Cassandra Clare
Sarah Rees Brennan

Nichts als Schatten

Aus dem Amerikanischen von

Franca Fritz und Heinrich Koop

cover

Ich kannte nichts als Schatten und ich nahm sie für wirklich.

Oscar Wilde

Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/
Maureen Johnson/Robin Wasserman

Legenden der
Schattenjäger-Akademie 4

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Einzeltitel
»Nothing but Shadows« bei
Margaret K. McElderry Books, einem Imprint der Simon & Schuster
Children’s Publishing Division, New York.

Copyright © 2015 by Cassandra Claire, LLC

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

Cover: © Cliff Nielsen

Gesamtherstellung, Satz und ebook: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN 978-3-401-80503-0

www.arena-verlag.de

Mitreden unter forum.arena-verlag.de

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Schattenjäger-Akademie, 2008

Die Nachmittagssonne strömte warm durch die schießschartenartigen Fenster des Klassenzimmers und ließ die grauen Steinmauern golden aufleuchten. Erschöpft von einem ausgiebigen Morgentraining mit Oberausbilder Scarsbury, versuchten die Schüler der Elitegruppe wie auch die »Plebs«, der Geschichtsstunde von Catarina Loss zu folgen. Am Geschichtsunterricht nahmen beide Gruppen gemeinsam teil, denn die Schule wollte sicherstellen, dass wirklich alle Schüler von den Ruhmestaten der Schattenjäger erfuhren und den Willen entwickelten, diesen Taten nachzueifern. In dieser Stunde waren tatsächlich einmal alle gleich, überlegte Simon – zwar nicht vereint in ihrem brennenden Streben nach Ruhm, aber immerhin alle gleichermaßen zu Tode gelangweilt.

Zumindest so lange, bis Marisol eine Frage richtig beantwortete und Jon Cartwright ihr dafür von hinten gegen die Stuhllehne trat.

»Ganz toll«, zischte Simon mit gesenktem Kopf. »Das ist mal richtig erwachsen. Herzlichen Glückwunsch, Jon. Jedes Mal, wenn ein ›dummer Irdischer‹ eine Frage falsch beantwortet, behauptest du, es läge daran, dass wir einfach nicht das geistige Niveau der Schattenjäger hätten. Und jedes Mal, wenn einer von uns eine Frage richtig beantwortet, gibt’s einen Tritt. Ich kann deine Konsequenz nur bewundern.«

George Lovelace lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, grinste und lieferte Simon das nächste Stichwort: »Ich wüsste nicht, was daran konsequent sein sollte, Simon.«

»Na ja, Jon benimmt sich konsequent wie ein Blödmann«, erklärte Simon.

»Ich hätte noch ein paar andere Ausdrücke für ihn«, sagte George. »Aber die meisten davon sind nichts für zarte Damenohren und der Rest ist auf Gälisch, was ihr bemitleidenswerten Fremden sowieso nicht versteht.«

Jon funkelte sie wütend an – wahrscheinlich wütend darüber, dass ihre Stühle zu weit entfernt waren, um ihnen ebenfalls einen Tritt zu versetzen. »Sie sollte eben nicht reden, wenn sie nicht an der Reihe ist«, zischte er.

»Wenn ihr Irdischen uns echten Schattenjägern mal zuhören würdet, könntet ihr vielleicht sogar was lernen«, fügte Julie hinzu.

»Und wenn ihr Schattenjäger jemals gelernt hättet zuzuhören«, erwiderte Sunil, ein irdischer Junge, dessen Zimmer sich auf demselben (schleimigen) Flur befand wie das von George und Simon, »wärt ihr vielleicht nicht so begriffsstutzig.«

Die Lautstärke war deutlich gestiegen und Catarina wirkte ziemlich verärgert. Simon bedeutete Marisol und Jon, leise zu sein, doch beide ignorierten ihn. Simon kam sich vor wie an dem Tag, als Clary und er als Sechsjährige die Küche seiner Mutter in Brand gesteckt hatten, weil sie Rosinen machen wollten und dafür Weintrauben in den Toaster gesteckt hatten. Genau wie damals war er gleichzeitig verblüfft und entsetzt darüber, wie die Situation so schnell komplett aus dem Ruder laufen konnte.

