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Ashley Carrington

Jahreszeiten der Liebe

Roman

hockebooks

20

Frieder von Ossendorf kam am Dienstagnachmittag um kurz nach drei. Er brachte frischen Streuselkuchen mit, weil er wusste, dass Daniela nichts lieber mochte als frischen Streuselkuchen, wenn sie denn überhaupt einmal Kuchen aß, was höchst selten der Fall war.

Frieder kannte diese Art der Zurückhaltung nicht. Bei ihm gab es deshalb auch längst keine »schlanke Linie« mehr, die es zu bewahren galt. Er war von kleiner, rundlicher Figur, ging schon auf die sechzig zu und trug das graue Haar so kurz geschnitten wie ein amerikanischer GI. Er besaß eine überaus lebhafte, leicht zu begeisternde Natur, die jedoch ihre Grenzen kannte, wenn es um Kunst und Kommerz ging, und von beiden verstand er viel. Er führte gern die Rede vom »antizyklischen Denken und Handeln« im Mund und praktizierte das auch im normalen Alltag. So sah man ihn im Sommer nie in hellen, farbigen und im Winter nie in dunklen Kleidern.

An diesem grauen, regnerischen Nachmittag trug er einen weißen Sommeranzug und ein farbenfrohes Hemd, mit dem er sich am Strand von Hawaii in bester Gesellschaft befunden hätte. Und während man ihn im Sommer selten einmal ohne seine schwarze Hornbrille antraf, schmückte er sich in der unfreundlichen Jahreszeit mit leichten und bunten Gestellen, etwa mit diesem weißen Modell, das blaue Querstreifen besaß und sehr extravagant wirkte.

Daniela freute sich, ihn wiederzusehen, war er doch ein anregender und geistreicher Unterhalter. Die Kaffeestunde verging in einer dementsprechend heiteren, lebhaften Atmosphäre.

»Ein Cognac könnte jetzt nicht schaden«, schlug Frieder vor, nachdem er den Kuchenteller auch vom letzten Streusel befreit hatte.

Christian holte drei Gläser und seinen besten Cognac, und als er allen eingeschenkt hatte, sagte Frieder: »Wir sollten noch mal über die Ausstellung sprechen …«

Christian schwenkte die braune Flüssigkeit in seinem Glas und schüttelte den Kopf. »Die Mühe kannst du dir sparen, Frieder. Ich habe dir schon am Samstag erklärt, dass ich dafür nicht zu haben bin.«

»Darf ich erfahren, um was für eine Ausstellung es sich handelt?«, fragte Daniela neugierig.

»Ach, es ist gar nicht der Rede wert«, sagte Christian und berichtete kurz, worum es ging. »Ich weiß wirklich nicht, wie Frieder auf diese Schnapsidee gekommen ist.«

Daniela konnte sich diesem negativen Urteil nicht anschließen. »Aber wieso denn Schnapsidee, Christian? Ich finde das gar nicht so übel. Du solltest das Angebot wirklich noch einmal gut überdenken.«

»Fang du jetzt bitte nicht auch noch an«, meinte Christian enttäuscht.

Frieder nahm die Gelegenheit, Daniela auf seiner Seite zu wissen, sofort wahr. »Ich finde auch, dass es alles andere als eine Schnapsidee ist, Christian. Ähnliche Hotelausstellungen haben bewiesen, dass man auf diesem Weg nicht nur einen beachtlichen wirtschaftlichen Erfolg erzielen kann, sondern auch Schichten erreicht, die eben nicht Galerien und Museen besuchen.«

»Das mag sein, Frieder, aber ich bin nicht interessiert«, blockte Christian ab. »Die Bilder, die ich bei dir in der Galerie verkaufe, reichen mir, was den wirtschaftlichen Erfolg angeht. Da bist du wirklich tüchtig genug.«

»Aber so kann man doch nicht denken!«, protestierte Frieder. »Du malst ja nicht nur, um dein Auskommen zu haben! Du bist ein Künstler, der etwas zu sagen hat. Es steckt doch viel mehr in dir als das, was du bisher an die Öffentlichkeit hast kommen lassen.«

Daniela nickte zustimmend.

