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Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage der Printausgabe September 2010

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos Fotolia (Painted Desert View © Ffooter).

ISBN 978-3-89656-515-0

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Mehringdamm 33, 10961 Berlin

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Kapitel 1

Seit über einer Stunde hatte Sven kein einziges Wort mehr gesagt, und auch davor war er nicht besonders gesprächig gewesen.

Monika Seyfarth sah ihren Sohn nur manchmal kurz aus den Augenwinkeln heraus an, obwohl die Straße kerzengerade verlief und kaum ein Auto unterwegs war, auf das sie hätte achtgeben müssen. Apathisch starrte Sven neben ihr durch die Windschutzscheibe, den Blick getrübt und die Lider ein wenig gesenkt, als würde er jeden Moment einschlafen wollen. Zugegeben, die Fahrt bisher war alles andere als aufregend gewesen, eine endlos sich dahinziehende Ebene, gesäumt von ein paar Bergen am Horizont, ohne eine Stadt oder einen noch so winzigen Ort weit und breit. Auf dem sandigen, rötlichen Boden wuchsen Sträucher, einige verkrüppelte Bäume, mehr nicht. Monika selbst musste sich zusammenreißen, um bei dieser Eintönigkeit nicht einzunicken.

Sven war keineswegs müde, wie sie sehr wohl wusste, er war gelangweilt, zu Tode gelangweilt. Jetzt drehte sie den Kopf, um sich davon zu überzeugen, so dass der Wagen aufgrund dieser kurzen Unachtsamkeit von der Spur abkam und die beiden rechten Reifen über den ungepflasterten Seitenstreifen holperten.

„Ups“, sagte sie entschuldigend und lenkte den Wagen zurück in die Spur.

Dieses kleine Malheur erzeugte zumindest eine Reaktion im Gesicht ihres Sohnes, der erschrocken aus seiner Lethargie zuckte.

Monika lächelte ein wenig gezwungen, innerlich dankbar für diese Aufmerksamkeit, die Sven ihr plötzlich zuteilwerden ließ.

„Wenn wir hier liegenbleiben, war’s das gewesen“, murmelte er.

„Ach, was“, antwortete sie, „es kommen andauernd Autos vorbei. Außerdem ist ja nichts passiert.“

Sven machte ein grunzendes Geräusch und verdrehte die Augen.

So langsam, bemerkte sie, ging er ihr auf die Nerven. Ihre Finger krampften sich stärker um das Lenkrad, bemüht, ihren Unmut herunterzuschlucken. Da musste er ein Mal für einige Stunden im Auto sitzen, und schon war sein Leben ruiniert und vergeudet. Dabei hatte sie bisher alles getan, um ihn bei Laune zu halten.

„Es kann ja nicht mehr weit sein“, sagte sie.

Als Antwort lehnte er den Kopf gegen den Sitz und zog das rechte Bein nach oben, um den Fuß angewinkelt auf das Armaturenbrett zu stützen, was alles andere als bequem aussah. Dann atmete er übertrieben laut aus.

„Noch mal siebzehn müsste man sein“, entkam es ihr ungewollt zynisch.

„Was soll ich denn machen? Die Gegend ist stinklangweilig.“

„Andere wären froh, wenn ihre Mütter sie auf so eine Reise mitnehmen würden.“

Diese alberne Antwort war ihr augenblicklich peinlich. Zumindest aber verursachten ihre Worte ein, wenn auch nicht ganz ehrlich gemeintes Lächeln, das Monika sofort erwiderte.

„Nein, im Ernst“, fuhr sie fort. „Du könntest ein bisschen aufgeschlossener sein. Selbst wenn es mal nur durch den wilden Westen geht. Das ist kein Vegas mehr, aber ebenso beeindruckend.“

„So, wie das hier aussieht, kann ich mir nicht vorstellen, wo hier ein Canyon sein soll.“

„Millionen von Touristen können nicht irren“, sagte sie, obwohl auch ihr erste Bedenken kamen. Den Grand Canyon kannte Monika bisher nur von Bildern, auf denen ein gewaltiger Grabenbruch zu sehen war, von dem es hier allerdings nicht das geringste Anzeichen gab.

„Seit Stunden nur diese verdorrten Sträucher und Sand, Sand, Sand.“

„Soll ich das Radio anmachen?“, fragte sie, um ein weiteres Schweigen aufzuhalten, das sich in seiner Stimme allzu deutlich abzuzeichnen begann.

„Wenn die wieder nur Kenny Rogers oder Emmylou Harris spielen, drehe ich durch.“

„Vielleicht bringen sie irgendwo deine Cher.“

Das hätte sie nicht sagen sollen. Sven verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und sah seitlich aus dem Fenster.

Es war immer wieder erstaunlich, wie schnell ihr Sohn beleidigt sein konnte, und wie lange diese vermeintliche Kränkung anhielt. Früher war er anders gewesen, erinnerte sie sich und hoffte, dass diese spätpubertäre Phase bald vorüber sein würde. War sie selber denn auch so gewesen, früher?

Dabei hätte Monika ihm gern diese Freude gemacht, aber nicht für zweihundert Dollar pro Karte, irgendwo am Rand der letzten Reihen, von wo aus diese Cher nicht größer erschienen wäre als eine Ameise. ‚Nein‘, hatte sie abgewunken, ‚auf keinen Fall. Oder du bezahlst das von deinem Taschengeld.‘ Damit, dachte sie, sei die Sache erledigt gewesen, vor allem, weil sie ihm anschließend in den unzähligen Einkaufspassagen dieser künstlichen Stadt in der Wüste beinahe jeden anderen Wunsch erfüllt hatte, damit er Ruhe gab.

Ein Irrtum.

Wenigstens hatte Las Vegas ihm gefallen, und auch sie hatte dem Reiz nicht gänzlich widerstehen können, der von den lichtergeschmückten und im kitschigen Abklatsch europäischer Großstädte errichteten Hotels ausgegangen war. Sie hatte sich amüsiert, gemeinsam mit ihrem Sohn, der die beiden Tage in dieser Stadt so vergnügt und gutgelaunt gewesen war wie lange nicht mehr. Da sollte es ihr egal sein, dass sie viel zu viel Geld ausgegeben hatte, beim Essen, beim Shoppen oder an den Spielautomaten, solange sie Sven nur lachen sah. Lediglich bei dieser Sängerin, da hatte sie einen Schlussstrich gezogen.

