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Gerke Schlickmann

Adventure and Meeting

Eine Einführung in Live-Rollenspiel
aus theaterwissenschaftlicher Perspektive

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Gerke Schlickmann
„Adventure and Meeting – Eine Einführung in Live-Rollenspiel
aus theaterwissenschaftlicher Perspektive.“

Erste Auflage 2015

Copyright © 2015 Zauberfeder GmbH, Braunschweig

Bildnachweise
Abb. 1: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)*
Abb. 2: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)**
Abb. 3 und 4: Fotos von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)*
Abb. 5: Foto von Jan Martin Keil (www.janmartin.de)*
Abb. 6: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)*
Abb. 7, 8, 9 und 10: Fotos von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)*
Abb. 11: Foto von Jan Martin Keil (www.janmartin.de)*
Abb. 12: Foto von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)*

* mit freundlicher Genehmigung der Live Adventure Event GmbH (www.live-adventure.de)

** mit freundlicher Genehmigung von Nicole Busch (www.lenora-gewandungen.de)

Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Print ISBN: 978-3-938922-46-0
E-Book ISBN: 978-3-93892289-7
www.zauberfeder-verlag.de

Hinweis:
Das vorliegende Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr.
Autoren und Verlag bzw. dessen Beauftragte können für eventuelle Personen-, Sach- oder Vermögensschäden keine Haftung übernehmen.

ADVENTURE
AND MEETING

EINE EINFÜHRUNG IN LIVE-ROLLENSPIEL
AUS THEATERWISSENSCHAFTLICHER
PERSPEKTIVE

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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

EINLEITUNG

Anmerkungen zum Fragebogen

Anmerkungen zu den Personenbezeichnungen

1 EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP

1.1Erste Definition

1.2Grundbegriffe

1.2.1 In-time vs. out-time

1.2.2 Rolle, Charakter

1.3Inhalte und Genres

1.3.1 Überblick

1.3.2 Fantasy

1.4Regelwerke

1.4.1 Punktebasiertes Spiel

1.4.2 Freies Spiel

1.5Charaktererschaffung

1.5.1 „Rassen“

1.5.2 Gesinnung

1.5.3 Fähigkeiten

1.6Teilnehmer*innen

1.6.1 Spieler und Spieler-Charaktere

1.6.2 Veranstalter, Organisatoren, Spielleitung

1.6.3 Nicht-Spieler-Charaktere

1.7Ablauf

1.7.1 Ankündigung, Anmeldung

1.7.2 Anreise, Check-in, Ansprache

1.7.3 Time-in, Spiel, Time-out

1.8Weitere Codes im Spiel

1.8.1 Sprachliche Regelungen

1.8.2 Andere Zeichen

1.9Imagination und Ausblendung

1.10 „Spiel’s aus, du Sau!“ – Kampf, Verletzung, Heilung

1.10.1 Kampf, Waffen, Rüstung

1.10.2 Verletzung, Heilung

1.10.3 Tod eines Spieler-Charakters, Opferregel

2 LARP IM KONTEXT ANDERER ROLLENSPIELE

2.1Bedeutungsvielfalt von Rollenspiel

2.2Role playing games: Rollenspiele im engeren Sinne

2.2.1 Einordnung als „Freizeit-Rollenspiel“

2.2.2 Systematisierungsvorschlag

2.2.2.1 Zweck des Spiels

2.2.2.2 Spielmechanismus

2.2.2.3 Genre oder Thema des Spiels

Exkurs: Living History, Reenactment, ReenLARPment

2.2.2.4 Ausblick

2.2.3 Definition des im Folgenden verwendeten Rollenspielbegriffs

2.3Vergleich verschiedener role playing games

2.3.1 Tischrollenspiel (P&P, Tabletop)

2.3.2 Computer- bzw. Online-Rollenspiel (MRPG, MMORPG)

2.3.3 Live-Rollenspiel (LARP)

2.3.3.1 Besondere Erlebnisse im LARP

2.3.3.2 Künstlerische Elemente von LARP

3 THEATRALE DIMENSIONEN VON LARP

3.1LARP und Theater – erste Annäherung

3.1.1 Theater – Rollenspiel – Live-Rollenspiel?

3.1.2 Improvisationstheater?

3.2Performativität

3.2.1 Handlungen im LARP

3.2.2 Charaktererzeugung im LARP

3.3LARP als Performance, Ereignis, Aufführung

3.3.1 Ereignishaftigkeit von LARP

3.3.2 Aufführungscharakter von LARP

3.3.3 Das Problem des Zuschauers

3.4Der Zuschauer als Mitspieler – Moreno, Boal, Grotowski

3.4.1 Jacob Levy Morenos Stegreiftheater

3.4.2 Augusto Boals Theater der Unterdrückten

Exkurs: LARP als unsichtbares Theater (Vampire Live)

