Buchcover

Anne Karin Elstad

Später, Lena, später

 

 

Saga

1

Lena lächelt schwach. Jetzt solltest du mich sehen, Kjell. Du würdest eine deiner unerschütterlichen Diagnosen stellen. Ich bin der Prototyp der einsamen Frau. Gefangen in meinen bitteren Gedanken, zusammengekrochen in meinem einsamen Sessel. Sogar ein Cognacglas ist dabei, um das Bild zu vervollständigen.

Lena hält ihr Glas gegen das Licht, weiß, daß es keinen Sinn hat, zu Bett zu gehen. Abwesend dreht sie das Glas, sieht zu, wie die goldene Flüssigkeit im Schein der Lampe umherschwappt. Wieder lächelt sie. Du irrst dich, Kjell. Einsam war ich bei dir. Weißt du, daß ich eine Zeitlang das lähmende Gefühl hatte, in einem Ei zu leben? Nein, ich war nicht verrückt, nur besessen von diesem Gedanken. Alles sollte golden sein, gelb, ewiger Sonnenschein und wir im Ei, ich, du, die Kinder, unsere Freunde, unsere Umgebung. Was außerhalb war, ging uns nichts an. Nichts durfte häßlich sein. Noch jetzt habe ich Angst, wenn ich an diese Einsamkeit denke, an das ewige Sonnengelb im Ei.

Beim nächsten Schluck merkt sie fröstelnd, daß sie genug hat. Doch, Kjell irrt sich. Sie hebt das leere Glas, betrachtet es. Auch hierin irrt er sich. Sie trinkt selten, allein fast nie. Wenn sie es tut, endet es normalerweise mit derselben Grübelei.

Bald fünf Jahre ist sie schon mit den Kindern allein.

Anfangs waren die Gedanken an ihr Leben mit Kjell, an ihren Aufbruch und dessen Folgen wie Stacheldraht, der sich in ihr müdes Gehirn bohrte. Sie wehrte sich dagegen, denn ihr neuer Alltag, die Kinder und die Stelle forderten alles, was sie an Energie und Stärke aufbringen konnte. Also verdrängte sie diese Gedanken. Baute eine Sperre zwischen sich und allem, was gewesen war, auf, zwang sich, für den jeweiligen Tag und für das, was vor ihr lag, zu leben. Erst jetzt, nach diesen fünf Jahren, wagt sie, das Verdrängte wieder hochkommen zu lassen. Jetzt gleiten die Bilder ruhiger an ihr vorbei, einige deutlicher als die anderen, aber es tut nicht mehr weh. Die scharfen, schmerzhaften Kanten der Erinnerungen scheinen abgeschliffen zu werden, jedesmal ein bißchen mehr, jedesmal, wenn sie nachgibt und den Gedanken freien Lauf läßt.

2

Sie waren in einem kleinen Ort an der Küste von Tröndelag aufgewachsen. Lenas Eltern betrieben dort den lokalen Gemischtwarenhandel. Sie hatten das Fährbüro und ein Stückchen Land, genug für ein paar Kühe und fünf, sechs Schafe. Für Lena und ihre drei Brüder herrschte nie Überfluß, aber wie Kjell litt sie nicht unter der beengten Finanzlage, die in den Nachkriegsjahren eher die Regel als die Ausnahme war.

Kjell war der Sohn des Bezirksarztes. Das verlieh ihm natürlich Status und Autorität. Er war drei Jahre älter als Lena, mit ihren Brüdern befreundet. In der Schule war sie im Vergleich zu ihm ein kleines Kind und sie bewunderte ihn. Als sie dreizehn war, besuchte er schon die erste Klasse des Gymnasiumsa. Sie erinnert sich noch jetzt daran, wie er in den ersten Weihnachtsferien nach Hause kam, fremd und erwachsen. Ihre Bewunderung kannte keine Grenzen! Er war einer der wenigen, die aufs Gymnasium gingen, und auch das verlieh ihm einen Status, der ihn die meisten anderen weit überragen ließ.

In diesen Jahren war sie aus der Ferne in ihn verliebt. Eine Verliebtheit, die mit den Ferien kam und ging. Als sie alt genug war, um Parties zu besuchen, tanzte er mit ihr, knutschte bisweilen ein bißchen, aber auf eine herablassende Weise, die sie damals schrecklich verletzte. Sonst fand sie keinen Fehler an Kjell. In ihren Augen war er vollkommen.

Nach der Grundschule half sie ihren Eltern ein Jahr lang im Laden. Ihre Mutter meinte, sie sollte das Abitur machen. Der Vater war unwillig, die Jungen ja, aber Lena, als Mädchen ... Doch in diesem Punkt gab die Mutter nicht nach, und irgendwie gelang es den Eltern, allen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. „Ausbildung“ – das bedeutete Abitur. Für den Rest mußten sie selber sorgen. Lena war die einzige aus ihrem Jahrgang, die aufs Gymnasium kam. Das war für sie ein Wendepunkt. Es war der erste Schritt, der sie vom Heimatort und den Jugendfreundschaften entfernte.

An einem strahlenden Augustmorgen 1955 steht Lena vor dem schwarzen Brett des Gymnasiums und sieht ihren Namen auf der Liste derer, die die Aufnahmeprüfung bestanden haben. Sie läßt sich von der Menge, die sich vor der Liste zusammendrängt, herumbschubsen. Die Gesichter flimmern vor ihren Augen. Sie hat es geschafft!

Auf dem Schulhof bilden sich nach und nach zwei Gruppen. Die Erfolgreichen in unbändiger Freude. Andere, die genauso viel investiert, aber verloren haben, versuchen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, manche spielen die Erhabenen, aber nach und nach verschwinden sie alle. Still, jeder für sich, gehen sie zu ihren Quartieren und packen für ihre bittere Heimreise. Lena fröstelt. Es hätte genauso gut sie treffen können. Nun begreift sie erst richtig, wie entscheidend dieser Tag ist. Noch einmal würde sie es nicht schaffen. Die Alternative wäre die Handelsschule ...