Vielleicht, dachte Monika jetzt, mit einem weiteren, verstohlenen Blick auf sein schmollendes Gesicht, hätte sie selbst dort über ihren Schatten springen und die Kreditkarte zücken sollen. Aber sie wollte ihm nicht in allem nachgeben, so groß die Versuchung auch gewesen war. Sie wollte irgendwie, dass der Sohn mit der Mutter Spaß hatte, nicht weil sie ihm alles kaufte und für alles bezahlte, sondern weil … Unwillkürlich verzog sie die Mundwinkel. Ja, weil er ihr Freund sein sollte, ihr Kumpel. Weil sie tatsächlich glaubte, mit einem Siebzehnjährigen auf gleicher Wellenlänge zu sein. Dabei lagen Lichtjahre zwischen ihnen. Ganze Galaxien. So wie in diesem Moment, indem er ihr erschien wie eine völlig fremde Lebensform.

Diese Reise war ja vor allem eine Chance, sich dieser außerirdischen Lebensform erneut zu nähern, mit der sie früher einmal harmonisch zusammengelebt hatte, die ihr in den letzten fünf Jahren aber immer unnahbarer vorgekommen war, seit seine Pickel die Pubertät und sie und Fred die Scheidung eingeleitet hatten. Damals war der Riss entstanden, den sie bisher nicht zu kitten vermocht hatte, so sehr sie sich auch bemühte. Und immer wenn sie glaubte, einen Schritt nach vorn genommen zu haben, stieß Sven sie wieder von sich. Damit umzugehen fiel schwer.

„Sieh doch mal auf die Karte, wie weit es noch ist“, sagte sie, nachdem ihr kurzes Gespräch versiegt war.

Etwas lustlos richtete Sven sich auf, öffnete das Handschubfach und zog die Karte hervor, die er umständlich auf seinem Schoß ausbreitete.

„Wir sind irgendwo zwischen hier und hier“, kam schließlich die Antwort, mit der Monika, da die Karte außerhalb ihres Blickfeldes lag, nichts anfangen konnte.

„Ah, ja. Ich glaube, ich kann dieses hier da hinten schon sehen.“

„Sehr witzig, Mama.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Dann lach doch wenigstens.“

„Auf dieser Karte sind keine Orte mehr eingezeichnet. Als Nächstes kommt der Canyon, aber davon ist ja nichts zu erkennen.“

Als müsste sie sich vergewissern, an dem Canyon nicht bereits vorbeigefahren zu sein, warf Monika einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihr, wie in allen anderen Himmelsrichtungen auch, nur dieses Nichts aus roter Erde, Sträuchern und Steinen, von der Straße wie mit dem Lineal durchschnitten. Zwei Autos kamen dort mit überhöhter Geschwindigkeit auf sie zu. Wenig später klebte das erste davon bereits an ihrer Stoßstange.

„Idiot“, fauchte sie.

Sven hatte sich umgedreht und zog die Augenbrauen zusammen.

Dann heulten die Motoren auf, und beide Autos schossen auf der Gegenfahrbahn an ihnen vorbei.

„Hast du das gesehen?“, fragte sie unnützerweise. „Hier sind nur 55 Meilen erlaubt!“

„Na und? Sieht ja keiner.“

„Ich habe es gesehen. Und die Cops haben bestimmt Radar oder Hubschrauber.“

„Was willst du machen? Deine Strafzettel rausholen?“

„So etwas hab ich nicht mehr benutzt, seit … na, jedenfalls eine Ewigkeit nicht mehr.“

„Na also, was regst du dich auf? Außerdem bist du nicht im Dienst. Das hier ist Urlaub, schon vergessen?“

„Egal. Ich habe den einen Typen erkannt. Du auch?“

Neben ihr lief Sven dunkelrot an. Natürlich hatte er ihn erkannt. Und Monika wusste ganz genau, wie peinlich ihm die Erwähnung war, weil sie nicht wissen sollte, was für sie schon längst kein Geheimnis mehr war. Doch abgesehen von ein paar Andeutungen, die sie sich nicht verkneifen konnte, in der Hoffnung, er würde sich ihr endlich anvertrauen, hielt sie den Mund. Sie wollte ihn nicht noch mehr verschrecken, als es seine eigene Unsicherheit ohnehin schon tat. Mit siebzehn erschreckte einen einfach alles, da sollte sie vorsichtig sein.

„Was habt ihr überhaupt gemacht an dem Abend?“, fragte sie dennoch, weil sie trotz aller Einsicht nicht anders konnte.

„Wird das jetzt ein Verhör?“

Mit dieser Antwort hatte sie gerechnet. Jedes noch so kleine Interesse an ihm, an seinem Leben, seinen Gedanken, missverstand er als Schnüffelei. Als Einbruch in seine Privatsphäre. Selbstverständlich war es das auch, immerhin war sie seine Mutter. Sie wollte wissen, was er anstellte, wenn sie nicht dabei sein konnte, mit wem er sich traf, und erst recht mit wem er ins Bett ging. Denn dass er bereits mit jemandem schlief, davon musste sie leider ausgehen. Kein schöner Gedanke, da Sven in ihren Augen noch viel zu jung dafür war. Sie selbst hatte schließlich damit gewartet, bis sie… na gut, kein guter Vergleich, aber das war natürlich etwas völlig anderes gewesen, damals.

„Hallo? Noch da?“

Monika blinzelte mit den Augen und grinste, ohne ihn anzusehen.

„Entschuldige, ich war in Gedanken.“

„Offensichtlich. Aber um dich zu beruhigen, wir haben nur weiter an den Automaten gespielt und was getrunken. Mehr nicht.“

„Alkohol?“

Er schwieg.

„Du weißt, dass das hier erst ab einundzwanzig erlaubt ist, oder?“

„Ja, Frau Kommissarin, weiß ich. Aber ich denke mal, diese ätzende Fahrt heute ist Strafe genug.“

Sie lächelte ihn an, und Sven lächelte zurück. Sein Zynismus glich dem ihren, und das gefiel ihr, weil er es vermochte, sie trotz aller Verschiedenheit aneinanderzubinden. Es war nicht unbedingt die direkteste Art, miteinander umzugehen, aber es war eine Art, und diese eine war besser als gar keine. Sein Vater hatte damit nicht umzugehen gewusst. Worte waren nie sein Ding gewesen, er bevorzugte handfestere Argumente, die sie schließlich in die Scheidung getrieben hatten, was ihr Sven bisher nicht verzeihen konnte. Ihr Seitensprung damals erschien ihm schwerwiegender als die Gewalt seines Vaters. Dagegen kam sie nicht an. Eines Tages würde er das begreifen, hoffte sie. Bis dahin musste sie sich gedulden, und die Momente genießen, in denen sie sich, wie jetzt, vorsichtig anlächelten, als wäre dieses Lächeln eine marode Brücke, auf der jeder Schritt ein Wagnis blieb.

