Buchcover

Han­na Lüt­zen


Das Buch der Wun­der


 

Aus dem Dä­nis­chen
von Chris­tel Hil­de­brandt

 

Lindhardt & Ringhof

Prolog

Wir schreiben das Jahr 1178, der Mönch Herbert aus dem Stammhaus der Zisterzienser, dem Kloster in Clairvaux, beginnt sein Liber Miraculorum, das Buch der Wunder, zu schreiben. Der ehrwürdige Erzbischof von Lund, Eskil, der seinen Lebensabend in Clairvaux verbringt, trägt einen Teil zu Herberts Werk bei. Eskil, der angesehene Gründer zisterziensischer Häuser in Skandinavien, kann von vielen sonderbaren Geschehnissen in seinen Klöstern berichten. Vor allem die dänischen Häuser, Tvis, Køgum, Holme, Vitskøl, Øm, Sorø und nicht zuletzt Esrom, die erste dänische Zisterziensergründung, erwachen vor Herberts innerem Blick zu neuem Leben. Herberts Feder und Eskils Erinnerung schaffen gemeinsam die phantastischsten Beschreibungen dessen, was die Clairvauxmönche auf ihren Posten in den rauen, leeren und fremden Gegenden sahen, in denen die Menschen erst vor einem Jahrhundert davon abließen, den schrecklichen Abgott Svantevit anzubeten.

Eskil ist zu seinen erschütterndsten und furchterregendsten Erinnerungen vorgedrungen. Jetzt will er Herbert vom Kloster Esrom berichten. Sein ›eigenes‹ Kloster, das 1151 auf dem Boden errichtet wurde, den der dänische König Erik Lam durch königliches Privileg an Eskil übertragen ließ. Hierher reisten die Clairvauxmönche, um zu Eskils Männern zu stoßen und an dem Wiederaufbau eines verfallenen Benediktinerklosters mitzuwirken, welches etwas abseits von den Siedlungen und von befahrbaren Wegen lag. Die französischen Mönche wanderten durch Europa gen Norden und spürten, wie das Klima herber und die Menschen rauer wurden, je weiter die Reise sie führte. Sie erschauerten und dachten voller Sehnsucht an ihr Stammhaus in Clairvaux und baten Gott flehentlich um Kraft, damit sie ihre Arbeit bei diesem primitiven, schmutzigen Menschenschlag verrichten konnten, dessen Stimmen wie das Belfern wilder Tiere klang. Aber Eskil nahm die missmutigen Brüder freudig auf und nach kurzer Zeit stand ein fertiges Haus da mit frischen Rodungen für den Kräutergarten sowie Gräben, die bald zu einem neuen Brunnen und Bewässerungssystemen werden sollten. Die Lage im nördlichen Teil der Insel Seeland ermöglichte es Eskil, dem Ort weiter gewogen zu sein. Die Entfernung von Lund nach Esrom war unbedeutend und so konnte der Erzbischof sich jederzeit über den Stand seiner Stiftung unterrichten lassen. Häufig kam er den Zisterziensern zu Hilfe, wenn sich Probleme auftaten. Der Orden der Zisterzienser stand für Eskil an erster Stelle und jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, nahm er sich die Zeit, die Annalen des Klosters durchzulesen.

Illustration

An einem winterdunklen, bitterkalten Dezemberabend sitzen Herbert und Eskil in Herberts Arbeitsraum beisammen. Die kleine Zelle ist ins Dunkel getaucht, nur der milde Schein der Öllampen bildet einen beschützenden Kreis um die beiden alten, weiß gekleideten Brüder am Holzpult. Jetzt will Eskil mit seiner Erzählung vom Wunder im Kloster Esrom beginnen. Es ist eine Geschichte über die Taten des Teufels wie auch über das Wunder, das sich durch Fleiß, Tüchtigkeit und den Glauben der Menschen vollbringen lässt. Die Geschichte von Christa.