»Das klingt sehr schmeichelhaft, Frieder«, sagte Christian leicht spöttisch, »aber dennoch bin ich dafür, dass wir jetzt das Thema wechseln.«

»Ich bin Galerist und dein Agent, und als solcher bin ich absolut dagegen, das Thema zu wechseln! Es wird Zeit, dass wir die Dinge endlich mal beim Namen nennen. Du hältst mich jetzt schon lange genug hin. Und dass du ein Künstler bist, der mehr zu sagen hat, habe ich nicht geäußert, um dir zu schmeicheln!«, stellte Frieder ungehalten klar. »Das ist für mich eine Tatsache, der du dich mit all ihren Konsequenzen aber einfach nicht stellen willst!«

Christian machte eine ärgerliche Miene. »Frieder, bitte! Wir wollen uns doch wohl nicht vor Daniela in die Haare geraten, oder?«

»Was soll denn das heißen?«, fragte Daniela irritiert. »Lass uns doch ruhig darüber reden, Christian. Deine Arbeit interessiert mich sehr. Ich verstehe nur nicht, wo das Problem liegt.« Frieder stellte sein Glas ab. »Ich will Ihnen sagen, wo das Problem liegt, Daniela. Christian hat in sich das Potential, als Maler etwas Bedeutendes zu schaffen. Doch er hat schlicht und ergreifend Angst, sich seinem Talent zu stellen, es wie ein großer Künstler anzunehmen und vor die Öffentlichkeit zu treten. Er verkriecht sich hier auf der Insel und verkauft sich als regional geschätzter Landschaftsmaler, obwohl ganz anderes in ihm steckt.«

»Unsinn!«, rief Christian. »Es reicht mir nun mal, in einer Galerie vertreten zu sein, und es ist nicht mein Lebensziel, ein Vermögen anzuhäufen!«

»Jetzt streust du Daniela und auch dir Sand in die Augen! Es geht doch gar nicht um deine Sylter Landschaftsbilder!«, hielt Frieder ihm vor. »Es geht um die Bilder, die du seit über einem Jahr da oben in der Kammer versteckt hältst und die auszustellen du dich weigerst, obwohl du es mir versprochen hast!«

Daniela begriff. »Ist das, was ich am Sonntag morgen auf der Staffelei gesehen habe, eines dieser Bilder, von denen Frieder spricht?«, fragte sie Christian.

Dieser nickte mit verkniffenem Gesicht. »Die haben aber mit meiner eigentlichen Arbeit nicht das Geringste zu tun«, behauptete er. »Sie sind etwas ganz Persönliches!«

»Das ist nichts als hohles Gerede, und das weißt du ganz genau!«, erwiderte Frieder vehement. »Jeder große Künstler muss sein Leben, die ganze Welt seines Denkens und Fühlens in sein Werk einbringen, wenn er glaubhaft sein und etwas schaffen will, das Bestand hat. Du bist ein ausgezeichneter Inselmaler, Christian.«

»Danke«, sagte dieser trocken.

»Doch im Vergleich zu den anderen Bildern und dem, was in dir steckt und erst noch von dir selbst zutage gefördert werden muss, sind das wirklich nichts weiter als artige Gebrauchsbilder!«

Christian zuckte sichtlich zusammen. Sein Gesicht verschloss sich. »Ich wusste nicht, dass deine Galerie artigen Gebrauchsmalern offensteht!«, sagte er verletzt.

»Es tut mir leid, wenn du dich der Wahrheit verschließen willst, Christian, aber so lautet sie nun mal«, rückte Frieder nicht von seinem Urteil ab. »Es ist eine Schande, dass du nicht den Mut findest, endlich den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen – und zwar nicht hier auf der Insel, sondern in Frankfurt, Köln und Hamburg, in Amsterdam, London und Paris, ja sogar New York!«

»Das verstehe ich auch nicht«, pflichtete Daniela Frieder bei und wandte sich Christian zu. »Warum hältst du diese Bilder versteckt, statt sie in einer Ausstellung zu zeigen?«

»Ich habe schon meine Gründe«, entgegnete er schroff.

Frieder lachte freudlos auf. »Natürlich hast du die, Christian. Du hast Angst, dein beschauliches Dasein als recht erfolgreicher Nischenkünstler aufzugeben und dich dem internationalen Wettkampf der großen Künstler zu stellen.«

»Du redest dummes Zeug, Frieder. Und allmählich habe ich genug davon!«, rief Christian aufgebracht.

