Buchcover

Knud Mei­ster und Car­lo An­der­sen

Jan und die Leo­parde­nmen­schen

 

 

Saga

Erstes kapitel

Casablanca war in ein Lichtermeer getaucht; über dem großen Hafen lag Stille. Auf dem Achterdeck der ‹Flying Star› saßen Jan und seine Freunde gemütlich zusammen und genossen die frische Brise, die vom Atlantik herüberstrich. Sie war eine wahre Wohltat nach der drückenden Hitze des Tages, und Erling hatte natürlich dafür gesorgt, daß es nicht an Erfrischungen mangelte. Fein säuberlich hatte er alles auf einem kleinen Klapptisch aufgebaut.

Während sich alle munter unterhielten, saß Jan still da und überdachte, was er alles erlebt hatte, seit die ‹Flying Star› den Hafen von Hellerup verlassen hatte. Es hatte sich allerlei ereignet seit jenem Tag, da sie Abschied von den Eltern genommen und Dänemark für eine lange Zeit verlassen hatten.

Das große Abenteuer begann bereits in London, und das Ergebnis ihrer aufregenden Abenteuer in der englischen Hauptstadt war gewesen, daß sie Yan Loo in ihre Mitte aufgenommen hatten. Inzwischen war der kleine Chinesenjunge einer von ihnen geworden ... für den Jungen ein umwälzendes Ereignis, das sein ganzes Leben verändern sollte. Schließlich durfte man nicht vergessen, daß Yan Loo in London seinen Lebensunterhalt als Taschendieb verdienen mußte.

Und Jan dachte weiter an die aufregenden Erlebnisse, die sie mit der ‹Flying Star› hatten ... an den schrecklichen Orkan in der Biscaya ... die Meuterei auf dem norwegischen Schiff ... Marstals lebensgefährliche Operation ... das Wiedersehen mit Lissabon ... und zuletzt an die Ereignisse in Casablanca selbst. Es hätte Carl beinahe das Leben gekostet, als die französischen Fremdenlegionärea im Eingeborenenviertel mit den Arabern in ein Feuergefecht geraten waren. Wenn Jan jetzt an all das zurückdachte, dann erschien ihm alles nicht mehr so schlimm ... er konnte sich sogar darüber amüsieren, wie er und Jack im letzten Augenblick davor bewahrt worden waren, aufs Meer gebracht und den Haien als Fraß vorgeworfen zu werden. Ja, sie hatten, weiß Gott, allerlei erlebt, seit sie auf See waren!

Wenn ihre gute Laune trotzdem nie gelitten hatte, so lag das hauptsächlich daran, daß an Bord eine so prächtige Kameradschaft herrschte. Jan und seine Freunde waren natürlich schon immer gut miteinander ausgekommen – und sie hatten einige Abenteuer im Lauf der Zeit zusammen bestanden –, aber auch die beiden Seeleute waren prima Kameraden. Zwar lagen sich Peter Nielsen und Marstal ständig in den Haaren, weil sie sich nicht darauf einigen konnten, welche die bedeutendste Hafenstadt Dänemarks sei, aber im Grunde ihres Herzens waren sie die besten und unzertrennlichsten Freunde. Es war ein herrliches Gefühl, daß man ein Jahr lang mit wirklichen Freunden zusammensein durfte; denn schließlich war man nicht nur aufeinander angewiesen, man lebte ja auch sehr eng auf dem Schiff zusammen; Reibereien wären unerträglich gewesen. Schon am nächsten Morgen sollte die Reise nach Funchal auf Madeira weitergehen, dann nach Las Palmas auf den Kanarischen Inseln und schließlich ganz hinunter über den Äquator zum Kongo. In Boma sollte Ingenieur Smith mit den belgischen Kolonialbehörden wichtige Verhandlungen führen. Die Jungen hofften, während dieses Aufenthaltes viel zu sehen und zu erleben.

Peter Nielsen schlenderte zum Tisch und setzte sich zu ihnen. Beim Anblick des leckeren Essens schnalzte er mit der Zunge und fragte: «Kann man wohl eine Tasse Tee bekommen?»

«Eimerweise, wenn du willst», nickte Erling. «Wo bleibt denn Marstal?»

Peter grinste. «Ach der! Der sitzt doch tatsächlich auf der Brücke und kaut an seinen Nägeln. Er versucht nämlich gerade, einen Brief an seine Liebste in Marstal zu schreiben. Ein Kopf wie seiner bringt doch nie etwas Gescheites zustande. Und seine Rechtschreibung ist auch nicht die beste ... na ja, seine Liebste wird sich da schon auskennen ...»

