Obvicioun II

von K.Y. Laval

 

Impressum

Obvicioun II

K.Y. Laval

Copyright: 2015 K.Y. Laval

published by: BookRix GmbH & Co. KG, München

Deutschland

 

K.Y. Laval: tanateros69@gmail.com

 

Lizenzerklärung

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Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren und würdigen!

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Obvicioun II

Impressum

Lizenzerklärung

Inhaltsverzeichnis

Quellen

Wenn eine Seele ihren Körper verlässt…

Der Übergang II

Obvicioun II

Sidmawuk

Blutrausch

Neuerscheinungen

Empfehlungen

Leseprobe aus der Neuerscheinung Kehre um und werfe Schatten

Leseprobe aus der Neuerscheinung Fleischrequiem

Besonderheit an diesem eBook

 

Quellen

Die in diesem Buch zitierten Verse sind in einem Ritual gebräuchlich, das Jenseits - Ein roter Ritus genannt wird. Die Verse sind - bis auf den Eigennamen Sidmawuk und die Wortkonstruktion IDUM AWEK SETHET - wörtlich übernommen und stammen aus dem Handbuch der Chaosmagie, verfasst von Frater .717, erschienen im Bohmeier Verlag.

 

Der Artikel, aus dem in Kapitel X zitiert wird, war unter folgendem Link zu finden:

 

http://de.sputniknews.com/german.ruvr.ru/2014_02_09/Kreuzungen-von-Mensch-und-Tier-eine-Katastrophe-unserer-Zeit-3050/

 

Der Artikel wurde entfernt.

 

 

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Wenn eine Seele ihren Körper verlässt…

...bevor sie dessen beraubt wird, kann es passieren, dass sie der Wahnsinn verschlingt und mit sich in die Tiefe reißt.

Die Angeln des Wahnsinns werden rosten, und wenn die Seele den ungeliebten Ort nicht zur rechten Zeit verlässt, wird das Tor sich für immer schließen.

Ein Racheengel wird geboren werden und den Körper seines Empfängers in Besitz nehmen.

 

 

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Der Übergang II

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I

Mikey starrt entsetzt in ihre ausgefrästen Gehirnwindungen. „Als hätte sich etwas durch sie hindurch gebrannt…“, denkt er verängstigt.

„Wo sind wir hier“, fragt er das Mädchen mit zitternder Stimme.

„Wir sind hier überall und nirgends. Dein Blickwinkel bestimmt, was du siehst.“

„Was willst du von mir, Kally?“

„Es hat einen Grund, warum du hier bist.“

Mikey blickt sie unsicher an.

„Du weißt es nicht, habe ich recht?“

„Was sollte ich denn wissen?“

„An einem fernen dunklen Ort, zusammengekauert auf dem Boden einer Gefängniszelle, der Kopf erfüllt von schmerzendem Gedröhne, dort, wo sich zwei Welten zu überlappen beginnen. Nur einen Spalt breit entfernt warst du, aber der Spalt hat ausgereicht. Was ist das Gegenteil von Himmel und Erde, Mikey?“

Mikey schüttelt lediglich den Kopf und stößt dabei ein kurzes Lachen aus.

„Eine Welt, die von drei Wahnsinnigen geformt worden ist. Drei Wahnsinnige, die etwas aus dem tiefsten Abgrund zurückgeholt haben. Drei Wahnsinnige, die einen Negativ-Abdruck der Realität erschaffen haben. Einzig und allein mit einem starken Willen und einem starken Glauben. Ihr Glaube hat ihm eine Macht verliehen, die so stark ist, dass sie auf andere übergreifen kann, selbst dann, wenn sie sich nur in seiner Nähe aufhalten. Eine Macht, die sich manifestiert hat und die sich nicht mehr leugnen lässt.“

„Was ist dieses Etwas? Was haben sie zurückgeholt?“

Kallys Lippen umspielt ein Lächeln. „Sie haben uns diese Welt gegeben, in der wir uns jetzt aufhalten. Eine Welt, in der alles möglich ist. Sie lässt keine Wünsche offen. Das hört sich gut an, nicht? Doch es mag nicht unbedingt Positives verheißen.“

Mikey blickt sie unschlüssig an. „Du hast von einem „ihm“ gesprochen. Wer ist er?“