Frieder dachte jedoch nicht daran, einen Rückzieher zu machen. »Du hast Angst, Christian, und diese Angst ist auch berechtigt. Denn wer mit den Großen spielt, der kann sich dabei ein paar schmerzliche Blessuren holen, bevor er von ihnen akzeptiert und einer von ihnen wird – oder gänzlich scheitert«, fuhr er mit unerbittlicher Direktheit fort. »Aber diese Angst ist nichts, dessen man sich schämen müsste. Wohl jeder Künstler hat sie, und er muss mir ihr leben und sich ihr auch stellen. Und genau das ist es, was du nicht willst – du scheust dich vor dem Risiko, das mit solchen Ausstellungen in bekannten Galerien in Frankfurt und Köln verbunden ist! Lieber bleibst du ein hervorragender zweitklassiger Maler hier auf Sylt, als herauszufinden, ob du nicht wirklich das Zeug zu einem erstklassigen Maler hast, der sich international einen Namen machen kann.«

Christian erhob sich abrupt und mit vor Wut gerötetem Kopf. »Wenn du nur mein Agent wärst, hätte ich dich schon längst aus dem Haus geworfen. Aber auch als Freund hast du allmählich die Grenze dessen erreicht, was man sich unter guten Freunden sagen kann!«, stieß er mühsam beherrscht aus. »Da meine Erziehung und unsere langjährige Freundschaft es mir verbieten, dir die Tür zu weisen, gehe ich lieber selber!«

»Christian! Du kannst vielleicht vor mir davonlaufen, nicht jedoch vor deinem Talent. Du musst dich ihm stellen, früher oder später!«, rief Frieder ihm beschwörend nach.

Im nächsten Augenblick warf Christian die Haustür knallend hinter sich zu.

»Tut mir leid, Daniela«, murmelte Frieder.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie.

Er lächelte müde. »Sie haben recht, es tut mir nicht leid. Es lag mir schon so lange auf der Seele und musste endlich einmal gesagt werden. Und wenn Sie eines seiner anderen Bilder gesehen haben, verstehen Sie vielleicht, warum ich manchmal als Freund und als Agent verzweifle.«

Sie nickte. »Ich war überwältigt.«

Frieder blickte in sein Glas und schüttelte den Kopf. »Er hat Angst, im internationalen Vergleich nicht zu bestehen und zu versagen. Deshalb begnügt er sich mit dem Leben eines Dorfschwans, der von allen auf dem Dorfteich bewundert und auch gut gefüttert wird«, sagte er bitter. »Dabei könnte er weit oben fliegen und die Welt unter seinen Schwingen haben. Mein Gott, ja, er könnte ein Adler sein!«

Eine halbe Stunde nachdem Frieder von Ossendorf gegangen war, kehrte Christian zurück. Er versuchte diese heftige Auseinandersetzung herunterzuspielen und schnell das Thema zu wechseln.

Doch Daniela wollte mit ihm darüber reden, weil sie spürte, dass diese Angelegenheit auch ihre Beziehung beeinflusste. »Ich begreife nicht, weshalb du so wütend reagiert hast«, sagte sie verwundert. »Eigentlich hat er dir doch ein großes Kompliment gemacht.«

Er lachte höhnisch auf. »Ja, artiger Gebrauchsmaler!« Er verschwieg ihr, dass Frieder damit einen Begriff von ihm verwendet hatte.

»Er hat das doch nur im Vergleich gemeint!«

»Ich finde es nicht sehr nett von dir, dass nun auch du noch in sein Horn bläst.«

»Christian, ich blase nicht in sein Horn, ich liebe dich. Und deshalb mache auch ich mir meine Gedanken«, erwiderte sie eindringlich. »Ich habe am Sonntag morgen dieses Bild gesehen, und es hat mich stärker beeindruckt als all deine anderen Bilder. Du musst diese Art der Malerei einfach fortführen und damit auch an die Öffentlichkeit treten. Es stimmt schon, was Frieder gesagt hat. Du darfst dich nicht hier verstecken.«

»Ich muss überhaupt nichts! Und ich entscheide, welche Bilder an die Öffentlichkeit gelangen!«, brauste er auf. »Außerdem verstecke ich mich hier nicht. Sylt ist einfach der einzige Ort, wo ich arbeiten kann. Hier habe ich den Erfolg, den ich brauche, und meine Ruhe. Aber das begreift keiner von euch!« Daniela sah ihn verstört an. Dann sagte sie leise: »Du hast wirklich Angst, nicht wahr?«