Er nahm sich eine ordentliche Portion Kuchen und fuhr dann fort: «Nein, nein, diese Fischer aus Marstal, die werden nie was Richtiges. Als Seeleute taugen sie nicht, und buchstabieren können sie auch nicht. Marstal würde sich am besten zum Stationschef am Flughafen seiner Heimatstadt eignen ...»

«Aber Marstal hat doch gar keinen Flughafen?»

«Na eben, deswegen!» grinste Nielsen und schlürfte seinen Tee mit Genuß. «Er könnte natürlich ebensogut Hafenmeister in Hilleröd oder Herning werden ... die haben auch keinen Hafen dort. Aber in der Richtung müßte etwas aus ihm werden können.»

Die Jungen lachten über Peters Witze, die sie nur zu gut kannten. Er meinte es nie wirklich böse, aber er konnte einfach nicht anders, als seine Kameraden bei jeder Gelegenheit durch den Kakao zu ziehen. Mit der Zeit kam das Gespräch auf die bevorstehende Fahrt nach Madeira. Sie hatten ungefähr 900 Kilometer zu bewältigen, aber inzwischen waren die Jungen natürlich schon erfahrene Seeleute und konnten mit Seemeilen rechnen. Sie rechneten eine Seemeile = zwei Kilometer. Das stimmte zwar nicht haargenau, aber es war einfacher so.

Peter Nielsen hatte schon früher einmal seine Erlebnisse auf Madeira zum besten gegeben, wo er während des Krieges angeblich Winston Churchill getroffen hatte ... ja, Peters Erzählung von seinen Erlebnissen in der Kriegsmarine waren hinreißendes Seemannsgarn gewesen. Jetzt spann er die Geschichte noch ein wenig weiter. Seine Phantasie überstieg bei weitem die eines durchschnittlichen Erzählers, und gewiß gab es auf den sieben Weltmeeren keinen Seemann, der so großartige Lügengeschichten erfinden konnte.

Es wurde ziemlich spät, ehe die Gesellschaft aufbrach.

Die ersten Strahlen der Morgensonne hatten kaum das Dach des Ruderhauses der ‹Flying Star› erreicht, da machten sich Peter Nielsen und Marstal auf dem Schiff zu schaffen. Der Motor mußte warmlaufen, die Trossen eingeholt werden, und mit Peter Nielsen am Steuer fuhr das Schiff durch den Hafen, vorbei an dem langen Damm, und nahm dann Kurs in westlicher Richtung über den Atlantik. Die langen Dünungen rollten schräg gegen den Bug des Schiffes, das bald rhythmisch gegen die Wellen anzugehen begann. Dies war alltägliche Arbeit für die beiden Seeleute, und wenn alles ohne Zwischenfälle verlief, konnten sie am Abend des nächsten Tages den Hafen von Funchal anlaufen.

Marstal, der auf dem kleinen Klappstuhl im Ruderhaus saß, gähnte nachdrücklich und fragte: «Ob wir die sechs Schlafmützen nicht aus den Betten schmeißen sollten? Es ist gesund für sie, wenn sie früh auf die Beine kommen.»

Peter grinste. «So, meinst du? Du sitzt ja selber da und gähnst, daß deine Kiefer krachen. Aber vielleicht ist das auch ein Zeichen von Gesundheit! Warum hältst du nicht einfach die Klappe und genießt die schöne Aussicht?»

Marstal gähnte erneut. «Was gibt’s da schon zu sehen? Ich kenne doch jeden Kubikzentimeter Atlantik. Vergiß nicht, daß ich ein alter, erfahrener Seemann bin, der die sieben Weltmeere wie seine Westentasche kennt. Nee, lieber leg’ ich mich nochmal aufs Ohr.»

«Ha!» höhnte Peter. «Warum zum Kuckuck bist du nicht zu Hause in Marstal geblieben, wie es einem ehrlichen Hundeschwanzfischer zusteht? Damit hättest du deiner Heimat größere Ehre gemacht. Du weißt genau, daß es die Leute aus Marstal nie schaffen, anständige Seeleute zu werden.»

«Nein, wie werden Kapitäne ... damit sie den Leuten aus Svendborg beibringen können, wie man mit einem Schiff umgeht.»

Und damit war das harmlose Geplänkel wieder in vollem Gange.

In der Kajüte der Jungen wurde es allmählich laut. Es begann mit einem verschlafenen Grunzen aus den verschiedenen Kojen und dem Knacken und Ächzen der Spiralfedern. Nach und nach hörte man Gähnen in allen Tonlagen und schließlich die noch nicht ganz wache Stimme von Jan: «Hallo, Dicker ... sollten wir nicht bald Frühstück bekommen?»

«Frühstück?» wiederholte Erling und schnüffelte vor sich hin. Dann drehte er sich zur Seite. «Ich habe keinen Hunger ...»

«Aber wir! Steh auf, du Murmeltier!»