„Du wirst es selbst herausfinden. Wenn es Zeit dafür ist. Oder aber du findest es nie heraus. Es liegt an dir. Ein kleiner Rat von mir: Wenn er dir gegenübersteht, dann versuche nicht, dich zu wehren oder dich gegen ihn aufzulehnen. Du hast keine Chance. Du würdest verlieren. Du kannst dich lediglich mit ihm arrangieren. Du wirst ihm etwas geben müssen, aber dafür etwas anderes von ihm zurückbekommen. Es ist ein Tauschgeschäft. Du wirst anschließend nicht mehr derselbe sein, und es wird nichts mehr so sein wie vorher. Aber das ist besser als der Tod, findest du nicht?“

„Ich weiß nicht…“

Kally lächelt nachsichtig. „Du suchst jemanden, habe ich recht?“

Mikey nickt.

„Du musst sie sehr lieben.“

„Ja, das tue ich“, bestätigt er.

Kally lächelt. „Nun gut, du sollst deine Chance bekommen.“ Sie streckt ihm den Schlüsselbund entgegen.

Mikey starrt auf den bunten Bund, dann sieht er Kally an. „Was hat es mit dem Bund auf sich?“

„Die Schlüssel daran öffnen Türen. Aber nicht in dem Sinn, wie du es kennst. Sei vorsichtig. Was du einmal gesehen hast, wirst du nicht mehr vergessen. Es wird dein Handeln und dein Tun bestimmen. Wir haben etwas gemeinsam, Mikey…“

„Was denn?“

„Wir sind beide hier. Wir ziehen an einem Strang. Eine Tür hast du bereits geöffnet, und die hat dich zu mir geführt. Der Schlüssel hierzu heißt Alex. Er ist der größte Schlüssel auf dem Bund“, meint sie und deutet ihn mit dem Kinn an.

Mikey wirft einen zaghaften Blick darauf. Der fahle Glanz, der Kally umgibt, spiegelt sich in den Schlüsseln wider.

Das Lächeln des Mädchens verwandelt sich in ein breites Grinsen. „Wir haben noch einen Schlüssel gemeinsam, aber der befindet sich nicht auf dem Bund.“

Mikey schluckt. „Und was ist mit den anderen Schlüsseln?“

„Welche Türen du mit ihnen öffnest, bestimmst du. Es kann eine sein, aber es können auch mehrere sein. Betreten kannst du allerdings immer nur einen Raum. Manche Räume können sich überlappen. Vielleicht machst du mit einem einzigen Raum einen guten Fang.“

„Woher weiß ich denn, welche Tür die richtige ist?“

„Woher soll ich das wissen“, lacht Kally. „Es sind deine Türen.“ Sie mustert ihn wieder. „Bist du sicher, dass du den Bund haben willst?“

Mikey hat zu zittern begonnen. Es erscheint ihm jetzt kälter als zuvor. Auch sein Hauch zeichnet sich deutlicher von der Dunkelheit ab. Er umschließt sich selbst mit den Armen und blickt Kally unsicher fragend an.

Kally schüttelt den Bund, um Mikey aufzufordern, ihn an sich zu nehmen.

Zaghaft ergreift Mikey ihn.

„Von nun an bist du auf dich gestellt.“ Sie sieht ihn aufmerksam mit ihrem einen Auge an. „Denke immer daran: Ist eine Tür einmal geöffnet, kannst du sie nicht mehr so einfach schließen. Du wirst ein Teil davon werden. Es kann dich bereichern oder aber in die Tiefe ziehen. Denke bei deiner Wahl an Kira, wenn du sie finden willst, dann wirst du schon die richtige Tür wählen.“

„Ist sie hier?“

„Nicht nur dieses Haus hat Türen“, lacht Kally. „Nein, hier bei uns ist sie nicht. Ich hätte sie bereits gefühlt, aber das habe ich nicht.“

„Wo sind wir hier? Mir fehlt die Orientierung.“

„Wir sind beide gestorben, Mikey…“

„Wenn Kira nicht hier bei uns ist, heißt das dann, sie ist noch am Leben?“

Kally seufzt. „Wenn es so einfach wäre! Es gibt sehr viele Türen. Und es gibt sehr viel zwischen Leben und Tod, seit die drei Wahnsinnigen damit angefangen haben, Gott zu spielen. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie überhaupt wissen, was sie gemacht haben. Sie können es nicht sehen. Sehen können es nur wir, weil wir uns hier aufhalten.“