3.4.3 Jerzy Grotowskis Paratheater

4 GENDER IM LARP – EIN BLINDER FLECK?

4.1Vorannahmen zur Geschlechtsidentität

4.2Gestaltungsmöglichkeiten im LARP

4.3LARP als (populär)kultureller Text

4.4Geschlechterrollen in der Fantasy

4.5Umfrageergebnisse zu Cross-Gender-Aspekten

4.6Probleme mit Cross-Dressing und mögliche Lösungen

4.7Ausblick

5 SCHLUSSBEMERKUNGEN

6 ANMERKUNGEN

7 ANHANG

7.1Glossar der wichtigsten Begriffe

7.2Verzeichnisse

7.2.1 Literatur

7.2.2 Internetseiten

7.2.3 Film und Fernsehen

VORWORT

Im vergangenen Sommer begegneten mir im Vorbeigehen immer wieder Plakate, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie zeigten Bilder von aufwändig geschminkten und kostümierten Menschen, die irgendwie nicht von dieser Welt zu sein schienen: ein Mann mit Pestbeulen im Gesicht, ein anderer vernarbt, mit falschem Auge und blutbespritzter Rüstung; eine Frau in eleganter Robe, mit spitzen Ohren und entrücktem Blick, und nicht zuletzt ein gänzlich fremdartiges Wesen, mit schneeweißer Haut, schwarzen Augen und langen, spitzen Fingern. Es war Werbung für den Film Wochenendkrieger, der gerade in Berlin Premiere feierte. Anders als bei herkömmlichen Kinoplakaten sah man diesen Bildern jedoch an, dass hier masken- und kostümbildnerisch nachgeholfen worden sein musste: Man konnte angeklebte Ohren und falsches Haar erkennen, künstliche Narben und aufgemalte Wunden. Was den einen irritieren mochte, sprach für die andere eine deutliche Sprache: Ach, das sind doch LARPer!

Mit Wochenendkrieger befasst sich nun ein weiterer Dokumentarfilm mit dem ausgefallenen Hobby Live-Rollenspiel, der es sogar ins Kino geschafft hat. Ist LARP damit nun endgültig im Mainstream angekommen? Ist ein Buch wie das, an dem ich gerade arbeite, überhaupt noch notwendig, weil nun alle Welt das Phänomen kennt und versteht? Tatsächlich hat sich insgesamt die mediale Aufmerksamkeit vor allem in den letzten zwei bis drei Jahren deutlich verstärkt, Live-Rollenspiel scheint geradezu ein Modethema zu werden.

Als ich vor fast zehn Jahren begann, mich mit Live-Rollenspiel zu beschäftigen, konnte außerhalb der Szene kaum jemand etwas mit dem Begriff und der dahinterliegenden Idee anfangen. Auch viele „klassische“ Rollenspieler und Rollenspielerinnen kannten (und kennen) diese Variante nicht und waren erstaunt, wie weit man gehen kann, um seiner Phantasie Leben einzuhauchen. Als ich mich Jahre später dazu entschloss, meine Abschlussarbeit über LARP zu schreiben, war diese Spielform auch in theaterwissenschaftlichen Kreisen noch so gut wie unbekannt, während andere role playing games dort zunehmend berücksichtigt wurden. Obwohl mit den Arbeiten von Performance-Gruppen wie SIGNA und anderen Versuchen eines immersiven Theaters mittlerweile ganz ähnliche Konzepte Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung sind, findet LARP selbst immer noch kaum Beachtung. Diejenigen, die immerhin schon davon gehört haben, haben meist nur eine vage Vorstellung von Abläufen und Ausmaßen des Spiels. Auch die steigende Zahl an Medienberichten führt bislang nicht unbedingt zu einer besseren Kenntnis des Phänomens. Ich habe eher den Eindruck, dass sich mit dem Bekanntheitsgrad auch der Erklärungsbedarf erhöht hat, was ein Buch wie dieses umso lohnenswerter macht.

