Autonomie auf der Arbeit kann zum Beispiel dann entstehen, wenn ein Mitarbeiter sich selbst innere Deadlines setzen kann, wann er mit seinen Arbeitsaufgaben wie weit gekommen sein möchte.

•   Soziale Zugehörigkeit beschreibt das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Wärme. Soziale Zugehörigkeit entsteht auf der Arbeit – genau wie im Privatleben – durch Beziehungen von hoher Qualität (Baumeister/Leary, 1995; Heaphy/Dutton, 2008). Diese Beziehungen sind immer durch gegenseitige Wertschätzung geprägt.

Im Folgenden gehen wir auf jedes der drei Bedürfnisse detailliert ein.

1.1.1.1    Kompetenz in einer kompetitiven Wissensgesellschaft

Haben Sie in der letzten Zeit einmal einen Blick auf Stellenanzeigen geworfen? Man könnte den Eindruck bekommen, jeder Bewerber für einen halbwegs ordentlichen Job müsste jünger als 30 Jahre alt sein, neben einem Hochschulstudium diverse Praktika und Auslandsaufenthalte absolviert haben, einige Jahre Berufserfahrung in einem großen Unternehmen mit einigen Weiterbildungen mitbringen und sich nebenbei ehrenamtlich engagieren. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, die so gut ausgebildet ist wie keine vor ihr. Der Anteil der Personen eines Jahrganges, die Abitur machen, steigt seit Jahren, und immer mehr junge Menschen studieren. Auf den ersten Blick scheint es, als hätte es in den letzten Jahren tatsächlich einen Zuwachs an Kompetenz in der Gesellschaft gegeben. Allerdings sind auch einige Zweifel daran möglich, ob dies tatsächlich zu einer Erhöhung von Kompetenz in der Gesellschaft geführt hat (Alvesson, 2013):

Erstens stellt sich die Frage, ob mit der großen Anzahl an Ausbildungsabschlüssen auch deren Qualität gleichgeblieben oder nicht eher gesunken ist (Alvesson, 2013). Zwar strömen tatsächlich immer mehr junge Menschen an die Universitäten. Dies führt jedoch auch zu vollen Veranstaltungen, wodurch eine Betreuung durch fachlich qualifizierte Personen immer schlechter gewährleistet werden kann.

Zweitens werden zunehmend Studiengänge, Zertifikatsausbildungen und Weiterbildungen mit kurzer Dauer angeboten und als Studium neben dem Beruf angeboten absolviert. Um diese Formen des Studierens möglich zu machen, müssen häufig Studieninhalte gekürzt werden.

Drittens gibt es einen Trend, Ausbildungen in Hochschulstudien umzuwandeln. Diese Entwicklung gibt es schon lange – ursprünglich wurden an der Universität nur wenige Fächer wie Theologie, Rechtswissenschaften und Medizin gelehrt, der Fächerkanon differenzierte sich in den folgenden Jahrhunderten dann immer weiter aus. Die Akademisierung von Abschlüssen schafft aber Reibungspunkte, sowohl bezogen auf die Bezahlung von Berufseinsteigern mit Ausbildungs- und Hochschulabschlüssen aus demselben Beruf, als auch bezogen auf die wahrgenommene Qualifikation von Personen, die schon länger in einem Beruf arbeiten und deshalb »nur« eine Ausbildung absolviert haben.

Viertens gibt es laut Alvesson einen Trend zur Überhöhung von Aspekten der Ausbildung und des Arbeitslebens. Überhöhung meint in diesem Zusammenhang, dass sich Personen, Berufsgruppen oder Unternehmen ein Image geben, das (wenn auch nur oberflächlich) glänzend und statusbringend ist, und als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Personen, Gruppen oder Unternehmen verwendet werden kann (Alvesson, 2013). So wird es heutzutage von vielen Absolventen zum Beispiel als attraktiver angesehen, bei einem Großunternehmen zu arbeiten als in einem mittelständischen Unternehmen, selbst wenn das mittelständische Unternehmen bessere Arbeitsbedingungen bietet. Grund hierfür ist unter anderem, dass das Prestige, für ein bekanntes Großunternehmen zu arbeiten, ein positiver Teil des Selbstkonzepts der Mitarbeiter werden kann (Bergami/Bagozzi, 2000) und so das Selbstwertgefühl stärkt.

