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Nicola Schorm
Alte Heimat
       Fremdes Land
Eine Erzählung
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-010-9 (E-Book)
978-3-95894-011-6 (Print)
Lektorat, Literaturagent: Benedikt Leicht,
bleicht@lektorat-leicht.de
Coverfoto: CC BY 2.0; Carlos Andres Reyes, wwwrflickr.com
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2015
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Inhalt

Vorwort

Stammbaum

Prolog

Aloisia I

Intermezzo I

Aloisia II

Intermezzo II

Aloisia III

Slobodan I

Aloisia IV

Intermezzo III

Aloisia V

Intermezzo IV

Aloisia VI

Slobodan II

Epilog

Nächtebuch

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser!

Ein Buch lebt nur dadurch, dass es gelesen wird; deshalb möchte ich mich hier an erster Stelle bei Ihnen bedanken, für Ihr Interesse und Ihre Zeit. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Ihre Gedanken oder Anregungen mitteilen würden.

Ob das geht? Ob es möglich ist, aus meinem Monolog ein Gespräch zwischen uns entstehen zu lassen? Am Ende des Vorwortes, werde ich Ihnen eine Kontaktmöglichkeit nennen – wenn Sie Lust haben, schreiben Sie mir ...

Wenn ich mir ein Buch ausgesucht habe, das ich lesen möchte, bin ich als erstes neugierig, wer zu seiner Entstehung beigetragen hat. Selbst, wenn es mit dem Buch an sich nichts zu tun hat, ist auch dieser Teil spannend und interessant für mich.

Ohne meinen Mann, Antonio J. Rosa, wäre ich nie auf die Idee gekommen, die "alte Heimat" meines Vaters kennenzulernen, sie hat mich schlichtweg nicht interessiert, so peinlich es auch ist, das zuzugeben. Als ich im letzten Moment zauderte, hat er mich in unserem Reisevorhaben bestärkt und mich in den langen Wochen des Schreibens unterstützt.

Als nächstes muss ich mich ganz herzlich bei meiner Erstlektorin Barbara Moses bedanken, die mir mit aufmunternden Worten und ihrer Begeisterung zur Seite stand.

Auch meiner Freundin Gabi Mittmann, die Kapitel um Kapitel mit mir durchlebte und die trotz der räumlichen Entfernung immer nah bei mir war und meiner Freundin Katja Löhner, die mich in Momenten der düsteren Selbstzweifel mit ihrem Enthusiasmus und ihrem Lob wieder aufbaute, gehört mein aufrichtiger Dank!

Nicht vergessen möchte ich außerdem meine allerbeste Freundin Alejandra Folco, die ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, mich doch begleitet hat und die sehnsüchtig auf die Übersetzung der Erzählung ins Spanische wartet!

Bei der Anfertigung des Stammbaums und der Zusammenfassung der einzelnen Archive in ein sinnvolles Ganzes half mir mein Sohn Julian Rosa, und die Letztkorrektur vor dem Absenden in die professionellen Hände meines Lektors und literarischen Agenten Benedikt Leicht ist meiner sprachlich ausgebildeten Schwägerin Rebecca Schorm-Bernschütz zu verdanken!

Danke meinem Vater für das Mitteilen seiner Erinnerung und die sorgfältige Aufbewahrung der Briefe von Aloisia, die es mir ermöglichten, ihre Sprache, Gedanken und Gefühle nachzuempfinden.

Allen die mir zur Seite standen, mein Drängen aushielten, das von mir Geschriebene doch endlich zu lesen und mich am Ende doch bestätigt und unterstützt haben, gehört mein allerherzlichster Dank: meiner Mutter und meinem Vater, meinen Brüdern Michael und Alexander, meinen erwachsenen Kindern Julian, Natalia und Corina und meinem lieben Mann. Sie alle sind dafür verantwortlich, dass mein Leben so erfüllt und glücklich ist, wie ich es mir gewünscht habe.

Viel Spaß beim Lesen !

Nicola Schorm

nicola.schorm.rosa@gmail.com

Stammbaum

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Prolog

Reise nach Werschetz:

Werschetz, Geburtsort unseres Vaters, für mich ein Wort bar jeden Sinnes, ein Luftgebilde, unvorstellbarer und irrealer als das versunkene Atlantis. Vrsac auf Serbisch, im ehemaligen jugoslawischen Banat 80 km östlich von Belgrad, nah, sehr nah an der rumänischen Grenze.