Er entzog sich ihrer Hand. »Angst! Angst! … Ja, vielleicht habe ich Angst, dass ich im Wettbewerb der ganz Großen, wie Frieder es nennt, doch nicht bestehe. Und vielleicht habe ich Angst, mir dadurch auch noch das kaputtzumachen, was ich mir auf Sylt geschaffen habe. Aber so etwas könnt ihr ja gar nicht nachempfinden …«

Es schmerzte sie, dass er so etwas sagte, auch wenn es in einer zornigen Aufwallung geschah. »Doch, das kann ich sehr gut.«

»Ach was!«, widersprach Christian gereizt. »Ihr wisst doch gar nicht, was hungern und Armut heißt! Ihr kommt beide aus mehr als gutbürgerlichen Familien. Dein Vater war Oberstudienrat und hat dir bei seinem Tod ein Vermögen vererbt …«

Daniela schluckte schwer. Nein, nein, das war eine Lüge, Christian! Nichts habe ich von meinen Eltern geerbt. Ich kenne sie noch nicht einmal! Und das Geld … das Geld war Blutgeld! Ich habe das Studio mit Blutgeld gekauft!, wollte sie rufen, aber kein Wort kam ihr über die Lippen.

»… doch ich habe noch jahrelang nach dem Tod meines Vaters seine Schulden beglichen, die er gemacht hat, weil ich so dumm gewesen bin, einmal für ihn zu bürgen«, fuhr er erregt fort. »Talent! Mein Gott, was heißt das schon? Mein Vater steckte voller Talente! Er hatte immer neue grandiose Ideen, und jede davon erwies sich als kostspielige Seifenblase. An seine Familie dachte er nie. Dass wir hungern und anschreiben lassen mussten, kümmerte ihn nicht. Ich musste beim Lebensmittelhändler darum betteln, dass er uns noch etwas mehr Kredit einräumte. Und ich war, gerade mal in bessere Lumpen gekleidet, der Spott der Kinder in unserer Nachbarschaft und in der Schule, und erst heute weiß ich, wie sehr auch meine Mutter darunter gelitten hat, dass für normale Dinge wie Kleider und Essen bei uns nie Geld da war. Als es uns dann ganz schlecht ging, nahm mich meine Tante bei sich in ihrem Haus auf. Und erst hier, in diesem Haus auf Sylt, habe ich Geborgenheit und Sicherheit erlebt, Daniela! Hier habe ich mich erst richtig als Mensch gefühlt und mir geschworen, mich niemals von diesen großspurigen Träumen einfangen zu lassen, die meine Familie zerstört haben. Dass meine Tante mir das Haus vererbt hat, war das größte Geschenk meines Lebens und hat mir zum ersten Mal das Gefühl der Freiheit gegeben. Aber wer so wohlversorgt und behütet aufgewachsen ist wie Frieder und du, der wird so etwas nicht verstehen.«

»Du weißt gar nicht, wie sehr ich nachempfinden kann, was du durchgemacht hast«, begann Daniela.

»Nein, das kannst du nicht!«, sprach er ihr diese Fähigkeit barsch ab. »Und wenn du mir Angst vorwirfst, dann schau doch mal in den Spiegel. Wer von uns beiden hat denn die größere Angst, ich oder du?«

»Wie meinst du das?«

Er lachte grimmig auf. »Hast du bereits vergessen, dass ich dir einen Heiratsantrag gemacht habe?«

»Das passt ja wohl kaum hierher, Christian!«, wehrte sie sich.

»Und ob es her passt! Wenn du schon so in mich dringst, warum ich dieses berufliche Risiko scheue, dann will ich auch wissen, warum du Angst vor der Ehe hast.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst vor der Ehe habe«, versuchte sie sich rauszureden.