Für den Moment strömt so viel auf sie ein, daß sie sich nicht richtig freuen kann. Sie muß zurück auf ihr Zimmer, muß jetzt allein sein.

Die Arme unter dem Nacken verschränkt, liegt sie auf dem Bett und starrt die Decke an. Was ist das für ein Sommer gewesen! Sie war so glücklich, als ihr Vater damit einverstanden war, daß sie aufs Gymnasium ging. Sie hat gelernt und sich vorbereitet. Stein, ihr nächstältester Bruder, der in diesem Jahr Abitur macht, hat ihr geholfen, und nie ist ihr der Gedanke gekommen, sie könnte durchfallen. Deshalb war es ein Schock, herzukommen. Ein Schock, zur Prüfung zu erscheinen und zu wissen, daß danach nur wenige von ihnen dabeisein würden. Die Furcht hat ihr die ganze Zeit wie ein Stein im Magen gelegen. Die Furcht, die alle hinter unbekümmertem Gelächter und Albernheiten verborgen haben. Und dann dieser Tag, ihr Name bei denen, die bestanden hatten, die starren Gesichter der Durchgefallenen.

Nachmittags holt sie Stein und Kjell vom Bus ab. Die beiden sind eng befreundet, gehen in dieselbe Klasse und wohnen zusammen bei Kjells Tante im Souterrain. Lena begleitet sie, hilft mit dem Gepäck, und nun freut sie sich nur noch. Jetzt erst begreift sie, daß sie nun dazugehört. Lachend und scherzend hören die beiden Jungen ihren Wortschwall. Über diese Aufgabe und jene, und ob sie sich überhaupt vorstellen können, wie schrecklich alles war?

Mit hüpfendem Pferdeschwanz tanzt sie zwischen ihnen, ein großes, schmales Mädchen in ärmelloser Bluse und engen Jeans. Sie spürt, daß heute mehr als je zuvor in ihrem Leben ihr Tag ist.

Die erste ausgelassene Freude wich bald Ernst und Arbeit. Eine Sache war es, aufgenommen zu werden, eine andere, auch weiterzukommen. Die erste Klasse war eine buntgemischte Gruppe. Die Schüler kamen aus unterschiedlichen Verhältnissen, ihr Alter schwankte um zwei bis drei Jahre. Die Ältesten waren fast ausschließlich Jungen. Die meisten hatten nur die Grundschule besucht. Im Laufe eines Jahres sollten sie aufholen, was die anderen in zwei oder drei Jahren Realschule gelernt hatten. Nur ein paar Glückskinder hatten weitergehenden Unterricht erhalten.

Sie wußten, daß die anderen in der Klasse die Realschüler einholen mußten. Dieser Druck lastete die ganze Zeit auf ihnen, schuf aber auch eine besondere Gemeinschaft. Sie nahmen nichts als gegeben hin. Vom ersten Tag an herrschten Arbeit und Ernst.

Auch sonst gab es viele Gemeinsamkeiten. Alle hatten wenig Geld. Sie holten ihre Essenspakete, die mit dem Bus von zu Hause kamen, und sie drehten jede Krone um, die die Eltern ihnen schicken konnten.

Es war harte Plackerei. Spätabends saß sie manchmal weinend über ihren Büchern. Ein bißchen Englisch hatte sie schon vorher gelernt, alles andere war neu. Englisch, Deutsch, Mathematik, Grammatik – alles wurde zu einem unbegreiflichen Brei zusammengerührt. Manchmal kamen Stein und Kjell ihr zu Hilfe, doch sie zeigten dabei gereizte Ungeduld. Beide hatten in ihrem letzten Jahr mehr als genug zu tun, in den freien Stunden wollten sie von der Schule nichts hören. Selber hatten sie keine Angst davor, Lena um Hilfe zu bitten. Es fing ganz klein und harmlos mit einem Hemd an, das sie einfach nicht richtig sauber bekamen. Ob Lena vielleicht so lieb sein könnte? Sie war so lieb, und ehe sie es begriffen hatte, war daraus eine Gewohnheit geworden. Sie räkelten sich auf ihrem Sofa, und Lena stand am Waschbecken und scheuerte verdreckte Socken und eklige Fettränder in graugelben Nylonhemden. Zu protestieren fiel ihr nicht ein, auch wenn die Hausaufgaben darunter zu leiden hatten.

3

Die erste Zeit ist erfüllt von so viel Neuem, so vielem, das zum ersten Mal geschieht. Die erste Klassenarbeit, der erste Aufsatz und – das erste Schulfest.

Mit ein paar Klassenkameradinnen ist Lena den ganzen Samstagnachmittag mit Vorbereitungen beschäftigt. Haare legen, bügeln; herausgeputzt ziehen sie los.

Der Tanz hat schon angefangen. Lenas Hände werden vor Nervosität schweißnaß, als sie sieht, wie gut die anderen tanzen. Auf den Festen zu Hause hat sie sich auch zögernd am Swing versucht, aber das hier ist etwas ganz anderes. Eben hat sie sich noch so gut gefühlt, in weißer dünner Bluse, schwarzem Rock mit breitem Gummigürtel und roten Ballerinaschuhen. Jetzt kommt sie sich unbeholfen und verloren vor.

Als Kjell sie auffordert, würde sie sich am liebsten verstecken, traut sich aber nicht, ihre Unsicherheit zu zeigen. Dieser erste Abend ist so wichtig! Sie ist steif vor Konzentration.

