Buchcover

Fred­rik Ska­gen

Das dri­tte Op­fer

 

 

Saga

»Und die Liebe wurde zum Ursprung und Herrscher der Welt, doch ihre Wege sind gesäumt von Blumen und Blut, Blumen und Blut.« So schrieb Knut Hamsun vor gut hundert Jahren in ›Victoria‹. Aber ist dies so schön, wie die Leute es gern hätten? Und ist es nicht ein göttliches Unglück, dass wir von unseren Liebsten anfangs mit Geschenken und Blumen überhäuft, später mit unserem eigenen Blut besudelt werden? Erst wenn wir im Grab liegen, kehren die zurück, die uns verlassen haben. Womit überschütten sie uns dann, wenn nicht mit Blumen und nochmals Blumen?

Aus dem Tagebuch von Miriam Malme (1975–2000)

Es war eine dunkle


und stürmische Nacht.

William wusste nicht genau, woher dieser Satz stammte, doch war er ihm vor vielen Jahren in den Sinn gekommen, als er sich dreißig bis vierzig Kilometer östlich von Trondheim in freier Natur befand. Sie lagen nebeneinander auf dem Boden und drückten sich eng aneinander – Jon in der Mitte, Oddvar zur Rechten und William zur Linken.

Stürmisch? Hin und wieder strich ein kühler Wind über die nahezu unsichtbare, mit Gras bewachsene Ebene, doch rüttelte er nicht an den Baumkronen. Auch war es nicht Nacht, sondern ein früher Abend im Herbst. Dunkel war es allerdings, dafür konnte sich William verbürgen. Düstere Wolken waren aufgezogen und hatten sich vor den zarten Halbmond geschoben, sodass sie einander nur noch schemenhaft erkannten. Die warmen, gelblichen Lichter der Höfe, die sich talwärts befanden, weckten in ihm die Sehnsucht nach einer Zigarette, einer Tasse Kaffee und – nicht zuletzt! – dem Prasseln eines Kaminfeuers. Oddvar hatte ihn gebeten, sich warm anzuziehen. Er meinte dies auch getan zu haben, fror aber trotzdem. Normalerweise fühlte er sich wohl in der Natur, streifte gern durch die Wälder, doch war es für einen zentralheizungsverwöhnten Stadtmenschen kein Vergnügen, regungslos im Dunkeln auf eiskaltem Boden zu liegen.

Am Anfang hatte er alles sehr spannend gefunden, als die Dämmerung hereingebrochen war und er sich vorgestellt hatte, wie das Wild langsam zum Vorschein kam, um sich willig erlegen zu lassen. Linkerhand meinte er gar das Brechen eines Zweiges gehört zu haben, doch Jon hatte ihm zugeflüstert, dass die Beute, falls sie denn auftauchte, aus der anderen Richtung käme.

Obwohl William sich über seine völlige Unerfahrenheit im Klaren war, bezweifelte er längst, dass es Sinn hatte, noch länger auf der Lauer zu liegen. Sein Gefühl sagte ihm, dass es in dieser Gegend nichts als Ameisen und Regenwürmer im Winterschlaf gab. Jørgen, dem Vierten im Bunde, der 150 Meter entfernt unter einer Tanne stand, fiel die Aufgabe zu, den Schrei einer Eule zu imitieren, sobald sich ein Tier zeigte, er hatte jedoch während der gesamten Dreiviertelstunde nicht einen Laut von sich gegeben. William, Anfänger und unbewaffneter Zuschauer, versuchte die tauben Finger zu bewegen und fragte sich, wie es überhaupt möglich war, etwaige Tiere am finsteren Waldrand auszumachen. Doch die Zigarette musste warten. Denn sobald das sensible Wild auch nur im Geringsten gewarnt werde, wechselten ganze Rudel die Richtung.

Hatte Jon erklärt.

Oddvar trug an allem die Schuld. Er hatte William förmlich angefleht mitzukommen. »Heute Abend muss es passieren. Jon glaubt fest daran. Der hat so was im Gefühl. Ich garantiere dir, das wird ein Riesenerlebnis!« Oddvar hatte ihn in der Stadt abgeholt, und eine gute halbe Stunde später waren sie vor Jørgens Haus vorgefahren. William war sowohl ihm als auch Jon das erste Mal begegnet. Jørgen war aufgekratzt gewesen und hatte in einer Tour gequasselt, während der stillere Jon einen durch und durch besonnenen und abgeklärten Eindruck gemacht hatte. Man konnte kaum glauben, dass er sich in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung befand, um seine Angstattacken in den Griff zu bekommen. Bei Anbruch der Dämmerung waren sie in Jørgens Pick-up gestiegen und losgefahren.