„He, Klaus“, rief Jens, „hast du gesehen, wer …“

„Nein, hab ich nicht.“

„Klar hast du. Sollen wir anhalten?“

„Red keinen Blödsinn. Sieh nach vorn.“

Jens hatte sich umgedreht, schelmisch grinsend, so dass Peter, der auf dem Beifahrersitz saß, ihm ins Lenkrad griff, um das Auto in der Spur zu halten. Auf der Rückbank verzog Klaus das Gesicht zu einer Grimasse.

„Wo ist das Problem?“, stichelte Jens weiter, den Kopf wieder auf die Straße gerichtet, mit Blick in den Rückspiegel. „Wir haben Zeit. Ich bremse, und du wechselst einfach den Wagen.“

„Ich will nichts von dem“, erwiderte Klaus gereizt. „Der ist viel zu jung.“

„Seit wann?“

„Seit ich wieder nüchtern bin. Und jetzt fahr, sonst verlieren wir die anderen.“

„Wie sollen wir die hier verlieren?“, fragte Jens. „Spätestens am Eingang zum Nationalpark warten sie auf uns.“

Vor ihnen, auf der schnurgeraden Straße, verschwand der zweite rote Lexus in der Senke einer Anhöhe, um wenig später erneut aufzutauchen. Die Vegetation zu beiden Seiten der Straße wurde dichter, die Bäume aufrechter und zahlreicher. Einige Häuser lagen gesprenkelt in der Landschaft, einsam und verlassen.

Klaus wandte sich um und sah den Wagen mit dem Jungen und dessen Mutter in der Entfernung verschwinden. Seit dem vorletzten Abend in Vegas hatte Jens keine Gelegenheit ausgelassen, ihn aufzuziehen.

Dabei konnte Klaus sich kaum daran erinnern, wie der Junge schließlich bei ihnen an den einarmigen Spielautomaten gelandet war. Klaus musste wohl, nach dem hundertsten Margarita, auf ihn zugegangen sein, um ihn einzuladen. Denn wenn er etwas getrunken hatte, wagte er Dinge, für die er sich im nüchternen Zustand in Grund und Boden geschämt hätte.

Dass der Junge sie alle jedesmal angestarrt hatte, sobald seine Mutter nicht hinsah, war offensichtlich gewesen. Die ganze Zeit huschte sie um ihren Sohn herum und verhätschelte ihn wie eine Glucke. Als sie dann verschwand, wohl um Kleingeld zu besorgen, hatte Klaus ihn aus den Fängen dieses Drachen befreit. Ein verschüchtertes Kerlchen, noch völlig überrumpelt von seinen sexuellen Neigungen, das kaum ein Wort herausgebracht und ständig verlegen gegrinst hatte. Das war alles, soweit Klaus sich zurückbesinnen konnte. Geflirtet jedenfalls hatte er mit dem Jungen auf keinen Fall, ganz egal, was Jens ihm auch unterstellen wollte.

Zum Glück ging Jens jetzt nicht weiter darauf ein, und Klaus starrte durch die Scheibe hinaus auf die vertrocknete, dürre Landschaft, die seit Stunden eintönig an ihm vorüberzog. Daran änderten auch die paar Bäume und Häuser nichts, die zumindest so etwas wie Zivilisation erahnen ließen.

„Wie kann man hier bloß wohnen?“, fragte Jens, als hätte er Klaus‘ Gedanken erraten, und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wieso?“, antwortete Peter. „Ich finde es ganz nett hier.“

Jens warf seinem Freund einen überraschten Blick zu, während dieser stur geradeaus sah. Offenbar, um genau diesem Blick zu entgehen.

Plötzlich an der Unterhaltung interessiert, schob Klaus seinen Kopf über die beiden Sitze nach vorn. Dass ihre beiden Vorstellungen von Häuslichkeit und Zweisamkeit eklatant voneinander abwichen, war kein Geheimnis. Aber etwas, das Klaus amüsierte.

„Ihr könnt euch hier ja ein Häuschen kaufen“, spöttelte er. „Wär das nicht was für euch? Nur ihr beide, auf Gedeih und Verderb?“

„Wohl eher auf Verderb“, grunzte Jens. „Ich würde das hier keine Woche lang aushalten. Hier ist doch weit und breit nichts los.“

„Das ist ja gerade der Punkt“, erwiderte Peter. „Endlich mal keine Großstadt, keine schwule Szene und nicht dieser ganze oberflächliche Rummel wie in Berlin. Nur die Natur und die Einsamkeit. Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen.“

„Da macht Jens wenigstens keine Dummheiten“, fiel Klaus dazwischen, der sich ein Grinsen kaum verkneifen konnte. „Das meinst du doch, Peter, oder?“

Niemand antwortete.

„Jens kann sich höchstens an die Straße stellen und die Hosen runterlassen, in der Hoffnung, dass ein Tourist vorbeifährt. Oder bei Sonnenuntergang auf den einsamen Cowboy warten. Ich kann mir das schon richtig vorstellen, wie er …“

„Das reicht“, unterbrach Peter ihn leise, was Klaus geflissentlich überhörte.

„Und du könntest im Schaukelstuhl sitzen und auf der Mundharmonika blasen, während Jens …“

„Ich sagte, es reicht!“, wiederholte Peter, diesmal mit einem solchen Ärger in der Stimme, dass Klaus sofort verstummte. Nicht, weil Klaus sich für seine Bemerkung schämte, sondern weil er wusste, wie sehr Peter innerlich am Kochen war.

Denn was Klaus soeben gesagt hatte, war keineswegs aus der Luft gegriffen. Genauso würde es sich verhalten, weil es sich immer so verhielt, sobald Jens die Gelegenheit bekam, Peter zu betrügen. Das lag, wenn man so wollte, in Jens’ Natur. Und es schien in Peters Interesse zu sein, alles zu schlucken und alles zu verdrängen.