1. Ankunft

An einem grauen, regenschweren Frühlingstag im Jahre 1154 ist eine weiß gekleidete Gestalt in der zartgrünen Landschaft ums Kloster Esrom zu erkennen. Die Mönche entdecken sie unten im Tal, noch weit vom Haus entfernt. Sie schreitet schnell aus, obwohl sie offensichtlich einige Bündel zu tragen hat. Es ist ein Bruder ihres Ordens. Nur die Zisterzienser tragen ungefärbte Kleidung und sind deshalb auch auf große Entfernung gut zu erkennen. Die Brüder lächeln sich zu; das kann niemand anders als Bruder Franz von Cîteaux sein, der neue Heilkundige, der die Planung und Aufsicht über den Kräutergarten wie auch den Aufbau der zukünftigen Apotheke des Klosters übernehmen soll. Seine Ankunft wurde voller Spannung seit mehr als einem Monat erwartet. Inzwischen ist es fast zu spät für die Aussaat vieler Kräuter, aber Franz’ Ankunft weckt dennoch Optimismus und Freude unter den Pionierbrüdern, die wie die Pferde geackert haben, um einen Rahmen für ihr neues Leben unter den Fremden zu schaffen. Nach diesem ersten Jahr ist es ihnen geglückt, ein Haus zu bauen, dessen sie sich sowohl Gott als auch den Menschen gegenüber nicht zu schämen brauchen. Hier können sie ihre Arbeiten Gott zur Ehre und den Armen, Kranken und Notleidenden zum Nutzen verrichten.

Der Abt William, das kraftvolle Oberhaupt des Klosters, tritt hinaus, um den Neuen am Tor zu empfangen. Er ist ein großer, breitschultriger Mann, dessen stahlgraue Tonsur als Einziges auf sein fortgeschrittenes Alter hinweist. Sein Adlerprofil, die schmalen Lippen und die durchdringenden blauen Augen verleihen ihm einen harten, unerbittlichen Ausdruck, was ihm bereits in vielen Situationen von Nutzen gewesen ist. Aber Abt William wäre in dem Orden nicht weit gekommen, wenn er nicht außerdem die große Beweglichkeit und das Mitgefühl besessen hätte, die das geistige Leben und die Lehre der Zisterzienser auszeichnen.

Eine Gruppe von Mönchen folgt ihrem Abt und stellt sich hinter ihm unter dem Torbogen auf. Der junge Bruder Erland, dessen Geschick bei Ingenieursarbeiten ihn zum Leiter der Konstruktion der Wasserversorgung gemacht hat, steht trippelnd da und späht mit gerunzelter Stirn hinaus. Nach einer Weile, Franz ist nunmehr nicht mehr weit, stößt er seinen Bruder Martin aus Metz an, der Schwierigkeiten hat, die Tusche von seinen Händen zu wischen. Martin ist der geschickte Illuminator und Buchbinder des Klosters, dessen Talent sich nicht so oft entfalten darf, wie er es selbst gerne hätte, denn die praktischen Arbeiten kosten die bis jetzt noch wenigen Mönche immer noch viel Zeit. Aber heute ist es ihm gelungen, ein paar Stunden in der Schreibstube gut zu nutzen. Bruder Erlands Fingerzeig lässt ihn aufblicken.

»Sieh nur, er trägt etwas, es sieht aus wie ein Wickelkind . . .« Bruder Martin blinzelt mit den Augen, die sich nach der Schreibarbeit noch nicht an das helle Licht draußen und auch nicht daran gewöhnt haben, bis zum Horizont hinauszublicken. Er fragt Bruder Severin, den Schlachtermeister und Chorleiter, ob er das Gleiche sehe wie Erland. »Doch, ja, das, was Franz so vorsichtig im Arm trägt, sieht aus wie ein lebendiges Wesen.«

Jetzt sind sich alle sicher, es zu erkennen. Abt William runzelt die Stirn. Er wünscht keine unvorhergesehenen Probleme. Wenn das ein Säugling ist, wie sollen sie sich dann um ihn kümmern? Das Kloster ist noch nicht einmal vollkommen ausgebaut. Die Zähigkeit der Mönche hat sie den Winter überstehen lassen, aber das Wetter ist immer noch feucht und rau. Sie alle spüren, wie die Kälte in ihnen hochkriecht, des Nachts und während der Messe, wenn sie in Gebet und Lobgesahg vertieft dasitzen. Wie soll ein Kind das überstehen! William sieht ebenso deutlich wie seine Brüder, dass Franz wirklich mit einem Säugling zu ihnen kommt.