Dann wurde ihm klar, dass dies ein neuer Erinnerungsfetzen sein musste. Beim Gedanken daran, wie Clary mit Traubenmatsch im roten Haar ausgesehen hatte, musste er grinsen, woraufhin um ihn herum die Auseinandersetzung eskalierte.

»Warte nur bis zum nächsten Training, dann erteile ich dir eine Lektion«, zischte Jon wütend. »Ich kann dich ja mal zu einem Duell herausfordern – also pass bloß auf, was du sagst!«

»Keine schlechte Idee«, wandte Marisol ein.

»Hey, hey, ganz langsam«, sagte Beatriz. »Duelle unter Schülern sind eine schlechte Idee.«

Daraufhin blickten alle Beteiligten voller Verachtung zu Beatriz, der Stimme der Vernunft.

Marisol rümpfte die Nase. »Ich meinte auch kein Duell, sondern einen Wettkampf. Wenn ihr Eliten uns im Wettkampf besiegen könnt, lassen wir euch im Unterricht eine Woche lang den Vortritt. Aber wenn wir euch besiegen, haltet ihr von da an den Mund.«

»Also gut, Irdische – aber es wird dir noch leidtun, dass du jemals diesen Vorschlag gemacht hast«, knurrte John. »Und wie soll dieser Wettkampf aussehen? Stab, Schwert, Bogen, Dolch, ein Pferderennen, ein Boxkampf? Sag schon, ich bin bereit!«

»Baseball«, erwiderte Marisol mit einem zuckersüßen Lächeln.

Die Schattenjäger wechselten verwirrte und leicht panische Blicke.

»Davon hab ich keine Ahnung«, flüsterte George Simon zu. »Ich bin kein Amerikaner und hab auch noch nie Baseball gespielt. Das ist so was wie Cricket, richtig? Oder doch eher wie Hurling?«

»Ihr habt einen Sport namens ›Hurling‹ in Schottland? ›Hurling‹ wie Schleudern?«, flüsterte Simon. »Was schleudert ihr denn so? Kartoffeln? Kleine Kinder? Seltsam.«

»Ich erklär’s dir später«, seufzte George.

»Und ich erkläre dir Baseball«, versprach Marisol und zwinkerte George zu.

Simon beschlich der Verdacht, dass Marisol beim Baseball –genau wie beim Fechten – eine winzige, aber furchterregende Kampfmaschine war. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die Elitegruppe sich auf eine böse Überraschung gefasst machen musste.

»Und ich werde euch erklären, wie eine Dämonenseuche beinahe alle Schattenjäger ausgelöscht hätte«, ging Catarina vom Lehrerpult aus dazwischen. »Zumindest würde ich das gern, wenn meine geschätzten Schüler endlich ihre Streiterei einstellen und mir zuhören würden!«

Die Klasse verstummte schlagartig und hörte sich mit gesenkten Köpfen Catarinas Vortrag an. Erst nach dem Ende der Stunde wandten sich alle wieder dem anstehenden Baseballspiel zu. Simon hatte zumindest schon mal Baseball gespielt, daher packte er gerade in aller Eile seine Bücher ein, um den anderen nach draußen zu folgen, als Catarina rief: »Tageslichtler, warte mal.«

»›Simon‹ tut’s auch, ganz ehrlich«, erwiderte Simon.