„Ganz ruhig!“ sagt er und grinst, und nach und nach löst sie sich. Sie macht Fehler, falsche Drehungen, kümmert sich aber nicht darum, läßt sich von der Musik mitreißen. Routiniert führt er sie durch mehrere Tänze, und sie muß sich zusammenreißen, damit er nicht merkt, wie begeistert sie ist. In der letzten Zeit hat sie bemerkt, daß Kjell sie mit anderen Augen ansieht. Sie ist Gymnasiastin, nicht mehr die Kleine aus dem Laden zu Hause. Noch immer bewundert sie ihn, ist auch in ihn verliebt, hält sich aber sorgfältig an die Regeln. Wenn er anfängt, sich für sie zu interessieren – und sie spürt, daß er das tut – darf sie ihre Chancen nicht durch zu großen Eifer ruinieren. Auf ihre Weise kann sie an den Fäden ziehen, aber den Anstoß muß er geben.

Als ein langsamer Tanz gespielt wird, konzentriert sie sich ganz darauf. Eng tanzen, aber nicht zu eng, weich sein, aber nicht zu weich, über neutrale Themen reden.

„Quasselstrippe!“ sagt er.

„Bin ich das?“ lacht sie und sieht ihm in die Augen, und als er sie fester an sich drückt, als sie seine Wange an ihrer spürt, wird ihr ganz warm.

Sie weicht seinem Blick aus, als er sie an ihren Platz bringt, verbirgt ihre leuchtenden Augen, die sie verraten würden. Das hat sie gelernt, das können sie alle. Als er sich für den Tanz bedankt, fragt sie kurz: „Pflichttanz?“

„Nenn’s, wie du willst,“ antwortet er leichthin. „Muß ja aufpassen, daß sich das Lamm unter den Wölfen wohlfühlt.“

Danach lösen sich Lenas Spannungen. Ein Abiturient hat sie akzeptiert, und nun bemerken sie auch andere. Einer nach dem anderen fordert sie auf, und glücklich läßt sie sich mitreißen. Jetzt kann sie aufatmen, die Schande, den ganzen Abend Mauerblümchen spielen zu müssen, ist ihr erspart geblieben.

Wenn sie mit anderen tanzt, flirtet, spürt sie Kjells Augen und sie lacht übermütig. Das geschieht ihm recht! Er soll ja nicht glauben, sie käme angelaufen, sowie er mit den Fingern schnippt. Sie denkt daran, wie oft er ihr gegenüber überlegen und gleichgültig gewesen ist, als sie noch zu Hause war. Jetzt kann sie sich rächen, so tun, als sähe sie ihn nicht, doch ein Teil von ihr weiß die ganze Zeit, wo er sich gerade befindet.

„Lena, das ist hier nicht so wie zu Hause. Du solltest vielleicht ein bißchen vorsichtiger sein. Eine Neue kriegt hier leicht einen schlechten Ruf. Verstehst du, was ich meine?“ fragt Kjell, als er sie wieder auffordert.

Sie lächelt, aber sie versteht, was der Zorn in seinen Augen für sie bedeutet. Und für den Rest des Abends tanzen sie zusammen. Tanzen eng, tanzen weich, denn jetzt darf sie das. Er bringt sie nach Hause. Sie treffen sich am nächsten und am übernächsten Tag. Jetzt sind sie zusammen, endlich. Sie wird bald siebzehn und hat einen festen Freund.

4

Alles, was von außen kam, beeinflußte sie ungeheuer stark, Filme, Reklame, Mode, ein glattes Äußeres, den Idealen so nah wie möglich. Mädchen sollten sexy sein, trotzdem aber von reizender Unschuld, eine Mischung aus Marilyn Monroe und Doris Day. Jungen sollten stark sein, einen schmalen Hintern und breite Schultern haben. An Aussehen und Betragen wurden Forderungen gestellt. Auf der Tanzfläche wurde das Mädchen im Petticoat herumgeschleudert, wobei ihre Unterhose bis zur Taille zu sehen war; nervös konzentrierte sie sich auf ihre Beine, ihre Schenkel, ihren Po, ob alles gut genug war. Gleichzeitig sollte sie „anständig“ sein. Um mit einem netten Jungen gehen zu können, mußte sie einen fleckenlosen Ruf haben.

Heute, nach all den Jahren, kann Lena erkennen, wie brutal dieser Druck auf ihnen allen gelastet hat. Damals nahmen sie es als gegeben hin, waren in einem Muster gefangen, das ihnen nicht bewußt war. Und dazu hatten sie noch die Schule, die Höchstleistungen forderte.

Sex wurde in Filmen, Reklame und Illustrierten vermarktet. Sie sprachen darüber, aber meistens sehr oberflächlich. Niemand traute sich, Unsicherheit, Unwissenheit oder Angst preiszugeben.

In der Schule wurde von Mädchen und Jungen das gleiche verlangt. Draußen waren sie streng nach Geschlechtern getrennt und völlig unterschiedlichen Anforderungen unterworfen. Wenn ein Junge von einer zur anderen flatterte und lauthals mit seinen Eroberungen prahlte, wurde das akzeptiert und festigte seine Position. Wenn ein Mädchen dasselbe tat, fiel sie sofort unter die Kategorie Freiwild, und ihre Chancen, das attraktive Ziel „fester Freund“ zu erreichen, sanken beträchtlich. Sie sollte zwar rechts und links flirten, um ihre Attraktivität und Popularität unter Beweis zu stellen, aber sie sollte Grenzen ziehen können. Bei vielen Mädchen führte das zu einer zynischen Einstellung den Jungen gegenüber. Sie benutzten ihr Geschlecht als Waffe. Da sie immer wieder mit äußerlichen Maßstäben gemessen wurden, nahmen sie den Jungen gegenüber Kampfhaltung ein. Einen Jungen zum Kochen zu bringen, um ihn dann verschmähen zu können, wurde zum sichtbaren Sieg, und sie rächten sich damit unbewußt für ihre eigene verwundbare Lage. Sie kamen nie auf die Idee, daß ein Korb für einen Jungen, der sie zum Tanz aufforderte, eine ebenso große Demütigung war wie das Mauerblümchen-Dasein für ein Mädchen. Im Kampf um Status war das erlaubt. In einem Kampf, in dem die Jungen die Stärkeren waren, weil sie das Recht hatten zu wählen. Die mutigsten Mädchen konnten sich durch Körbe rächen. Wer einen Tanz nach dem anderen sitzen blieb, konnte sich das nicht leisten, egal wer der Junge auch sein mochte.