»O doch, das hast du! Du spürst so sehr wie ich, dass wir einander lieben und brauchen, dass wir zueinander gehören, und die letzten vier Tage haben doch gezeigt, wie sehr wir uns lieben und nicht nur im Bett begehren! Aber dennoch hast du Angst, unserer Liebe diese Unverbindlichkeit zu nehmen. Du hast Angst, dich zu ihr und damit zu mir zu bekennen und dein Leben mit mir zu teilen«, brach es aus ihm heraus. »Und ich frage mich, was denn noch kommen muss, damit du begreifst, dass unsere Liebe etwas ebenso Starkes wie Zerbrechliches ist. Und warum du dich immer wieder vor mir verschließt.«

Daniela schüttelte betroffen den Kopf. »Das tue ich doch nicht, Christian!«

»Das tust du sehr wohl! Du vergräbst dich in deine Arbeit, die dir offenbar wichtiger ist als das, was zwischen uns ist und noch sein könnte!«, warf er ihr vor. »Und es ist ja nicht einmal richtig, von einer Wochenendliebe zu sprechen, da wir ja gar nicht jedes Wochenende zusammen sind.«

Zorn walke in ihr auf. »Liebe hat mit Trauschein ja wohl nichts zu tun, Christian, das habe ich dir schon einmal gesagt. Und wenn du nicht so starrköpfig darauf bestehen würdest, permanent auf Sylt zu wohnen, weil du angeblich nur hier malen kannst, was ich dir nicht abnehme, dann könnten wir so oft zusammen sein, wie wir es wünschen!«

»Du meinst, ich sollte wieder nach Köln ziehen, ja?«, fragte er sarkastisch.

»Ja, genau das meine ich!«, bestätigte sie und funkelte ihn erbost an. »Du kannst es mit deinem Beruf vereinbaren. Du könntest dir ein Atelier in Köln einrichten, und wir würden endlich ein einigermaßen normales Leben führen, ohne ständig auf der Autobahn zu liegen. Wenn ich dir wirklich so viel bedeute, wie du sagst, dann würdest du es auch tun.«

»Begreifst du denn nicht, dass diese Insel und dieses Haus die Quelle meiner Schaffenskraft sind?« Er schrie sie fast an.

»Ich bin überzeugt, das redest du dir nur ein, weil du Angst hast, wie Frieder es richtig erkannt hat!«, entgegnete sie aufgewühlt. »Sylt mag dich inspirieren, doch dass du nicht in Köln oder anderswo arbeiten kannst, nehme ich dir nicht ab! Die Schaffenskraft steckt doch nicht in diesem Haus und in dieser Insel, sondern in dir, Christian! In deinem Kopf! Außerdem müsstest du dein geliebtes Sylt ja nicht aufgeben, wenn du nach Köln kommst. Du könntest dich zwischendurch doch immer wieder mal für ein paar Wochen in dein Haus zurückziehen.«

»Sehr großzügig!«, bemerkte er sarkastisch.

Sie stritten sich noch eine geraume Weile, ohne dass es etwas brachte. Dann schlug Daniela einen versöhnlichen Ton an, weil sie es nicht ertrug, dass sie sich nach diesen wunderschönen Tagen, die hinter ihnen lagen, ausgerechnet am letzten Abend so zankten.

Später im Bett versuchten sie den Missklang auszumerzen und sich leidenschaftlich ihrer Liebe zu versichern. Seltsamerweise gelang es ihnen nicht, obwohl sie sich mit einer Heftigkeit und Ausdauer liebten, die fast etwas Verzweifeltes hatte. So als wollten sie etwas erzwingen, von dem sie gleichzeitig doch wussten, dass es sich nicht erzwingen ließ. Es war, als setzte ihr Unterbewusstsein das Ringen fort.

Plötzlich aber brach Danielas innerer Widerstand zusammen. Ihre Finger krallten sich in seinen Rücken, sie bäumte sich unter ihm auf und schrie ihre Lust wie auch ihre Verzweiflung in die Dunkelheit des Zimmers. Im nächsten Augenblick war es auch mit seiner Beherrschung vorbei. Sein Stöhnen war wie ein zorniges Schluchzen.

Völlig erschöpft und schweißüberströmt lagen sie danach auf den zerwühlten Laken. Sie spürten beide, dass sie vergeblich versucht hatten, etwas in ihr Leben zurück zu zwingen. Irgendetwas schien in ihnen zerbrochen.

»Ich liebe dich, mein Schatz, und sobald ich kann, besuche ich dich«, versicherte er, als sie nach einem Frühstück aufbrach, bei dem sie jedes kontroverse Thema vermieden.