«Laß mir meine wohlverdiente Nachtruhe!»

«Es ist hellichter Tag ...»

«Dann laß mir eben meine Tagruhe!»

«Wir werden dir!»

Jan sprang auf den Boden und zog mit einem Ruck Erling die Bettdecke weg. Inzwischen hatten sich auch die anderen Jungen den Schlaf aus den Augen gerieben. Erling setzte sich auf und gähnte herzzerreißend. «Jan Helmer, du bist ein Ungeheuer, ein widerliches, gemeines Ungeheuer. Deine Unmenschlichkeit hat schon immer große Triumphe gefeiert. Daß du uns um diese Tageszeit wecken kannst, das beweist, was für ein gräßliches Ungeheuer ... aber ... hm ... mir scheint, wir sind schon auf großer Fahrt.»

«Schon seit mindestens einer Stunde», lachte Jan und warf einen Blick durch das Bullauge. «Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch einen letzten Blick auf Afrika werfen wollen. Nun steht schon auf!»

Und dann ging alles ganz schnell. Barfuß rannten die Jungen über die Planken, sie planschten im Wasser und bürsteten die Zähne so energisch, daß die Zahnpasta in alle Richtungen spritzte. Eine halbe Stunde später waren sie alle um den Frühstückstisch versammelt. Peter Nielsen fehlte als einziger in der großen Kajüte, denn er hatte Wache. Mit riesigem Appetit sprachen sie Erlings und Jespers Kochkünsten zu. Als der Hunger gestillt war, kam die Rede auf Madeira, und Ingenieur Smith übernahm das Wort.

«Während eines furchtbaren Sturmes im Jahre 1419 verschlug es zwei Portugiesen auf eine kleine, unbewohnte Insel im Atlantik. Dankbar für ihre wunderbare Rettung nannten sie die Insel Porto Santo, was so viel wie heiliger Hafen bedeutet, und im darauffolgenden Jahr nahm Portugal nicht nur diese, sondern auch die umliegenden Inseln in Besitz. Die größte nannten sie Madeira und glaubten, daß sie ein Teil des sagenumwobenen Atlantis gewesen sei, das vor vielen tausend Jahren im Meer versunken sein soll ...»

Smith nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort: «In früherer Zeit war Madeira ganz mit Wäldern bedeckt, heute sieht man davon nur noch im Süden einige Reste. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs und vor allem im Norden noch sehr wild und unerschlossen. Das Klima ist außergewöhnlich mild, ausgeglichen und sehr gesund. Ich glaube, die Durchschnittstemperatur liegt bei etwa zwanzig Grad Celsius. Darum gibt es auf der Insel auch jährlich Tausende von Touristen und Kurgästen.»

«Und die Einwohner leben ausschließlich vom Tourismus?» wollte Jesper wissen.

«Nein, das nicht. Sie bauen auch Wein, Bananen, Ananas, Orangen, Zuckerrohr und echte Kastanien an. Der Madeirawein ist so weltberühmt geworden, daß andere Länder unzählige Nachahmungen herstellen. Die beste Weinsorte ist der Malvasier. Er braucht sechs Jahre, bis er die richtige Reife hat. Früher kam dieser vornehme Wein gar nicht in den Handel, sondern wurde direkt an den portugiesischen Hof geliefert.»

«Wie sind die Einwohner?»

«Die Inseln werden hauptsächlich von Portugiesen bewohnt, aber es gibt auch noch einige Neger und Mauren. Man kann wohl sagen, daß die Bevölkerung im großen und ganzen arm ist, aber sie ist auch genügsam und rechtschaffen. – Und dann müßt ihr noch wissen, daß der Name Madeira aus dem lateinischen Wort ‹materia› entstanden ist. Das bedeutet Holz, was ja ganz natürlich ist, nachdem die Insel früher mit Wäldern bedeckt war. Jetzt gibt es dort auch Palmen. Die hat es früher nicht gegeben, sie sind also wohl erst später eingeführt worden. Aber die Touristen schwärmen für den Anblick der im Wind schwankenden Palmen. Er vermittelt ihnen die Illusion, sie seien in einem fernen, exotischen Land.»

Die Jungen hatten dem Ingenieur interessiert zugehört. Funchal schien also nicht übermäßig interessant zu sein und kaum größere Abenteuer zu bieten haben. Nun ja, die konnte man ja auch in einer Stadt von fünfzig- bis sechzigtausend Einwohnern nicht erwarten ... jedenfalls nichts in Richtung Casablanca, keine finsteren Viertel, in denen Eingeborene Carl entführen oder gar andere Besatzungsmitglieder in finstere Häuser sperren konnten.