Sie wurden selbstbezogen und körperfixiert. Die Jungen redeten von Titten und Beinen und Schenkeln, und selbst die hübschesten Mädchen litten unter schweren Komplexen. Immer fanden sie etwas an sich, das nicht gut genug war.

Diese Haltungen nahmen sie mit sich ins Leben. Eine Scheinwelt aus ermüdenden Forderungen und falschen Idealen. Eine Glanzbildwelt, in der Unsicherheit hinter glatten und uniformierten Fassaden versteckt wurde.

Doch nicht nur dadurch wurden sie geformt, auch die Atmosphäre im Gymnasium war etwas Besonderes. Die meisten von ihnen wohnten möbliert. Viele kamen wie Lena aus kleinen Orten, in denen es für die Jugend nur die Wochenend-Feste in den nahegelegenen Lokalen gab. Nun waren sie in einer völlig anderen Welt gelandet. Sechzehnjährige mußten auf sich selber aufpassen, Verantwortung für Geld und Schule tragen. Wer von der Realschule kam, wohnte schon seit zwei Jahren möbliert. Das gab ihnen Freiheit, machte sie aber auch frühreif. In der Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung verloren sie den Kontakt zu alten Freunden und ihren Heimatorten. Die Konkurrenz der Samstagabende wurde zum immerwährenden Zustand.

Die möblierten Zimmer hatten ihre eigenen Gesetze. Jungen genossen größere Freiheit als Mädchen, die von eifrigen Wirtinnen überwacht wurden. Einige durften keinen Herrenbesuch empfangen. Andere Vermieterinnen waren weniger streng in ihren Vorschriften und setzten eine Frist. Keine Jungen nach neun, zehn oder elf, je nach Dehnbarkeit der Toleranz. Ein Verstoß gegen diese Regeln bedeutete bestenfalls, daß Schule und Eltern informiert wurden. Schlimmstenfalls bedeutete es Kündigung des Zimmers – und in Fällen, die als extrem galten, den Verweis von der Schule. Das kam zu Lenas Schulzeit vor, passierte aber nur Mädchen. Sie kann sich an keinen einzigen Jungen erinnern, der von der Schule geworfen wurde. Jungen, die von der Schule abgingen, waren sitzengeblieben oder hatten die Lust verloren.

Ein Mädchen mit einem solchen Schicksal war erledigt. Die anderen Mädchen sprachen darüber, waren im tiefsten Innern empört, hatten Mitleid mit ihr, wagten aber nicht, es zu zeigen. Sie stimmten in das verdammende Geheul ein, voller Angst, in dieselbe Kategorie eingeordnet zu werden, unter die diese Mädchen unweigerlich fielen. Sie sahen die Ungerechtigkeit, nahmen sie aber hin als einen Teil der Ordnung, der sie sich fügen mußten.

Wenn jemand Lena damals gefragt hätte, ob sie glücklich sei, hätte sie ihn erstaunt angeblickt. Sollte sie denn nicht glücklich sein? Sie ging mit einem der attraktivsten Jungen der Schule. Außerdem machte er Abitur und hatte Erfolg. Das verlieh ihr Status, erleichterte die Zeit der Anpassung. Sie brauchte nur ins Zimmer gegenüber zu gehen, um den Beweis zu erhalten. Dort wohnte Synnøve. Sie kam von der Realschule, war eine Klasse über Lena und erschreckte sie zu Tode, als sie sie zum ersten Mal sah. Sie war umwerfend: schlank, attraktiv, selbstsicher, nonchalant. Lena fühlte, wie sie schrumpfte und unter Synnøves trägen, abschätzenden Augen, die sie mit einem einzigen überlegenen Blick maßen, zu nichts wurde.

Sie kann es noch heute deutlich vor sich sehen. Synnøve stellte alles dar, was sie selber gerne gewesen wäre. Ihr honiggelbes Haar fiel in einer dicken Innenrolle auf ihre Schultern. Das glatte, hübsche Gesicht war goldbraun und perfekt geschminkt. Schwacher grüner Lidschatten vermittelte die Illusion eines grünlichen Schimmers in den blauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern.

In der ersten Zeit behandelte Synnøve Lena mit herablassender Überlegenheit, änderte ihr Verhalten aber, als sie Lenas Beziehung zu Kjell begriff. Nun akzeptierte sie Lena als Freundin. Lena erinnert sich noch an ihre Angst, als Synnøve und Kjell sich kennenlernten. Synnøve glitzerte. Sah ihn mit ihrem typischen von-unten-nach-oben-trägen Blick an. Jetzt merkte sie, wie gut er eigentlich aussah. Die dunklen, vorne gelockten Haare waren mit Frisiercreme zur genau richtigen halblangen Tolle nach hinten gebürstet, sogar im Winter war er braun. Synnøves blonder Kopf sah neben seinem dunklen so schön und richtig aus.