Letztlich kann durch diese Faktoren für den Einzelnen das Gefühl entstehen, dass eine zusätzliche Erhöhung der eigenen Kompetenz notwendig ist, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Denn einerseits nimmt die Qualifikation der Absolventen von Hochschulen ab, und andererseits drängen infolge der Bildungsexpansion immer mehr in ähnlicher Weise ausgebildete Absolventen auf den Arbeitsmarkt. Die erworbenen Qualifikationen verlieren dabei an Wert. Aus diesem Grund reichen Standard-Qualifikationen auch für Absolventen häufig nicht mehr aus. So genügt es für viele Positionen heute nicht mehr, eine Berufsausbildung oder ein Studium gut abzuschließen. Vielmehr sind darüber hinaus diverse Zusatzqualifikationen wie Auslandserfahrung, gesellschaftliches Engagement oder Weiterbildungen nötig, um sich als Person von anderen Bewerbern abzuheben. Die Erreichung dieser Zusatzqualifikationen setzt den Einzelnen unter Druck, sich von den Anderen abzusetzen. Insgesamt ist die Erhöhung der Quote der Abiturienten und Studierenden jedoch ein Nullsummenspiel, in dem alle Akteure Zusatzqualifikationen erwerben müssen, um hervorzustechen, was insgesamt dazu führt, dass niemand mehr hervorstechen kann. Als zusätzliche Steigerung können zudem Tricks verwendet werden, um sich selbst aus der Masse hervorzuheben. Anstatt Wert auf inhaltliche Substanz zu legen werden allgemeine positive Qualifikationen in den Vordergrund gestellt – zum Beispiel Entwicklung, Werte oder Anpassungsfähigkeit (Alvesson, 2013). Auch können Möglichkeiten geschaffen werden, durch die man sich als Person oder als Gruppe auszeichnen kann. So kommt es zu einer Inflation an Siegeln, Preisen oder Wettbewerben.

Relativ inhaltsleere, außergewöhnliche und überhöhte Kompetenzen können bei Personen Belastung erhöhen. Eigentlich ist Kompetenz für Personen eine Ressource, in die sie investieren können, zum Beispiel, um über eine höhere Position mehr Geld zu verdienen (Halbesleben, 2009). Wenn nun aber die eigenen Kompetenzen nicht mehr richtig eingeordnet werden können und diese als aufgebläht und inhaltsleer wahrgenommen werden, dann fällt es schwer, diese Kompetenzen richtig einzusetzen. Folgen könnten sein, dass die eigene Kompetenz als unwichtig wahrgenommen wird, und deshalb versucht wird, den wahrgenommenen Mangel an Kompetenz durch eigene Anstrengung wettzumachen, was wiederum zu Stress führt. Zudem kann Stress auch direkt daraus entstehen, dass die erworbenen Kompetenzen zwar durch ihre glänzende Hülle zu einer erfolgreichen Arbeitsplatzsuche führen, dann aber durch ihre Inhaltsleere nicht hilfreich für die Bewältigung der Arbeitsaufgaben sind. So kann es rasch zu Überforderungsgefühlen bei Individuen kommen.

1.1.1.2    Autonomie in einer globalisierten Wirtschaftswelt

In einer globalisierten Wirtschaftswelt sinkt die Unabhängigkeit, mit der Personen ihrer Arbeit nachgehen können. Globalisierung wird als ein Prozess angesehen, infolge dessen traditionelle Grenzen, die Personen, Güter oder Gesellschaften voneinander trennen, zunehmend verschwinden (Bhavsar/Bhugra, 2008).

