Schmutztitel

Maja von Vogel
Henriette Wich

Titel

1, 2, 3 – Ferien!

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, München

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15025-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Maja von Vogel

Titel

Spuk am See

Kosmos

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Frühjahrsputz im Hauptquartier

»Aufräumen ist echt das Letzte!« Missmutig starrte Franzi auf den Inhalt des silbernen Bürocontainers, den sie gerade auf dem Boden ausgeleert hatte. Dort lagen bunt durcheinander mehrere Kugelschreiber, Papier, eine große Lupe, zwei Taschenlampen, Maries Einbrecher-Set mit Dietrich und Gummihandschuhen, eine angebrochene Packung Schokoladenkekse und jede Menge anderer Krimskrams.

»Find ich auch.« Marie versuchte gerade, mit einem Besen ein paar Spinnweben über der Tür des Pferdeschuppens zu entfernen. Staub rieselte auf ihre langen, blond glänzenden Haare hinab und sie zog eine Grimasse. »Diese Spinnweben sind wirklich ekelhaft!«

Kim warf ihren Freundinnen einen spöttischen Blick zu. »Jetzt stellt euch doch nicht so an! Ein bisschen putzen und aufräumen hat noch niemandem geschadet. Und es wird wirklich höchste Zeit. Wenn wir den Frühjahrsputz noch länger aufschieben, versinken wir irgendwann im Dreck.« Sie bearbeitete energisch die völlig verschmutzte Fensterscheibe mit einem feuchten Lappen. Dann wischte sie den Staub von der Fensterbank. »Na also! Ist doch gleich viel heller hier drinnen«, stellte sie zufrieden fest.

Kim war der unordentliche und nicht gerade saubere Pferdeschuppen schon länger ein Dorn im Auge. Seit Kim, Franzi und Marie den Schuppen vor einiger Zeit als Hauptquartier für ihren Detektivclub hergerichtet hatten, war hier nicht mehr anständig geputzt worden. Kein Wunder – die drei !!! waren schließlich voll und ganz mit ihrer Detektivarbeit beschäftigt gewesen. Sie hatten bereits viele knifflige und gefährliche Fälle gelöst, worauf sie sehr stolz waren. Nicht nur Schmuggler, Grabräuber und Einbrecher waren ihnen ins Netz gegangen, sie hatten auch schon mit einem skrupellosen Handy-Erpresser und einer nervenaufreibenden Pferde-Entführung zu tun gehabt. Das Sauberhalten ihres Hauptquartiers war dabei leider etwas zu kurz gekommen. Kim hatte mit Engelszungen auf ihre Freundinnen einreden müssen, um sie davon zu überzeugen, dass ein Frühjahrsputz dringend nötig war. Heute hatte sie es endlich geschafft. Es war Freitagnachmittag, draußen fiel ein sanfter Frühlingsregen und es war weit und breit kein neuer Fall in Sicht. Die idealen Bedingungen für eine ausgiebige Putzaktion.

»Ich hab echt keine Lust mehr.« Franzi seufzte. »Wollen wir nicht lieber ins Wohnzimmer gehen und eine DVD gucken?«

»Kommt nicht infrage«, sagte Kim energisch. »Erst räumen wir zu Ende auf.« Sie wischte den Tisch ab, an dem die drei !!! immer ihre Besprechungen abhielten, und ging zu der alten Pferdekutsche mit dem Verdeck zum Zuklappen hinüber, die in der hinteren Ecke des Schuppens stand. Die Mädchen hatten sie blau angemalt und mit kleinen, bunten Ausrufezeichen versehen. Hierhin zogen sie sich zurück, wenn sie etwas sehr Geheimes bereden mussten. Die Kutsche war alt und wunderschön – aber leider völlig verstaubt.

Marie hatte inzwischen alle Spinnweben entfernt und begann nun damit, den Boden zu fegen. Sofort wirbelte jede Menge Staub auf und Franzi, die immer noch neben dem Bürocontainer hockte, bekam einen Hustenanfall.

»He, was soll das?«, schimpfte sie. »Willst du mich umbringen? Ich krieg noch eine Staublunge, wenn du so weitermachst!«

Marie fegte ungerührt weiter. »Du könntest ruhig ein bisschen mithelfen, statt nur herumzujammern. Dann sind wir schneller fertig und können uns endlich wichtigeren Dingen widmen.«

»Zum Beispiel Fingernägel lackieren und Augenbrauen zupfen?«, bemerkte Franzi spitz. Sie zog Marie gerne damit auf, dass sie immer perfekt gestylt durch die Gegend lief. Selbst zur Putzaktion war sie mit frisch gewaschenen Haaren und himbeerrotem Kussmund erschienen. Sie trug eine enge Röhrenjeans, die ihre langen Beine betonte, dazu eine grüne Bluse mit aufwendiger Stickerei und silberne Ballerinas. Sie sah eher aus, als hätte sie ein Date mit ihrem Liebsten – und nicht mit einem alten Besen und ein paar Spinnweben.

Ehe Marie etwas erwidern konnte, schaltete sich Kim ein. »Seht mal, was ich gefunden habe!« Sie steckte den Kopf aus der Kutsche und hielt einen kleinen Pinsel hoch.

»Der Pinsel gehört doch in unser Fingerabdruck-Set!«, stellte Franzi überrascht fest. »Ich hab ihn vor einer Weile überall gesucht. Wie kommt der denn in die Kutsche?«

Kim zuckte mit den Schultern und warf Franzi den Pinsel zu. »Keine Ahnung. Da seht ihr’s – beim Putzen kommt alles Mögliche wieder zutage.«

Eine Stunde später war das Hauptquartier kaum wiederzuerkennen. Der Boden sah aus wie geleckt, auf der Kutsche lag kein einziges Staubkorn mehr und die Schubladen des Bürocontainers waren ordentlich eingeräumt. Kim hatte Franzi dabei geholfen, die gesamte Detektivausrüstung zu sortieren und übersichtlich auf die Schubladen zu verteilen. Nun waren die Utensilien sofort griffbereit und warteten auf ihren nächsten Einsatz. Die drei !!! besaßen nicht nur Taschenlampen, eine Lupe, Gips für Fuß- und Reifenspuren und ein Fingerabdruck-Set, mit dem sie sämtliche Fingerabdrücke an einem Tatort sichern konnten. Sie hatten sich auch eine Digitalkamera und ein Aufnahmegerät angeschafft, das sich im Lauf ihrer Ermittlungen schon mehrmals als sehr nützlich erwiesen hatte.