Lena weiß noch gut, welches Bild sie damals von sich hatte. Natürlich war sie nicht zufrieden, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sie war keine Schönheit, aber in ehrlichen Momenten konnte sie sehen, daß sie ein normal hübsches Mädchen war. Ihre hellbraunen Haare fand sie langweilig, aber sie waren dicht und glänzten. Meistens trug sie sie als Pferdeschwanz, an den Wochenenden offen, wenn sie sich durch eine Nacht mit Lockenwicklern gequält hatte. Der Pony fiel schwer über ihre ruhigen, grauen Augen. Kjell sagte, die Augen seien das Schönste an ihr. Er neckte sie oft mit ihrer Stupsnase, und sie fand ihre Wangen zu kindlich rund. Sie war groß, langbeinig und dünn. Trotzdem hatte sie schreckliche Angst davor, zuzunehmen. Ihre Brüste waren zu klein, ein Mangel, der durch Büstenhalter mit Einlage getarnt wurde. Normal, fand sie meistens, aber neben Synnøve kam sie sich wie eine graue Maus vor.

Kjell durfte sie auf ihrem Zimmer besuchen, nur abends traute sie sich nicht, ihn hereinzulassen, wenn Stein nicht dabei war. Wenn die beiden zusammen kamen, schaute Synnøve immer herein. Kjell flirtete mit ihr, und in Lena brannte die Eifersucht. Es gehörte zum Spiel zwischen ihnen, es mußte so sein. Sei-dir-meiner-ja-nicht-zu-sicher hieß das Spiel. Sie wußte, daß er sie damit nur necken wollte. Trotzdem war sie vor Eifersucht außer sich. Bei der ersten Gelegenheit nahm sie Rache. Flirtete auf dem Schulhof, tanzte auf Festen lange eng mit anderen. Dann gab es Streit und Reue und stürmische Versöhnung. Manchmal wünschte sie, sie fände den Mut, ihm zu sagen, daß sie unsicher war, daß sie Angst hatte, ihn zu verlieren, daß ihr niemand anders etwas bedeutete. Aber sie wagte es nicht, wagte nicht, ihre Schwäche zu zeigen.

Daran erinnert sie sich am besten, an die Unsicherheit, die Angst vor dem Versagen. Sie lernten nie, in solchen Fällen offen miteinander zu sein. Lernten es auch später nie.

Lena erkannte bald, daß Synnøve Macht über sie hatte. Sie wußte auch, daß Synnøve sie benutzte. Sie als Hintergrund für sich selber benutzte, als Einstieg in die Gruppe um Kjell und Stein. In die attraktive Gruppe von Abiturienten. Trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt, weil Synnøve sie zur Freundin haben wollte, geschmeichelt und ängstlich zur selben Zeit.

Eines Abends sitzen sie zusammengerollt auf dem Sofa.

„Starke Typen, die da“, sagt Synnøve und zeigt mit ihrer Zigarette auf die ganzseitigen Illustriertenbilder, Tony Curtis, Rock Hudson, Gregory Peck, Howard Keel. – „Aber alle irgendwie gleich. Alle dieselben Mistkerle.“

„Das meinst du noch nicht“, lacht Lena.

„Doch, weißt du, das mein’ ich. Eigentlich.“

„Einige sind doch in Ordnung, findest du nicht?“

„Dann zeig’ mir doch mal so einen! Ja, dein Kjell natürlich, ’tschuldigung, der ist natürlich nur prima, nicht wahr? Warst du übrigens schon mit ihm im Bett?“

„Nein, wie kannst du fragen. Natürlich nicht!“ sagt Lena und wird rot.

Synnøve lacht. „Du lügst, meine Kleine.“

„Nein, tu’ ich nicht! Ich bin keine von denen, die gleich am ersten Abend ins Bett hüpfen!“

„Wie süß! Ist das wirklich wahr? Ihr hängt doch schon ewig zusammen, oder nicht?“

„Keine Ewigkeit, bloß ein paar Wochen.“

„Junge, da kannst du dich ja noch auf was freuen!“ grinst Synnøve und bläst Rauchringe in die Luft. „Und sie gab sich ihm hin, und ihr Glück war vollkommen. Sie schwebte im Raum auf einer Wolke aus hingerissenem Glück und Ekstase“, deklamierte sie.

Lena kichert. „Blöde Kuh!“

„Wart’ du nur! Bald naht der Tag, wo Klein-Lena ihre Tugend verliert!“

„Die kann man wohl nur einmal verlieren“, kichert Lena.

Dann beißt sie sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen dürfen. Synnøve reißt die Augen auf. „Ist das wahr? Erzähl!“

Lena will ausweichen, aber Synnøve läßt nicht locker. „Erzähl, erzähl!“

„Ach, es war nur blöd. Ich hatte mir eingebildet, ich wäre in den Typen verknallt. Alle anderen waren hinter ihm her, weißt du. Zwei-, dreiundzwanzig, sah unheimlich toll aus. Im Frühling waren wir ein paar Wochen zusammen.“

„Und Kjell?“

„Kjell hat mich da nicht mal angesehen. Und er war ja auch fast nie zu Hause, er war ja hier, nicht wahr?“

„Und dann hat das erwachsene Schwein dich bedrängt, und du hast mit ihm geschlafen, was?“

„Ja. Das war schrecklich. Das war nur schrecklich!“

„Und nachher ist er natürlich mit seinem Erfolg bei dir hausieren gegangen. Und ei der Daus und Lena ist ’raus.“

„Du bist gemein“, sagt Lena matt. „Das war so. Das hat er gemacht.“

„Ach, Himmel, gibt’s wohl etwas noch Bescheuerteres als Mädchen und etwas Schlimmeres als aufgeblasene, eingebildete Mannsbilder?“ seufzt Synnøve. „Und wie willst du das deinem lieben, netten Kjellchen erzählen?“ fügt sie mit schrecklichem Grinsen hinzu.

„Das geht den doch nix an. Da war ich noch nicht mit ihm zusammen.“

„Bildest du dir das ein?“

„Und die, mit denen er geschlafen hat?“

„Das ist was anderes. Das ist was ganz anderes.“ Synnøve streckt sich. „Wart’ du nur, meine Kleine.“

„Aber das ist doch nicht gerecht!“

„Meinst du, der schert sich um Gerechtigkeit? Du bist eine dumme Göre, Lena.“

„Bist du Jungfrau?“ fährt Lena dazwischen.