Auch jetzt konnte Klaus deutlich in Peters Profil erkennen, wie ihm die Wut und die Anspannung in den Kopf stieg und wie er gleichzeitig versuchte, die Anspielungen auf seine Beziehung zwanghaft zu ignorieren. Peters rundes Gesicht war rot angelaufen, und selbst die Haare seines Schnauzbartes schienen sich vor Erregung aufzurichten, den schmalen Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Irgendwann würde seine Taktik versagen. Dann würde alles aus ihm herausbrechen, was sich jahrelang angestaut hatte.

Und genau auf diesen Zeitpunkt arbeitete Klaus hin. Schritt für Schritt wollte er Peters Beziehung zu Jens zerbrechen sehen, langsam und unaufhaltsam, bis Peter endgültig die Beherrschung verlor. Ganz egal, welche Konsequenzen sich für ihn selbst und Jens daraus auch ergeben sollten. Ein für allemal würde er Peter in seine Schranken verweisen!

Nach diesem verdrießlichen Gespräch sagte niemand mehr ein Wort. Klaus lehnte sich erneut zurück und genoss die Reaktion seiner Mitreisenden. Jens starrte angestrengt geradeaus, seinen Kopf mit den kurzen, blond gefärbten Haaren ein wenig gesenkt, Peter seinen versteinerten Blick aus dem Seitenfenster gerichtet.

„Da vorne wird es die Tickets geben“, brach Jens etwa zehn Minuten später das Schweigen und deutete mit dem Zeigefinger die Straße entlang

Kurz darauf erreichten sie einen kleinen Ort, der zum größten Teil aus Hotels bestand. Dazwischen gab es einige Restaurants und ein Informationszentrum, auf dessen Parkplatz der zweite Lexus stand. Jens verlangsamte, bog links ab und hielt neben dem Auto ihrer Freunde direkt vor dem länglichen, aus Holz errichteten Gebäude, in dem unzählige Touristen ein- und ausgingen.

Noch bevor Jens den Motor abstellen konnte, sprang Peter aus dem Wagen.

„Kannst du nicht einmal deine Klappe halten?“, fragte Jens gereizt, den Oberkörper ruckartig zu Klaus gewandt, kaum dass die Autotür ins Schloss gefallen war. „Du weißt ganz genau, wie er darauf reagiert.“

„Du hast doch angefangen mit deinem Blödsinn und dem Jungen aus Las Vegas“, verteidigte sich Klaus.

Jens zuckte mit den Schultern und löste seinen Gurt.

„Da hab ich nur mit dir geredet. Lass also bitte das nächste Mal Peter aus dem Spiel. Ich hab genug Stress mit ihm in letzter Zeit.“

„Ach ja?“

Interessiert horchte Klaus auf.

„Spiel nicht den Unschuldigen. Du bist schließlich der Grund dafür.“

„Bisher hat dich das nie gestört.“

Bei dieser Bemerkung legte sich ein merkwürdiger Ausdruck auf Jens’ Gesicht, den Klaus nicht einzuordnen wusste. Er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, bis sie sich in der Mitte trafen, und biss sich ein Mal kurz auf die Unterlippe. So wirkte Jens plötzlich älter als die achtundzwanzig Jahre, die er tatsächlich war.

„Bisher vielleicht nicht“, sagte Jens dann in einem für ihn viel zu ernsten Tonfall und stieg ebenfalls aus dem Wagen.

Klaus blickte ihm nach, während Jens sich zu den anderen auf der erhöhten Veranda vor dem Informationsgebäude gesellte.

So wie Jens dort stand, wusste Klaus sofort wieder, warum er sich auf ihn eingelassen hatte. Seine schlanke Figur und sein hübsches Gesicht mit den, wenn auch falschen, blonden Haaren und dem ebenso gefärbten Goatee. Sein schelmischer Blick aus den blauen Augen und diese lässige, leicht vornübergebeugte Haltung, die Hände tief in den Taschen seiner Shorts vergraben. Überhaupt seine ganze unbekümmerte und unbefangene Art, die nie etwas ernst zu nehmen schien und die Klaus‘ eigener so wunderbar entsprach. Sie wären ein perfektes Paar. Ganz im Gegensatz zu Jens und Peter, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Warum also seine kryptische Bemerkung eben? War Jens seiner überdrüssig geworden? Oder befürchtete er etwa, Peter könnte ihn verlassen, sollte Jens sein Verhältnis zu Klaus aufrechterhalten?

Dabei hatte Klaus tatsächlich gedacht, seinem Ziel langsam näher gekommen zu sein. Peters gedeckelte Eifersucht schien immerhin ein Topf kurz vor dem Überkochen zu sein. Jens’ Spiel mit dem Feuer, das er selbst auf dieser Reise nicht lassen konnte und an dem Klaus alles andere als unschuldig war, ließ das Ende ihrer Beziehung in greifbare Nähe rücken. Wieso wollte Jens diese Möglichkeit plötzlich zerstören? Das war nicht fair. Nicht, nachdem Klaus es bereits soweit gebracht hatte.

Seine euphorische Stimmung von vorhin war in weite Ferne gerückt. Jene Euphorie, die er brauchte, um sich lebendig zu fühlen.

Auszusteigen, dazu hatte er keine Lust mehr.

Carsten lehnte gegen einen der Stützpfeiler des Holzdaches, das über der Veranda vor dem Informationsgebäudes des Nationalparks ein wenig Schatten spendete. In der frühen Nachmittagssonne war es kaum auszuhalten, trotz der kurzen Hosen und der Baseballkappe, die er verkehrt herum auf dem Kopf trug. Der Schweiß rann ihm darunter hervor und sickerte hinten im Nacken in sein T-Shirt. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Auf dem Parkplatz vor ihm, auf dem ständig Touristen ein- und ausstiegen, flimmerte der Asphalt in dem gleißenden Licht.

Bereits um acht Uhr früh waren sie von Las Vegas aufgebrochen, hatten lediglich kurz am Hoover-Staudamm Halt gemacht, um ein paar Fotos zu schießen, und waren dann in einem Rutsch durchgefahren. Diese lange, eintönige Fahrt hatte ihn erschöpft, und es wurde Zeit, dass sie endlich den Canyon erreichten und damit das Hotelzimmer, in dem er duschen und sich ein wenig ausruhen konnte.

Carsten sah auf die Uhr.

„Wo bleiben die nur?“, fragte er an Rolf gewandt, der in einigem Abstand neben ihm stand, die Arme über den prallen Bauch verschränkt.

