Nizza - mon amour

Je m’attarde voluptueusement dans cette Riviera où le printemps est une féerie. Tout le Mont Boron est une immense gerbe de fleurs et les roses foisonnent et pullulent le verger.

Jean Lorrain, 1902

 

 

Geradezu wollüstig verweile ich möglichst lange an dieser Riviera, wo der Frühling ein Zauberspiel ist. Der ganze Mont Boron ist ein unermeßliches Blumenmeer, und die Rosen quellen über, wuchern wie reife Früchte.

mon amour

Nizza? Nizza gibt es nicht. Es gleicht jenem berühmten Fächer mit dem Mallarmé-Gedicht, dessen Zeichen geheimnisvoll bleiben, der erst auseinandergefaltet seine Wortgeheimnisse preisgibt; so wird die Stadt und die unbedingt ihr zugehörige Umgebung erst schön, läßt man sich ihre Sonderbarkeiten zufächeln, die Eleganz der Belle-Époque-Paläste, errichtet von den russischen Adligen und reichen Engländern im 19. Jahrhundert, oder die stilsichere Perfektion der Art-déco-Häuser, denen gleichsam als Ausrufungszeichen die weiße Betonkirche Ste-Jeanne d’Arc aus dem Jahre 1931 im Quartier Libération hinzugefügt ist. Doch so weit und prächtig er aufgespannt sein mag – der Fächer (Mallarmé hatte Gedicht und Ball-Requisit seiner wenig geliebten deutschen Frau Maria Christina Gerhard zugeeignet) kann abstruse Häßlichkeit, Nepp und die glitzernde Brillanten-Vulgarität der russischen »Nouveau riche«-Oligarchen nicht verbergen; wie deren Nationalhymne erscholl im Sommer 2006 der Notschrei aus den Luxushotels vom »Negresco« bis hin zum »Palais Maeterlinck«: »Hilfe, der Kaviar ist alle.« Zu diesem Ungemach wird es nicht kommen im Riesenbesitz, den oberhalb von Villefranche ein Russe für 50 Millionen Euro erwarb, dabei treuherzig versichernd, er werde auch 50 Gärtner beschäftigen. Zwar ist im Jahre 2007 die Zahl der russischen Milliardäre auf 71 im Vergleich zu 53 im Vorjahr gestiegen; aber nicht ohne Häme titelte Nice-Matin im Herbst 2008: »Fin de la fête pour les nouveaux riches russes?«

Nizza ist ein Plural. Ein Konglomerat der Mehrdeutigkeiten. Bereits das Ortseingangsschild lautet »Nice. Nissa«. Was ist das für eine Sprache? Oder ist es ein Dialekt? So manche Beschriftungen lesen sich gar seltsam: Place heißt Plassa, Rue heißt Carriera, und manchmal ergeben sich völlig andere Bezeichnungen; einer der größten Boulevards, nach Jean Jaurès benannt, wird auf »Lou Bastioun« getauft und die zentral gelegene Place Garibaldi, neuerdings herrlich restauriert, »Plassa Vitrou«. Die Rue de l’Ancien Sénat schreibt sich »Carriera dei Presoun«. Französisch ist das nicht, provenzalisch ist es nicht, italienisch ist es auch nicht. Dabei ja letzteres naheläge. Nizza hat eine wechselvolle Geschichte, viele Denkmäler hoch oben in den Bergen geben Auskunft, wie lange und wie oft es italienisch war und daß – auch, als es Italien gar nicht gab – der König von Sardinien sich etwa sein »Eigentümer« nennen durfte. Doch es gibt, wie für (fast) alles im Leben, eine Erklärung: Diese »Nizzardisch« genannte Sprache hängt mit eben jener verworrenen Geschichte zusammen: Die Vermischung von archaischen Ausdrucksformen aus dem Mittelalter mit der altprovenzalischen Sprache verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, daß die Grafschaft Nizza zwischen 1388 und 1860 verwaltungsmäßig abgetrennt war von der Provence. Das kann der Besucher nicht wissen, der für Mahlzeit (repas) »Lou part« am Restauranteingang liest oder sich noch heute (aujourd’hui) verabreden will, ihm aber »ancuéi?« (ach, heute?) als Rückfrage zuteil wird. Der piemontesische Offizier Louis Andrioli (17661838) verfaßte noch Anfang des 19. Jahrhunderts ein langes Poem in dieser alten Sprache, dessen erste beiden Zeilen sich so lesen:

»La fremo embe la sieu scarto doù iure l’espado

li arranco d’uno man la bandiero lunado«

(»La Femme écarte du Turc l’épée

lui arrache d’une main la bannière au corissant«)

Immerhin: Daß Nizza dann nach vielen Kriegen, Raubzügen, italienischen Eroberungen, Abtrennungen und Schlachten schließlich französisch wurde, mag dem Sprichwort recht geben, das da lautet: »Qui tient la langue tient la clef du pouvoir« – wer die Sprache spricht, hält den Schlüssel zur Macht.