Nach weiteren fünf Minuten begann die dünne Reifschicht unter ihnen zu schmelzen. Als die kalte Feuchtigkeit durch ihre Hosenbeine drang, legte William vorsichtig seine Hand auf Jons linken Arm, um ihn zu fragen, wie lange sie noch ausharren sollten. Er fühlte den groben Stoff seiner Feldjacke und ahnte, dass Jon sich zu ihm umdrehte. Dann spürte er einen Warmluftschwall an seinem rechten Ohr, wie von einem Heißluftofen, und vernahm Jons Flüstern: »Frierst du, Bill?«

»Nein, aber ...«

William schätzte seine Fürsorge, legte allerdings keinen Wert darauf, Bill genannt zu werden. Niemand hatte das je getan. Jon hatte mehrere Jahre in den USA verbracht, aber das war schon lange her. Der amerikanische Einschlag wirkte gezwungen und machte hier, in einer mittelnorwegischen Ortschaft, einen fast lächerlichen Eindruck.

»Hast du sie auch gesehen?«

»Wen?«

»Na, die drei Rentierkühe, die gerade an uns vorbeigelaufen sind, knapp fünfzehn Meter entfernt.«

Dass ich nicht lache, dachte William. Oddvar zufolge war Jon zwar der mit Abstand Erfahrenste von ihnen allen, schien jedoch eine lebhafte Fantasie zu besitzen. Geschehnisse der Vergangenheit konnte er sich mit solcher Überzeugungskraft zusammenreimen, dass es kaum möglich schien, sie mit dem Hinweis auf ihre Unwahrscheinlichkeit zu entkräften. Nichtsdestotrotz hielten Oddvar und Jørgen das meiste für wahr, wussten sie doch um seinen fabelhaften Jagdinstinkt.

»Glaubst du mir nicht, Bill?«

In seiner Stimme schwang ein arroganter Unterton mit, der William missfiel. Der Mann war ihm ohnehin nicht geheuer, was vermutlich an den Informationen lag, die Oddvar ihm gegeben hatte: ein ehemaliger Berufssoldat mit psychischen Problemen ...

»Tja, ich weiß nicht.«

»Was meinst du, Oddvar?«, flüsterte Jon.

»Jørgen hätte doch Laut gegeben, wenn irgendwelche Tiere vorbeigetrabt wären.«

Jon schien verärgert. »Jørgen? Der riecht doch nicht mal seinen eigenen Furz.« Dann wies er sie an, ein Stück nach vorne zu robben, aber möglichst so, dass sie keine unnötigen Geräusche machten. Seite an Seite schlängelten sie sich zehn Meter nach vorne, als Jon plötzlich innehielt und seine Taschenlampe anknipste.

»Schaut her!«

William hob langsam den Kopf. Vom plötzlichen Licht geblendet, konnte er nichts erkennen, das auf ein Tier hingewiesen hätte.

»Das ist ja unglaublich!«, raunte Oddvar entgeistert.

Zunächst wusste William nicht, was der Freund meinte. Dann, im nächsten Augenblick, erkannte auch er verwundert, was der Lichtkegel offenbarte: Unmittelbar vor ihnen, nur wenige Zentimeter entfernt, waren einige gelbe, steife Grasbüschel dabei, sich aufzurichten! Es gab nur eine Erklärung. Sie waren gerade niedergetrampelt worden, obwohl William hätte schwören können, nicht einen einzigen Laut vernommen zu haben. Wie Jon im Dunkeln das Passieren der Tiere hatte bemerken können, war ihm unbegreiflich. Und woher wollte der Kerl wissen, dass es sich um Rentierkühe und noch dazu nicht um zwei oder vier, sondern um drei gehandelt hatte?

»Warum hast du nicht geschossen?«, flüsterte Oddvar.

»Weil ich den Bock erwischen will.«

Kaum hatte Jon dies gesagt und die Lampe gelöscht, als sie auch schon ein dumpfes Geräusch wahrnahmen, fast wie von einem Nebelhorn und kaum mehr als hundert Meter entfernt. Mit einem Mal spürte William, wie die Spannung zurückkehrte. Konnte es sich um den Rentierbock handeln, das älteste Tier der Herde, der soeben einen Brunftschrei ausgestoßen hatte? Jon hatte sich geschworen, dass dessen Krone buchstäblich die Krönung der Jagdsaison werden sollte.