Übertrieben langsam schob Rolf seinen dunkelbraunen Cowboyhut aus der Stirn. Seine Aufmachung, mit diesem Hut, den er sich in Las Vegas gekauft hatte, mit dem kurzärmeligen karierten Hemd, der Jeans und dem Gürtel mit der riesigen Messingschnalle, fand Carsten übertrieben. Auch wenn er zugeben musste, dass Rolf, mit seinen vierzig Jahren, darin eine gute Figur abgab.

„Die werden sicher gleich hier sein“, antwortete Rolf und kratzte sich an seinem kurzgeschnittenen Vollbart. „Wenn sie sich nicht vorher gegenseitig die Augen ausgekratzt haben.“

Carsten blickte ihn verwundert an.

„Du weißt doch, wie Klaus sein kann“, erwiderte Rolf schulterzuckend.

Ja, das wusste Carsten nur allzu gut. Klaus kannte er schließlich von den sechs Männern, mit denen er seit einer Woche auf dieser USA-Reise unterwegs war, am längsten. Die anderen kannte er genau genommen gar nicht, oder hatte sie erst kurz vor Abflug kennengelernt. Klaus hatte ihn überraschenderweise eingeladen, mitzufliegen, und obwohl sich Carsten eine solche Reise eigentlich kaum leisten konnte, hatte er zugesagt. Mehr Zeit mit Klaus zu verbringen, das war der Grund gewesen. Einen Grund, den er langsam bereute.

„Ich weiß sowieso nicht“, fügte Rolf mit einem abfälligen Grunzen hinzu, „wer die drei zusammen in ein Auto gelassen hat. Dass das Ärger bedeuten kann, war doch abzusehen.“

„Du meinst, weil …“

„Weswegen denn sonst?“

Rolfs Tonfall klang hart, so als hätte Carsten etwas Offenkundiges übersehen. Diesen Tonfall empfand Carsten als kränkend und herabwürdigend, aber langsam begriff er, dass dies eben Rolfs Art war zu reden, ohne dass er etwas Abfälliges damit bezweckte.

„Du kennst Peter und Jens noch nicht lange genug. Aber ich. Peter ist mein bester Freund, und es geht mir gewaltig gegen den Strich, wenn Klaus sich in ihre Beziehung einzumischen versucht. Auch wenn ich nie verstanden habe, was Peter an Jens findet.“

„Wie lange sind die beiden denn schon zusammen?“

„Drei Jahre.“

Damit war ihr kurzes Gespräch zu Ende. Immerhin die längste Unterhaltung, die Carsten bisher mit Rolf geführt hatte. Reden schien nicht seine Stärke zu sein, denn selbst mit den anderen sprach Rolf nie besonders viel.

Unterdessen hatte sich Rolf wieder abgewandt und sah mit verschränkten Armen über den Parkplatz hinweg zu dem Highway, auf dem der zweite rote Lexus weiterhin auf sich warten ließ. Aus Rolf wurde Carsten nicht wirklich schlau. Gelacht hatte er, soweit Carsten sich erinnerte, auf dieser Reise bisher kein einziges Mal. Und auch die Ausflüge zu den Universal-Studios und dem Strand von Los Angeles hatte er scheinbar nur widerwillig über sich ergehen lassen, als wären diese Sehenswürdigkeiten unter seinem Niveau. Warum sich Rolf überhaupt dieser Gruppe angeschlossen hatte, die ihn offensichtlich nicht interessierte, blieb für Carsten deshalb ein Rätsel.

„So“, hörte er Thomas hinter sich rufen, der mit seinem Freund Alex aus dem Gebäude zurück war, und die Eintrittskarten zum Nationalpark in der Hand hielt. „Hat eine Weile gedauert. Die halbe Welt scheint zum Canyon unterwegs zu sein und dafür anzustehen. Und dann hat Alex auch noch vergessen, wo er seine Kreditkarte gelassen hat.“

Ohne einen Blick auf seinen Freund, hielt Thomas ihm die Eintrittskarten entgegen.

„Hier, steck die ein. Aber verlier sie nicht gleich wieder.“

Alex schüttelte verlegen und stumm den Kopf. Dann steckte er die Karten sorgfältig in den Brustbeutel, den er unter seinem buntbedruckten Hemd hervorgezogen hatte.

„Und?“, fragte Thomas. „Sind die anderen schon da?“

„Nein“, erwiderte Carsten. „Immer noch nicht.“

„Mann, wie kann man nur so trödeln. Ist doch kaum Verkehr hier.“

„Rolf befürchtet, sie hätten sich gestritten.“

Thomas warf einen kritischen Blick auf Rolf, der noch immer geradeaus über den Parkplatz starrte.

„Das sollen sie gefälligst klären, wenn wir zurück in Berlin sind“, sagte er streng, zog eine Schachtel Marlboro aus der Hemdtasche, steckte sich eine davon in den rechten Mundwinkel und zündete sie an. „Ich will mir hier nicht die Laune verderben lassen.“

„Stimmt das denn?“, fragte Carsten, der sich über die kursierenden Gerüchte kein eigenes Urteil erlauben wollte.

„Was? Dass Jens mit jedem vögelt und sich einen Scheißdreck darum schert, ob Peter das mitkriegt?“ Thomas verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. „Ja. Das ist kein Geheimnis.“

„Scheint ja eine merkwürdige Beziehung zu sein.“

„Jedem das Seine.“

Ob Thomas sich über diese Beziehung amüsierte oder darüber erbost war, konnte Carsten nicht einschätzen. Immerhin gehörte Thomas zu Peters und Jens’ Freundeskreis, oder zumindest tat dies sein Freund Alex, der die ganze Zeit noch kein einziges Wort gesagt, sondern lediglich mit seinen großen, grünen Augen auf Thomas geschaut hatte wie ein treuer Hund.

Äußerlich war Alex das völlige Gegenteil von Thomas. Er, an die ein Meter neunzig groß, breitschultrig und muskulös, mit kantigem Gesicht, kurzgeschorenen Haaren und einer gebrochenen Nase, hatte die Statur und das Aussehen eines Boxers. Alex dagegen war schlank, beinahe dünn, mit schwarzer, schulterlanger Frisur und einem makellos schönen Gesicht. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er bestimmt an die zehn Jahre jünger als sein Freund. Dieser Altersunterschied spiegelte sich auch in der Art und Weise wider, wie beide miteinander umgingen. Ihr Verhältnis glich einer strenggesetzten Hierarchie, bei der Thomas den Ton angab und Alex gehorchte. Wenn Carsten es nicht besser wüsste, er wäre nie auf die Idee gekommen, dass beide seit Jahren zusammenlebten.