Garibaldis Geburtshaus, gekennzeichnet mit einer stolzen Plakette – und aparterweise heute benachbart einer einschlägigen Sauna –, liegt am Hafen von Nizza. Er war von Geburt französischer Staatsbürger, später dann italienischer, wodurch ihm wiederum die Ehre verwehrt wurde, Mitglied der Pariser »Chambre des Deputés« zu werden. Das 2008 neueröffnete »Musée Masséna« – eine fürstliche Villa an der Promenade des Anglais, errichtet zwischen 1898 und 1900 vom Prinzen d’Essling, dem Enkel des Marschalls Masséna, und 1917 vom Sohn des Prinzen der Stadt geschenkt – gibt dem Unkundigen in vorzüglicher Gestaltung präzise Auskunft über die Geschichte und Geschicke Nizzas; etwa, daß während der Französischen Revolution Adlige hierher flüchteten, da die Stadt zum Königreich Sardinien gehörte und erst 1793 durch eine Proklamation des Convents die Vereinigung mit Frankreich vollzogen wurde. Wiederum hatte aber schon 1860 die »Comté de Nice« in einer Volksabstimmung den Anschluß an Frankreich beschlossen, später organisierte Napoleon von Nizza aus seine »italienische Armee« und nach der Revolution wurde die Grande Corniche hoch über dem Meer die erste befahrbare Straße nach Italien. So weit das alles zurückliegen mag: Noch heute gilt Nizza als die »italienische Stadt« Frankreichs, dessen fünftgrößte es – nach Paris, Marseille, Lyon, Bordeaux – ist. Ob der hübsche schwule Käsehändler oder die dicke Blonde mit ihren »Pâtes fraîches« – es gibt viele Geschäfte, in denen fast nur italienisch gesprochen wird, auch von den Kunden. An den Klingelschildern der Appartementhäuser überwiegen italienische Namen. »Sie kaufen hier alles auf«, freuen sich die Makler, aber meckern die Marktfrauen, die ihrerseits durchaus nicht französisch sein wollen, sondern eben »niçois«. Fingert eine wählerische Kundin allzu lange an den »Cœur de Bœuf« genannten großgerillten Fleischtomaten herum oder an jenen besonders köstlichen »Pomme d’Amour« genannten, kann sie leicht ein »Ah, les parisiennes!« zu hören bekommen und wird erst wieder freundlich bedient, wenn die Antwort lautet: »Moi, je ne suis pas parisienne, je ne suis pas même française – je suis niçoise.« Allen Ernstes teilt die Lokalzeitung Nice-Matin die Gäste der begehrten Restaurants so ein: »Niçois, Français« – und dann kommen schon die Russen, »Britanniques«, »Italiens«; Deutsche nicht. An mir lobt man meinen hübschen »polnischen« Akzent. Deutschland liegt in Sibirien, irgendwo weit, weit weg im ewigen Schnee. »Deutschland?«, sagte mein Concierge, »ja, der Cousin meines Bruders war mal da, drei Tage in München – das ist doch bei Hamburg?«. Man sollte auch, doch doch, immer noch, etwas vorsichtig sein bei kleinen alltäglichen Auseinandersetzungen. Als ich mich am Fischstand über eine sich vordrängelnde Dame laut ärgerte, legte der Kabeljauverkäufer zwei Finger quer über die Oberlippe – der Schnurrbart. Und als ich mich an der Tankstelle beschwerte, hieß es recht vernehmlich: »Rentrez chez vous«. Man muß stets eingedenk sein, daß auch hier im Süden Frankreichs deutsche Truppen marodierten, plünderten, mordeten. So recht behaglich kann einem nicht sein beim Einkauf in Nizzas »Galeries Lafayette«, wenn da links an einer Säule eingemeißelt steht:

Seraphin Torrin

– Franc Tireur –

Partisan Français

Fût Pendu ici

Le 7 juillet 1944

et Resta Exposé

Pour Avoir Résisté

À L’Oppresseur

Hitlérien

– Passant incline toi

Souviens toi –

Dasselbe, nur mit dem Namen Ange Grassi, an der gegenüberliegenden Säule, und auch in dem hübschen kleinen Café unter den Arkaden der Place Garibaldi schmeckt der Espresso besonders bitter, liest man die Inschrift »Ici Tomba en combattant le 28 Août 1944 Paul Vallaghé Âgé de 24 Ans Groupe Réné«.