Außerdem formiert sich innerhalb der LARP-Szene gerade eine Bewegung, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Live-Rollenspiel etablieren will, so z. B. die 2013 gegründete AG Deutsche Larp-Forschung des Deutschen Liverollenspielverbands e. V., deren Mitglied ich bin. Auch für den Beginn einer ernsthaften deutschen Live-Rollenspiel-Forschung mag dieses Buch dienstbar sein, indem es bisherige Erkenntnisse zusammenfasst und Vorschläge zur theoretischen Einordnung von LARP macht. Damit soll eine Basis für weitere, tiefergehende Untersuchungen geschaffen werden. Dabei soll die hier eingenommene theaterwissenschaftliche Perspektive nicht als allein seligmachende Sichtweise propagiert werden, sondern als ein möglicher, wenn auch besonders fruchtbarer Blickwinkel auf Live-Rollenspiel als kulturelles Phänomen.

Grundlage dieses Buches ist meine gleichnamige Magisterarbeit, die ich 2012 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Sie wurde in der Zwischenzeit gründlich überarbeitet, erweitert und aktualisiert, um einem breiteren Publikum Einblicke in Live-Rollenspiel bieten zu können und neuere Publikationen und Entwicklungen zu berücksichtigen. Dass aus einer zunächst etwas abseitigen Idee nicht nur eine hochgelobte Magisterarbeit, sondern schließlich auch dieses Buch werden konnte, verdanke ich in erster Linie Doris Kolesch, die mich von Anfang an unterstützt und zur Veröffentlichung ermutigt hat. Ebenso hilfreich waren die Diskussionen im von ihr betreuten Colloquium, dessen Teilnehmer*innen mein Magisterprojekt mit konstruktiver Kritik und vielfältigen Anregungen begleitet und bereichert haben. Ohne das Engagement des Zauberfeder-Verlags wäre daraus kein Buch entstanden; für den persönlichen Einsatz möchte ich mich daher insbesondere bei Tara Tobias Moritzen und Christian Schmal bedanken. Außerdem danke ich Wiebke Hensle für das gewohnt sorgfältige Lektorat und viele hilfreiche Anmerkungen sowie Gabby Feuerfünkchen, Karsten Flögel und Nicole Busch für die Hilfe bei Auswahl und Bereitstellung der Fotos.

Schließlich sollen die freundlichen Menschen, Elfen, Orks und Zwerge von Berlin-Larp nicht unerwähnt bleiben, die mir damals als Newbie den Einstieg ins LARP erleichtert und sich in der Folge nicht nur als gute Mitspieler*innen, sondern auch als Freundinnen und Freunde erwiesen haben. Euch möchte ich besonders herzlich danken und Euch dieses Buch widmen.

Gerke Schlickmann
Berlin, im März 2014

Für Hanne (1954–2014): Schade, dass Du das Buch nun nicht mehr in Händen halten kannst, ich weiß, Du wärst so stolz gewesen. Danke für alles.

Some words are dead, even though we are still using them. Among such words are: show, spectacle, theatre, audience, etc. But what is alive? Adventure and meeting: not just anyone; but that what we want to happen to us would happen, and then, that it would also happen to others among us. For this, what do we need? First of all, a place and our own kind; and then that our kind, whom we do not know, should come, too. So, what matters is that, in this, first I should not be alone, then – we should not be alone. But what does our kind mean? They are those who breathe „the same air“ and – one might say – share our senses. What is possible together? Holiday.

Jerzy Grotowski1

EINLEITUNG

Adventure and meeting, Abenteuer und Begegnung – welche Worte wären besser dazu geeignet, den Kern eines Spiels zu erfassen, bei dem sich Menschen zusammenfinden, um in phantastischen Gegenwelten gemeinsam Abenteuer zu erleben?

Die Rede ist von Live-Rollenspiel (auch Live Action Role Play, kurz LARP), das immer mehr Menschen in seinen Bann zieht und zunehmende Beachtung auch außerhalb der Rollenspiel-Szene erlangt. Anders als in den bekannteren Formen von Fantasy-Rollenspiel – Tischrollenspiele wie Dungeons&Dragons oder Online-Rollenspiele wie World of Warcraft – werden die Figuren und ihre Handlungen hier von den Spieler*innen real verkörpert. Dadurch teilt Live-Rollenspiel wesentliche Grundzüge mit theatralen Ereignissen, indem beispielsweise auch die Spielwelten weitestgehend durch performative Akte erzeugt und mit Leben gefüllt werden. Es ist also erstaunlich, dass das Phänomen des Live-Rollenspiels bislang nicht in nennenswerter Weise von theaterwissenschaftlicher Seite berücksichtigt wurde, zumal in den gegenwärtigen Diskursen zur Performativität, in denen sich das Fach vielen Bereichen abseits der Bühne geöffnet hat.