Das kann nur Probleme bringen! Es gibt keine Frauen im Kloster und von keinem der Brüder ist zu erwarten, dass er weiß, was zu tun ist! Hier nützen guter Wille und fromme Gedanken ohne den praktischen Sinn für Kinderpflege nicht viel! Vielleicht kann Franz selbst . . .

Der Herankommende ist nur noch wenige Meter entfernt und unter Anstrengung hebt er eine Hand zum Gruß. Das Bündel mit seinen Habseligkeiten fällt zu Boden, während er vorsichtig seine lebende Last von einem Arm auf den anderen schiebt. Sie alle hören das leise Weinen, entscheiden sich aber aus Hilflosigkeit, es lieber zu ignorieren. Bruder Franz muss erst einmal berichten.

»Meine Brüder, ich habe mich lange auf diesen Augenblick gefreut. Ich habe von eurer Arbeit gehört und betrachte voll Freude mein neues Heim, das Kloster Esrom!«

Bruder Franz, der es nicht für nötig gehalten hat, seinen Namen zu nennen, sieht lächelnd und voller Erwartung seine neuen Brüder im Dienste Gottes an. Abt William fasst sich und beginnt mit fester Stimme, ohne von dem beharrlichen Schreien des Kinds Notiz zu nehmen: »Willkommen, Bruder Franz. Ich hoffe, deine Reise hierher ist ohne Sorgen und Gefahren verlaufen! Wir erwarten dich bereits seit einiger Zeit und freuen uns, aus deiner Sachkenntnis und deinem Eifer Nutzen ziehen zu können. Abt Occo hat dich mit lobenden Worten beschrieben!«

Aber dennoch kann er es nicht lassen, er muss eine Kopfbewegung zu dem Bündel im Arm des neuen Bruders machen: »Du bringst ein Kind mit?«

Vorsichtig schiebt Bruder Franz das Tuch zur Seite und zeigt das Kind. Sofort hört das Weinen auf. »Es lag neben mir, als ich eine Tagesreise von hier in einer Scheune geruht habe. Ich habe die Leute auf dem Hof gefragt, ob es ihr Kind sei, aber keiner wollte es kennen.«

Er seufzt, aber lächelt daraufhin abgeklärt seine Brüder an: »Ich wusste sofort, dass ich es mit hierher nehmen sollte. Es ist ein Mädchen und etwas ganz Besonderes. Seht nur . . .« Er hält ihnen das Kind hin, und wirklich ist etwas ganz Besonderes an ihm. Die Augen sind fast farblos mit milchiger, durchsichtiger Iris, und die Gesichtshaut, von der sich die streifige Röte vom Weinen jetzt zurückzieht, sieht auch ganz durchsichtig aus. Die wenigen Härchen sind schneeweiß. Ein Albino!

»Ich habe einen Namen für sie ausgesucht. Christa!«

Die Mönche sehen sich an. Der Abt hat sich bisher noch nicht zu dem Kind und dessen Schicksal geäußert. Franz kann doch nicht einfach davon ausgehen, dass . . .

William räuspert sich: »Lasst uns hineingehen. Wir müssen entscheiden, was mit dem Kind geschehen soll, aber zunächst dürfen wir nicht vergessen, unsere Gastfreundschaft zu zeigen. Bruder Franz, zuerst sollst du etwas essen, dann werden dir deine Zelle und deine Arbeitsbereiche gezeigt. Das können wir bis zur Vesper schaffen. Außerdem braucht das Kind Pflege und etwas zu essen . . .«

Er schaut sich ratlos um und lässt dann wieder seinen Blick auf Bruder Franz fallen.

»Du bist sicher derjenige, der sich am besten um sie kümmern kann . . . Du hattest sie ja schon den ganzen Tag bei dir. Was brauchst du für das Kind?«

»Da der Kräutergarten ja meine Aufgabe sein wird, habe ich Minze, Rosmarin und Baldrian für beruhigende Getränke und stärkende Öle mitgebracht. Außer Samen, die ausgesät werden müssen, und getrockneten Kräutern habe ich nicht viel bei mir; denn ich will ja hier anpflanzen und herstellen, was für Tinkturen und Extrakte benötigt wird. Aber etwas Wasser, sauberes Leinen, warme Milch und ein bisschen Grütze wären ausgezeichnet. Zeigt mir erst meine Zelle und bringt mir diese Dinge, bevor ich mich mit euch an den Tisch setze, meine Brüder!«