Synnøve kneift die Augenbrauen zusammen. „Das wüßtest du wohl gern, was?“

„Ich hab’s dir erzählt. Fairer Tausch.“

„Bin ich natürlich nicht.“

„Und was hältst du davon?“

„Das will ich dir sagen, Mädchen“, sagt Synnøve hart und drückt mit wütenden Händen die Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich kann’s nicht vertragen. Bring’ es nicht. Es ist bloß ekelhaft und scheußlich und – ach, es ist nichts!“

„Aber warum tust du’s dann?“

„Weil’s dazu gehört.“ Synnøve schneidet eine Grimasse.

Sie streckt ein langes Bein aus. Wackelt mit dem nackten Fuß unter der engen Hose. Spreizt braune Zehen mit rosa Nagellack, streckt den Fußrücken, betrachtet ihr Bein, lacht leise. „Aber alles vorher finde ich verdammt toll!“

„Vorher? Wieso denn?“

„Daß er mich mag, verstehst du. Daß er meinen Körper toll findet, daß er mich gut findet. Sehen, wie blöd er sein kann. Bist du jetzt schockiert, oder was?“ lacht Synnøve und springt auf, streckt die Arme zur Dekke. Lena betrachtet den schönen Körper in hautenger, schwarzer Hose und weißem, engem Rollkragenpullover voller Mißgunst. Sie könnte die Einlagen auch aus dem BH nehmen. Synnøve braucht keine.

„Okay, Lena. Keine Panik. Mit Kjell, meine ich. Aber er soll sich vorher ein bißchen anstrengen. Das ist ein guter Rat. Ich weiß, wovon ich rede!“

„Blöde Kuh“, lacht Lena matt.

Aber das Gespräch mit Synnøve hat sie verstört.

5

Im dunklen Kinosaal scheinen sie und Kjell ganz allein zu sein. Sie spürt den rauhen Stoff seiner Tweedjacke an ihrer Wange, als er den Arm um ihre Schultern legt. Spürt, wie seine Finger auf der bloßen Haut zwischen Pullover und Jeans spielen. Manchmal küßt er sie vorsichtig auf die Wange, zupft sie am Ohrläppchen, und wie immer läuft bei seinen Berührungen ein Schauer durch ihren Körper. Die Stimmung im Saal, die Musik, das Geschehen auf der Leinwand, alles verstärkt diese Gefühle, ihre Gefühle für ihn. Sie ist hilflos verliebt, steckt voller Empfindungen, mit denen sie nicht umgehen kann.

Sie sehen den Film über Glenn Miller, und um sie herum kocht der Saal. Der Film wird schon den dritten Abend gegeben, und die meisten sehen ihn auch zum dritten Mal. Sie kommen, um die Musik zu erleben: In the mood, String of pearls, Gene Krupa am Schlagzeug, Louis Amstrong mit Basin Street Blues, und sie weinen in der Schlußszene zusammen mit June Allyson, die Glenn Millers Frau spielt.

Engumschlungen verlassen sie das Kino, sie und Kjell, wortlos, einfach nur zusammen. Ab und zu bleiben sie stehen, küssen sich, stehen still, ganz nah. Sie spürt seinen schnellen Atem an ihrem Gesicht. Und engumschlungen gehen sie weiter. Die Klänge von Moonlight Serenade brausen durch ihren Kopf, nein, nicht im Kopf, überall in ihr, in den Nerven, unter der Haut; der Haut, die von Kjells Händen so warm ist.

Leise schließen sie Kjells Tür auf. Umarmen sich noch im Mantel, küssen sich. Vorsichtig hilft er ihr aus der Jacke, dann lächelt er schnell, sucht im Plattenstapel, und Moonlight Serenade erklingt im Zimmer, in ihr, bis zu den Fingerspitzen.

Engumschlungen liegen sie auf dem Sofa, sie sieht sein Gesicht über sich, sieht die dunklen Schatten, die über sein Gesicht jagen, ehe er das Licht löscht. Seine Hände suchen ihren Körper, ihre Hände wollen ihn abwehren.

„Nein, Kjell!“

„Doch, Lena, doch!“

Es ist schon oft so gewesen, aber trotzdem ist es heute anders. Alles ist an diesem Abend anders. Sie will, an diesem Abend will sie, und ihre Hände streicheln zaghaft seinen Körper, er hilft ihren Händen und sie finden sich zurecht, und als sie die weiche, weiche Haut berührt, wird ihr ganz warm und sie ist froh über das dunkle Zimmer.

„Kjell?“

„Ja, Lena, ich hab’ dich lieb, Himmel, du machst mich verrückt!“

Sie kämpfen mit den engen Kleidungsstücken, bis sie nackt daliegen und sie seinen harten Körper über ihrem spürt. Als er in sie hineinkommt, schluchzt sie und schließt ihre Arme hart um ihn.

„Lena, o Lena, du weißt ja nicht ...“, aber er verläßt sie wieder.

„Kjell, was ist los?“ fragt sie ängstlich.

Er fummelt auf seinem Nachttisch herum. „Wir müssen vorsichtig sein.“

Sie läßt sich zurücksinken, ihr wird kalt, ach Gott, ihr Körper wird kalt und gefühllos, während Kjell weiterfummelt, und sie weiß, was es ist und wird verlegen, würde am liebsten weglaufen. Er wird etwas benutzen, natürlich wird er das, und darüber sollte sie froh sein, aber ihre zurückgehaltenen Tränen schmerzen. Und als er wieder zu ihr kommt, ist es kalt und schmerzhaft, aber es dauert nicht lange, zum Glück dauert es nicht lange. Sie umklammert seinen Rücken und will warm für ihn sein. „Ach Kjell, du weißt ja nicht, wie lieb ich dich habe!“

„Lena, du bist wunderbar, du bist wunderbar!“

Und sie blickt über seine Schulter, sieht im schwachen Schein der Straßenlaternen die Umrisse des Zimmers. Irgendwo an einem kalten Punkt in ihrem Hinterkopf steht eine andere Lena und beobachtet sie. Lena, was tust du?