„Da sind sie“, rief Rolf plötzlich aus und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Wagen, der soeben auf den Parkplatz einbog, um schließlich direkt neben ihrem Lexus zu parken. Gleichzeitig öffnete sich ruckartig die Beifahrertür. Peter sprang heraus und eilte die wenigen Stufen zur Veranda hinauf, sein Gesicht verärgert und kalt.

„Habt ihr die Eintrittskarten?“, fragte er, ohne einen von ihnen direkt anzusehen.

„Ja. Bereits erledigt“, antwortete Thomas. „Alles in Ordnung bei dir?“

Peter starrte weiterhin ins Leere. Seine Bemühung, sich nichts anmerken zu lassen, scheiterte. Da half auch das angespannte Lächeln nichts, das unter seinem dichten Schnauzbart halb verborgen lag.

„Ja, natürlich“, sagte er. „Was soll denn nicht in Ordnung sein?“

Noch bevor jemand antworten konnte, war auch Jens aus dem Auto gestiegen. Peter ließ seinen Freund nicht aus den Augen, bis dieser dicht bei ihm war und leicht eine Hand auf seine Schulter legte. Sofort, schien es Carsten, war jegliche Verstimmtheit aus Peter gewichen, so als würde eine einzige Berührung genügen, um alles Vorgefallene zu vergessen.

Nein, dachte Klaus, auszusteigen, dazu hatte er keine Lust.

Er brauchte die sechs Männer vor dem Auto nur anzusehen, um zu wissen, was sie gerade über ihn dachten. Als wäre alles seine Schuld.

Und selbst Jens würde sich jetzt nicht auf seine Seite schlagen. Nicht solange er das Gefühl hatte, sich bei Peter erneut lieb Kind machen zu müssen. Es war jedes Mal dasselbe.

Jens und Klaus hatten bisher so viel Spaß miteinander gehabt, hatten gelacht, gelästert und nachmittags, wenn die anderen noch unterwegs waren, war Jens zu ihm aufs Zimmer gekommen. In diesen Momenten schien Peter nicht zu existieren. Doch trieb Jens es zu weit, fühlte Peter sich übergangen und beleidigt, und Jens rannte jedes Mal zu ihm zurück. Dann war Klaus es, der sich vernachlässigt fühlte, und davon hatte er endgültig die Nase voll.

Mit einem Seufzer überwand er sich und stieg aus. Sofort schlug ihm die Hitze nach dem langen Aufenthalt im klimatisierten Wagen wie ein Vorschlaghammer entgegen. Vor ihm, von der erhöhten Position der Veranda aus, sahen alle sechs zu ihm herab.

Alex, der sich dichter gegen seinen Freund gelehnt hatte, verschüchtert und wie immer etwas hilflos. Da war eine ständige Gekränktheit auf seinem ebenmäßigen Gesicht, die von einer tiefen Unsicherheit herrühren musste. Immer und überall vermutete Alex die Zurückweisung. Probleme ertrug er nicht. Er brauchte die heile Welt wie andere die Luft zum Atmen. Thomas schien dies nicht zu interessieren. Nach außen vermittelte er den Eindruck, als ginge Alex ihn nichts an, als wäre er ihm gleichgültig. Und doch konnte er nicht verbergen, wie sehr er die Hingabe seines Freundes genoss.

Rolf, abseits gegen einen Pfeiler gelehnt und desinteressiert den Kopf zur Seite geneigt, seinen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen, als wollte er nichts mit den anderen zu tun haben.

Carsten, mit den leicht abstehenden, von der Sonne geröteten Ohren unter seiner Baseballkappe und seinem vorwurfsvollen Blick auf ihn gerichtet. Warum, fragte sich Klaus, hatte er ihn überhaupt auf diese Reise mitgenommen? Er musste nicht ganz bei Trost gewesen sein.

Und natürlich Peter und Jens. Wen wollten die beiden mit dieser lediglich angedeuteten Umarmung eigentlich noch überzeugen?

„He, alle zusammen“, rief Klaus ihnen schließlich mit einem gezwungenen Lächeln entgegen und blieb unschlüssig neben dem Lexus stehen. Dass er sich schuldig fühlen sollte, diese Genugtuung würde er ihnen nicht gönnen. Wenn Peter keinen Spaß vertrug, dann war das nicht sein Problem.

„Hat einer von euch eine Kopfschmerztablette? Ich kann meine nirgends finden. Und diese Hitze macht mich fertig.“

Einen Moment lang antwortete niemand. Dann aber stupste Thomas seinem Freund in die Rippen, dass dieser wie aus einer Trance erwacht zusammenzuckte.

„Hast du nicht gehört?“

„Oh, entschuldige. Ja, natürlich“, sagte Alex eilig. „Ich. Ich habe welche. Irgendwo in meinem Rucksack. Hinten, auf der Rückbank.“

Klaus wandte sich ab, öffnete den zweiten Lexus und kroch hinein. Im Auto war es noch stickiger als draußen. Nach kurzer Suche fand er im Rucksack, in dem Kleidung und Krimskrams unordentlich durcheinanderlag, die Kulturtasche. Vollgestopft mit Medikamenten und Hautcremes.

„Reist du immer mit einer ganzen Apotheke?“, rief er. „Was ist das hier alles?“

„Hör auf, dich zu beschweren“, verteidigte Thomas seinen Freund von der Veranda aus. „Man weiß nie, was passiert. Wie deine ständigen Kopfschmerzen. Also mecker nicht.“

Klaus kramte weiter, bis er die Paracetamol gefunden hatte. Dann griff er nach der Wasserflasche, die im Ablagefach zwischen den Sitzen lag, trank gierig und schluckte zwei der Tabletten damit hinunter. Diese Hitze ertrug er nicht. Trocken und staubig war sie, und der Schweiß floss ihm in Strömen den Nacken und die Schläfen herab. Dazu kam der ständige Wechsel von Hitze und klimatisierten Räumen, der seine Kopfschmerzen noch verstärkte.

Nicht gewillt, sofort wieder auszusteigen, wühlte er weiter in Alex’ Kulturtasche. Einen Arzt zum Freund zu haben, dachte Klaus, machte sich offenbar bezahlt. Ohne Rezept waren diese harten Schmerz- und Schlaftabletten oder Antibiotika nicht zu bekommen. Ganz zu schweigen von den vielen Antidepressiva und Aufputschmitteln. Ein ganzes Bataillon davon.