Mikey schüttelt wieder den Kopf und wirkt bei dem Versuch, zu lächeln, ziemlich verzweifelt. „Das ist zu hoch für mich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstanden habe.“

„Das macht nichts. Hauptsache ist, du hast ein Ziel.“

Mikey senkt traurig den Kopf. „Ramon ist tot. Und Serena auch…“ Schnell hebt er den Kopf wieder. „Sind die beiden denn hier?“

Kally verneint. „Serena kenne ich nicht. Und Ramon… Zu Ramon habe ich keine Verbindung.“

„Ich weiß aber, dass sie tot sind, gleich wie wir!“

Doch Kally ist bereits dabei, zu verblassen und wieder eins mit der Dunkelheit zu werden. „Dass wir gestorben sind, heißt nicht, dass wir tot sind, Mikey“, flüstert sie.

Mikey runzelt die Stirn, bemüht sich, zu verstehen. „Wo sind denn jetzt all die Türen, die es zu öffnen gilt?“

„Deine Türen kannst nur du selbst finden“, haucht sie.

Mikey macht einen Schritt auf sie zu. „Nicht! Bitte bleib hier! Lass mich hier nicht allein!“

Doch er hört lediglich ein Kichern aus der Ferne.

Mikey starrt noch eine ganze Weile auf die Stelle, an der Kally eben noch gestanden hat. Um ihn herum herrscht wieder Dunkelheit. „Ihre Dunkelheit…“ Er senkt den Blick zu dem Bund in seiner Hand. Obwohl nirgendwo Licht einfällt, kann er die Schlüssel metallisch funkeln sehen. Ganz im Gegenteil zu ihren bunten Fassungen. Die verschluckt die Dunkelheit. „Vor der Dunkelheit sind alle gleich. Die Dunkelheit macht keine Unterschiede. Die Dunkelheit ist ein fairer Richter…“, denkt er abwesend.

 

 

****

 

II

Mikey steht immer noch, zitternd und sich selbst umklammernd, in der Dunkelheit. Das lockende metallische Funkeln der Schlüssel hat ihn nicht neugierig gemacht. Mikey hat Angst. Angst davor, was Kally gesagt hat. Er will die Räume, deren Türen die Schlüssel für ihn öffnen sollen, nicht erkunden. Im Moment möchte er nur raus hier. Mikey ertastet den großen Hausschlüssel an dem Bund und denkt dabei unwillkürlich an Alex. „Ihm ist also der größte Schlüssel gewidmet… Warum? Und warum ist er die Verbindung zwischen Kally und mir? Alex hat mich nicht ermordet. Es war Seth. Warum hat Kally mich meine ganze Kindheit lang begleitet? Warum konnte Kira Kally sehen? Timmy konnte Kally auch sehen. Mein Gott, Timmy. An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht… Was hat es mit dem Schlüssel, der sich nicht auf dem Bund befindet, auf sich? Wie komme ich denn jetzt zurück zum Eingangstor? Ich sitze hier in einem dunklen Loch!“ Mikey rutscht mit dem Rücken den nasskalten Stein hinunter, zieht die Knie zu sich heran und legt seine Stirn darauf. „Ich brauche Ruhe, ich brauche Trost, ich brauche etwas, das mir Halt gibt und Kraft…“

Jetzt hört er etwas, von dem er nicht weiß, woher es kommt. Es dröhnt irgendwo in seinem Kopf, zwischen den Gesetzen der Logik, die die Realität definieren sollten:

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL…“

Mikey verzerrt sein Gesicht schmerzvoll. Langsam und zitternd führt er die Hände an seine Ohren. Dennoch hört er die Worte. Sie pochen von innen gegen seine Schläfen, schwellen in seinem Kopf zu infernalischem Lärm an:

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL - EMPFANGT DAS OPFER! SIDMAWUK - EMPFANGE DAS OPFER!“

Mikey starrt verängstigt in die Dunkelheit hinein. Er möchte wieder Kind sein. Er möchte zurück in die Garage, die sein Bruder George zu einem Proberaum umgebaut hat, und dort mit George jammen. Obwohl er und George es niemals leicht hatten, wünscht Mikey sich jetzt in diese Zeit zurück. Er stützt den Kopf in seine Hände und denkt intensiv an George.