»Mann, bin ich fertig!« Franzi wischte sich die staubigen Hände an ihrer auch nicht mehr ganz sauberen Jeans ab und plumpste auf einen der drei Stühle, die um den Tisch herumstanden.

»Aber die Arbeit hat sich gelohnt, das müsst ihr zugeben.« Kim ließ ihren Blick zufrieden durch das saubere und aufgeräumte Hauptquartier wandern. Sie hatte sogar den bunten Flickenteppich ausgeklopft, der unter dem Tisch lag, und eine gelbe Primel auf die Fensterbank gestellt.

»Stimmt.« Marie nickte. »Jetzt ist es wieder richtig gemütlich hier.«

»Schade nur, dass wir noch keinen neuen Fall haben«, sagte Franzi. »Als ich die Detektivausrüstung durchgesehen habe, hab ich richtig Lust gekriegt, mal wieder Fingerabdrücke zu nehmen oder einen Verdächtigen zu beschatten …«

In diesem Moment öffnete sich die Schuppentür und Franzi verstummte augenblicklich. Frau Winkler betrat den Pferdeschuppen. Sie trug ein großes Tablett, auf dem eine Kanne Tee, drei Becher und ein großer Kirschkuchen standen.

»Mensch, Mama, kannst du nicht anklopfen?« Franzi warf ihrer Mutter einen ärgerlichen Blick zu.

»Tut mir leid, aber ich hatte gerade keine Hand frei«, entschuldigte sich Frau Winkler.

Kim sprang auf. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Sie nahm Franzis Mutter das Tablett ab und stellte es auf dem Tisch. »Hmm, der Kuchen duftet ja köstlich!« Frau Winkler backte den besten Kirschkuchen der ganzen Stadt, das wusste Kim aus Erfahrung. Ihr lief bereits beim Anblick der prallen, mit Puderzucker bestäubten Kirschen das Wasser im Mund zusammen.

Kim war eine echte Naschkatze. Sie liebte alles, was süß war. Neben Kuchen waren das hauptsächlich Schokolade und Gummibärchen. Aber auch zu Waffeln mit heißen Kirschen, Keksen und Kakao Spezial mit Vanillearoma sagte sie nicht Nein. Leider wirkte sich ihre Vorliebe nicht gerade günstig auf ihre Figur aus. Von Maries durchtrainiertem Waschbrettbauch konnte sie nur träumen. Marie ging allerdings auch regelmäßig zum Aerobic, joggte mindestens zweimal die Woche und machte morgens immer dreißig Sit-ups für ihre Bauchmuskulatur. Franzi verbrannte jede Menge Kalorien beim Skaten und Reiten. Außerdem war sie sowieso ein eher zierlicher Typ und kein guter Esser – was Kim überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Essen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen und kam gleich hinter Lesen, Kriminalfälle lösen und mit Marie und Franzi abhängen. Vor einer Weile hatte Kim beschlossen, ihren Hüftspeck einfach zu ignorieren, solange ihre Lieblingsjeans noch passte. Als Kopf der drei !!! brauchte sie nun mal jede Menge Nervennahrung. Schließlich war sie für das Detektivtagebuch zuständig, in dem sie den Fortgang der Ermittlungen sorgfältig notierte. Und bei jedem neuen Fall musste sie wieder ihre berühmte Kombinationsgabe unter Beweis stellen. Schade, dass man beim Nachdenken nicht genauso viele Kalorien verbrannte wie beim Joggen!

»Habt ihr Lust auf Kuchen?«, fragte Frau Winkler.

»Und ob!«, antwortete Kim wie aus der Pistole geschossen. Auch Franzi und Marie nickten.

Frau Winkler verteilte die Kuchenstücke auf drei Teller. Dann sah sie sich erstaunt im Pferdeschuppen um. »Hier sieht es ja wieder richtig sauber aus! Habt ihr etwa geputzt?«

Kim nickte stolz. »Wir haben heute einen großen Frühjahrsputz veranstaltet.«

»Na, das hat sich aber gelohnt!« Frau Winkler lächelte den drei !!! anerkennend zu. »Dann will ich mal nicht länger stören. Ihr habt bestimmt wichtige Dinge zu besprechen.« Sie zwinkerte vielsagend, bevor sie den Pferdeschuppen wieder verließ.

Franzi verdrehte die Augen. »Manchmal tut Mama so, als wären wir fünf Jahre alt und würden noch im Sandkasten spielen. Echt ätzend!«

»Lass sie doch«, nuschelte Kim mit vollem Mund. »Immer noch besser als meine Mutter. Sie macht sich ständig Sorgen und mischt sich überall ein. Das nervt viel mehr.« Kim schluckte ihren Kuchen hinunter, bevor sie weitersprach. »Was macht ihr eigentlich am Wochenende?«

»Ich wollte vielleicht mit Fiona reiten gehen«, erzählte Franzi. »Wir haben schon so lange keinen Ausritt mehr zusammen gemacht, und morgen soll das Wetter endlich besser werden.«

Fionas Eltern gehörte ein Ponyhof am anderen Ende der Stadt. Sie ging in Franzis und Kims Parallelklasse und die drei !!! hatten sie bei ihrem letzten Fall kennengelernt. Fiona war, genau wie Franzi, total verrückt nach Pferden und die beiden ritten hin und wieder gemeinsam aus.