»Ich liebe dich auch«, sagte sie, gab ihm einen Kuss und fuhr los. Sie hatte Tränen in den Augen, doch ihre Gedanken waren klar und geordnet. In Niebüll hielt sie vor der ersten Telefonzelle an. Sie wählte Alans Nummer und wurde von seiner Sekretärin sofort mit ihm verbunden, obwohl er sich in einer Besprechung befand. Doris Maier hatte von ihm die Direktive erhalten, Anrufe von ihr immer durchzustellen.

»Sie können buchen, Alan.«

»Buchen? Was denn?«

»Ein Zimmer für mich. Ich reise mit Ihnen nach Cannes.«

21

Die Sonne schien durch den Gardinenspalt und lockte Daniela aus dem Bett, in dem sie so gut geschlafen hatte wie noch in keinem anderen Hotelbett zuvor. Alan hatte in Cannes das beste Hotel am Ort ausgewählt, das Carton. Mit seiner schneeweißen, kunstvoll gegliederten Fassade ragte es wie ein Tempel der Reichen und Mächtigen an der berühmten Uferpromenade, der Croisette, auf und zählte zu den exklusivsten Grandhotels der Belle Epoque, die ihr hohes Niveau aus der Zeit der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart bewahrt hatten.

Daniela schlug die federleichte Daunendecke zurück, schlüpfte in den flauschigen Frotteebademantel, der das Emblem des Hotels trug, und ging zum Fenster. Sie zog die Gardinen zurück, und heller Sonnenschein erfüllte das exquisit eingerichtete Zimmer. Wie eine sanfte Woge, die die edlen Stoffe der Draperien und Bezüge aufleuchten und das dunkle Holz der Möbel glänzen ließ, flutete das warme Licht an ihr vorbei. Im ersten Augenblick blinzelte sie geblendet in den sonnigen Morgen. Das Panorama mit seinen mediterranen Farben und Motiven war beeindruckend. Sie blickte direkt auf die palmenbestandene Promenade, auf der schon ein geschäftiges Leben und Treiben herrschte, den langen, sanft geschwungenen Strand und das Meer, das mit seinem tiefen Blau dem Namen der Küste wahrhaftig alle Ehre machte. Blau und beinahe wolkenlos war auch der Himmel, und auf dem Meer zogen einige Yachten ihre scheinbar lautlose Bahn durch das Königsblau der See.

Manchmal ist die Wirklichkeit kitschiger als die kitschigste Postkarte, dachte Daniela und öffnete einen Fensterflügel, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Ihr war, als könnte sie die Blumen riechen, die vor dem Hotel so üppig blühten.

Sie war froh, dass sie sich so spontan entschieden hatte, Alan auf seiner Reise zu Anthony Capo nach Cannes zu begleiten. Sie brauchte Abstand, nicht nur von Christian und dem, was in Sylt zwischen ihnen vorgefallen war, sondern auch von allem anderen. Vielleicht würde es ihr hier gelingen, einmal richtig abzuschalten und sich ein wenig zu erholen. Die letzten Wochen hatten zur Genüge gezeigt, dass sie mit ihren Nerven doch ziemlich am Ende war.

Daniela löste sich von der bezaubernden Aussicht und begab sich ins Bad. Alan erwartete sie um halb zehn unten zum Frühstück. Jetzt war es kurz vor halb neun, so dass sie sich nicht zu beeilen brauchte.

Unter der Dusche wanderten ihre Gedanken zu Christian. Sie hatten am Donnerstag noch einmal miteinander telefoniert, und keiner von ihnen hatte den Streit vom Dienstag auch nur mit einem Wort erwähnt. Es war überhaupt ein ganz merkwürdiges Gespräch gewesen, und im nachhinein hatte sie sich gefragt, worüber sie eigentlich geredet hatte, so oberflächlich und nichtssagend war ihr Telefonat gewesen. Es hatte sie erschreckt.

Daniela drehte die Dusche ab und zwang sich, jetzt nicht darüber nachzudenken. Dafür war später noch Zeit genug. Sie war nicht nach Cannes gekommen, um sich hier Klarheit über das zu verschaffen, was zwischen ihr und Christian nicht in Ordnung war und warum. Sie hatte das starke Bedürfnis, einmal nicht Probleme wälzen und sich das Hirn über Lösungen zu zermartern, ob nun privat oder geschäftlich.