Die Idee:

Nach siebzig Jahren erste Rückkehr des Vaters in die Heimat, Reise nur mit den drei Kindern, ohne Mutter, ohne Schwiegertöchter, -söhne und Enkelkinder. Organisation und Planung in Händen des Jüngsten, des Entschlossensten.

Wir landen in Serbien. Erste Gänsehaut, als wir von den Herren aus Nürnberg in der Sitzreihe vor uns gefragt werden, ob auch wir mit unserem Vater reisen. Drei Männer – Brüder – mit ihrem achtzigjährigen Vater aus Pančevo, vierzig Kilometer vor Werschetz. Die Reise, ein Geschenk zum Geburtstag im März. Er war zwölf Jahre alt, als er für zwei Jahre ins Lager kam und kam danach nie wieder zurück. Wie viele waren schon vor uns da? So viele Schicksale und ich kann meine Tränen nicht zurückhalten.

Als wir am Geldwechselautomat 100 Euro wechseln wollen, alles nur serbisch erklärt ist, drücke ich beim ersten Versuch auf den falschen Knopf und anstatt der Dinar, kommt mir mein Schein wieder entgegen; intuitiv falsch gedrückt! Hilfe! Ich verstehe kein Wort. Der Mietwagen steht bereit, dank Karten und Navigationssystem finden wir den Weg durch Belgrad und als wir anhalten, um die am Horizont erscheinenden Werschetzer Berge zu fotografieren, kommen mir zum zweiten Mal die Tränen. Was erwartet uns?

Die Brüder haben im Internet Informationen gesammelt. Wir lesen in den ausgedruckten Blättern über die Geschichte der Stadt und freuen uns über Hennemann, der 1778 Werschetz vor dem Einfall der Türken gerettet hat. Er hat mit viel Phantasie, Mut und einer gehörigen Portion Frechheit durch Glockengeläut, das Schlagen auf Kochtöpfe und Lagerfeuer, die über die ganze Stadt verteilt waren, die Türken, die von den Bergen auf die Stadt schauten, davon überzeugt, die Verstärkung der kaiserlichen Truppen von Maria Theresia sei eingetroffen. Sie zogen tatsächlich wieder ab und die Stadt blieb unversehrt.

1707 haben sich die ersten Deutschen in Werschetz angesiedelt und um 1900 waren über die Hälfte der 25.000 Einwohner deutsche Donauschwaben. Heute sind es mit Sicherheit weniger als fünfzig.

Ich habe keine Fotos von Werschetz gesehen, habe keine Erwartungen, alles ist offen und möglich. Unsere Schritte und Wege werden wir Vaters Wünschen anpassen und erkunden so die Stadt zu Fuß. Wir entdecken nach und nach immer mehr Einzelheiten, Dinge, Plätze, Häuser, die die Erinnerung von Vater nun in unsere Gedanken überträgt, Vater, der im ersten Moment des nicht Zurechtfindens meinte, er wisse gar nicht wo er sei – dies sei eine fremde Stadt.

Die Bürgersteige sind kaputt; das Haus, von Tante Lukrezia geerbt, steht gar nicht mehr und doch ist das Rathaus erkennbar, mit dem Balkon, von dem Vaters Stiefgroßvater Jankovic zu den Einwohnern der Stadt sprach, auch wenn heute die Farbe der Mauern eine andere ist. Vom Haus unserer Oma Georgia ist nur noch das Kapitell dem auf den alten Fotos ähnlich. Im ehemaligen Wohnzimmer, wo sich heute das Café Forum befindet, trinken wir einen Kaffee, berieselt von seltsamen Bildern, die im Riesenbildschirm vergeblich eine Diskoatmosphäre zu erzeugen suchen. Der deutsche Friedhof, früher nur einige Schritte von Omas Haus entfernt, wurde entheiligt und wich einem Sportplatz und anderen Anlagen. Aber der Park! Der Park ist riesig, unverändert, die weißen Bänke laden zum Sitzen ein, der Brunnen lebt, umringt von den wasserspeienden Kröten von einst, mit seiner Statuenmitte im Zentrum des Parks. Pavillons ohne Musik, aber wenn wir uns anstrengen würden, könnten wir sie hören.

Ja, von der Büste Lenaus steht nur noch der Sockel – kein deutscher Kopf wird mehr verehrt – und es gibt auch keinen großen Markt mehr auf der Straße, die am Park beginnt. Aber die Trauben, die verlockend blau direkt vom Anhänger des Traktors auf dem Tresen des Standes verkauft werden, schmecken unglaublich gut. Gleich wie vor all den Jahren? Und ich weine zum dritten Mal.