Klaus sah hinaus auf Alex – wie ein Beschützer stand Thomas dich an seiner Seite. Keine Ahnung, wen Thomas damit noch hinters Licht führen wollte. Seine Beziehung zu Alex war Fassade, genau wie die von Peter und Jens. Nur dass Thomas die Risse besser zu kaschieren wusste, zumal Alex von alleine nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass die Liebe zwischen ihm und seinem Freund längst einer Abhängigkeit gewichen war, von der er nur schwer wieder loskommen würde. Die Frage allerdings, die Klaus bisher nicht beantworten konnte, war, was im Gegenzug Thomas bei Alex hielt. Doch das würde er schon noch herausfinden.

Einen Moment zu lange hatte er auf Thomas gestarrt, der seinen Blick plötzlich erwiderte. Schnell stopfte Klaus deshalb all die Medikamente zurück in die Tasche und diese zurück in den Rucksack.

„Hast du gefunden, was du gesucht hast?“, wollte Thomas wissen, als Klaus erneut aus dem Auto stieg.

Seine Stimme klang gleichgültig. Zu gleichgültig, wie es schien. Denn dass Thomas mit seinen Worten mehr im Sinn gehabt hatte als die Tabletten, war Klaus keineswegs entgangen. Thomas war nicht dumm. Er wusste genau, wie gerne Klaus seine Nase in Angelegenheiten steckte, die ihn nichts angingen.

„Können wir endlich weiterfahren?“, fragte Rolf, der wie immer etwas abseits stand. „Ich will heute noch den Canyon erreichen.“

„Weit kann er ja nicht mehr sein“, erwiderte Peter.

„Hoffentlich ist er so großartig, wie alle sagen“, sagte Alex, den Kopf dabei zu Thomas erhoben, als hinge diese Großartigkeit von seinem Freund ab.

„Keine Sorge“, antwortete Thomas und küsste ihn, wie zur Beruhigung, auf die Wange. Klaus verdrehte die Augen.

„Macht mal halblang. Wir sind hier in Arizona und nicht auf dem CSD.“

„Na und? Ist das etwa verboten?“

„Gut möglich. Die werfen euch dann in den Canyon. Bei Sonnenuntergang und mit Trommelwirbel.“

Alex’ Gesicht wurde augenblicklich kreidebleich. Jedes falsche Wort konnte ihn erschrecken und einen Dammbruch in seinen ohnehin verwässerten Augen auslösen.

„Genug gelästert. Rein mit euch in die Wagen!“, befahl Rolf in einem Ton, den Klaus an ihm hasste. Als wäre Rolf mit seinen vierzig Jahren der einzige Erwachsene und Klaus und die anderen Kinder, die es herumzukommandieren galt. Dabei sollte Rolf sich lieber in acht nehmen. Denn die harmlose Bemerkung, die er ihm gegenüber in Las Vegas hatte fallen lassen, war durchaus nicht so harmlos gemeint gewesen, wie sie geklungen haben mochte.

„Ach, übrigens“, sagte Rolf, als Klaus bereits die hintere Wagentür des anderen Lexus geöffnet hatte, um einzusteigen. „Falls du nichts dagegen hast, ist es wohl besser, wenn ich jetzt mit Jens und Peter fahre.“

Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, saß Rolf bereits auf der Rückbank und schlug ihm von innen die Tür vor der Nase zu.

Vorsichtig sah Monika Seyfarth ihren Sohn aus den Augenwinkeln heraus an. Sie sollte sich dringend diese Angewohnheit abgewöhnen, die ihm das Gefühl geben musste, sie wollte ihn heimlich beobachten. Bespitzeln, wie er es nennen würde. Kein Wunder, dass er immer und überall die Kommissarin in ihr sah. Aber sie hatte ihre Gründe. Gute sogar, wie sie fand.

Wenn Sven glaubte, sie würde nicht hinsehen, verhielt er sich anders. Da waren plötzlich Emotionen in seinem unausgereiften, seinem Vater immer ähnlicher werdenden Gesicht, die er ansonsten vor ihr verbarg. So wie jetzt, als er beinahe ehrfürchtig seinen Schritt verlangsamte, mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund, weil er nicht glauben konnte, was er da sah, und weil er sich, vermeintlich unbeobachtet und selbstvergessen, dem Schauspiel hingab, das die Natur ihm bot.

Monika musste lächeln. Sein Gezeter, seine Verschlossenheit, seine ständige Abwehr vor der Welt, der er misstraute, all das konnte sie ihm in diesem Moment verzeihen. Hier war er ihr kleines Kind, noch voller Unvoreingenommenheit und Faszination, bereit, alles in sich aufzunehmen und sich darauf einzulassen, weil er in sich versunken alles um sich herum auszublenden vermochte. Für Monika ein weit erfüllenderer Anblick als der Canyon.

Tatsächlich schien es, als würden sie einfach in dieses riesige Loch hineinfallen. Bis kurz vor dem ersten Aussichtspunkt, den sie nach dem Eingang zum Nationalpark erreichten, verriet nichts von dem gewaltigen Einschnitt mitten durch diese kahle Landschaft. Als hätte sich der Graben eben erst für sie geöffnet, lag er plötzlich vor ihnen, gähnend und schwindelerregend tief.

Sven war sofort aus dem Auto gesprungen, zunächst rennend, dann langsamer werdend, so dass sie ihn mühelos einholen konnte. Nebeneinander gingen sie auf den Canyon zu, schweigend, und Monika mit dem verstohlenen Blick auf ihn, der ihm zumindest dieses eine Mal völlig entging.

Es gab keine Zäune, keine Absperrungen. Ein kleiner Pfad wand sich am Abgrund entlang, und eine in den Stein gehauene Treppe führte hinab auf die Plattform des hervorstehenden Fels. Zumindest dort gab es ein niedriges Geländer, hinter dem dieser erhabene Riss wie ein geöffneter Reißverschluss magisch und stumm seine wilde Schönheit offenbarte und der einem in seiner Weite und Stille den Atem raubte. Tief unten die zerklüfteten, von Wasser, Wind und Wetter über Millionen von Jahren aus dem Fels gewaschenen Berge, wie Pyramiden oder Tempel, die im Wechsel von Sonne und Wolken ihre Farbe wechselten, von braun zu gelb zu rot, und ganz entfernt, in der Senke, der sich windende Colorado River mit seinem ockerfarbenen Wasser, dem all das zu verdanken war.