»Bleibt liegen und seid still!«

Dann robbte er weiter und verschwand lautlos aus ihrem Blickfeld. Oddvar rollte sich einmal um die eigene Achse, sodass er dicht neben William liegen blieb. Im nächsten Augenblick riss die Wolkendecke auf und gab den Halbmond frei, während Oddvar nach rechts zeigte und William das Fernglas reichte. William hielt es sich vor die Augen. Mit ein wenig Fantasie war es vorstellbar, dass sich die länglichen Schatten unter den Tannen langsam vorwärts bewegten, doch er war sich nicht sicher, den richtigen Ort im Visier zu haben. Möglicherweise bildete er sich die Bewegungen in der konturlosen Szenerie nur ein. Vielleicht handelte es sich um Jørgen, der den Ruf einer Eule imitieren wollte. Dennoch nickte er, wollte seinen Amateurstatus nicht zugeben. Erneut spürte er die Kälte und ärgerte sich, dass er Oddvars Drängen, ihn zu begleiten, nachgegeben hatte. »Ein Jagdausflug mit Jon wird dich davon überzeugen, dass er uns nichts vormacht.« Die Jagd hatte William nie sonderlich interessiert. Eine Angeltour bei schönem Wetter, warum nicht, aber das hier? Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, bei dieser Dunkelheit ein Rentier zu erwischen.

Eine Ewigkeit schien vergangen – kaum länger als zehn Minuten, wie er später begriff –, dann hörten sie den kanonenschussähnlichen Knall eines Jagdgewehrs. Er hatte gerade die Stellung gewechselt, und in der sonderbaren Stille, die folgte, konnte selbst er das Rascheln rascher Schritte hören, als ein ganzes Rudel von Tieren plötzlich aufschreckte und verschwand. Jetzt bestand kein Zweifel mehr – sie mussten von allen Seiten von Wild umgeben sein, während Jon einen ganz bestimmten Bock im Auge hatte, und zwar den ältesten, denn seiner Meinung nach war es an der Zeit, dass jüngere Tiere die Führung der Herde übernahmen. Oddvar stand auf und zog William mit sich fort, bis sie die Überbleibsel einer Skihütte erreichten. Gleichzeitig stieß Jørgen zu ihnen.

»Glaubst du, er hat getroffen?«, fragte William, der froh war, sich endlich wieder bewegen zu können. Das Versteckspiel hatte ein Ende.

»Klar, sonst hätte er doch nicht abgedrückt«, entgegnete Jørgen grinsend.

Im Schein des Mondlichts bahnten sie sich ihren Weg, als sie Jon plötzlich fluchen hörten: »Verdammter Mist!«

Sie liefen zu ihm, während er mit gesenkter Waffe und angeschalteter Taschenlampe das Tier zu suchen schien, auf das er geschossen hatte. Gemeinsam machten sich alle entlang einem Graben auf die Suche. Nach fünf Minuten gaben sie auf.

»Genau hier stand das Mistvieh!«, sagte Jon verbittert. »Mit erhobenem Kopf und einem schier unglaublichen Geweih. Fucking beautiful!«

Jetzt nahm auch William den strengen Geruch wahr, den das brunftige Tier abgesondert hatte. Wider alle Wahrscheinlichkeit schien es dem Projektil entgangen zu sein. Oddvar und Jørgen verstanden die Welt nicht mehr. Der Chef hatte daneben geschossen, und das aus nächster Distanz! Das war so ungewöhnlich, dass es ihnen die Sprache verschlug und sogar die Frotzelei ein Ende hatte. Jon suchte gar nicht erst nach Ausreden, sondern drehte sich eine Zigarette, während er mit tonloser Stimme sagte: »Werde wohl langsam zu alt dafür.«

Zu alt?, dachte William. Vierzig war doch kein Alter für einen Jäger.


Danach waren sie zum Pick-up getrottet und zur Ortschaft am Fjord zurückgefahren. Jørgen bat sie herein. Seine Frau sowie Anna, Jons schlanke, blonde Begleiterin, hatten bereits Kaffee gekocht und das Essen zubereitet. Wärme und Bewirtung waren die reinste Wohltat, während Anna Jon zu trösten versuchte. Doch William hatte das unangenehme Gefühl, den Fehlschuss womöglich verantwortet zu haben. Vielleicht hatte er Geräusche gemacht, die das Rentier in der Zehntelsekunde, die dem Schuss vorausging, aufgeschreckt hatten. Jons verstohlene Blicke schienen dies anzudeuten, doch machte er niemand einen Vorwurf. Nur eines brachte er mit Entschiedenheit, beinahe hasserfüllt hervor: »Morgen bringe ich das Mistvieh zur Strecke!«


Seine beiden Kameraden zweifelten nicht daran. Während Jon und Anna zu ihrem an einem Hang gelegenen Haus fuhren, kehrten Oddvar und William in die Stadt zurück.