Momente:

Als wir tatsächlich über den Pausenhof in Vaters alte Schule hineingelangen, versucht er so lange Türen zu den Klassenzimmern zu öffnen, bis wir uns mitten in einem befinden und fassungslos zusehen, wie er mit Kreide etwas auf Serbisch auf die Tafel schreibt, unaufhaltbar, ohne Angst vor dem Hausmeister, der doch erscheint und nach einem ersten kurzen Moment skeptischer Abweisung, den Trauben mit ihrer dünnen Schale ähnlich, sich als sehr freundlich, offen und liebenswert herausstellt. Er hat Probleme, mit dem geringen Lohn über die Runden zu kommen und wenn wir die Sprache beherrschen würden, wüssten wir noch mehr; Vater jedoch ist in seinem Element. Egal mit wem und wo, er unterhält sich blendend auf Serbisch und wir grinsen nur blöde, nicken ab und zu oder lächeln, immer dem Ausdruck der Gesprächspartner angepasst.

Momente:

Als wir nach einigen Stunden wirklich das Grab des Großvaters Jankovic auf dem serbischen Friedhof finden: der schwarze Marmorstein, den Omama vom Steinmetz schaffen ließ, wich einem Obelisken, auf dem zu Überraschung und Ärgernis unseres Vaters noch zwei Jankovic, Marko und Milena, eingemeißelt sind, bei denen es sich nur um die Kinder aus erster Ehe des berühmten Stiefgroßvaters unseres Vaters handeln kann. Auch Markos und Milenas Kinder teilen den Ort der letzten Ruhe mit ihm – nur die Omama, die im Tod den katholischen Friedhof dem serbischen vorzog, beide durch kleine Mäuerchen und den rumänischen Friedhof voneinander getrennt, können wir trotz organisierter Suche in dem herrlich chaotischen Wirrwarr aus Kreuz und Stein, deutsch und ungarisch, Bäumen und Gestrüpp doch nicht finden.

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Aloisia I

Der Winter hat angefangen, dabei ist es erst Anfang Oktober. Meine Äpfel hab' ich noch nicht ganz abgeerntet, hatte zu starke Schmerzen in der Hüfte und die Leiter hab' ich der Milena geborgt und gehofft, wenn sie sie zurückbringt, dass sie mir hilft mit den Äpfeln. Jetzt ist es zu spät, sie sind erfroren und taugen nicht einmal mehr zum Saft. Ach, wenn der Miloslav noch da wär', was für ein Leben wär' das! So ein stattlicher Mann war er. So gescheit und wichtig, alle haben sie ihn geschätzt und bewundert, den Bürgermeister, der so vielen von meinen Leuten geholfen hat, dass sie rechtzeitig haben fliehen können, dass sie nicht auf der Schinderwiese zusammengeschossen wurden wie die streunenden Hunde. Alle haben sie ihn gemocht, die Deutschen und Ungarn gleich wie die Jugoslawen und Rumänen. Wenn ich die Augen zumach' seh' ich ihn immer noch stehen auf dem Balkon vom Rathaus und sprechen zu seinem Volk. Alle Sprachen hat er perfekt gesprochen, mein Jugoslawe, mein zweiter Mann.

Ja, als die Deutschen eingerückt sind, war's eine schwierige Zeit für ihn – so wie ich mich gefreut hab' und gefeiert, zusammen mit der ganzen großen volksdeutschen Gemeinde, die hinterher auf so wenige geschrumpft ist, so hart war's für ihn. Zuerst wurde er sogar eingesperrt. Ich hab' ihm Schmalzbrote und Apfelkuchen gebracht und mit den Soldaten gelacht und gescherzt, damit sie ihn mir ja gut behandeln. Gottlob hat ihnen mein Kuchen geschmeckt und nach drei Tagen, als der Dr. Dobel und auch mein Vetter Hans Sendlinger, der mit seinen Beziehungen gleich zum Ortsrat ernannt worden ist, sich für ihn eingesetzt haben, da ist er endlich wieder freigekommen, mein Armer.

Bürgermeister ist er dann erst wieder geworden, als die Deutschen von Tito's Partisanen vertrieben wurden, alle, alle sind sie weg, geflohen, erschossen, erhängt – und ich allein bin übrig.

Was hätte ich auch machen sollen?