Etwas mulmig war ihr schon zumute, so dicht am Rande dieses Felsens, vor allem, wenn sie geradeaus über den Canyon sah, ohne ihre Füße im Blickfeld, die ihr die Gewissheit gaben, sich noch auf festem Boden zu befinden. Zur Beruhigung griff sie deshalb hastig nach dem Geländer.

Sven dagegen machte die Höhe nichts aus. Ganz dicht stand er am Abgrund, die eiserne Stange ignorierend, die sie selbst so dringend benötigte, um den Schwindel ein wenig einzudämmen. Unwillkürlich griff Monika nach seiner Hand.

„Das ist ja Wahnsinn“, sagte er leise, und tatsächlich erwiderte ihr Sohn den Druck ihrer Finger, dass sie darüber ihre Höhenangst einen Moment lang vergaß.

Ganz verloren, dachte sie, hatte sie ihn also noch nicht, und das war ein gutes Gefühl.

„Beeindruckend, was?“

„Wie tief ist das?“, fragte er und lehnte sich vor.

„Mach bitte keinen Unsinn.“

Sofort war der Schwindel zurück, und reflexartig zog sie an seiner Hand.

„He, lass das. Ich pass schon auf.“

Wie zum Trotz lehnte Sven sich weiter über das Geländer. Monika kniff die Augen zusammen, da sie den Anblick nicht ertrug. Der Boden unter ihren Füßen schien sich aufzulösen und der tiefe Graben sie magisch anzuziehen. Ungewollt sah sie sich bereits im freien Fall. Der Schwindel war wie das Vorbeirauschen der Felsen, wie der unaufhaltsame Aufprall gegen den Stein. Ein Gefühl, das körperlich wehtat.

„Bereits bei einem Sturz aus dem fünften Stock“, hörte sie sich sagen, „zerschellt dein Körper wie …“

„Lernt man das auf der Polizeischule?“

Vorsichtig öffnete sie die Augen und schüttelte den Kopf.

„Nein, eigene Erfahrungswerte. Du glaubst gar nicht, wie viele auf diese Weise den Tod finden. Freiwillig oder auch nicht.“

Sven zog die Brauen zusammen. In seinem Blick zeigte sich so etwas wie Mitleid, und obwohl er kaum merklich die Mundwinkel verzog, trat er einen Schritt zurück.

„Danke“, sagte sie aufatmend.

„Schon okay, wenn’s dich beruhigt.“

„Warte, ich mach ein Foto.“

Eilig zog sie die kleine Kamera aus dem Beutel, den sie um die Hüften geschnallt trug, und Sven ging in Position. Zum Spaß zoomte sie auf sein Gesicht. Pickel waren seine größte Sorge. Jede Erwähnung dieses Makels stürzte ihn in eine Untergangsstimmung utopischen Ausmaßes. Auch jetzt saßen da zwei auf seiner Stirn und einer direkt auf der Nase. Feuerrot und mit gelbem Punkt in der Mitte. Gott, was hatte sie selbst als Teenager geheult, als hinge ihr Leben davon ab. Kein Wunder, dass niemand mit ihr ausgehen wollte.

„Was ist?“

„Ja, ja, ich mach ja schon. Lächeln!“

Steif und unbeholfen stand er da, die Lippen zu einer Art Grinsen verzogen und die Arme schlaff an seinem langen Körper herabhängend, von denen er nie recht wusste, wohin mit ihnen. Noch ein paar Jahre, dachte sie, und er wäre ein ganz passabel aussehender Mann, vielleicht sogar attraktiv wie sein Vater. Im Moment allerdings war er nur Arme, Beine und Pickel. Und dann diese paar Flusen auf seiner Oberlippe. Ein beschissenes Alter, keine Frage.

Klick.

„Cool. Und jetzt wir beide zusammen.“

Noch zu überrascht von seinem Vorschlag, händigte Monika die Kamera beinahe widerwillig und verstört dem japanischen Touristen aus, den Sven um ein Foto gebeten hatte. Was ein bisschen Natur doch für Auswirkungen haben konnte! Und dann, als er sogar seinen Arm um ihre Schulter legte, schien ihr Mutterglück perfekt. Sein Gemaule auf der Fahrt hierher war nur noch ein fernes Rauschen.

„Ich bin ja so froh, dass es dir gefällt“, sagte sie, als der Japaner wieder verschwunden war. „Und da wolltest du mit Fred nach Mallorca!“

Es gab Momente, da könnte sie sich die Zunge abbeißen.

Die Reise in die USA war lediglich zweite Wahl für Sven gewesen, da er eigentlich mit seinem Vater zum Ballermann hatte fliegen wollen. So eine Art Vater-Sohn-Geschichte, obwohl die beiden noch weniger gemeinsam hatten als Sven und sie. Wenigstens hatte Fred das begriffen, und mit seiner neuen Freundin hätte Sven nur gestört. Erst als Sven das einsehen musste, war er bereit gewesen, sich seiner Mutter anzuschließen. Darauf jetzt herumzureiten, war kein guter Einfall gewesen.

Auf Svens Gesicht konnte sie deutlich ablesen, wie sehr er mit sich kämpfte, diese blöde Bemerkung zu ignorieren oder eingeschnappt zu sein. Er entschied sich für beides.

„Lass uns ins Hotel. Die Koffer sind noch im Auto“, sagte er, ohne sie anzusehen und mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

„Gute Idee“, stimmte sie eilig zu. „Dann können wir was essen und zum Sonnenuntergang wieder hier sein.“

Sven ging voran die steinernen Stufen hinauf und von dort den Pfad zurück zum Parkplatz. Sie folgte, verärgert über sich selbst. Das kann dauern, dachte Monika, ehe er ihr diesen Patzer verzeihen würde.

Auf dem Parkplatz parkten immer mehr Autos. Touristen aus den verschiedensten Ländern dieser Welt, angezogen von dem Panorama, das für Monika im Augenblick jegliche Anziehung verloren hatte.

Sven lehnte bereits gegen ihren Dodge, ebenso verstimmt wie sie, den Kopf gesenkt, dass die blonden Haare ihm ins Gesicht fielen und den Ausdruck darin verdeckten. Nur nicht aufregen, sagte sie sich, während zwei rote Autos im Schneckentempo sie am Überqueren der Straße hinderten.

Schon wieder diese Typen aus Las Vegas. Der eine auf der Rückbank besaß sogar die Frechheit, ihr zuzuwinken. Was sollte das werden, eine Verfolgungsjagd?