»Eigentlich wollte ich ein paar Fotos machen«, sagte William. »Eine kleine Reportage für die Zeitung schreiben, aber viel gibt es ja nicht zu berichten.«

»Das war auch nicht der Grund, warum ich dich gefragt habe, ob du mitkommen willst.«

»Ich weiß, du wolltest mir nur seine unnachahmlichen Fähigkeiten demonstrieren.«

»Und, ist mir das nicht gelungen?«

»Schon, abgesehen davon, dass er nicht getroffen hat.«

»Tja, ziemlich peinliche Angelegenheit. Kann mich gar nicht erinnern, wann ihm das zuletzt passiert ist. Aber die Rentierkühe haben wir schließlich beide nicht erkannt, obwohl sie direkt an uns vorbeigelaufen sind! Nur durch solche Eigenschaften konnte er im Dschungel überleben. Du solltest mal ein längeres Gespräch mit ihm führen. Ein Buch über Jon könnte ein Riesenerfolg werden.«

»Mir wäre es lieber, er hätte getroffen.«

»Reines Pech«, meine Oddvar. »Oder Lampenfieber.«

»Wie meinst du denn das?«

»Ihr solltet euch vielleicht erst mal näher kennen lernen. Dann würdest du zum Beispiel erfahren, dass er das Ausweiden der Tiere nicht mehr mit ansehen kann. Wenn wir eines erlegt haben, erledigen das immer Jørgen und ich. Jon wendet uns dann den Rücken zu oder geht ein Stück weg. Das ist eines seiner Probleme. Unter anderen Bedingungen, vor mehr als fünfzehn Jahren, hat er vermutlich zu viel Blut sehen müssen, das Blut toter und verwundeter Soldaten, das Blut verstümmelter Kin...«

»Und wenn schon«, schnitt ihm William das Wort ab. Er hatte keine Lust, sich den Horror schildern zu lassen, den Jon angeblich erlebt hatte.

»Lange hat er geglaubt, die Schrecken vergessen zu haben. Hatte sie vollkommen verdrängt und versucht, ein normales Leben zu führen. Doch in den letzten drei, vier Jahren sind die Gespenster der Vergangenheit wieder aufgetaucht. Anna sagt, dass er manchmal mitten in der Nacht schreiend aufwacht, sich schweißgebadet auf den Boden wirft und englische Satzfetzen ruft, während er ein imaginäres Gewehr in der Hand hält. Posttraumatische Leiden nennt man das wohl. Nachwirkungen des Krieges.«

»Das hast du mir schon einmal erzählt. Aber ich fürchte, ich bin der Falsche, wenn es darum geht, solche Erlebnisse zu protokollieren.«

Oddvar überhörte das. »Man muss ihn zum Erzählen ermuntern, seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Sein Psychiater meint, eine Veröffentlichung seiner Erinnerungen würde Jon helfen, sie zu verarbeiten.«

William nickte, immer noch skeptisch. »Ich bin Journalist, kein Historiker.«

»Komm morgen wieder mit. Dann ist der Rentierbock fällig, ganz bestimmt.«

»Tut mir Leid. Morgen feiere ich Geburtstag mit meiner Familie.«


Das tat er. William, seit kurzem fester Mitarbeiter beim Trondheimer Anzeiger, wurde 33 Jahre alt und verbrachte den nächsten Abend im Kreis seiner Lieben – seiner Frau Solveig, dem fünfjährigen Sohn Anders sowie seinen Eltern und Schwiegereltern – in einer Etagenwohnung in Trondheim. In einem Monat erwartete Solveig ihr zweites Kind.

Oddvar rief gegen neun an und gratulierte. Nutzte die Gelegenheit, um zu erzählen, dass sich Jon vor gut zwei Stunden, nach nur zwanzig Minuten auf der Pirsch, seine Trophäe gesichert habe. Ein präziser Schuss aus vierzig Metern habe direkt ins Herz getroffen, während er und Jørgen sicher gewesen waren, dass sich keine Tiere in der Nähe befanden. »Wirklich schade, dass du nicht dabei warst, William!«

Es war Dienstag, der 22. Oktober 1985.