Für Unternehmen stellt zunehmende Globalisierung eine Herausforderung dar, denn sie reduziert die langfristige Planbarkeit von Arbeit und erhöht Unsicherheit. So werden Waren, die früher in einzelnen Ländern entwickelt, produziert und verkauft wurden, heute in einem Land entwickelt, in einer Reihe anderer Länder produziert, und weltweit verkauft. Unternehmen mit einer solch globalisierten Wertschöpfungskette sind von verschiedenen Entwicklungen in vielen Ländern abhängig, und haben auf die meisten Entwicklungen nur wenig Einfluss. Mitarbeiter können von schwer planbaren Entwicklungen überrascht werden und müssen dann schnell Lösungen für komplexe Probleme finden. Zusätzlich fällt es global agierenden Unternehmen zunehmend schwer, konkret mittel- und langfristig zu planen, da viele Umweltgegebenheiten kurzfristige Planänderungen nach sich ziehen können.

Dort, wo Unternehmen Einfluss haben, nämlich innerhalb der eigenen Firma und mittelbar auch bei Zulieferern, versuchen Unternehmen, über die Einführung von Unternehmensstandards dieser Ungewissheit zu begegnen. Stellen wir uns einen Manager in einem größeren Textilunternehmen vor, das damit wirbt, dass seine Kleidung »ethisch fair« produziert wird. Dieser Manager wurde beauftragt zu prüfen, ob ein möglicher Subunternehmer die Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Produktion erfüllt. Dieser Manager müsste sich fragen, wie die Arbeitsbedingungen und Umweltstandards in der Fabrik eines Entwicklungslandes aussehen, in der günstige Kleidungsstücke produziert werden, welche weiteren Zulieferer zu dem Endprodukt beitragen, und wie es um deren Arbeitsbedingungen und Umweltstandards steht. Insgesamt entsteht durch eine solche Informationssuche eine große Menge an Information, die von dem Manager aufgenommen und bewertet werden muss. Es gibt zudem Grenzfälle, in denen Organisationsprinzipien von Subunternehmern von denen der Auftragnehmer abweichen. Weitere Akteure, die den Auftragnehmer eventuell besser beurteilen können, müssten dann hinzugezogen werden. Zudem müssten Manager auf anderen Hierarchiestufen um ihre Einschätzung gebeten werden. Für die Einzelperson, die eine Entscheidung treffen soll – hier der Manager, der beurteilen soll, ob ein Subunternehmer ethisch fair produziert –, sinkt die Unabhängigkeit in einer solch komplexen Umwelt und seine Unsicherheit wächst.

Nicht überraschend fühlen sich in Untersuchungen zu Stressoren am Arbeitsplatz ca. 82% der Führungskräfte durch zu viele Informationen gestresst, die ständig auf sie einprasseln. Jeweils 60% klagen darüber, dass sie von ständig neuen Aufgaben unterbrochen werden, und dass sie häufig mit Dilemmata konfrontiert werden, die sich nur schwer lösen lassen, und daher die Einbeziehung übergeordneter Führungskräfte verlangen (Bhagat et al., 2012).

Die Unabhängigkeit eigener Entscheidungen am Arbeitsplatz, die ein grundlegendes Bedürfnis einer Person darstellt, wird in Unternehmen durch neue Anforderungen im Zuge der fortschreitenden Globalisierung immer stärker beschnitten. Für Mitarbeiter in den Organisationen entstehen hier erhöhte Risiken für Belastungen.

1.1.1.3    Soziale Zugehörigkeit in Zeiten von Kommunikationstechnologie und Mobilität

Ein weiteres Bedürfnis von Menschen ist die regelmäßige, positive Interaktion mit anderen Menschen (Baumeister/Leary, 1995).

Was passiert nun, wenn häufige Umzüge, lange Arbeitszeiten oder häufige Dienstreisen verhindern, dass wir regelmäßig mit Freunden zusammen kommen, im Sportverein am Training teilnehmen oder familiäre Termine wahrnehmen? Von vielen Autoren wird festgestellt, dass soziale Beziehungen sich beschleunigen (Rosa, 2010) oder dass diese Beziehungen heute häufiger als früher verfallen (Putnam, 2000). Unser Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit kann dann, im Extremfall, nur noch durch die Beziehung mit Kollegen am Arbeitsplatz befriedigt werden. Wir drücken unsere Persönlichkeit unter Umständen nur noch durch die Zugehörigkeit zu einer Organisation aus und können uns folglich auch nur im Lichte dieser Organisation darstellen (Bergami/Bagozzi, 2000). Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche Situation sehr hohe Anforderungen an die Organisationen stellt, in der wir arbeiten. Unternehmen reagieren auf diesen Trend, indem sie stärker Elemente des Freizeit- und Familienlebens in den Arbeitsplatz integrieren: Es gibt voll ausgestattete Küchen, Bars, Wäschereiservices, Schlaf- und Ruhegelegenheiten, kompetitive Sportangebote und vieles mehr. Unternehmen versuchen so auch, ein vielschichtiges Bild von sich selbst aufzubauen, das über den reinen Arbeitgeber hinausgeht, um so das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit durch die Mitarbeiter erfüllen zu können.