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William setzte sich nachdenklich an den schweren Eichentisch, der sein Leseplatz war während der seltenen Stunden, die nicht den Stundengebeten oder der Planung praktischer Dinge gewidmet waren. Und von denen gab es in dem neuen Kloster noch viele. Eskils Brief lag vor dem Abt und bereits ein kurzer Blick darauf war beruhigend. Worte aus Clairvaux, wohin der Erzbischof oft reiste, und Grüße vom Gründer des Ordens, Bernhard, dessen emsiges Wirken ein Ideal darstellte, dem alle Brüder nachstrebten. Bernhard von Clairvaux, erhöht durch seine beispielhafte Demut, derentwegen der mächtige Eskil ihrem Orden besonders gewogen war. Vielleicht enthielt dieser seltene Brief, der von einem reisenden Bruder auf dem Weg nach Herrisvad in Schonen mitgebracht worden war, nicht nur die Mitteilung über Eskils baldige Abreise von Clairvaux, sondern außerdem eine diskrete Erinnerung daran, dass nichts zu unbedeutend ist, als dass es nicht die Diener Gottes zu größerer Einsicht und höherer geistiger Bildung leiten könnte. Bernhard war ja die reine Personifizierung eines derartigen Gedankengangs. Vielleicht war Christa, das neugeborene Albinomädchen, dem Kloster aus Gründen geschenkt worden, die noch niemand durchschauen konnte. Weiß war die Farbe der Zisterzienser – das Symbol der Reinheit! Christa . . . Er hatte bereits den Namen akzeptiert . . . Sie musste so bald wie möglich getauft werden. Sie konnten keine Ungetaufte bei sich aufnehmen, Bruder Rus . . .

Allein bei dem Gedanken an den verfluchten Namen durchlief William ein Schauer und er stand schnell auf, um die Taufe mit seinem langjährigen Freund und Mentor zu besprechen, dem alten Mystiker Bruder Sigurd. Das konnte nicht schnell genug geschehen!

In der Zwischenzeit war Franz in den südlichen Flügel geführt worden. Die Brüder hatten alles, worum er gebeten hatte, gebracht und er begann, noch etwas ungeschickt, das Findelkind zu waschen. Er hatte richtig gehandelt, das wusste er ganz genau! In der Nacht, bevor ihm das Kind gebracht worden war, hatte er von einem weißen Lamm geträumt. Von einem weißen Lamm, das von seiner Herde weggelaufen war, um sich selbst einem hungrigen Wanderer als Opfer darzubieten, der es sofort geschlachtet hatte! Der Rauch war gen Himmel gestiegen und Gott hatte dafür seinen Engel auf die Erde gesandt. Und er hatte dem Kind einen Namen gegeben . . . Der Name war im Traum gesagt worden und Franz konnte immer noch Gottes Worte in seinen Ohren nachklingen hören. Er wollte nicht vergessen, William von seinem Traum zu erzählen. Niemand konnte die Bedeutung des Traums anfechten und es gab für ihn keinerlei Zweifel daran, dass Christa zu ihm gekommen war, um bei ihm zu bleiben. Er wickelte sie in das saubere Leinen und nahm die Schale mit der Grütze und der Milch. Erleichtert atmete er auf, als sie ohne Schwierigkeiten trank. Es war Zeit für das Gebet, als das Kind in Schlaf gefallen war und erst einmal auf das schmale Bett des Mönchs gelegt wurde. Franz eilte davon, um seine Brüder nicht warten zu lassen. Seine Gedanken waren vollkommen mit der unerwarteten Verantwortung und den Schwierigkeiten beschäftigt, die die unerfahrenen Brüder in Verbindung mit der Erziehung eines Säuglings erwarteten. Gleich nach dem Gebet wollte er mit William reden.