Dabei kann sich gerade die theaterwissenschaftliche Perspektive als besonders geeignet erweisen, um spezifische Merkmale von Live-Rollenspiel herauszustellen und theoretisch zu erfassen. Wie reizvoll diese Verbindung ist, zeigt sich u. a. darin, dass in der gerade entstehenden LARP-Forschung neuerdings häufiger ein Bezug zu Theater und Theaterwissenschaft hergestellt wird.2 Ansonsten wurde Live-Rollenspiel bislang – wenn überhaupt – v. a. aus soziologischer, psychologischer oder pädagogischer Sicht beleuchtet, wobei es meist nur als Spielart des Rollenspiels im Sinne einer pädagogisch-therapeutischen Methode begriffen wird. Dementsprechend gibt es – im deutschsprachigen Raum – noch wenig Fachliteratur zum Thema, und die meisten Publikationen sind von Live-Rollenspieler*innen für Live-Rollenspieler*innen geschrieben und verzichten auf umfassende Einführungen ins Thema.

Um dieses Feld überhaupt für (theater)wissenschaftliche Belange fruchtbar zu machen und eine Basis für die weitere Forschung zu schaffen, erscheint es mir notwendig, den Gegenstand zuerst ausführlich vorzustellen, was im ersten Kapitel EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP geschehen soll. Da die Spielarten in den verschiedenen Ländern teilweise stark voneinander abweichen, sollen hier nur Rollenspiele in Deutschland betrachtet werden. Dabei möchte ich in diesem Teil noch darauf verzichten, eine bestimmte theoretische Perspektive vorzugeben, sondern den Fokus auf eine möglichst anschauliche Beschreibung typischer Elemente und Abläufe von Live-Rollenspiel legen. Verschiedene Abbildungen und ein Glossar sollen diese ergänzen, um einen umfassenden Eindruck zu ermöglichen und die Leserin mit dem Gegenstand vertraut zu machen.

Im zweiten Kapitel LARP IM KONTEXT ANDERER ROLLENSPIELE soll die spezifische Beschaffenheit von Live-Rollenspiel im Kontrast zu anderen Rollenspielen dargestellt werden. Die Verortung im Rollenspielkontext erweist sich aber zunächst als schwierig, da sich schon der Begriff „Rollenspiel“ einer einfachen Definition entzieht und vielfältige Anwendungsbereiche aufweist. Daher werde ich Kriterien vorschlagen, mit denen innerhalb des Bereichs differenziert und einzelne Phänomene herausgeschält werden können, und versuchen, eine handhabbare Definition zu entwickeln. Schließlich soll durch einen Vergleich der drei gängigen Rollenspielformen deren jeweilige Bedingungen und Mittel herausgearbeitet werden, insbesondere in Bezug auf die Bedeutung des Spielerkörpers und die Simulation der Spielwelt.

Im dritten Kapitel THEATRALE DIMENSIONEN VON LARP sollen diese Überlegungen aufgegriffen und in den theaterwissenschaftlichen Kontext eingebunden werden: Betrachtet man die Rahmenbedingungen und Elemente von Live-Rollenspiel, so zeigt sich nicht nur seine Natur als Spiel, sondern auch die Nähe zu Phänomenbereichen wie Theater, Fest und Ritual. Umso geeigneter erweist sich die Theaterwissenschaft, die mit Konzepten wie Performativität, Ereignis, Liveness oder Liminalität über hilfreiche Instrumente verfügt, mit denen wesentliche Dimensionen von Live-Rollenspiel effektiv untersucht werden können. Da dieses Buch als Einführung konzipiert ist, die keine umfassende Analyse leisten kann, sollen hier nur ausgewählte Aspekte berücksichtigt werden. So soll u. a. diskutiert werden, welche Merkmale LARP mit dem zentralen Begriff der Aufführung teilt und inwieweit es als solche definiert werden kann. Als Dreh- und Angelpunkt wird sich dabei die Tatsache erweisen, dass es im Live-Rollenspiel keine Zuschauer*innen gibt und es damit von wichtigen Definitionen verschiedener theatraler Ereignisse nicht erfasst wird.

Hier soll aber nicht nur die Anwendbarkeit theaterwissenschaftlicher Konzepte auf Live-Rollenspiel in den Blick genommen werden, sondern auch in umgekehrter Perspektive gezeigt werden, dass ein Phänomen wie LARP Antworten auf verschiedene Problemstellungen des Theaters zu geben vermag. Insbesondere im postdramatischen Theater des 20. Jahrhunderts ist immer wieder der Wunsch zu spüren, die Trennung zwischen Zuschauerinnen und Schauspielern aufzuheben und stattdessen ein gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen, wie es sich auch in den vorangestellten Worten Grotowskis ausdrückt. LARP kann zum einen als Modell dienen, wie ein solches Miteinander – eine Gemeinschaft oder Communitas – ganz praktisch verwirklicht werden kann, und zum anderen kann es auch theoretische Impulse geben, wie insbesondere der Aufführungsbegriff im Hinblick auf die Zuschauer-Akteur-Dichotomie neu akzentuiert werden könnte.