Wenn wir uns nur zu einer Organisation zugehörig fühlen, dann muss diese auch positiv bewertet sein, um unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Im Alltag kann dies jedoch nur in einem gewissen Ausmaß der Fall sein. So können Konflikte zwischen Unternehmen und Mitarbeiter entstehen. Zudem sind Kollegen zu einem gewissen Grad auch immer Konkurrenten. Betriebswirtschaftliche Gründe können dazu führen, dass Unternehmen ein negatives Image entwickeln und einzelne Mitarbeiter oder Außenstehende dem Unternehmen plötzlich ablehnend gegenüber stehen. Menschen, deren Bedürfnis nach Zugehörigkeit nur durch ihr Unternehmen befriedigt wird, können in solchen Situationen psychisch belastet werden.

Das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit kann auch durch die Zunahme von Telearbeit bzw. E-Work (d. h. die Erledigung von Arbeit außerhalb des betrieblichen Arbeitsplatzes) leiden. Wenn immer größere Anteile der Arbeit nicht im Büro, sondern von zu Hause oder von unterwegs aus erledigt werden, verringert sich der persönliche Kontakt mit Kollegen und Vorgesetzten. In großen Unternehmen arbeiten zudem virtuelle Teams standortübergreifend über Internet und Telefon zusammen, ohne persönlich in Kontakt zu stehen. Zudem ist es für spezifische Gruppen wie Leih- und Zeitarbeiter schwierig, sich einem Unternehmen zugehörig zu fühlen. Unternehmen, die das Bedürfnis von Mitarbeitern nach einem Gefühl von Zugehörigkeit vernachlässigen, können auf diese Art und Weise Belastung bei Mitarbeitern auslösen.

Somit ist der Stellenwert der Befriedigung psychologischer Bedürfnissen in Zeiten materieller Sicherheit gestiegen. Durch die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben und einen Generationenwechsel hin zur Generation Y, die von der Arbeit nicht mehr primär Geld, sondern Glück fordert, wird eine Erfüllung dieser Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit nun auch von der Arbeit verlangt. Unternehmen sind jedoch immer weniger in der Lage, diese psychologischen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dies macht die Förderung psychischer Gesundheit von Mitarbeitern am Arbeitsplatz umso notwendiger. Durch diese Gesundheitsförderung muss immer auch die Erfüllung der Bedürfnisse Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit für den Mitarbeiter erleichtert werden, sonst kann die Förderung psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz nur rein symptomatisch wirken. Resiliente, d. h. widerstandsfähige Organisationen können durch eine Förderung der psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeiter geschaffen werden, welche als übergeordnete Maxime die Erfüllung der Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit in den Blick nimmt.

1.2       Wie entsteht Belastung durch den Arbeitsplatz? Prozesse, Modelle und Definitionen

1.2.1     Bei allen gleich … – evolutionäre und biologische Grundlagen von Stressoren, Stress und Belastung

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Abb. 1.2: Auch im Arbeitsleben ist unser Gehirn immer noch auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger (Quelle: die Welt)

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in Ihrem wohlverdienten Jahresurlaub – sagen wir, in Kenia – und erfüllen sich mit einer Safari einen Lebenstraum. An einem dieser Safaritage entfernen Sie sich mit einem besonderen Fotomotiv im Kopf ein wenig von Ihrer Gruppe und treffen hinter einem Busch plötzlich auf einen Tiger. Malen Sie sich die Situation kurz aus, denn im Folgenden wollen wir anhand dieses Beispiels die evolutionären Grundlagen der Stressreaktion klären.