Im Geiste kehrt er in ihr gemeinsames Elternhaus zurück. Als er dort ist, schieben sich zwei Gesichter in sein Blickfeld. Die Nachbarinnen strafen George mit einem bösen Blick. Eine der beiden sagt etwas zu George, aber Mikey kann sie nicht verstehen. Mikey sieht, wie George daraufhin die Haustür schließt und den Proberaum betritt. Tränen stehen George in den Augen. So kennt Mikey seinen Bruder nicht. Er hat George noch niemals weinen gesehen. „Er wird sich wahrscheinlich am Schlagzeug abreagieren wollen.“ Aber dem ist nicht so. George bleibt nicht in dem Proberaum. Er geht weiter zu der Abstellkammer, die an die Garage anschließt. Dort wühlt er in einer Kiste, wickelt eine Pistole aus dem weißen Tuch, dann die dazugehörigen Patronen. Kurzerhand setzt er sich die Waffe an die Schläfe und schießt.

Mikey stößt einen Schrei aus. Er hat zwar nicht hören können, was die Frau zu George gesagt hat, aber Mikey kennt die beiden gut. Sie haben nie ein gutes Wort für die Brüder übriggehabt. Sie haben immerzu über George und Mikey geschimpft und sie überall in der Gegend schlecht gemacht.

In seinem Zorn hat Mikey sich aufgerichtet. Der Hass, den er in diesem Moment für diese beiden Frauen empfindet, ist unbeschreiblich. Sie haben seinen Bruder auf dem Gewissen. Mikeys Gesicht verzieht sich schmerzlich. Er legt seine Hand flach auf den kalten, nassen Stein, der ihn umgibt, geht die Mauer im Kreis herum ab und konzentriert sich auf den glattgeschliffenen Stein. Er schließt die Augen, führt die Hand weiter und weiter, denkt dabei an seinen Bruder, denkt an Kira, denkt an Serena, denkt an Ramon, denkt daran, wie er es schon zweimal vollbracht hat, eine scheinbar unüberwindbare Mauer zum Auflösen zu zwingen. Obwohl er keine körperliche Kraft anwendet, treibt ihm die Anstrengung den Schweiß auf die Stirn. Er beißt die Zähne aufeinander, als er plötzlich spüren kann, wie das Mauerwerk zu vibrieren beginnt. Steine lösen sich und fallen. „Sie fallen, fallen nicht „hinauf“ wie bei meinen anderen Mauern. Hier drinnen scheint alles nach unten zu ziehen.“ Er presst die Hand dagegen und bringt nun auch die letzten Steine zum Bröckeln. Mikey lächelt. Mit immer noch geschlossenen Augen steigt er über die Mauerreste hinweg. Erst jetzt öffnet er sie langsam und muss erkennen, dass er immer noch von der Dunkelheit eingeschlossen ist. Rechts von ihm kann er eine Wand ertasten. Nach vorne scheint es weiter zu gehen. Vorsichtig setzt er einen Fuß vor den anderen, während er die linke Hand, die gleichzeitig den Schlüsselbund umklammert, schützend vor sich hält, um ein eventuelles Hindernis vor ihm rechtzeitig zu bemerken, mit der anderen Hand streicht er die Wand entlang. Als Mikey vermutet, das Eingangstor erreicht zu haben, sucht er nach dessen Schloss, doch er wird nicht fündig. „Das Tor hat innen kein Schloss. Offenbar kann man hier nur hereinkommen, nicht aber wieder hinaus!“ Mikey beginnt zu zittern, ist einem Schüttelkrampf nahe. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen das mächtige Eisentor, rutscht daran nach unten, kauert sich auf dem Boden zusammen, zieht die Knie bis an sein Kinn heran und umschließt sie fest mit den Armen.

„Willkommen im toten Winkel der Gesellschaft!“ Er erinnert sich an die Worte des Mädchens, das er in derselben Körperhaltung vorfand, als er das Haus betrat. „Jetzt kann ich nachvollziehen, was sie damit gemeint hat. Wir sind hier eingeschlossen, weggesperrt, irgendwo gefangen…“, denkt er. „Wo, zum Teufel, ist Kira“, brüllt er in die Finsternis hinein. Mikey senkt den Kopf, stumme Tränen laufen seine Wangen hinunter. Sein Blick fällt auf die metallisch funkelnden Schlüssel. „Der einzige Grund, der verhindert, dass ich mich in Bewegung setze, ist weniger die Angst, dass ich ein Teil davon werde, sondern vielmehr, dass ich hinter einer dieser Türen herausfinde, dass Kira tot ist, denn dann hat alles Hoffen ein Ende. Dann gibt es keine Hoffnung mehr“, denkt er in sich versunken. Neue Tränen laufen ihm über die Wangen.