Indem es den Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, sich in ganz anderen, sonst unmöglichen oder nicht zulässigen Situationen zu erleben und dabei verschiedene sowohl vertraute wie völlig fremde Persönlichkeitsmuster auszuprobieren, erscheint LARP als „Antistruktur“ zum Leben außerhalb des Spiels. Hier können normative Strukturen abgelegt, variiert und neue Strukturen und Gemeinschaften erschaffen werden. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Spieler*innen im Live-Rollenspiel frei wären von sozialen Kategorien oder Strukturen, doch können diese in der Gestaltung einer Gegenwelt mit ihren eigenen Regeln und Ritualen bewusster und freier gewählt und kombiniert werden. Dadurch wird u. a. der Vorgang der Konstruktion solcher Kategorien und der Zuschreibung ihrer Codes und Attribute offenbar; eine Erkenntnis, die sich wiederum auf das Leben außerhalb der Spielwelt auswirken kann. Wie bei vielen verwandten Phänomenen (Karneval, höfische Verkehrungsfeste und Maskeraden, genauso aber auch pädagogische Rollenspiele etc.) stellt sich aber auch hier die Frage, ob durch solche Praktiken normative Strukturen wirklich nachhaltig unterlaufen oder nicht doch eher bestärkt und stabilisiert werden. Dieser Frage soll im letzten Kapitel GENDER IM LARP – EIN BLINDER FLECK? am Beispiel von Gender Bending und Cross-Dressing im LARP nachgegangen werden.

Zusammengefasst soll dieses Buch also einerseits allgemein in das vielschichtige Phänomen Live-Rollenspiel einführen und wesentliche Merkmale des Spiels herausstellen. Des Weiteren soll eine theoretische Verortung sowohl im Rollenspielbereich als auch im Bereich theatraler Ereignisse erfolgen und dabei auch der mögliche Ertrag weiterer Auseinandersetzungen mit LARP in Aussicht gestellt werden. Sofern vorhanden, soll auf Publikationen, die sich mit Live-Rollenspiel befassen, Bezug genommen und diese gegebenenfalls kurz vorgestellt sowie Anregungen zur weiteren Lektüre gegeben werden. Verweise auf Filme und Internetvideos sollen zeigen, wie vielfältig die Auseinandersetzung mit (Live-)Rollenspiel sein kann und mit wie viel Begeisterung, aber auch Humor und Selbstironie die Szene ihr Hobby und sich selbst betrachtet. Nicht zuletzt hoffe ich, das Faszinosum LARP, das immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen hat, mit dieser Arbeit auch Außenstehenden verständlich zu machen, denn bei allem wissenschaftlichen Ernst soll eine wesentliche Dimension des Spiels nicht außer Acht gelassen werden, nämlich der Spaß und die Lust am Spielen, die hoffentlich auch in meinen folgenden Ausführungen durchscheinen werden.

ANMERKUNGEN ZUM FRAGEBOGEN

Viele der von mir geschilderten Beobachtungen beruhen auf eigenen Erfahrungen, die ich während einiger Jahre des aktiven Spiels sammeln konnte, und den Erzählungen anderer Spieler*innen. Um meine Ausführungen auf eine breitere Basis zu stellen und Informationen zu bisher nicht erfassten Aspekten zu sammeln, habe ich einen Fragebogen erstellt und in einschlägigen Internet-Foren um Teilnahme gebeten. Er war nur an Live-Rollenspieler*innen gerichtet. Er konnte nur über einen entsprechenden Link erreicht werden und war im Sommer 2012 zwei Monate online. Insgesamt haben 50 Personen zwischen 19 und 52 Jahren teilgenommen, darunter 20 Frauen und 30 Männer. Neben „männlich“ und „weiblich“ gab es die Möglichkeit, das eigene Geschlecht in einem freien Textfeld anders zu definieren, was allerdings von niemandem genutzt wurde. Die große und zeitnahe Resonanz auf mein Anliegen zeigte mir einmal mehr, wie gut die LARP-Community vernetzt ist und wie groß der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft unter LARPern in der Regel sind. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal bei allen bedanken, die sich die Mühe gemacht haben, meinen Fragebogen zu bearbeiten, das war eine große Hilfe.