Marie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Ich mach morgen einen Beauty-Tag. Ganzkörperpeeling, Gesichtsmaske, Schaumbad, Haarkur – das volle Programm. Ich werde mich so richtig schön verwöhnen.«

Franzi grinste. »Kommt Holger zufällig am Wochenende vorbei?«

Maries Wangen nahmen eine zartrosa Färbung an. »Wie kommst du denn darauf?«

Franzi zuckte mit den Schultern. »War nur so ein Gedanke.«

»Na ja, ich bin tatsächlich am Sonntag mit Holger verabredet«, gab Marie zu.

»Wie schön!« Kim lächelte. »Ich find’s echt bewundernswert, wie ihr mit eurer Fernbeziehung klarkommt. Ich würde es nicht aushalten, Michi nur an den Wochenenden zu sehen.«

Maries Freund Holger wohnte in Billershausen, einem kleinen Ort, der ungefähr fünfundzwanzig Kilometer entfernt war. Marie hatte ihn kennengelernt, als die drei !!! in den Herbstferien Franzis Großmutter besucht hatten – und es bei der Gelegenheit mit einer unheimlichen Hexe zu tun bekamen.

»Na ja, so einfach ist das auch nicht.« Marie starrte nachdenklich in ihre Teetasse. »Manchmal nervt die Entfernung ganz schön. Mit dem Bus braucht man eine halbe Ewigkeit, weil er an jeder Milchkanne hält. Außerdem fährt er sonntags nur alle zwei Stunden. Und mit dem Fahrrad ist es auch eine ganz schöne Tour. Vor allem, wenn es regnet, so wie in letzter Zeit immer, und man Gegenwind hat.«

»Kann ich mir vorstellen.« Kim zog eine Grimasse. »Ich finde Fahrradfahren ja ohne Gegenwind schon anstrengend genug.«

Marie seufzte. »Letzte Woche hab ich mich richtig mit Holger gezofft. Eigentlich wollte ich nach Billershausen fahren. Aber ich hab blöderweise den Bus verpasst. Es hat total gegossen und ich hatte echt keine Lust, mich aufs Fahrrad zu schwingen. Darum hab ich Holger gefragt, ob er nicht zu mir kommen will. Er war nicht gerade begeistert, hat aber schließlich nachgegeben. Als er mit dem Fahrrad ankam, war er klitschnass und musste ständig niesen. Er hat die ganze Woche mit Erkältung im Bett gelegen – und jetzt gibt er mir die Schuld daran. Ist das nicht ungerecht?«

»Allerdings.« Kim nickte. »Es war schließlich seine Entscheidung, bei Regen zu dir zu fahren. Es hat ihn niemand gezwungen.«

»Eben!«, rief Marie. »Das hab ich ihm auch gesagt. Aber er sieht das natürlich anders.« Marie trank ihren Tee aus und stellte die Tasse auf den Tisch zurück. »Darum bin ich echt froh, dass wir uns Sonntag sehen. Dann können wir uns endlich in Ruhe aussprechen. Am Telefon funktioniert das irgendwie nicht so richtig.«

»Klingt ganz schön anstrengend.« Franzi fuhr sich durch ihre kurzen, roten Haare, die strubbelig vom Kopf abstanden. »Ich bin echt froh, dass ich wieder Single bin. Ich kann machen, was ich will, und bin niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Triffst du dich denn noch mit Benni?«, wollte Kim wissen.

Benni war Franzis Exfreund. Sie hatte sich vor Kurzem von ihm getrennt, weil ihre Gefühle für ihn in letzter Zeit ziemlich abgekühlt waren. Außerdem hatte er furchtbar geklammert und Franzi mit seinen ständigen Liebesbeweisen die Luft zum Atmen genommen.

Franzi nickte. »Wir gehen regelmäßig zusammen skaten. Wir sind jetzt wieder richtig gute Freunde – so wie früher.«

»Und das klappt?«, fragte Marie skeptisch.

»Es funktioniert super.« Franzi biss zufrieden in ihren Kirschkuchen. »Wir haben jede Menge Spaß zusammen, aber ohne den ganzen Beziehungs-Nervkram. Es war die beste Entscheidung meines Lebens, mit Benni Schluss zu machen.«

»Wenigstens ist Kim immer noch glücklich mit Michi.« Marie warf ihrer Freundin einen neidvollen Blick zu. »Ihr zwei seid echt das perfekte Paar.«

Kim wurde rot. Marie hatte recht. Sie war nun schon über drei Monate mit Michi, ihrer großen Liebe, zusammen und immer noch wahnsinnig verliebt in ihn. Wenn sie nur an ihn dachte, fing ihr Herz schon an, Purzelbäume zu schlagen – so wie jetzt. »Michi und ich sind Sonntagabend verabredet.« Kim lächelte selig. »Ich freue mich schon wahnsinnig darauf. Wir haben nämlich etwas total Romantisches vor …«

Franzi quiekte auf. »Sag bloß, ihr wollt jetzt tatsächlich eure Namen in die alte Linde in unserem Garten einritzen!«

Kim nickte. Sie hatte schon seit einer Weile den Wunsch, ihrer Liebe zu Michi ein sichtbares Zeichen zu setzen. Und da die Linde der Baum der Liebenden ist, war ihr die Idee gekommen, gemeinsam mit Michi einen romantischen Ausflug zu machen und ›Kim & Michi forever‹ in den Stamm der alten Linde zu ritzen, die hinter Franzis Haus stand. Michi war erst nicht besonders begeistert von dem Plan gewesen, hatte es sich dann aber zum Glück doch noch anders überlegt. Und übermorgen sollte das große Ereignis nun stattfinden. Kim konnte es kaum erwarten. Nach diesem gemeinsamen Erlebnis wäre ihre und Michis Liebe ein für alle Mal besiegelt. Dann konnte sie nichts mehr trennen …

»Erde an Kim!« Franzis spöttische Stimme holte Kim in die Wirklichkeit zurück. »Ich hab dich gerade gefragt, ob du noch Tee willst.«

Kim nickte etwas verwirrt und Franzi schenkte dampfenden Früchtetee nach.

»Kim träumt wahrscheinlich schon von Michis heißen Küssen unter dem Lindenbaum«, bemerkte Marie.

Franzi prustete los und verschüttete dabei jede Menge Tee auf der frisch geputzten Tischplatte.