Gegen Abend des zweiten Tages näherte sich die ‹Flying Star› dem Hafen von Funchal. Die Jungen hingen neugierig über die Reling, um die Einfahrt nicht zu verpassen. Sie sahen die Kronen hoher Palmen aus dem Grün der Küste emporragen und inmitten dieser üppigen Vegetation die Stadt liegen wie eine weiße Insel. Zahlreiche Villen waren auf den Abhängen verstreut, aber das Gesamtbild dominierten die großen Hotels. Sie verrieten, daß man das Leben auf Madeira am besten als wohlhabender Tourist genießen kann. Alles deutete darauf hin, daß man einigen Tagen friedlicher Idylle entgegensehen durfte, ganz ohne erregende Spannung oder aufregende Begebenheiten. Und doch sollte Jan mehr erleben, als er sich wünschte. Wie die anderen bekam auch er Post von zu Hause. Die Briefe wurden ihnen an Bord gebracht, und mit eifrigen Fingern riß Jan den Umschlag auf. Er hatte kaum die Hälfte gelesen, da begannen ihm die Buchstaben vor den Augen zu tanzen, und es dauerte eine Weile, bis er ganz begriffen hatte, was ihm sein Vater schrieb. Auf den ersten Seiten war nur von erfreulichen Neuigkeiten die Rede, aber dann las er weiter:

‹Ja, mein lieber Junge, nun habe ich Dir alles Erfreuliche berichtet, und ich kann mich nur schwer dazu entschließen, Dir auch das Traurige zu schreiben. Mutter und ich sind der Meinung, daß es besser ist, wenn wir es Dir gleich mitteilen: Unser guter, treuer Boy ist nicht mehr. Nach Deiner Abreise hat er sehr getrauert und wollte kaum essen. Dann wurde er ernsthaft krank, aber der Tierarzt sagte, daß diese Krankheit nichts mit seiner Trauer und Appetitlosigkeit zu tun hatte. Er starb nach zwei Tagen, das hat ihm viele Schmerzen und langes Leiden erspart. Es ist sehr traurig, mein Junge, Dir dies berichten zu müssen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß Boy inzwischen schon ein recht alter Hund geworden war, jedenfalls wenn man sein Alter am besten Alter eines Polizeihundes mißt. Und vielleicht freut es Dich, zu hören, daß wir Boys Sohn weiterhin mit Sorgfalt ausbilden. Wir haben ihn auch Boy genannt, und er zeigt sehr gute Eigenschaften. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, so glaube ich doch, daß er seinem berühmten Vater in mancherlei Hinsicht sogar überlegen sein wird. Ja, nun habe ich also alles gesagt und hoffe, daß Du es ebenso ruhig und vernünftig aufnehmen wirst, wie wir anderen hier zu Hause es getan haben.

Und dann noch etwas. Falls Du während Deiner Reise je in gefährliche Situationen geraten solltest, schreib darüber in Deinen Briefen nicht zu viel. Du weißt ja, wie nervös und ängstlich Mutter ist. Eine kleine Brise wird bei ihr gleich zum ausgewachsenen Taifun – Du weißt schon, wie ich das meine. Liebe Grüße! Vater.›

Jan ließ den Brief auf seine Knie sinken und starrte vor sich hin ins Leere. Es fiel ihm schwer, die traurige Nachricht zu fassen. In all den Jahren hatte er gewiß viele gute und treue Freunde gehabt, aber der treueste war sicher Boy gewesen. Das kluge Tier war ihm so oft ein Helfer in der Not gewesen, und in friedlicheren Zeiten hatte es ihm zu Füßen gelegen, während er seine Hausaufgaben machte oder Briefe schrieb. Alles war ihm leichter gefallen, wenn er ab und zu in die klugen braunen Augen des Hundes schauen konnte. Zurückblickend sah er seinen Boy vor sich, wie er erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte, als wolle er fragen: «Können wir wohl jetzt einen kleinen Spaziergang machen?» oder «Kann ich dir bei irgend etwas helfen, Jan?» – Und jetzt gab es ihn nicht mehr. Boy war tot. Natürlich, alle Lebewesen auf dieser Erde mußten einmal sterben. Gewiß. Aber wie schwer war es, das zu fassen.

«Stimmt was nicht, Jan?» fragte Erling leise.

Jan nickte und spürte, wie seine Augen brannten. «Boy ist tot.»

Erling saß eine Weile ganz stumm da. Dann gab er dem Freund einen leichten Schlag auf die Schulter und sagte ruhig: «Das tut mir sehr leid, Jan. Ich glaube, du willst jetzt ein wenig allein sein. Geh hinaus auf Deck, und wenn du ein bißchen heulen mußt, dann tu es. Tränen sind eine gute Medizin, die beste, die es gibt.»

«Ja», murmelte Jan.

Dann stand er auf und ging an Deck.