William, der die gleichen Gedanken wie Franz hatte, ohne von dem Offenbarungstraum zu wissen, warf dem reisemüden und zerzausten Bruder während des Gebets viele verstohlene Blicke zu. Das war also Franz. Der berühmte Wundarzt und Heiler von Cîteaux! Wenn er wirklich so tüchtig war, wie von ihm gesagt wurde, würde er mit Leichtigkeit das Kind auch ohne Hilfe von Frauen am Leben erhalten. Das Kloster war zwar offen für Laienbrüder, sie beherbergten bereits zwei, aber Frauen nahmen am täglichen Klosterleben nicht teil. William hoffte, dass sie bis auf weiteres ohne Hilfe von außen das Kind erziehen konnten. Es würde eine weitere Herausforderung für ihr Wirken bedeuten.

Als die Messe beendet war, eilten der Abt und Bruder Franz eilig aufeinander zu. Sie hatten beide viel auf dem Herzen und begannen gleichzeitig aufeinander einzureden. Abt William hob resigniert die Arme in die Höhe und gab Franz ein Zeichen, ihm zu folgen. Wortlos eilten sie aus der Kapelle und stellten sich in einer Fensternische gegenüber dem Refektorium auf.

»Das Kind muss baldmöglichst getauft werden. Ich werde den Zeitpunkt mit Bruder Sigurd absprechen, er bereitet die Taufe vor.«

»Das freut mich zu hören! Das Kind ist auserwählt, unter uns zu sein. Wir müssen diese Aufgabe auf uns nehmen und seine Erziehung gewissenhaft planen. Vorläufig werde ich für das Kind sorgen. Das ist meine Pflicht. Aber ich brauche Hilfe! Das muss besprochen werden, damit dadurch keine Schwierigkeiten bei den täglichen Pflichten entstehen. Wir alle müssen uns mit allen Kräften um Christa kümmern.«

Franz senkte den Kopf und schwieg einen Augenblick. Es war William bewusst, dass Franz noch mehr sagen wollte, und das hätte einen anderen, sehr viel ernsteren Charakter. Und ganz richtig: Franz räusperte sich und erzählte in allen Details von seinem Traum und seiner sicheren Überzeugung, dass Christa gekommen war, um in das Leben der Mönche ein Zeichen zu setzen. Was das bedeuten würde, konnte man noch nicht sagen. Das konnte nur die Zeit zeigen. Die beiden Mönche wanderten Seite an Seite zurück zu Franz’ Raum im Südflügel, wo das Kind schlief.

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Es gab nur zwölf Brüder in dem neuen Kloster. Zwölf Mönche und zwei Laienbrüder, einen Alten, der im Stall aushalf, und einen jungen Mann, dessen verwirrter Sinn den Mönchen immer wieder Sorgen machte. Während der alte Uffe still und friedlich seine Arbeit bei den Tieren versah und mit den Mönchen zur Messe ging, war Jens, der sicher nicht mehr als sechzehn Jahre alt war, auf ruheloser Wanderung im Gelände des Klosters oder er war damit beschäftigt, Beschwörungen aufzusagen gegen die unzähligen Flüche, die ihn seiner Meinung nach getroffen hatten. Die Mönche waren nicht abgeneigt, ihm Recht zu geben. Wenn er so hinter dem Misthaufen saß mit wackelndem Kopf, starren Augen und ständig sich bewegenden Lippen, ohne dass ein Laut von ihnen zu vernehmen war, musste jeder, der ihn sah, ein stilles Gebet für seine Errettung sprechen. Aber er wurde nicht weggeschickt. Niemand außer dem Teufel selbst sollte aus den schützenden Mauern des Klosters verwiesen werden, auch kein Wesen, das eine Quelle ständiger Unruhe bildete. Mit Gottes Hilfe würde er sich schon zurechtfinden.

Die beiden Laienbrüder lebten im Kloster, seit es gegründet worden war. Aus der Entfernung hatten sie die Bauarbeiten verfolgt, die schnell ein beeindruckendes Backsteingebäude auf den Resten des alten Benediktinerhofs zum Vorschein kommen ließen. Eskils Leute hatten Arbeitskräfte unter den Bauern geworben und die Brüder selbst waren sich auch für die schwere Arbeit nicht zu schade. Sie waren aus dem sicheren Stammhaus in Clairvaux hergekommen, aber sie dachten nicht daran, sich von den harten Herausforderungen brechen zu lassen. Bernhard hatte sie vor ihrer Abreise gesegnet und sie alle wussten, dass die Reise nach Dänemark ihre Lebensaufgabe war. Hier würden sie bleiben und in der Fremde die Erde bestellen für die Zukunft des Ordens und erst zurückkehren, wenn sie so alt waren, dass sie nach Clairvaux heimgerufen wurden. Hier würden sie arbeiten und die aufnehmen, die Zuflucht vor der Welt suchten, und sie würden mit aller Macht versuchen, die eigenen Vorurteile gegen das Land und seine Bewohner abzulegen.