Kim lief knallrot an. Sosehr sie Franzi und Marie auch mochte – manchmal hätte sie die beiden glatt erwürgen können. »Ich hab nun mal eine romantische Ader – und dazu stehe ich«, sagte sie trotzig. »Was ist denn so schlimm daran, sich hin und wieder etwas Romantik zu gönnen?«

»Gar nichts«, beruhigte sie Marie. »Reg dich nicht auf, wir haben doch nur Spaß gemacht.«

»Haha, sehr witzig«, murmelte Kim immer noch etwas verärgert.

Franzi warf ihr einen aufmerksamen Blick zu. »Was ist denn los mit dir?«, erkundigte sie sich. »Sonst bist du doch auch nicht so empfindlich.«

Kim seufzte. »Ach, ich bin bloß genervt, weil ich keine Lust auf morgen habe. Die Zwillinge haben Geburtstag und meine Mutter will, dass wir einen Ausflug machen. Den ganzen Tag. Mit der ganzen Familie. Ihr wisst ja, wie anstrengend Ben und Lukas sind. Ein Tag mit meinen Brüdern kommt einem ungefähr so lang vor wie ein ganzer Monat.«

Marie verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. »Autsch! Das klingt gar nicht gut.«

Franzi nickte. »Allerdings. Kannst du nicht irgendeine Ausrede erfinden?«

Kim schüttelte den Kopf. »Keine Chance, ich hab schon alles versucht. Meine Mutter hat nicht mal nachgegeben, als ich behauptet habe, für die Mathearbeit nächste Woche lernen zu müssen. Sie meinte, das könnte ich am Sonntag auch noch machen.«

»Mist!« Marie runzelte die Stirn. »Wenn nicht mal eine Mathearbeit bei deiner Mutter zieht, muss ihr dieser Familienausflug wirklich sehr wichtig sein.«

Normalerweise legte Frau Jülich großen Wert darauf, dass ihre Kinder in der Schule immer zu den Besten gehörten (was bei den Zwillingen allerdings nicht besonders gut klappte, weil sie wahnsinnig faul waren). Sie ließ keine Gelegenheit aus, Kim darauf hinzuweisen, wie wichtig gute Schulleistungen für ihre berufliche Zukunft waren.

Kim ließ den Kopf hängen. »Na ja, irgendwie werde ich den Tag schon überstehen. Und wenn nicht, könnt ihr auf meinen Grabstein schreiben: Sie starb in der Blüte ihrer Jahre an zwei nervigen kleinen Brüdern …«

Kim war so damit beschäftigt, sich vor dem anstehenden Familienausflug zu grausen, dass sie gar nicht mitbekam, wie Franzi und Marie einen schnellen Blick wechselten.

»Ich hätte da vielleicht eine Idee …«, begann Franzi.

Kim hob den Kopf. Ein Fünkchen Hoffnung blitzte in ihren Augen auf. »Was denn? Wollt ihr einen Hubschrauber klauen und mich aus den Fängen meiner Familie retten?«

Franzi grinste. »Das nicht gerade. Aber wie wär’s, wenn Marie und ich morgen mitkommen? Als moralische Unterstützung sozusagen. Würde dir das helfen?«

Kim blieb glatt der Mund offen stehen. Überrascht sah sie von Franzi zu Marie. »Ist das euer Ernst? Ihr wollt tatsächlich einen ganzen Tag mit Ben und Lukas verbringen? Freiwillig? Habt ihr euch das gut überlegt?«

Marie schüttelte den Kopf. »Nein, aber das ist vielleicht auch besser so. Sonst ziehen wir unser Angebot noch zurück.«

»Aber was ist mit deinem Ausritt, Franzi?«, fragte Kim. »Und mit deinem Beauty-Tag, Marie?«

Franzi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kann genauso gut ein andermal mit Fiona ausreiten. Sie hat bestimmt Verständnis dafür, schließlich ist das eine Art Notfall.«

»Und ich verschiebe meinen Beauty-Tag einfach auf nächste Woche«, sagte Marie. »Kein Problem. Ich sehe auch so gut genug aus.« Selbstbewusst warf sie ihre langen Haare über die Schulter zurück.

Auf Kims Gesicht erschien ein glückliches Lächeln. Auch wenn Franzi und Marie sie manchmal nervten, wenn’s drauf ankam, konnte man sich hundertprozentig auf sie verlassen. Es war toll, solche Freundinnen zu haben!

»Ihr zwei seid einfach die Besten!« Kim sprang auf und fiel erst Franzi und dann Marie um den Hals. »Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll!«

»Da fällt uns schon was ein, oder?« Franzi zwinkerte Marie zu.

»Genau.« Marie nickte. »Du könntest uns zum Beispiel einen Kakao Spezial im Café Lomo ausgeben.«

»Wird gemacht!« Kim lachte. Plötzlich sah der nächste Tag nicht mehr ganz so düster aus. Mit Franzi und Marie würde sie den Familienausflug schon überstehen – und vielleicht sogar Spaß dabei haben!

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Achtung — nervige Zwillinge!

»Wann sind wir endlich da?«, wollte Ben wissen.

Kim verdrehte die Augen. Sie war jetzt schon genervt von dem nörgelnden Tonfall ihres Bruders. Seit sie losgefahren waren, hatten die Zwillinge diese Frage ungefähr hundertmal gestellt. Franzi, die neben Kim auf der Rückbank des Vans saß, legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Kim war heilfroh, dass Franzi und Marie bei ihr waren. Ohne ihre Freundinnen wäre sie vor lauter Verzweiflung vermutlich schon längst aus dem fahrenden Auto gesprungen.

»Es dauert nur noch ein paar Minuten«, antwortete Herr Jülich, der hinter dem Steuer saß. »Bis zur Mühle sind es bloß noch fünf Kilometer.« Er zeigte auf ein Schild am Straßenrand, an dem sie gerade vorbeifuhren.

»Die alte Mühle gefällt euch bestimmt«, behauptete Frau Jülich betont munter. Sie schien sehr darum bemüht zu sein, gute Stimmung zu verbreiten.