Er sinkt über ihr zusammen und die Kälte kriecht über ihre Haut und erfüllt sie.

„Kjell, hast du mich lieb?“

„Himmel, Lena, daß du das fragen kannst! Ich liebe dich!“

Als er sie verlassen will, hält sie ihn fest, schluckt ihr Schluchzen hinunter, streichelt den lockigen Kopf, der auf ihrer Brust ruht. „Nein, Kjell, geh’ nicht, noch nicht, bitte.“

„Wart einen Moment“, sagt er. Und als er am Waschbecken steht, wagt sie nicht, hinzusehen, obwohl sie im Halbdunkel nur seinen Schatten sieht. Schnell wirft sie sich ihre Kleider über, sieht, daß er dasselbe tut.

Als er das Licht einschaltet, sticht es in ihren Augen und im ganzen Körper. Er zündet beiden eine Zigarette an, setzt sich aufs Sofa, fährt sich durch die Haare, sieht sie kurz an, lächelt. „War das schön für dich?“

Sie nickt, erwidert sein Lächeln, Meilen scheinen zwischen ihnen zu liegen.

Er blickt sie forschend an und sie schluckt, während ihr vor Angst kalt wird.

„Du, Lena, kann ich dich etwas fragen?“

„Ja, was denn?“ fragt sie mit dünner Stimme.

„Ach, eigentlich gar nichts. Du, morgen müssen wir in die Schule. Ich bring dich jetzt nach Hause.“

„Ja. Ja, das ist vielleicht das beste.“

Aber sie will nicht nach Hause. Will nicht. Er soll sie in den Arm nehmen, lange. Das will sie. Er soll sagen, daß er sie liebhat, soll nah, warm sein, aber sie wagt nicht, das zu sagen, wagt jetzt nicht, darum zu bitten.

„Kjell“, sagt sie, als sie schon ihre Jacke angezogen hat. „Machst du dir was aus mir – immer noch?“

Da zieht er sie hart an sich. „Ja, Lena, das tu’ ich. Du bist mein Mädchen, vergiß das nicht. Jetzt bist du nur noch mein Mädchen.“

„Ja, Kjell, das weißt du doch.“

„Das ist mein Ernst. Weißt du das, Lena?“

Zu Hause in ihrem Zimmer zieht sie sich schnell aus und krümmt sich unter der Decke zusammen. Tränen wallen in ihr auf. Kjell, o Himmel, Kjell. Er hat nichts gesagt, hat nichts dazu gesagt, daß er nicht der erste war. So ist Kjell. Er ist nicht wie andere, das hätte sie wissen sollen. Aber trotzdem – hier, allein unter der Decke, einsam, läßt sie Angst und Enttäuschung freien Lauf, denn es war nicht anders und so darf sie nicht denken. Es darf nicht so sein, nicht mit Kjell.

Vorher, als sie zusammen aus dem Kino kamen, schien alles so richtig zu sein. Es war so richtig. Aber danach war er so fremd und seltsam. Wieder erfüllt sie die kalte Angst. Die Angst, ihn zu verlieren, die Angst vor dem kommenden Tag. Wie wird es sein, ihm in der Schule zu begegnen?

Sie sieht ihn erst in der ersten Pause. Angespannt, mit einem zitternden kleinen Lächeln geht sie auf ihn zu, spürt, wie ihr Gesicht heiß und rot anläuft. Sie hat das Gefühl, allen zu verraten, was zwischen ihnen passiert ist, aber er ist wie immer. Mit derselben Selbstverständlichkeit wie früher legt er ihr den Arm um die Schultern, drückt sie an sich.

„Gut geschlafen?“

Sie schluckt. „Ja. Du auch?“

Und ansonsten ist alles wie vorher. Er sagt nichts, und die Erleichterung verjagt Enttäuschung und Angst. Es war schön. Es war trotzdem anders. Natürlich war es das. Sie ist einfach dumm, dumm und kindisch.


Die Beziehung zwischen ihnen bekommt einen anderen Rhythmus. Lena ist nicht mehr so hektisch wie früher, aber sie vermißt oft etwas. Hat das Gefühl, sie hätten etwas verloren, die Erwartung, die Spannung, sie weiß nicht was. Sie verändert sich. Manchmal hat sie das Gefühl, die Ältere von beiden zu sein, aber sie organisiert ihre Tage um Kjell. Er arbeitet zielbewußt, um sich für den Herbst einen Studienplatz zu sichern, möchte Medizin studieren. Seine Arbeit geht vor, er entscheidet, wann sie sich sehen, und sie denkt nicht darüber nach. Es ist eine Selbstverständlichkeit, über die nicht diskutiert wird.

Ihre Welt schrumpft. Sie entfernt sich von der Schule und von den anderen in ihrer Klasse. Sie verbringt die Pausen mit Kjell, sie essen zusammen und verbringen ihre Freizeit in ihrem oder in seinem Zimmer. Sie wird von ihm abhängig, von seiner Meinung über sie, und mehr denn je beschäftigt sie sich mit ihrem Körper. Hingeworfene Bemerkungen können sie schrecklich verletzen.

„Deine Beine sind zu gerade, weißt du das, Lena? Von vorne sind sie übrigens okay, und es macht ja auch nichts. Ich mag dich so, wie du bist.“

Sie ist nie auf die Idee gekommen, daß an ihren Beinen so viel auszusetzen sein könnte, und sie kann seine Kritik nicht einfach hinnehmen, ihr Gesicht wird flammend rot.