So viele Städte in einer Stadt. Nizza, wie Rom erbaut auf sieben (oder mehr?) Hügeln, ist eine große siebenschwänzige Katze: mal auf Sammetpfoten und mal krallenkratzig; mal liebevoll schnurrend und mal fauchend; mal schmeichlerisch sich anschmiegend mit seidenem Fell und mal gesträubt wütig – dem eigenen vitalen Rhythmus untertan und sonst niemandem. Stolz, verschwiegen, rätselvoll und lasterhaft. Unergründlich wie jede schöne Frau. La ville ist weiblich. »La ville inconnue«, sang die Piaf, der Spatz, und entzückende kleine Nachäfferspätzinnen plärren dies vor so manchem Straßencafé, besonders gerne am »Palais de Justice«. Einen Baldachin aus Rosen hat man der zärtlich »Gassenjunge«, »le môme«, genannten Chansonette aufgespannt auf der kleinen Place Édith Piaf, eine Art Rosen-Voliere, aus deren geschwungenen Gittern die roten, gelben, orangefarbenen gefiederten Blüten hervorflattern wie ihr Lied.

Der Tanzfächer, die schöne Frau. Ich muß dem noch eine Metapher im Femininum hinzufügen – eine der ganz großen, staunens- wie bewundernswerten Besonderheiten, die Nizza und ihr herrliches Umland bieten; denn ich schreibe hier nicht nur meine Impressionen dieser Stadt nieder, die der hervorragende Frankreich-Kenner Johannes Willms einmal spöttisch »Stuttgart am Meer« genannt hat. Ich erlaube mir, den Fächer ganz weit auszufalten. Auf unseren Streifzügen werden wir mal bis Monte Carlo gelangen und mal bis Antibes, bis Villefranche, Èze und Vence ohnehin; einmal mit besonders kühn ausgreifendem Schritt gar bis Sanary-sur-Mer. Ein Juwel – Nizza – lebt ja auch durch seine kostbar ziselierte Fassung – die Umgebung –, und so ziert also, wie den schlanken Hals einer Schönen, mal vielfach eng gelegt, mal ohne Knoten weit ausschwingend, die erlesene Kette wunderbarster Museen unsere Stadt. »Nizza, 22. Januar 1892«, notierte Edvard Munch in seinem Tagebuch – das Datum gilt inzwischen als Geburtsstunde seines weltberühmten Gemäldes »Der Schrei«. Doch keineswegs immer – wenn auch oft – geht es hier um »große Kunst«. So beginne ich meine weit ausgreifende Wunderreise in dem entzückenden Schmetterlingsmuseum im Château von Tourette-Levens, hoch oben an der alten Salzstraße nach Piemont gelegen. Da wispern dem Besucher Hunderte der »plus beaux papillons du monde« Märchen aus alten Zeiten und fernen Kontinenten ins Ohr: schillernd und in den schier unglaublichsten Farben leuchtend, als habe der liebe Gott emaillierten Lack auf die manchmal handtellergroßen Flügel getupft.

Vorher noch ein Blick in das charmante »Musée des Métiers traditionels« gleich nebenan, ein winziges Kellergewölbe mit alten Gerätschaften, Eisenpflügen, hölzernen Weinpressen oder einer »Gaffe du charretier«, einem alten Kärrner-Geschirr, und all jenem Handwerksgerät, von dem Marx nicht zu Unrecht behauptete, an ihm manifestiere sich noch die nicht-entfremdete Arbeit der Menschen – und danach möchte man sich Zauberschwingen leihen und weit hinausschweben über die Berge und die liebliche Landschaft. Vielleicht würde man dann landen in dem nur fünf Kilometer von Nizza entfernt gelegenen Bergnest Falicon, gleich vor der Statue des »St-Vincent – Protecteur de Falicon« oder – kulinarischer – im Terrassenrestaurant »Au Thé de la Reine«; wem das Geld beim Gleitflug nicht aus der Tasche geflattert ist, der kann auch im Luxusrestaurant »Parcours« sich gütlich tun, das große Menü für nur 55 Euro, aber eine Flasche Château Chasse Spleen für 106.

Leider bin ich kein Molkendieb, wie Schmetterling auf altdeutsch hieß, ich habe keine Flügel, sondern bin nur motorisiert und muß die gewundenen Straßen wählen; oder darf. Denn welcher Umweg bei der Erkundung der Umgebung auch genommen wird – er lohnt sich immer: etwa über das oberhalb von Nizza gelegene Aspremont, noch über dem Nobel-Vorort Gairaut mit seinen schönen Villen der Begüterten und langweiligen »Résidence«-Anlagen, zugeknöpft wie das Portemonnaie der dort wohlig Eingesperrten. Aspremont ist ein steinernes Nest, als hätten Riesenvögel der Urzeit es statt aus Reisig und Zweigen aus Felsbrocken zusammengetragen. Es ist so still, so frisch und luftig hier oben am Platz mit dem Kirchlein, man hört noch die mächtig ausgespannten Schwingen der einstigen gefiederten Monster – und man sieht, daß die auch Farbsinn hatten: Die Treppen und Gassen und winkeligschief angelegten kleinen Häuser schimmern in einem grau scheinenden hellen Ocker. Die Monster hatten auch gute Augen, der Blick reicht bis zu der ins Meer leckenden Zunge des Cap d’Antibes.

IX121756