Im Folgenden soll keine vollständige Auswertung des Fragebogens vorgenommen werden, sondern er soll nur zur Konkretisierung einzelner Punkte dienen. Zur Erörterung verschiedener Aspekte werde ich die Ergebnisse einzelner Fragen an geeigneter Stelle anführen. Zitierte Antworten habe ich orthografisch angeglichen, ansonsten aber so belassen, wie sie eingetragen wurden.

ANMERKUNGEN ZU DEN PERSONENBEZEICHNUNGEN

Obwohl Live-Rollenspiel in seinen Anfängen eher als Männerdomäne galt und tatsächlich die überwältigende Mehrheit der Spieler männlich war, hat sich das Verhältnis der Geschlechter in den letzten Jahren spürbar gewandelt. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und deutlich zu machen, dass ein Phänomen wie LARP von Menschen gleich welchen Geschlechts genutzt wird und werden kann, werde ich im Folgenden zwischen weiblichen, männlichen und neutralen Formen wechseln oder Doppelformen benutzen, sofern das die Lesbarkeit nicht einschränkt. Sollten dabei die männlichen Formen häufiger gebraucht werden, ist das der Tatsache geschuldet, dass sie im Deutschen meist flüssiger zu lesen sind. Sofern nicht ausdrücklich anders benannt bzw. aus dem Kontext eindeutig zu schließen, sind immer Angehörige aller Geschlechter gemeint.

1EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP

Eine Stadt aus weißen Zelten, mit Tavernen, Marktständen und allerlei Händlern, die Kochgeschirr oder Kleidung, Lederwaren, Rüstung oder verschiedene Waffen anbieten. Die Stadt wird von einer hohen Palisade umschlossen und ist nur durch wenige Tore zugänglich. Eins davon wird von einem wahren Riesen bewacht, gut 3 Meter hoch und schlaksig, gekleidet in die rot-weiße Uniform der Stadtwache. Das Tor führt auf eine Wiese, die sich gerade mit einer bunten Menge füllt. Die Stimmung ist angespannt, und auffällig viele der Anwesenden sind bewaffnet. Hier umklammern kleine, bärtige Männer in Helm und Kettenhemd ihre Streitäxte, dort nimmt ein ganzer Tross Ritter Aufstellung, von Kopf bis Fuß gepanzert, mit Schwert und Schild und wehenden Bannern. Am anderen Ende der Wiese versammelt sich eine Gruppe eleganter Geschöpfe mit langem, glänzendem Haar und spitzen Ohren. Auch sie führen Banner mit sich, auf die kunstvoll verschlungene Ornamente gestickt sind, und viele von ihnen haben Langbögen in der Hand. Immer mehr Gestalten strömen herbei, es müssen Hunderte, ja Tausende sein. Allüberall leuchten Wimpel und Fahnen, Schilde und Waffenröcke, sie zeigen die verschiedensten Wappen. Zwischen Menschen in mittelalterlichen Gewändern tummeln sich hässliche grüne Wesen, denen riesige Zähne wie Hauer aus dem Mund wachsen. Sie sind in Leder und Felle gehüllt, manche mit Knochen oder Schrumpfköpfen geschmückt. In der Ferne ragt ein Koloss aus der Menge hervor, doppelt so hoch und breit wie die neben ihm Stehenden, er sieht aus, als bestünde er aus rußgeschwärztem Stein und rotglühender Lava, und er bewegt sich langsam und schwerfällig durch die Massen, die ihm eiligst Platz machen. Rund um ein Banner, das einen roten Tropfen auf weißem Grund zeigt, versammeln sich Männer und Frauen, binden sich Schürzen um, legen Instrumente zurecht und errichten ein Lazarett. Die Spannung auf dem Anger steigt, vereinzelt wird der Klang von Trommeln und Sprechchören herübergeweht. Am gegenüberliegenden Waldrand ist plötzlich Bewegung auszumachen, und schon erscheinen die ersten Soldaten, in schwarz-blaue Wappenröcke gewandet. Angeführt von Standartenträgern marschieren nun Hunderte von ihnen auf die Stadt zu. Ihr Schlachtgesang – „Er ist das Auge. Wir sind der Sturm!“ – hallt unheilverkündend über das Feld, während sie an seinem Rande Aufstellung beziehen. Und dann beginnt die Schlacht …3

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Abb. 1: Warten auf die Schlacht, Conquest of Mythodea 2010