„Nein, wirklich, Lena, du bist schon komisch“, lacht er. „Du machst dir doch nichts draus?“

„Tu’ ich nicht. Das sind meine Beine.“

Danach darf er ihre Beine nicht anfassen. Wenn sie einen Rock trägt, ist sie sich ihrer Beine peinlich bewußt.

„Von vorne sind sie okay ...“

Beim nächstenmal können es ihre Brüste sein.

„Dein Busen ist zu klein, Lena, aber ich mag dich trotzdem.“

Solche Bemerkungen treffen sie zutiefst. Sie kommt sich mißgestaltet vor, bisweilen jagt ihr Körper ihr Abscheu ein. Sie spannt die Muskeln an, wenn er ihre Brüste berührt, streckt den Fußrücken und spannt die Wadenmuskeln, wenn er ihre Beine ansieht, spannt die Bauchmuskeln, hat Angst, ihr Bauch sei nicht fest genug, flach genug.

Er kann in einer Filmzeitschrift blättern und ihr das Bild eines Mittelklassevamps im Bikini zeigen. „Sieh dir die an, Lena! Sieh dir die Titten und die Beine an!“

Damit kann der Abend für sie schon verdorben sein. Er neckt sie, sie wird eifersüchtig. Es tut weh, es tut entsetzlich weh, aber das ist noch nicht alles. Tief in ihr braut sich eine brennende Wut zusammen. Ein übertriebener Zorn, der in keinem Verhältnis zu seinen Neckereien steht. Sie ist zornig über ihn und versucht dabei, sich gegen etwas in ihr selber zu wehren, für das sie keinen Namen hat. Sie reißt ihm die Zeitschrift aus den Händen.

„Wie schön. Wenn ich nicht gut genug bin, kann ich ja gehen!“ ruft sie.

Und er lacht. Er lacht schallend und zieht sie zu sich aufs Sofa. „Du bist fabelhaft, Lena. Souverän!“

„Laß mich los!“ faucht sie.

Und sie rollen herum, und er weiß nicht, daß ihr Widerstand in diesem Ringkampf echt ist. Es soll ein Spiel sein, und sie läßt es zum Spiel werden, ihr Zorn aber ist nach wie vor vorhanden. Dennoch kann sie sich nicht gegen die Hände wehren, die Wellen von Wärme durch sie senden. Danach spürt sie eine leere Sehnsucht.

„Du bist phantastisch, Lena, weißt du das?“

„Weißt du, daß du eine schiefe Nase hast, Kjell? Aber ich mag dich trotzdem. Du hast zu kurze Beine, aber das macht nichts, für mich bist du gut genug.“

Er würde sich ausschütten vor Lachen.

Sie rächt sich auf andere Art. Bleibt in den Pausen im Klassenzimmer, weicht ihm draußen aus. Albert mit anderen Jungen herum, wirft den Kopf in den Nacken, wenn er fragt, was er ihr getan hat.

„Du machst ja wohl nichts falsch, oder, Kjell?“

Sein verletztes, verständnisloses Gesicht gibt ihr das Gefühl bitterer Befriedigung, aber es schmerzt auch.

Sie ist angespannt, kann sich nie gehen lassen. Sie ist verliebter als er, abhängiger von ihm als früher. Aber sie fühlt sich nie sicher, und am schlimmsten ist die Angst, es könnte schiefgehen, die Angst vor der Schwangerschaft.

Nicht immer hat er ein Kondom.

„Ist es jetzt gefährlich, Lena?“

Was soll sie antworten? Wie soll sie das wissen? „Ich weiß nicht, Kjell.“

„Das mußt du doch wissen? Du weißt doch, wann deine sichere Periode ist?“

„Nein, Kjell. Woher soll ich das denn wissen?“

„Aber du kannst doch nicht so dumm sein!“

Sie fühlt sich elend und kindisch. „Ich glaub’, jetzt ist es nicht gefährlich.“

„Ich bin vorsichtig.“

Danach ist alles nur schrecklich. Verlegen und ängstlich wischt sie sich mit dem Zipfel ihrer Bettdecke seinen kalten Schleim vom Bauch. Sie weiß nichts, weiß nicht, ob es so sein muß. Sie denkt an Synnøves Worte. Daß es vorher am besten ist. Und sie denkt, daß das stimmt, wenn auch nicht so, wie Synnøve es gemeint hat. Nicht, weil sie Kjell gerne bis zum Wahnsinn reizen möchte. Nein, sie denkt an die Wärme. Die Wärme ist das Gute. Wenn sie spürt, daß er sie liebt, wenn er sie liebkost, streichelt, entzündet. So könnte sie die ganze Nacht verbringen. Dann öffnet sie sich, kommt ihm in ihren Zärtlichkeiten entgegen. Und es gibt diese Erwartung: diesmal wird alles anders sein. Dann kann es vorkommen, daß sie alles Störende verdrängen kann, die Angst, die Peinlichkeit, wenn er sich am Kondom zu schaffen macht. Sie konzentriert ihre Gefühle auf seinen Körper, das ist gut, weil er es gut hat. In solchen Momenten kann sie sich über seine Nähe freuen, zwei Menschen können einander nicht näher kommen.

Meistens bringt er sie nach Hause, wenn er aufwacht, aber es kommt auch vor, daß sie allein geht, weil sie es nicht übers Herz bringen kann, ihn aus dem warmen Bett und dem Schlaf zu reißen.

„Gehst du allein?“ murmelt er schläfrig.

„Ja. Schlaf du nur.“

„Und das macht dir sicher nichts aus?“

„Ganz sicher.“

Aber an solchen Abenden, wenn sie nach Hause läuft, frierend, mit geschwollenen, wunden Lippen vom Knutschen, das immer nur vorher stattfindet, mit pochendem Unterleib, draußen wund, weil seine Liebkosungen oft hart und gewaltsam sind, dann verspürt sie eine Einsamkeit, die sie nicht in Worte fassen kann.