»Wie heißt die Mühle eigentlich?«, fragte Marie.

»Nebelmühle.« Frau Jülich drehte sich um und lächelte Marie zu, offensichtlich hocherfreut über ihr Interesse. »Ich finde es wirklich sehr schön, dass ihr zwei uns begleitet. Frau Schmidt, die Besitzerin der Nebelmühle, wird uns gleich ein bisschen herumführen und alles zeigen. Und hinterher gibt’s Kaffee und Kuchen …«

»Ich hab aber keine Lust auf eine langweilige Führung«, maulte Lukas.

»Ich auch nicht!«, sagte Ben natürlich sofort. Die Zwillinge waren fast immer einer Meinung. »Können wir nicht gleich Kuchen essen? Schließlich ist es unser Geburtstag!«

Frau Jülichs Lächeln wirkte nun leicht angespannt. »Kommt nicht infrage«, stellte sie klar. »Frau Schmidt macht die Führung schließlich extra für uns. Ihr werdet sehen, das wird bestimmt sehr interessant …«

In diesem Moment piepte Kims Handy.

Hallo, Kim!

Ich wünsche dir einen schönen Tag. Lass dich nicht ärgern! Ich bin in Gedanken bei dir und freue mich schon sehr auf unseren Ausflug zur Linde morgen.

Tausend Küsse, Michi

Kim las die Nachricht noch einmal und lächelte selig. Einen Moment lang vergaß sie alles um sich herum – sogar die nervigen Zwillinge. Sie hatte einfach den besten, liebsten und süßesten Freund der Welt! Schade, dass Michi jetzt nicht hier war. Sie hätte sich so gerne an ihn gekuschelt und seinen kräftigen Arm auf ihren Schultern gespürt …

Plötzlich ertönten von der hinteren Rückbank laute Knutschgeräusche. »Tausend Küsse, tausend Küsse, tausend Küsse«, krähte Ben, der über Kims Schulter gelugt und die SMS heimlich mitgelesen hatte.

Kim drehte sich wütend um. »Sei still! Und hör auf, meine Nachrichten zu lesen. Das ist meine Privatsache, klar?«

»Kim und Michi knutschen! Kim und Michi knutschen!«, rief Lukas und begann, wie ein Verrückter auf der Rückbank herumzuhüpfen.

Kim lief vor Wut knallrot an. Sie hätte den Zwillingen am liebsten die Hälse umgedreht. Die zwei neugierigen Kröten raubten ihr noch den letzten Nerv. »Haltet jetzt gefälligst die Klappe!«, zischte sie. »Sonst passiert was, klar?«

»Ignorier die beiden einfach«, sagte Marie leise. »Dann geben sie bestimmt bald Ruhe.«

Aber Marie hatte die Ausdauer der Zwillinge unterschätzt. Sie hörten erst auf zu grölen und peinliche Knutschgeräusche von sich zu geben, als die Mühle in Sicht kam und Herr Jülich den Wagen auf einem Schotterplatz neben der Straße parkte. Bis auf den Van war der Parkplatz völlig leer. Die Zwillinge rissen sofort die hinteren Türen auf, schnappten sich ihren heiß geliebten Fußball und sprangen mit lautem Indianergeheul aus dem Auto. Kim atmete auf.

»Puh!« Franzi sah ebenfalls ziemlich geschafft aus. »Mir ist fast das Trommelfell geplatzt von dem Geschrei. Ein Wunder, dass wir nach dieser Fahrt nicht alle taub sind.«

»Manchmal bin ich echt froh, Einzelkind zu sein«, stellte Marie fest. Sie klang so erleichtert, dass Kim grinsen musste.

»Jetzt wisst ihr wenigstens, was ich jeden Tag mitmache.«

»Hier geht’s lang!«, rief Frau Jülich und zeigte auf einen schmalen Feldweg, der vom Parkplatz zur Mühle führte. »Beeilt euch, Frau Schmidt wartet bestimmt schon auf uns.«

Der Weg war von Birken und Obstbäumen gesäumt, deren hellgrüne Blätter sich vom blauen Himmel abhoben. Die Zwillinge stießen ein ohrenbetäubendes Kriegsgeschrei aus und stürzten sich ins Unterholz.

Der Wetterbericht hatte ausnahmsweise einmal recht gehabt. Nach einer längeren Regenperiode schien nun endlich wieder die Sonne. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Kim seufzte, als sie daran dachte, was sie an so einem Tag alles hätte machen können: eine Fahrradtour mit Michi, in der Sonne liegen und einen guten Krimi lesen oder mit Franzi und Marie Eis essen gehen. Stattdessen lief sie hier über einen unebenen Feldweg auf eine alte Mühle zu, die selbst im hellen Sonnenschein irgendwie düster wirkte. Kim ging unwillkürlich langsamer. Die Mühle hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Das dunkle Holz war von der Sonne ausgebleicht, die Fensterläden hingen schief in den Angeln und von der grünen Tür blätterte die Farbe ab. Neben dem Feldweg floss ein Bach auf das Gebäude zu, an dessen rechter Seite sich ein großes Mühlrad befand. Die Schaufeln waren mit grünem Moos und Schlick bedeckt und sahen ziemlich eindrucksvoll aus. Im Moment war das Mühlrad allerdings nicht in Betrieb.

»Ob das Mühlrad noch funktioniert?«, überlegte Franzi laut.

»Frag das doch gleich Frau Schmidt«, schlug Frau Jülich vor, die ein Stück weiter vorne ging und Franzis Frage gehört hatte. Sie seufzte schwärmerisch. »Ist es nicht traumhaft schön hier? Diese Mühle hat so etwas Wildes und Romantisches …«

Kim runzelte die Stirn. Sie fand das dunkle Gebäude eher bedrohlich. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Sie war ein eher ängstlicher Typ und sehr sensibel für Atmosphären und Stimmungen.