»Die Eliteschüler versuchen, die Schule wieder aufleben zu lassen, von der ihre Eltern ihnen immer erzählt haben«, erklärte Catarina. »Irdische Schüler sollen gesehen, aber nicht gehört werden. Im Gegenzug erhalten sie das Privileg, sich unter Schattenjägern aufhalten und sich auf ihre Aszension oder ihren Tod vorbereiten zu dürfen – und zwar fügsam und demütig. Stattdessen habt ihr sie ganz gehörig in Aufruhr versetzt.«

Simon blinzelte verblüfft. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass wir nett zu den Schattenjägern sein sollen, nur weil sie nun mal so erzogen wurden?«

»Von mir aus nehmt diese selbstgefälligen kleinen Idioten nach Strich und Faden auseinander, wenn euch danach ist«, sagte Catarina. »Das kann ihnen garantiert nicht schaden. Ich will dir nur erklären, welche Wirkung du auf sie hast – und welche Wirkung du haben könntest. Du befindest dich in einer nahezu einmaligen Situation, Tageslichtler. Mir ist nur ein einziger anderer Schüler bekannt, der jemals von den Eliten zu den Plebs gewechselt ist – und damit meine ich nicht Lovelace, der ohnehin von Anfang an als Plebs hätte eingestuft werden müssen, wenn die Nephilim mal ihre verdammte Überheblichkeit vergessen und ihr Hirn eingeschaltet hätten. Andererseits: Was wäre ein Schattenjäger ohne seine Überheblichkeit?«

Diese Worte hatten den Effekt, den Catarina vermutlich von Anfang an hatte erzielen wollen: Simon versuchte nicht länger, seine Ausgabe des Schattenjäger-Codex in die Tasche zu stopfen, und setzte sich wieder. Der Rest der Klasse würde ohnehin einige Zeit für die Vorbereitungen benötigen, bevor sie mit dem eigentlichen Baseballspiel beginnen konnten. Simon konnte also etwas Zeit erübrigen. »War er auch ein Irdischer?«, fragte er.

»Nein, er war ein Schattenjäger«, sagte Catarina. »Er hat die Akademie vor über einem Jahrhundert besucht. Sein Name war James Herondale.«

»Ein Herondale? Noch ein Herondale?«, fragte Simon. »Herondales ohne Ende. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass sie ständig von Herondales umgeben sind?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Catarina. »Außerdem würde es mir nichts ausmachen. Magnus meint, dass sie im Allgemeinen ziemlich attraktiv aussehen. Allerdings meint Magnus auch, dass sie meist nicht ganz richtig im Kopf sind. Und James Herondale war mit Sicherheit anders als viele andere.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Simon. »Er war blond, von sich eingenommen und bei der breiten Masse sehr beliebt.«

Catarinas elfenbeinfarbene Augenbrauen gingen leicht in die Höhe. »Nein, ich erinnere mich, dass Ragnor meinte, er hätte dunkles Haar und eine Brille gehabt. Aber es gab noch einen anderen Jungen an der Akademie, Matthew Fairchild, auf den deine Beschreibung gepasst hätte. Die beiden kamen nicht besonders gut miteinander aus.«

»Tatsächlich?«, erwiderte Simon überrascht. »Na dann: Hurra für James Herondale! Ich wette, dass dieser Matthew ein ziemlicher Blödmann war.«

»Ach, so würde ich das nicht sagen«, erwiderte Catarina. »Ich fand ihn eigentlich immer sehr charmant. Und das ging den meisten Leuten so. Alle mochten Matthew.«

Also musste dieser Matthew tatsächlich ein echter Charmebolzen gewesen sein, dachte Simon. Catarina sagte nur selten etwas Anerkennendes über einen Schattenjäger, doch nun lächelte sie verträumt beim Gedanken an einen jungen Mann, der vor etwa einhundert Jahren gelebt haben musste.