Die Wut


hatte sein Gesicht kreideweiß werden lassen. Er war sich darüber im Klaren, doch dies war einer der äußerst seltenen Augenblicke, in denen er die Beherrschung verlor.

Ob Beate etwas von seiner Erregung gespürt hatte? Wohl kaum. Gott sei Dank ahnte sie nicht, wie vielen Schönheiten er schon den Laufpass gegeben hatte. Ihr gegenüber war es leicht, die Fassung zu bewahren, denn Beate brachte ihn dazu, sich zu entspannen und von seiner besten Seite zu zeigen. Mit keiner Frau hatte er es länger ausgehalten als mit ihr, und so sollte es weitergehen, zumindest solange er keine fand, die ihm noch besser gefiel.

Seine Kindheit hatte ihn gelehrt, Niederlagen einzustecken und mit der Zeit in seinen eigenen Vorteil umzumünzen. Das war eine harte Lektion gewesen. Im Sportunterricht beispielsweise, wenn die Angeber, die das Sagen hatten, abwechselnd ihre Mitspieler auswählten, konnte er im Voraus sagen, wer als Letzter übrig bleiben würde – der ausgemachte Versager, den niemand haben wollte. Ständig stand er im Weg; in einzelnen Sportarten gelang es ihm, das Spiel seiner gesamten Mannschaft zu zerstören. Und das Wissen darum war beinahe das Schlimmste.

Es stimmte schon, er war ein Tollpatsch gewesen, obwohl er einen durchaus athletischen Eindruck machte. Hatte jedes Mal den Ball verloren, wenn er zufällig bei ihm gelandet war, und war rot angelaufen, wenn er ihn verspielte und dem Gegner damit eine neue Chance eröffnete. Stoffel hatten sie ihn genannt, weil er allzu oft über seine eigenen Füße stolperte und der Länge nach hinstürzte. Linkischer und unbeholfener als Stoffel konnte man einfach nicht sein. Er war der größte Hanswurst der gesamten Schule. Die Mädchen aus der Parallelklasse wussten dies und zogen ihn auf. Sogar die Lehrer tuschelten über ihn. Er hörte es und sah es ihnen an.

Aber es war doch schließlich nicht seine Schuld, dass er so geboren war!

Die Demütigung trieb ihm Tränen in die Augen. Er drehte sich um und schlich in die Umkleidekabine. Doch in der Hitze des Gefechts bemerkten die anderen nicht einmal das. Er war einfach Luft für sie, ein vollkommen überflüssiges Wesen, dessen Existenz kaum zu rechtfertigen war. Das Allerschlimmste jedoch war die Verachtung der Mädchen.

Erst später begriff er, worum es eigentlich ging, welche Kniffe er anwenden musste, um sich zu behaupten, obwohl sich der Erfolg anfangs in Grenzen hielt. Entscheidende Stichwörter waren Selbstdisziplin, Abgeklärtheit, Geduld. Einige Tricks hatte er sogar in der Schule, im Biologieunterricht gelernt. Gewisse Auswahlkriterien spielten in der Natur eine entscheidende Rolle. Natürliche Selektion. Alles war eine Frage der Anpassung, der optimalen Ausnutzung angeborener Vorteile, wie Darwin erklärt hatte.

Denn niemand konnte in Abrede stellen, dass er gut aussah und zudem einen Verstand besaß, der den meisten anderen überlegen war. Mit der Zeit überspielte er die körperlichen Defizite, begann heimlich die blitzschnellen Bewegungen eines Kampfsports zu trainieren. Er schloss sich einer Laienspielgruppe an und belegte einen Kurs in Imitation und Parodie. Doch vor allem nutzte er seine hohe Intelligenz, las Romane, ging ins Kino und vergegenwärtigte sich, wie wichtig es war, seinen angeborenen Charme richtig einzusetzen. Schlagfertigkeit und Einfallsreichtum kamen immer gut an. Selbst aus der eigenen Ungeschicklichkeit beim Ballsport ließ sich Kapital schlagen, wenn man sowohl sich selbst als auch das Spiel nicht so ernst nahm. Bei den Mädchen hatte diese Taktik durchschlagenden Erfolg, und mit der Zeit wurde es das reinste Spiel für ihn, sie ins Bett zu kriegen. Als er sich nach Beendigung der Schule anderen Kreisen anschloss, gab es niemand mehr, der ihn Stoffel nannte.