„Du kannst deine Suche auch auf der anderen Seite beginnen“, flüstert sanft eine Frauenstimme.

Erschrocken blickt Mikey sich um, doch er kann niemanden entdecken.

„Auf der anderen Seite? Welche Seite ist denn die andere“, fragt er die Dunkelheit.

„Die Seite, auf der du nicht mehr zuhause bist.“

„Hier bin ich aber auch nicht zuhause.“

„Vielleicht hast du Glück und es öffnet jemand deine Tür…“

 

 

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Obvicioun II

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Unsere Gesandten sind unsere Schöpfung. Sie wählen die Schwachen aus und töten sie. Getreu dem Glauben, getreu seiner Intention nach dem Gesetz der Evolution.

 

I

Simo wälzt sich im Bett unruhig hin und her. Er kann nicht schlafen. Außerdem ist er durstig. Er verlässt das Bett und sein Zimmer, steigt die Treppe hinunter, geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank und schenkt sich Zitroneneistee ein. Er ist süchtig nach Zitroneneistee. Er setzt sich damit an den großen Küchentisch und nimmt eines seiner Comic-Hefte zur Hand. Auf der Titelseite des Comics steht in großen Buchstaben MAD. Er liebt die Hefte. Er hat alle Ausgaben. Nachdem er eine Weile darin gelesen hat, klappt er es wieder zu und legt es zurück auf den Stapel in dem Regal, gleich neben dem Küchentisch. Jetzt ist ihm nach fernsehen. Er betritt das Wohnzimmer mit dem riesigen Plasmaschirm, lässt sich auf der schwarzen Ledercouch nieder, streckt sich darauf aus und macht es sich bequem, doch als er den Fernseher einschalten will, verdecken ihm drei leere Flaschen eines exklusiveren Rotweins seines Vaters die Sicht. Simo richtet sich auf, will die leeren Flaschen beiseite schieben, als er zwischen ihnen eine DVD erblickt. Er nimmt die DVD in die Hand, betrachtet sie aufmerksam. Sie ist nicht beschriftet. Jetzt wird Simo neugierig. Er steht auf, schiebt sie in den DVD-Player und fläzt sich auf die Couch...

 

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Ruhelos schiebt Mikey sich die nasskalte Wand entlang. Er bringt die schrecklichen Bilder, die sich hier im Dunkeln und in der Einsamkeit permanent vor sein inneres Auge schieben, nicht aus dem Kopf. Die am Boden liegende Serena, das Nietenmetallgestänge, Seth mit seiner Geflügelschere… Serenas Schreie lassen Mikeys Herz erstarren. Schließlich bricht er zusammen. Er hält sich den Kopf mit beiden Händen. Er will wieder einen Körper haben, er will mit Menschen reden, will sich bemerkbar machen, will einen Weg zu Seth finden. Und dann hört er es wieder:

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL!“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hält Mikey sich den vom Sprechgesang dröhnenden Kopf.

„ORIENS, PAYMON, ARITON, AMAYON!“

Plötzlich befindet Mikey sich wieder in dem Folterraum. Die Nieten haben sich bereits durch seinen Hals gebohrt und seine Stimmbänder durchtrennt. Seth tritt an ihn heran und winkt ihm mit der Geflügelschere zu. Er lacht. Mikey weiß nur zu gut, was als nächstes passieren wird. Er tritt mit seinen kaputten Beinen notdürftig nach Seth, aber Seth fegt sie einfach beiseite, packt ihn am Unterarm und trennt ihm Zeige- und Mittelfinger der linken Hand ab. Während Seth ihm die Pistole zwischen den Augen ansetzt, kann Mikey sehen, wie Serena sich hinter diesem aufrichtet. Mikey schreit ihr zu, sie solle liegen bleiben, doch kein Laut dringt aus seinem Mund. Serena kann ihn nicht hören. Sie wirft sich gegen Seth, Seth fährt überrascht mit der Waffe herum und schießt ihr in den Kopf. Tränen laufen Mikey über die Wangen…