Was ist das hier? Wo findet diese Szene statt, in einem Roman, einem Comic, einem Fantasyfilm? – Nein, wir sind auf einem Landgut in Niedersachsen, das sich jedes Jahr im Sommer für ein paar Tage in die Welt Mythodea verwandelt und von Menschen in phantastischen Kostümen bevölkert wird. Doch sie sind keine Schauspieler, es sind Schülerinnen, Studierende, Auszubildende, Lehrer, Juristinnen, Mediziner, Sozialarbeiterinnen, Erzieher, Ingenieurinnen, Elektroniker, Wissenschaftlerinnen, Bürokaufleute, Maskenbildnerinnen, Hausfrauen und Hausmänner, Arbeitslose, Angestellte, Selbstständige – kurz: Männer und Frauen mit ganz verschiedenen Berufen, Ausbildungen, Lebensläufen. Sie alle verbindet eine anspruchsvolle Freizeitbeschäftigung: Live-Rollenspiel.

Allein in Deutschland gehen Zehntausende diesem Hobby nach (aktuellen Schätzungen zufolge etwa 80.000 bis 100.000 Spieler*innen),4 und es finden pro Jahr mehrere hundert Veranstaltungen statt.5 Über diese gibt es immer wieder Berichte in Fernsehen und Zeitschriften, meist kurze Beiträge über Großveranstaltungen wie Drachenfest (DF), Conquest of Mythodea (CoM) oder Epic Empires (EE), die natürlich eine erheblich größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ein gewöhnlicher Con. Dazu kommt eine steigende Zahl mehr oder weniger professionell gemachter Dokumentationen wie Die Herren der Spiele, Diciomentis oder die bereits erwähnten Wochenendkrieger. Mit The Wild Hunt wurde LARP bereits 2009 zum zentralen Thema eines Spielfilms, und in der seit längerem angekündigten Komödie Knights of Badassdom schlüpfen mit Summer Glau, Peter Dinklage und Ryan Kwanten sogar einige Superstars aus Fantasy- und Science-Fiction-Produktionen in die Rollen nerdiger LARPer*innen. Dennoch ist Live-Rollenspiel außerhalb der Rollenspielszene noch wenig bekannt. Angesichts des aktuell deutlich verstärkten Medieninteresses könnte sich das allerdings in naher Zukunft ändern. In letzter Zeit häufen sich die Anfragen verschiedener Medienvertreter in LARP-Gruppen und einschlägigen Internetforen, so dass LARP ein regelrechtes Modethema zu werden scheint, was in der LARP-Community durchaus für Diskussionen sorgt. Die Szene beobachtet diese Entwicklung nicht unbedingt mit Begeisterung, sondern schwankt zwischen der Hoffnung, dass LARP einmal seriös beschrieben und erklärt werden könne, und der Angst, Live-Rollenspiel als Weltfluchtveranstaltung für Träumer oder gewaltverherrlichende Spinnerinnen dargestellt zu sehen.

Aber was kann man sich nun tatsächlich darunter vorstellen?

1.1 ERSTE DEFINITION

Live-Rollenspiele

Steigerung eines Rollenspiels

Jugendliche und Erwachsene treffen sich an Wochenenden in alten Burgen oder auf einsamen Zeltplätzen, kleiden sich so, wie es sonst nur in Fantasy-Filmen zu sehen ist, rennen durch nächtliche Wälder, zelebrieren geheimnisvolle Feste und liefern sich große Schlachten mit gepolsterten Waffen. Das alles klingt nach spontanen Ereignissen – falsch! Bei Live-Rollenspielen gibt es festgelegte Regeln, zum Beispiel für die Charaktererschaffung oder Magie. Und so erleben Fans in aufwendigen und phantasiereichen Verkleidungen, die sie Gewandungen nennen (die Bezeichnung „Kostüm“ hört man sehr ungern), mit anderen, oft wildfremden Menschen in den Rollen von Magiern, Kriegern, Priestern, aber auch Detektiven, Geheimagenten und sogar Vampiren und Werwölfen phantastische Abenteuer in Welten, die man bisher nur aus Film oder Literatur kennt.

Die offizielle Abkürzung von Live-Rollenspiel ist „LARP“, was für „Live Action Role Playing“ steht.6

Mit dieser Beschreibung aus dem neuen Lexikon der Fantasy sind schon einige charakteristische Aspekte von Live-Rollenspiel angesprochen, die im Folgenden ausgeführt und ergänzt werden sollen.