Als sie die Mühle erreicht hatten, trat eine Frau aus der grünen Eingangstür. Sie war vielleicht sechzig Jahre alt, klein und drahtig und hatte kurze, dunkle Haare. Sie trug abgewetzte Arbeitskleidung und Gummistiefel und lächelte ihren Besuchern freundlich zu.

»Herzlich willkommen in der Nebelmühle. Ich bin Isolde Schmidt.« Sie streckte Kims Eltern die Hand hin.

»Jülich«, sagte Kims Mutter. »Wir haben telefoniert.«

»Schön, dass Sie gekommen sind.« Frau Schmidt nickte auch den drei !!! lächelnd zu. »Sollen wir gleich mit der Führung beginnen?«

Kims Mutter nickte. »Sehr gerne. Wo stecken denn die Zwillinge?« Sie sah etwas nervös zu dem alten Schuppen hinüber, der neben der Mühle stand und hinter dem lautes Geschrei zu hören war.

»Ich sehe mal nach.« Herr Jülich verschwand um die Ecke. Wenig später kam er zurück. »Ben und Lukas wollen lieber noch etwas Fußball spielen. Ich schlage vor, wir fangen einfach schon mal mit der Führung an.«

Frau Jülich runzelte ärgerlich die Stirn. »So war das aber nicht gedacht! Schließlich sind die beiden heute die Hauptpersonen.«

»Eben.« Herr Jülich blieb ganz ruhig. »Lass sie doch Fußball spielen, wenn sie dazu mehr Lust haben. Schließlich ist heute ihr Geburtstag.«

Frau Jülich schien damit alles andere als einverstanden zu sein, wollte aber offensichtlich vor Frau Schmidt keinen Streit vom Zaun brechen. Kim sah genau, dass sie sich eine scharfe Bemerkung verkniff.

»Na, dann wollen wir mal.« Frau Schmidt machte eine einladende Handbewegung. »Hereinspaziert!«

Kim seufzte. Typisch! Die Zwillinge hatten sich mal wieder geschickt aus der Affäre gezogen. Jetzt hatten die beiden ihren Spaß, während Kim, Franzi und Marie die Führung durch die Mühle mitmachen mussten, die bestimmt sterbenslangweilig werden würde. Der einzige Lichtblick war der Kuchen, den es hinterher geben sollte.

Frau Schmidt führte sie einen schmalen Flur entlang und in einen großen, freundlichen Raum. Durch kleine Sprossenfenster fiel das Sonnenlicht auf die alten, sauber gescheuerten Holzdielen. Kim machte große Augen. An den Wänden standen jede Menge Regale, in denen sich unzählige Tonfiguren in allen Größen drängelten. Es gab Hunde, Katzen, Kühe, Pferde und viele andere Tierarten. Aber auch menschliche Figuren, zum Beispiel eine Mutter mit Kind oder eine alte Frau, die ihren Kopf müde in die Hände stützte. In einer Vitrine standen außerdem Krüge, Schalen und Kerzenständer.

»Wie süß!« Franzi stürzte sofort auf ein Regal zu und nahm ein kleines Pferd heraus. »Das sieht fast so aus wie mein Pony Tinka!«

»Die Sachen sind wirklich wunderschön«, bestätigte Frau Jülich und ging zu der Vitrine hinüber. »So einen Krug könnten wir gut gebrauchen. Haben Sie das alles selbst gemacht?«

Frau Schmidt nickte. »Ich arbeite seit Jahren als Töpferin. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt – und mit den Führungen natürlich. Leider kommen in den letzten Jahren immer weniger Besucher. Die meisten Leute fahren heutzutage lieber in einen Freizeitpark mit Animation, statt eine alte Mühle zu besichtigen.«

»Das ist sicher nicht einfach für Sie, oder?«, fragte Frau Jülich mitfühlend.

Frau Schmidt machte ein bekümmertes Gesicht. »Wissen Sie, meine Familie wohnt schon seit Jahrhunderten in dieser Mühle. Es tut mir weh, mit ansehen zu müssen, wie das Gebäude immer mehr verfällt. Aber mir fehlt einfach das Geld für die notwendigen Renovierungsarbeiten.«

Die alte Frau tat Kim leid. Sie sah plötzlich richtig traurig aus. Doch dann lächelte sie wieder und wandte sich an Franzi, die immer noch die kleine Pferdefigur in den Händen hielt und sie verliebt ansah. »Möchtest du das Pferd haben? Ich schenke es dir.«

Franzi riss überrascht die Augen auf und schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein, nein, das geht doch nicht!«

»Natürlich geht das«, sagte Frau Schmidt energisch. »Du würdest mir damit sogar eine große Freude machen. Ich finde es schön, wenn meine Figuren bei Menschen stehen, die sie zu schätzen wissen.«

Franzi lächelte. »Wenn das so ist – vielen Dank!« Sie steckte das kleine Pferd vorsichtig in ihre Jackentasche.

Die Führung wurde interessanter, als Kim erwartet hatte. Zuerst gingen sie in den Raum, in dem früher das Korn gemahlen wurde. Die Mühle war seit langer Zeit nicht mehr in Betrieb, aber das Mühlrad und die Mühlsteine waren noch da.

»Das ist der Steinmahlgang«, erklärte Frau Schmidt und zeigte auf die beiden Mühlsteine. »Der obere Mühlstein wird Läuferstein genannt, denn nur er wurde durch das Mühlrad angetrieben und drehte sich. Er zermalmte das Korn auf dem festsitzenden unteren Mühlstein, dem Bodenstein. Das Getreide wurde früher durch einen Trichter in den Mahlgang geschüttet. In der Müllersprache sagte man dazu ›der Mahlgang wird beschickt‹.«

Frau Schmidt schilderte so lebhaft, wie der Tagesablauf eines Müllers aussah, dass Kim den Müller und seine Lehrlinge förmlich bei der Arbeit vor sich sehen konnte.