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL!“

„ORIENS, PAYMON, ARITON, AMAYON!“

„Es ist die Stunde, in der sich die Sonne verdunkelt, in der die Finsternis um sich greift, die Stunde, in der das Wort verloren geht.“

„IOSUA, ORILU, SISIS, ULIRO, AUSOI!“

„Einsam, jenseits von Kälte, jenseits von Hitze, jenseits der Götter, jenseits der Menschen, gekommen aus der tiefsten Tiefe, alt, älter, über alles Erinnern hinaus.“

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL!“

„Wir stehen vor Dir, um die Macht über Leben und Tod zu fordern. Empfange das Blut, welches Leben gibt. Lucifer, Leviathan, Satan, Belial…“

„LUCIFER, LEVIATHAN, SATAN, BELIAL - EMPFANGT DAS OPFER! SIDMAWUK - EMPFANGE DAS OPFER!“

Voller Hass und Verachtung krallt Mikey jetzt seine Finger in das Nietenmetallgestänge um seinen Hals und starrt in eine der Kameras. Daraufhin erscheint sein Gesicht auf allen vier Kameras, die in den Ecken der Decke montiert sind…

Simo steht mitten im Wohnzimmer und starrt entsetzt in die Augen, die jetzt den gesamten Bildschirm ausfüllen. Sein Herz rast. Schweiß steht auf seiner Stirn. Die Fernbedienung ist ihm aus der Hand gefallen. Die Rotweinflaschen liegen auf dem Boden.

„Simo!“

Simo dreht sich langsam um und erblickt seinen Vater.

„Was machst du da?“

Simo kann nicht antworten. Zu tief sitzt noch der Schrecken.

Der Vater blickt auf den riesigen Plasmaschirm, wo Seth Mikey gerade mit der Bohrmaschine bearbeitet. „Was hast du dir dabei gedacht“, fragt er Simo gereizt.

Simos Blick ist glasig und starr. Mechanisch setzt er sich in Bewegung, er will an dem Vater vorbei, doch der Vater drückt ihm seine Hand flach auf die Brust.

„Wo willst du hin, Simo?“

„Ich gehe schlafen“, meint Simo lediglich.

„Du gehst nirgendwo hin!“ Der Vater schlägt ihm ins Gesicht.

Langsam führt Simo seine Hand an die gerötete Wange. Ebenso langsam wandert sein Blick zu den Augen des Vaters. Seine andere Hand fasst den Vater fest am Handgelenk, führt die Hand fort von seiner Brust. Dann geht Simo an ihm vorbei, wirft die Wohnzimmertür hinter sich ins Schloss und steigt die Treppe hinauf zu seinem Zimmer.

Der Vater sinkt in die breite Couch und lässt den Kopf in seine Hände fallen. Warum, zum Teufel, habe ich die verdammte DVD da liegen lassen? Verdammt nochmal! Er hebt den Kopf wieder, greift sich die Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus.

 

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Simo liegt mit offenen Augen in seinem Bett und starrt an die Decke. Er mag Horrorfilme. Aber diese Aufnahme... Und mir war, als hätte ich etwas gehört. Irgendwelche Verse…

Plötzlich erleidet er einen schlimmen Hustenanfall. Simo richtet sich auf, hält sich den Hals. Vor Anstrengung treten die Adern an seiner Stirn und seinem Hals weit hervor. Er fängt an, zu würgen. Schnell steigt er aus dem Bett, läuft in sein Bad und übergibt sich ins Waschbecken. Starr vor Schreck sieht er dabei zu, wie das erbrochene Blut den Abfluss hinunterläuft…

 

 

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II

Als Simo erwacht, hört er aus dem Nebenzimmer Musik. Er kennt das Gedröhne von irgendwoher. Er erhebt sich, will wissen, welche Band das ist. Er klopft an die Tür seiner Schwester.

„Du kannst reinkommen“, ertönt es von der anderen Seite.

Der Zwanzigjährige schließt seine Hand um die Klinke, drückt sie langsam nach unten und tritt ein. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihm vor ihrer Schminkkommode.

„Seit wann stehst du denn so bald auf“, will sie wissen, ohne sich zu ihm herumzudrehen.