Eskil hatte dafür gesorgt, dass die großen Weideflächen und saftigen Felder dem Kloster zugesprochen wurden. Sein Wohlwollen für die Zisterzienser war ein Wunder, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht Bernhard zu verdanken war. Jedenfalls gab es keinen Zweifel, dass Bernhards Größe und wohl bekannte Frömmigkeit Eskils Neugier geweckt hatte. Der mächtige Erzbischof hatte Bernhard in Clairvaux aufgesucht und sich von dessen geistiger Kraft und dem Glanz, der den alten Mönch umgab, verzaubern lassen. Seither waren die Zisterzienser Eskils besondere Schützlinge. Bernhard war bereits zu Lebzeiten eine Sagengestalt geworden, die ihre Stärke auf die Mitglieder der Zisterziensergemeinschaft übertragen konnte – als bescheidenes Vorbild für die Lebensweise der Zisterzienser. Bernhard war Eskils Nächster geworden! Vielleicht waren die Harmonie dieser Verbindung und die gegenseitige Achtung gerade ein Resultat des Gegensatzes zwischen Bernhards weltfremder Frömmigkeit und Eskils erdnahem politischen Geschick, das seine Amtsführung auszeichnete. Vielleicht konnte Eskils raue Natur nur von etwas absolut Reinem und Fehlerfreiem besänftigt werden. Aber wie dem auch war, die gezielte Vorgehensweise und die praktischen Fähigkeiten des Erzbischofs kamen den Zisterziensern zu Gute – ja, sie bildeten sogar hier im Norden deren Existenzgrundlage. Ohne Eskil wären die Mönche nicht so weit gekommen. Jedes Hindernis wurde durch Eskils Tatkraft und seinen Einfluss aus dem Weg geräumt. Weder lokale Streitereien über die Flurgrenzen noch königliche Habsucht konnten den Zisterziensern auch nur eine Hand voll Erde entreißen. Und Eskil sorgte dafür, dass das, was einmal ihres geworden war, auch ihres blieb. Eine Ausdehnung ihres Eigentums war die einzige Veränderung, die er zuließ oder sogar förderte, mit dem üblich gewordenen Tauschhandel von Gold, Land oder Tieren gegen das Angebot der Kirche, die ewige Seligkeit zu erlangen.

Die Mönche konnten also in Ruhe die Welt ihren Gang gehen lassen, während sie ihren Aufgaben nachkamen. Sie waren von frühmorgens bis spätabends beschäftigt. Jeder Bruder hatte tief in seinem Inneren die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten und sein Fleiß etwas schufen, das Gott ehrte. Nichts war dafür zu gering, nichts zu groß. Von der einfachsten handwerklichen Tätigkeit bis zu den weitreichendsten Ingenieursarbeiten, von der schönsten Handschrift bis zu den schmutzigsten Arbeiten. Alles wurde gründlich und mit Sorgfalt ausgeführt. Alles war ein offensichtliches Bekenntnis ihres Glaubens, genau wie das Gebet das innere Bekenntnis ihrer vollen Hingabe war.

Bruder Franz war als Letzter hinzugekommen und mit seinen Kenntnissen von heilenden Kräutern und seinen Rezepten war der Fächer der Fachleute im Kloster Esrom vollständig. Es gab geübte Baumeister, tüchtige Schreiber, verlässliche Stallarbeiter, einen Koch und jetzt auch noch einen Heilkundigen, der es außerdem verstand, einen Kräutergarten anzulegen, der sie mit Kräutern versorgen konnte und mit Pflanzen für heilende Tropfen und andere Medizin. Gott war dem gnädig, der sich selbst zu helfen wusste. Abt William war mit seiner Schar zufrieden. Weitere Brüder waren willkommen, aber wie es im Augenblick aussah, gab es reichlich Sachkunde im Haus. Und obendrein ein Kind!