Der Tiger, dem Sie gerade gegenüberstehen, bezeichnen wir als Stressor. Stressoren sind nämlich diejenigen Faktoren, die eine Stressreaktion bzw. Stress auslösen. Man kann sich Stressoren somit als »Herausforderer« vorstellen, so wie das Zusammentreffen mit dem Tiger Sie gerade herausfordert. Wie reagieren Sie?

Sie haben, wenn Sie sich einem Tiger gegenüber sehen, im Prinzip drei Möglichkeiten: Sie können mit ihm kämpfen. Sie können vor ihm weglaufen. Oder Sie können versuchen, sich nicht zu bewegen, in der Hoffnung, der Tiger möge Sie nicht entdecken. Diese drei Reaktionsmöglichkeiten bezeichnet man in der internationalen Stressforschung auch als »Fight, Flight, or Freeze«-Reaktionen. Diese möglichen Reaktionen auf den Stressor Tiger und andere Stressoren haben sich im Laufe der Evolution herausgebildet, weil sie die Überlebenswahrscheinlichkeit unserer Vorfahren erhöht haben. Während Sie Ihre Entscheidung treffen, arbeitet Ihr Körper bereits auf Hochtouren, um Sie optimal auf Flucht, Kampf oder »Unsichtbarmachen« vorzubereiten: Das sympathische Nervensystem wird aktiviert. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Zucker und Fettsäuren werden freigesetzt, um Sie optimal mit Energie zu versorgen. Blutdruck, Herzfrequenz und Atemtätigkeit steigen. Diese Reaktion läuft bei allen Menschen relativ gleich ab. Diese kurzfristige Anspannungsreaktion auf Ereignisse, die subjektiv als bedrohlich wahrgenommen werden, bezeichnet man als Stressreaktion bzw. Stress. Durch diese Reaktion sind Sie nun bestens darauf vorbereitet, Ihr Überleben trotz Tiger durch Flucht, Kampf oder »Unsichtbarmachen« zu sichern.

Auf eine ähnliche Art und Weise geht Ihr Organismus allerdings auch mit Stressoren um, wenn Sie aus dem Urlaub wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren (Sie haben überlebt, der Tiger war bereits gesättigt und verfolgte Sie nicht auf Ihrer Flucht). Das bedeutet, dass in Ihrem Körper dieselbe evolutionär geprägte Stressreaktion abläuft, egal, ob Sie nun einem Tiger gegenüberstehen, oder ob der Chef in einer wichtigen Angelegenheit Druck macht. Unser Gehirn reagiert in beiden Situationen gleich, unabhängig davon, mit welchem Stressor wir es gerade zu tun haben (Tiger, Chef oder etwas anderes). Die typischen Stressoren haben sich über die letzten 2,6 Millionen Jahre gewandelt. Während zu der Zeit, als unser Gehirn sich entwicklungsgeschichtlich ausbildete, als Stressoren vor allem Fressfeinde dominierten, sind es heute meist soziale Stressoren, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Soziale Stressoren sind solche Stressoren, die aus der Interaktion mit anderen Menschen entstehen oder unseren sozialen Status bedrohen (Siegrist, 1996b). Dies kann im Arbeitskontext zum Beispiel Ärger mit dem Vorgesetzten sein, aber auch ein Berufswechsel oder eine Gehaltskürzung. Während unser Gehirn also immer noch optimal auf die Begegnung mit Fressfeinden vorbereitet ist, die in unserer Umwelt nicht mehr existieren, ist seine klassische »Fight, Flight, or Freeze-Reaktion« für die Bewältigung sozialer Stressoren nicht mehr besonders hilfreich. Denken Sie an Ärger mit Ihrem Chef: Es ist in Reinform weder konstruktiv, gegen den Chef in den Kampf zu treten, noch vor der Auseinandersetzung zu fliehen oder sich »tot zu stellen«. Ein konstruktives Gespräch wäre hilfreicher. Doch Stress aktiviert entwicklungsgeschichtlich ältere Gehirnregionen im limbischen System unseres Gehirns. Das limbische System ist ein Bündel unterschiedlicher, tief im Gehirn gelegener Regionen, die vor allem für die