In erster Linie geht es darum, gemeinsam Abenteuer zu erleben, in fremde Welten und andere Zeiten einzutauchen und dort das, was man sonst nur liest, träumt oder im Kino sieht, auch einmal selbst, am eigenen Leib zu erfahren und mittendrin zu sein: „[E]s ist einfach dieser Spieltrieb aus der Kindheit, der nie ganz verloren gegangen ist, oder den man als Kind nicht vollends befriedigen konnte“, so beschreibt eine Teilnehmerin meiner Umfrage ihre Beweggründe dafür, Live-Rollenspiel zu betreiben. Wie es die englische Bezeichnung Live Action Role Play schon andeutet, besteht das Spiel darin, die erfundenen Figuren wirklich zu verkörpern, also all ihre Handlungen innerhalb einer fiktiven Situation real auszuführen und sie nicht nur – wie im Tischrollenspiel – verbal zu schildern. Die Beschreibung „Steigerung eines Rollenspiels“ rührt daher, dass Tischrollenspiele im zitierten Fantasy-Lexikon wie auch in der Rollenspiel-Szene als „klassische“ Rollenspielform gelten und Live-Rollenspiel daher als real ausagierte, d. h. hinsichtlich des Involviertseins gesteigerte Variante gesehen wird.7 Ebenso kann man – wie die zitierte Umfrageteilnehmerin – eine direkte Verbindung ziehen zu Kinderspielen wie „Cowboy und Indianer“ oder „Räuber und Gendarm“ und Live-Rollenspiel als deren Erwachsenenversion ansehen.

Das Problem der Begrifflichkeiten und die Verortung im Kontext anderer Rollenspiele und ähnlicher Phänomene soll im zweiten Kapitel vorgenommen werden, hier sollen nun zunächst wesentliche Begriffe und Grundzüge des Spiels vorgestellt werden.

1.2 GRUNDBEGRIFFE

Neben dem Begriff Live-Rollenspiel hat sich auch im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung LARP durchgesetzt, wovon sich der Begriff LARPer für Live-Rollenspieler sowie das Verb larpen ableiten. LARP ist das aussprachefreundliche Kürzel für Live Action Role Play(ing), so lautet zumindest die gängige Übersetzung, die hier übernommen wird. Daneben finden sich andere Herleitungen wie Live Adventure Role Play(ing) oder Live Adventure Action Role Play(ing).

Mit LARP wird zum einen der ganze Live-Rollenspiel-Bereich bezeichnet, zum anderen aber auch die einzelnen Veranstaltungen, auf denen LARP gespielt wird. Diese Unterscheidung werde ich in der Schreibung verdeutlichen: LARP sei im Folgenden der übergeordnete Begriff und synonym für Live-Rollenspiel, (ein) Larp sei die konkrete Veranstaltung, auch Convention (von engl. Versammlung) oder kurz Con genannt.8

1.2.1 IN-TIME VS. OUT-TIME

Die erste und wichtigste Unterscheidung im LARP ist die zwischen der Spielwelt und der realen Welt. Das ist umso wichtiger, als ja die Spielwelt mit den Mitteln der realen Welt in Szene gesetzt und bespielt wird. Hier haben sich klare Sprachregeln etabliert, um zu bezeichnen, welche Ebene gerade gemeint ist: Alles, was die Spielwelt betrifft, wird üblicherweise mit der englischen Bezeichnung in-time (kurz IT) – seltener auch in-game oder in-play – benannt; für alles außerhalb gilt analog der Begriff out-time (kurz OT) bzw. out-game, out-play oder auch off-play. Dieser grundlegenden Unterscheidung entspricht die zwischen Spieler und Charakter: Der Spieler ist die reale Person X, die in der Spielwelt die Figur Y verkörpert. Y ist dann der Charakter von X. Wenn beispielsweise die Bürokauffrau Petra eine Ritterin namens Brianna spielt, dann ist Petra die Spielerin und Brianna ihr Charakter (kurz Char oder Chara). Bezogen auf Handlungen und Äußerungen werden manchmal auch die Begriffe in-character bzw. out-of-character verwendet, um auszudrücken, ob z. B. eine Frage von einer Spielerin auf der OT-Ebene gestellt wird oder ob sie von einem Charakter an einen anderen Charakter gerichtet und Teil der Spielwelt ist.

1.2.2 ROLLE, CHARAKTER

Statt der – im Englischen durchaus gebräuchlichen – Bezeichnung Rolle (role) bevorzuge ich aus mehreren Gründen den Begriff Charakter.9 Zum einen, weil das die im deutschsprachigen Rollenspielbereich übliche Bezeichnung ist; in einschlägigen Regelwerken (z. B. DragonSys, Silbermond oder Phönix) wird die zu spielende Figur stets als Charakter bezeichnet, im Weiteren noch unterschieden in Spieler-Charakter (SC) und Nicht-Spieler-CharaktercharacterCharakterkonzept