Sein Ziel war die absolute Perfektion, der er sich immer mehr annäherte. Bei der Arbeit betrachtete er dies ohnehin als Selbstverständlichkeit. Im zwischenmenschlichen Bereich hingegen erforderte es ein besonderes Maß an Konzentration. Wollte man im Leben Erfolg haben, mussten die Basisfertigkeiten nicht nur gepflegt, sondern kontinuierlich weiterentwickelt werden, und erste Voraussetzung für ein Gelingen war die Entwicklung des ästhetischen Gespürs. Der Sinn für das Schöne, Harmonische und Vollkommene musste bewusst gefördert werden, ebenso das Interesse für bildende Kunst, Literatur und Musik. Wollte man beliebt sein – eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufstieg an die Spitze –, durfte man sein Äußeres nicht vernachlässigen. Ein attraktives, makelloses Aussehen, einhergehend mit untadeligem Benehmen, war von entscheidender Bedeutung. Ein perfekt sitzender Anzug zu jeder Zeit ein Muss. Es verlangte viel Selbstdisziplin, im Privat- und Berufsleben stets auf natürliche Weise im Mittelpunkt zu stehen. Details wie Krawatte, blank geputzte Schuhe und penible Körperhygiene waren Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck komplettierten und eine Lebensart verrieten, die Bewunderern beiderlei Geschlechts als vorbildlich erscheinen musste. Seine gelassene Unangreifbarkeit trug zweifellos zu seinem Erfolg bei. Die Entfernung feiner Härchen in den Ohren sowie die Pflege der Nagelbetten waren letzte Finessen. Eitelkeit? Pedanterie? Nein. Vollkommenheit.

Dann die kleinen Aufmerksamkeiten, vor allem zu Beginn. Für nichts waren Frauen empfänglicher, als für wohl überlegte, scheinbar spontane Komplimente, das erfuhr er tagtäglich. Er war es gewohnt zu gewinnen, und zwar am laufenden Band. Die Kunst bestand darin, seine Vorteile richtig einzusetzen und sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. Was er viele Jahre hindurch getan hatte. The survival of the fittest.

Und jetzt das!

Die unangenehme Erinnerung an die Geschehnisse vor elf Monaten, an seine einzige schmerzliche Niederlage als Erwachsener, die er so chevaleresk hingenommen hatte, obwohl seine Wangen vor Hass und Scham brannten. Er war sich seines Sieges so sicher gewesen, dass er Beate beinahe den Laufpass gegeben hätte. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Die neue Frau zu erobern, hatte sich als ebenso unmöglich erwiesen, wie einst ein As beim Sportunterricht zu sein. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass auch kein anderer ihr das Wasser reichen konnte, und schließlich gab er es auf. Er hatte sie fast aus seinem Bewusstsein verdrängt. Bis zu diesem Moment.

Das neue Jahrtausend, die verheißungsvolle Zukunft, die gerade erst begonnen hatte, war im Augenblick des Wiedersehens zunichte geworden. Das schönste und unnahbarste Geschöpf auf Erden hatte die Frechheit besessen, in den besitzergreifenden Armen eines fremden Mannes an seinem Haus vorüberzugehen!

Aus seinem Gesicht wich alle Farbe, weil er die Zähne so hart zusammenbiss, dass sein Kiefer schmerzte. Natürlich wollte er ihr eine faire Chance geben, sie um eine Erklärung bitten, sie anrufen, damit sie ihm sagen konnte, dass alles nur ein Missverständnis sei und sie es eigentlich verabscheue, von solch einem Kerl belästigt zu werden. Er würde ihr großherzig verzeihen, sich vielleicht sogar selbst ins Spiel bringen, ihr signalisieren, dass er immer noch bereit war, Beate wegen ihr zu verlassen. Oder sollte er mit beiden gleichzeitig ein Verhältnis haben?

Doch andernfalls, wenn sich wider Erwarten zeigen sollte, dass sie sich – zum ersten Mal – einen Liebhaber genommen hatte, dann gab es nur eins: Rache! Welcher Art diese sein sollte, war ihm noch nicht klar, doch zweifelte er nicht einen Augenblick, dass es einem Mann mit seinen geistigen Fähigkeiten gelingen sollte, einen perfekten Plan zu ersinnen. Alles andere wäre eine schmähliche Niederlage, die er nicht würde ertragen können.

Wenn Beate nur nicht merkte, wie viel Kraft ihn das kostete!