Der alte Bruder Sigurd hatte alle notwendigen Vorbereitungen für die Taufe getroffen. Er hatte ein langes Gespräch mit Abt William geführt, der ihm seinen Beschluss mitgeteilt hatte, das Kind im Kloster zu behalten, auch wenn damit ganz offensichtlich praktische Probleme verbunden waren. William sah müde aus. Er lehnte sich auf seinem unbequemen Holzstuhl zurück und seufzte tief – etwas, das er sich selten gegenüber anderen gestattete. Sigurd hatte schon oft stundenlange Gespräche mit dem Bruder geführt und wusste sofort, dass ihn etwas quälte.

»Bruder Franz hat mir von einem Traum erzählt, den er, unmittelbar bevor er das Kind fand, geträumt hat.«

William schwieg einen Augenblick und Sigurd nickte ihm aufmunternd zu.

Dann fuhr er fort: »Ein weißes Lamm läuft von seiner Herde davon und opfert sich einem hungrigen Wanderer. Dafür schickt Gott einen Engel zur Erde! Franz sieht nur das Geschenk des Himmels, aber ich sehe auch eine verlorene Seele, die geopfert werden muss! Das macht mir Kummer . . . Ist das Kind dieses Lamm oder ist es der Engel? Ich glaube, Ersteres. Anderes anzunehmen wäre zu vermessen. Selbst Franz neigt inzwischen zu der Meinung, dass es das Lamm ist, das unserem Orden geschenkt wurde, damit wir Gottes Wort durch das Kind weitergeben können! Aber was ist mit dem hungrigen Wanderer – die Zisterzienser sind keine gierigen Seelenhändler. Wir heißen die Suchenden willkommen, aber die Verbreitung von Gottes Wort mit Seelenhunger zu vergleichen, das ist nicht richtig. Ich glaube, dieser Teil des Traums hat eine andere, viel finsterere Bedeutung!«

William richtete seinen Blick auf Sigurd, dessen Gesicht im Schatten seiner Kapuze lag. Niemand sagte etwas und es war offensichtlich, dass der alte Mystiker in tiefe Gedanken versunken war. William wartete. Er wusste, dass Sigurd seine Worte sorgfältig abwog, bevor er antwortete: »Bruder Rus kann der hungrige Wanderer sein!«, sagte der Alte schließlich, seine Stimme erklang leise, aber entschlossen. William nickte nur.

»Bruder Rus ist eine Satansbrut und niemand hat ihn mehr gesehen, seit die Benediktiner ihn weggejagt haben!«

Sigurd holte tief Luft, bevor er hinzufügte: »Keiner außer uns beiden – aber wir haben ihn ja wieder verbannen können!«

Ein eiskalter Windzug vom Fenster her ließ die beiden Männer erschauern und unruhige Blicke austauschen.

»Wir dürfen uns nicht davor scheuen, das in Betracht zu ziehen!«, sagte Sigurd mit fester Stimme. »Lieber vorbereitet und auf der Hut sein als sich in ängstlicher Erwartung ducken!« Er richtete sich auf dem Stuhl auf und fuhr fort: »Ich weiß, dass Bruder Rus gierig ist und dass sein Hunger nach unschuldigem Fleisch ihn immer wieder ins Licht treibt, das er doch hasst.«

Ermutigt von der gefassten Miene des Alten, zögerte William nicht länger. »Du hast meine Gedanken erraten! Auch ich habe das Gefühl, dass Rus erwachen will und schon bald hier in Esrom sein Unwesen treiben wird. Wir haben ein Opferlamm unter unserem Dach, aber auch wir brauchen Schutz. Gottes Engel ist unsere eigene Stärke und unser Glauben. Der Engel lebt in uns und wir wollen das Böse nicht fürchten!«