»Alle außer James Herondale?«, hakte Simon nach. »Der Schattenjäger, der aus der Leistungsgruppe der Schattenjäger hinausgeworfen wurde. Hatte Matthew Fairchild irgendetwas damit zu tun?«

Catarina kam hinter ihrem Lehrerpult hervor und ging zu einem der schmalen Fenster. Die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierten von ihrem weißen Haar, sodass es fast wie ein Heiligenschein wirkte. »James Herondale war der Sohn von Engeln und Dämonen«, sagte sie leise. »Das Schicksal hatte ihm von Anfang an einen schweren und leidvollen Lebensweg vorbestimmt, der ebenso viele bittere wie süße Momente bereithielt und im gleichen Maße mit Rosenblüten wie mit Dornen gepflastert war. Niemand hätte ihn davor bewahren können – obwohl es so mancher versucht hat.«

Schattenjäger-Akademie, 1899

James Herondale versuchte, sich einzureden, dass es nur das Rütteln und Schütteln der Kutsche war, das ihm Übelkeit bereitete. Er war wirklich sehr aufgeregt beim Gedanken an seine neue Schule.

Vater hatte sich Onkel Gabriels neue Kutsche geliehen, damit er James von Alicante aus zur Akademie bringen konnte. Nun saßen nur sie beide auf dem Bock.

Vater hatte Onkel Gabriel allerdings nicht gefragt, ob er sich dessen Kutsche ausleihen durfte.

»Nun schau doch nicht so ernst, Jamie«, sagte Vater und rief den Pferden ein walisisches Wort zu, das sie schneller traben ließ. »Gabriel würde sicher wollen, dass wir seine Kutsche nehmen. Das bleibt alles in der Familie.«

»Onkel Gabriel hat erst gestern Abend noch erwähnt, dass er die Kutsche gerade hat streichen lassen. Mehrmals. Und er hat damit gedroht, die Polizei zu holen und dich verhaften zu lassen«, erwiderte James. »Mehrmals.«

»Schon in ein paar Jahren wird Gabriel sich nicht mehr darüber aufregen«, entgegnete Vater und zwinkerte James mit einem seiner blauen Augen zu. »Denn dann werden wir alle in Automobilen herumfahren.«

»Mutter hat gesagt, dass du niemals ein Automobil fahren dürftest«, erwiderte James. »Und Lucie und ich mussten ihr versprechen, dass wir nie zu dir einsteigen, falls du es doch tust.«

»Deine Mutter hat nur einen Scherz gemacht.«

James schüttelte den Kopf. »Wir mussten es ihr beim Erzengel schwören.«

Er hob den Kopf und grinste seinen Vater an. Vater schüttelte nur den Kopf, wobei der Wind durch sein schwarzes Haar fuhr. Mutter hatte gesagt, dass Vater und Jamie das gleiche Haar hätten, aber Jamie wusste, dass seine Haare immer unordentlich aussahen. Er hatte auch gehört, dass andere Leute das Haar seines Vaters als widerspenstig bezeichneten, was so viel hieß wie unordentlich, aber charmant.

Der erste Schultag war für James kein guter Tag, um darüber nachzudenken, wie sehr er sich von seinem Vater unterschied.

Während ihrer Fahrt von Alicante hatten mehrere Leute ihre Kutsche angehalten und wie üblich gerufen: »Oh, Mister Herondale!«

Vor allem Schattenjägerdamen reagierten so auf seinen Vater, ganz egal, wie alt sie waren: drei Worte, die zugleich sehnsuchtsvoll und beschwörend klangen. Andere Väter wurden dagegen nur »Mister« genannt, ohne das »Oh« davor.

Bei einem so bemerkenswerten Vater hielten die Leute in der Regel nach einem Sohn Ausschau, der vielleicht ein nicht ganz so strahlender Stern war wie Will Herondale, aber dennoch einigermaßen hell leuchtete. Und auch wenn sie es sich nicht anmerken ließen, waren sie doch jedes Mal unverkennbar enttäuscht, sobald sie James sahen, an dem nichts Bemerkenswertes zu sein schien.