Dann führte Frau Schmidt sie hinter die Mühle. Hier befand sich eine kleine Terrasse, die gerade mitten in der Nachmittagssonne lag. Aus der Ferne waren die Stimmen der Zwillinge zu hören, die offenbar immer noch Fußball spielten. An der Hauswand standen mehrere Steinkübel mit blühenden Primeln und Stiefmütterchen. Neben der Terrasse lag ein kleiner Gemüsegarten, der ordentlich geharkt war. Alles wirkte heimelig und nett, und Kim verstand gar nicht mehr, warum sie vorhin so ein mulmiges Gefühl gehabt hatte. An dieser Mühle war definitiv nichts, wovor man sich fürchten musste.

»Das ist der Nebelteich.« Frau Schmidt zeigte auf einen kleinen Teich, der neben einer großen Wiese mit blühenden Obstbäumen lag. Er hatte einen Durchmesser von höchstens neun oder zehn Metern und lag friedlich im Sonnenlicht. Kim trat näher heran. Das Wasser war so klar, dass sie Schlingpflanzen auf dem Grund des Teiches erahnen konnte. Sie sahen aus wie ein weicher, grüner Teppich.

»Dieser Teich hat der Mühle seinen Namen gegeben«, erklärte Frau Schmidt. »Morgens und abends liegt immer Nebel über dem Wasser, ganz egal, ob es regnet oder die Sonne scheint.«

»Woher kommen diese Blasen?«, fragte Marie.

Kim schaute genauer hin. Tatsächlich! An mehreren Stellen stiegen Blasen aus der Tiefe auf. Es sah aus, als hätte jemand eine Brausetablette ins Wasser geworfen. Oder als würde sich jemand auf dem Grund des Teiches befinden und gerade seine letzten Atemzüge aushauchen. Kim bekam trotz der wärmenden Sonnenstrahlen eine Gänsehaut und rieb sich mit beiden Händen über die Oberarme. Was für ein Unsinn! Warum dachte sie auf einmal so wirres Zeug?

»Der Teich ist sehr tief. Er wird von einer unterirdischen Quelle gespeist, daher die Blasen«, erklärte Frau Schmidt. »Der Nebelteich war schon immer ein ganz besonderer Ort, lange bevor es die Mühle gab. Vor über tausend Jahren befand sich an dieser Stelle eine keltische Kultstätte. Man hat Münzen und andere Opfergegenstände auf dem Grund des Teichs gefunden. Im Mittelalter und in späteren Jahrhunderten wurde hier Gericht gehalten. Wenn jemand schuldig gesprochen wurde, hat man ihn gefesselt in den Teich geworfen. Viele Menschen haben in diesem Gewässer schon den Tod gefunden …« Frau Schmidts Blick wurde dunkel, und Kim schauderte unwillkürlich. »Aber das ist zum Glück lange her«, setzte die alte Frau lächelnd hinzu.

In diesem Moment wurde Kim von einem Geräusch abgelenkt. Auf der anderen Seite des Teichs raschelte es. Kim sah, wie sich das hohe Schilf bewegte. Erst dachte sie an eine aufgescheuchte Entenfamilie, aber dann tauchte für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesicht zwischen den langen Halmen auf. Da schlich jemand durchs Schilf!

Frau Schmidt hatte den ungebetenen Besucher ebenfalls bemerkt. »He! Hallo! Was machen Sie da?«, rief sie.

Es raschelte noch einmal, dann war es wieder still. Kim flitzte sofort los, aber sie war nicht schnell genug. Wer auch immer sich im Schilf herumgetrieben hatte, hatte sich aus dem Staub gemacht.

»Es ist niemand mehr da«, berichtete Kim, als sie zurückkam.

»Vielleicht war es ja nur ein Tier«, sagte Herr Jülich.

»Bestimmt.« Kims Mutter lächelte Frau Schmidt beruhigend zu. »Warum sollte hier jemand herumschleichen?«

Das hätte Kim auch gerne gewusst. Denn im Gegensatz zu ihren Eltern war sie sich hundertprozentig sicher, dass im Schilf kein Tier, sondern ein Mensch gewesen war. Genauer gesagt ein Mann. Leider hatte sie sein Gesicht viel zu kurz gesehen, um es wiedererkennen zu können.

Frau Schmidt war blass geworden. Sie ließ sich auf einen Gartenstuhl sinken und atmete schwer. Offenbar hatte ihr der ungebetene Gast einen gehörigen Schrecken eingejagt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Marie besorgt. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«

Frau Schmidt schüttelte den Kopf. »Danke, es geht schon. Es ist nur so, dass vor Kurzem bei mir eingebrochen wurde. Seitdem bin ich etwas schreckhaft.«

»Du meine Güte! Das kann ich gut verstehen.« Frau Jülich setzte sich neben Frau Schmidt an den Gartentisch. »Ich würde mich zu Tode fürchten, wenn ich hier nachts allein wäre.« Offenbar fand sie die alte Mühle jetzt doch nicht mehr so romantisch.

»Wurde bei dem Einbruch etwas gestohlen?«, frage Kim interessiert.

Frau Schmidt schüttelte den Kopf. »Nein. Alles war durchwühlt, aber die Diebe haben nichts mitgenommen. Was denn auch? Ich besitze schließlich keinerlei Wertgegenstände.«

Die drei !!! wechselten einen Blick. Kim spürte das altbekannte Kribbeln in der Magengegend, wie immer, wenn irgendetwas nicht stimmte. Warum sollte jemand in der alten Mühle einbrechen? Hier gab es doch nichts zu holen. Kim runzelte die Stirn. Das war wirklich merkwürdig …

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Ein unheimlicher Zwischenfall

Nach der Führung ging Frau Jülich zurück in den Ausstellungsraum, um sich einen Tonkrug auszusuchen.

»Ich sehe lieber mal nach, was die Zwillinge so treiben«, sagte Kims Vater, als das Geschrei hinter dem Schuppen immer lauter wurde.

»Na, dann hole ich mal den Kuchen.« Frau Schmidt nickte den drei !!! zu. »Ihr habt doch bestimmt Hunger, oder?«

Kim nickte eifrig. »Allerdings. Sollen wir Ihnen helfen?«

»Gern.« Frau Schmidt ging vor in die Küche. Auf der Anrichte standen bereits ein Blech mit duftendem Apfelkuchen und eine große Schokoladentorte mit zehn Kerzen darauf.