Der kalte Wind ließ die beiden Männer nicht länger schaudern. Beide hatten sich daran erinnert, wie sie entdeckt hatten, was der Keller unter der Küche barg: William war nach dem Ende der Bauarbeiten nach Esrom gekommen. Er sollte den Platz von Abt Folmer einnehmen, der im ersten Jahr einer Krankheit erlegen war. Bei seiner ersten Inspektionsrunde war sein Blick auf eines der kleinen Lukenlöcher aus dem Kellergelass unter der Küche gefallen. Es war ein eiskalter Wintertag gewesen und niemand, der seine sieben Sinne beisammen hatte, würde sich in dem eisigen, nassen Keller aufhalten, der als einziger Raum von der Klosteranlage der Benediktiner noch geblieben war und zu nichts anderem als zur Aufbewahrung von Getreide und von Vorrat gedient hatte. Dennoch hatte sich für einen Moment ein Gesicht gezeigt. Ein weißes Gesicht mit schwarzen, ausdruckslosen Höhlen für Augen, Nase und Mund. Der Schädel war vorschriftsmäßig rasiert gewesen – mit einer Tonsur. Es war der Kopf eines Mönchs gewesen, der dort unten aufgetaucht war. William hatte mehrmals erschrocken geblinzelt und die Erscheinung war verschwunden. Erst später hatte er von der Legende von Rus erfahren. Sie lief wie ein Alpdruck zwischen den Brüdern hin und her und niemand wollte von der Geißel der Benediktiner berichten. Erst als Bruder Sigurd, der auch nach Esrom gekommen war, die ganze Geschichte erzählt hatte, war William sich seiner Sache sicher gewesen. Er hatte Rus’ hässliche Fratze aus dem dunklen Kellerloch hervorstarren sehen. Aber warum? Es hieß doch, Rus wäre schon vor langer Zeit verjagt worden. Warum war er jetzt zurückgekommen, nachdem ein neues Haus errichtet und ein neuer Abt eingeführt worden war? William sah sich selbst nicht als schwach an, ganz im Gegenteil, durch seine unerschütterliche Ruhe und seine Sicherheit bei der Beschlussfassung hatte er viel Respekt gewonnen. Und da Spekulationen eine entschiedene Vorgehensweise nur verhinderten, hatte William deshalb resolut dafür gesorgt, dass in der Küche über dem Kellerraum ein Exorzismus stattfand. Niemand wagte sich dort direkt hinunter und deshalb beschloss man, dass die Seance mit ein wenig Glück direkt über Rus’ Nest abgehalten werden konnte. Aber mittlerweile deutete einiges darauf hin, dass die Kraft der Austreibung durch die Bodenbretter abgeschwächt worden sein musste – Rus war nur in den Schlaf verbannt. Jetzt wachte er wieder auf, wenn sie Franz’ Traum richtig deuteten!

Sigurd nickte mit geschlossenen Augen, tief in seine Kapuze zurückgezogen. Er hatte Williams Gedanken erraten und er konnte sich an sein eigenes Entsetzen erinnern, als er eines Morgens ganz früh wegen einer unaufschiebbaren Besorgung über den Hofplatz gegangen war: Quer über den Platz hatte er einen Ruf gehört, der aus der Küchentür zu kommen schien. Etwas beunruhigt über den leidenden Tonfall in der Stimme, war er stehen geblieben, um zu sehen, wer das sein konnte. War vielleicht jemand zu Schaden gekommen? Niemand war zu sehen. Die Küchentür war verschlossen und alles lag still und verlassen in dem grauen Morgennebel. Dann hatte die Stimme wieder gerufen und diesmal war es Sigurd gelungen, ihre Herkunft zu lokalisieren. Das Lukenloch unter dem Küchentrakt! Am ganzen Körper hatte er eine Gänsehaut bekommen und wäre am allerliebsten in Windeseile davongelaufen, ohne noch einmal zurückzuschauen, aber irgendetwas hatte ihn wie festgenagelt stehen bleiben lassen. Sein Blick richtete sich auf das schwarze Loch und da sah er das, was er mehr als alles andere fürchtete: Rus’ Gesicht, das gleiche, das ihn seit Wochen in seinen Träumen verfolgte. Und die Stimme sprach zu ihm, auch wenn das Gesicht dort unten unbeweglich blieb. Unbeschreibliche Flüche und blasphemisches Schimpfen hatten Sigurd mit entsetzlicher Deutlichkeit klargemacht, dass das Kloster Esrom auf unsicherem Grund stand. Das sichere Glaubensfundament war nur eine Illusion, denn Rus war wieder unterwegs – und diesmal würde er sich wohl nicht mit leeren Händen davonjagen lassen!