»Wow! Das sieht aber lecker aus!« Kim fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich liebe Schokoladentorte!«

»Das freut mich.« Frau Schmidt lächelte. Dann holte sie Teller und Tassen aus dem Schrank. »Ihr könnt schon mal den Tisch decken. Ich denke, bei dem schönen Wetter trinken wir draußen auf der Terrasse Kaffee, was meint ihr?«

Franzi nickte. »Auf jeden Fall.« Sie nahm einen Stapel Teller.

»Haben Sie vielleicht ein Tablett?«, fragte Marie.

Doch Frau Schmidt antwortete nicht. Sie stand mit hängenden Armen mitten in der Küche. Das Lächeln war von ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Blick war völlig ausdruckslos.

»Frau Schmidt?«, fragte Marie vorsichtig. »Geht’s Ihnen nicht gut?«

Keine Reaktion. Die drei !!! sahen sich ratlos an. Was ging hier vor?

»Vielleicht ein verzögerter Schock«, vermutete Franzi. »Sie sollte besser die Beine hochlegen, damit das Blut zurück in den Kopf fließt.«

Doch bevor die drei !!! irgendetwas unternehmen konnten, änderte sich plötzlich Frau Schmidts Gesichtsausdruck. Ihre Augen begannen zu flackern und in ihr Gesicht kam wieder Leben. Es wirkte auf einmal viel jünger.

»Ihr müsst mir helfen«, flüsterte sie. Die sonst so ruhige Frau klang total verzweifelt. Mit flehendem Blick sah sie die drei !!! an. Kim hätte schwören können, dass ihre Augen etwas heller waren als vorhin. Sie leuchteten so intensiv, dass Kim völlig gebannt war. »Bitte! Helft mir!«

Franzi räusperte sich. »Worum geht es denn? Um den Einbruch?«

Aber Frau Schmidt reagierte nicht auf die Frage. Sie sprach weiter, als hätte sie Franzi gar nicht gehört. »Sucht nach den blutroten Steinen!«, befahl sie mit hoher Stimme. »Ihr müsst sie finden!«

Kim runzelte die Stirn. »Was denn für Steine? Wovon sprechen Sie?«

»Ich bin unschuldig. Nur die Steine können meine Unschuld beweisen. Bitte! Ich brauche Hilfe!« Frau Schmidts Stimme wurde immer schriller.

»Das glaube ich auch«, murmelte Franzi. Dann flüsterte sie Kim zu: »Wir müssen deine Mutter holen! Ich glaube, Frau Schmidt hat irgendeinen Anfall. Die tickt doch nicht mehr ganz richtig!«

Kim nickte. Ihr kam die Sache auch nicht geheuer vor. Was war mit Frau Schmidt los? Eben war sie noch völlig normal gewesen und jetzt redete sie auf einmal wirres Zeug. Als wäre sie gar nicht mehr sie selbst …

»Wartet! Ich will erst noch was ausprobieren!« Marie wandte sich an Frau Schmidt und fragte ruhig: »Wer bist du?«

Franzi grinste und Kim runzelte die Stirn. Was sollte das? Was hatte Marie vor?

Frau Schmidt schien die Frage ebenfalls komisch zu finden. Sie kicherte wie ein junges Mädchen. »Ich heiße Antonia. Antonia Schmidt.«

Kim stutzte. Hatte sich Frau Schmidt vorhin bei der Begrüßung nicht als Isolde vorgestellt?

Marie nickte, als hätte sich soeben eine Vermutung von ihr bestätigt. »Und du brauchst unsere Hilfe, Antonia? Warum?«

Frau Schmidts Augen füllten sich mit Tränen. »Weil ich unschuldig bin! Aber niemand glaubt mir. Alle halten mich für eine Diebin. Ihr müsst die blutroten Steine finden! Dann bin ich nicht umsonst gestorben …«

Franzi schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das ist doch völliger Unsinn! Sie sind nicht gestorben, sondern quietschlebendig. Warum erzählen Sie uns so einen Quatsch? Halten Sie uns für bescheuert?«

Frau Schmidt weinte jetzt so heftig, dass sie nicht antworten konnte. Sie schwankte wie Schilf im Wind und zitterte am ganzen Körper. Sie war völlig weggetreten und sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

»Es reicht«, sagte Kim entschlossen. »Ich hole jetzt meine Mutter. Frau Schmidt braucht einen Arzt.«

Doch gerade als sie die Küche verlassen wollte, kam Frau Schmidt wieder zu sich. Sie hörte auf zu schluchzen, blinzelte ein paarmal und schüttelte verwirrt den Kopf. »W… was ist los?«, stammelte sie. »Was ist passiert?«

Die drei !!! schauten sie misstrauisch an. Das Flackern in den Augen der alten Frau war erloschen und ihre Stimme hatte nicht mehr diesen ungewöhnlich hohen Tonfall. Sie wirkte wieder völlig normal. Nur sehr müde und erschöpft. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe.

»Wolltet ihr nicht den Kuchen nach draußen bringen?«, fragte Frau Schmidt. Dann stutzte sie. »Warum starrt ihr mich so an?«

»Na ja … also … Sie haben uns gerade um Hilfe gebeten und …«, fing Kim vorsichtig an.

»Natürlich habe ich das!«, unterbrach Frau Schmidt sie etwas ungeduldig. »Um Hilfe beim Tischdecken. Jetzt aber schnell, sonst haben wir keine Sonne mehr auf der Terrasse.«

»Es ging nicht ums Tischdecken«, stellte Franzi richtig. »Sie wollten, dass wir Ihre Unschuld beweisen. Und irgendwelche blutroten Steine finden. Was haben Sie damit gemeint?«

»Wie bitte? Was soll ich gesagt haben?« Frau Schmidt sah ehrlich überrascht aus. »Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet. Ich weiß nichts von roten Steinen.«

»Aber Sie waren doch gerade total verzweifelt deswegen!«, beharrte Franzi. »Sie haben sogar geweint.«