In aller Ruhe machte sie sich fertig. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, was sie anziehen sollte. Das neue weiße Strickkleid mit den passenden Leggins war für diesen Tag genau das Richtige, war es doch überaus schick, ohne formell zu sein. Fast auf die Minuten um halb zehn betrat sie den eleganten Saal, in dem das Frühstück serviert wurde. Alan hatte schon an einem Tisch an der Terrassenfront Platz genommen. Als er sie sah, erhob er sich mit einem Lächeln, das keinen Zweifel daran ließ, wie sehr ihn ihr Anblick faszinierte.

»Das ist fast schon zu viel, um wahr zu sein, Daniela«, sagte er.

»Sie sprechen in Rätseln, Alan.«

»Eine wunderschöne Frau, die ich in den nächsten Tagen an meiner Seite haben werde und die mich zudem nicht einmal eine Viertelstunde warten lässt – so etwas gibt es eigentlich doch gar nicht.«

Sie lächelte ihn an. »Sätze mit ›eigentlich‹ erweisen sich meist als grundlegend falsche Einschätzung. Ich freue mich, wenn ich Sie von einigen Vorurteilen befreien kann, die …«

»… die eigentlich gar nicht zu mir passen«, nahm er sich selbst auf den Arm. »Aber wenn ich sage, dass Sie in diesem Kleid unverschämt bezaubernd aussehen, dann beruht das ganz sicher nicht auf einer falschen Einschätzung!«

»Und warum unverschämt?«, fragte sie ein wenig kokett.

»Weil Ihr hinreißendes Aussehen es sogar einem Mann, der sich zu beherrschen weiß, schwer macht, Sie nicht in seine Arme zu nehmen und zu küssen«, sagte er leise, und sein Blick hatte plötzlich gar nichts scherzhaft Spöttisches an sich. In seinen Augen stand unverkennbares Begehren.

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Ihnen einen so herrlichen Tag schwer mache«, erwiderte sie, gab ihm spontan einen Kuss auf die Wange – und war von ihrer eigenen Reaktion überrascht. Seine Komplimente und seine Bewunderung für sie, die deutlich über die gewöhnlichen Schmeicheleien eines charmanten Mannes hinausgingen, taten ihr einfach gut. Es lag etwas erfrischend Direktes und Unkompliziertes in seiner Art.

Er war von ihrem Kuss so überrascht, dass sie schon saß, bevor er sich gefasst hatte. »Ich werde mich bis zum nächsten Kuss nicht mehr waschen, Daniela!«

Sie lachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so ein Schmutzfink sind. Und jetzt bitte ich Sie, mir mit der Speisekarte ein wenig zu helfen. Mein Französisch ist mehr von der Werbung als vom Schulunterricht geprägt worden und reicht nur wenig über merci und mon chéri hinaus.«

»Oh, mit mon chéri liegen Sie bei mir ganz richtig«, ließ er sich diese Anspielung nicht entgehen, kam dann ihrer Bitte jedoch nach.

Das Frühstück verlief in einer heiteren, lockeren Atmosphäre. Und das war es, was Daniela so sehr an ihm schätzte. Er gab ihr zwar immer wieder deutlich zu verstehen, wie sehr er ihr zugetan war, doch er bedrängte sie nicht. Seine gelegentlichen Liebeserklärungen hatten bei aller Aufrichtigkeit etwas Leichtes, Unbekümmertes und waren frei von jeglichem ernsten Besitzanspruch, mit dem Christian sie in letzter Zeit konfrontierte.

»Wann erwartet uns Signore Capo?«, fragte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr.

»Gegen elf, aber so genau nimmt er es nicht«, beruhigte er sie. »Es ist auch nicht weit von hier, mit dem Wagen keine zwanzig Minuten.«

»Ich bin schon ganz gespannt, ihn kennenzulernen«, gestand sie.

Alan legte die Serviette auf seinen Teller. »Ich weiß, ich weiß«, seufzte er resigniert. »Neben ihm werde ich in Ihren Augen zu einem Schatten meiner selbst verblassen.«

»Ich zweifle nicht daran, dass das, was dann noch von Ihnen übrig ist, immer noch Kontur und Leuchtkraft haben wird«, erwiderte sie amüsiert.

Er hob die Augenbrauen. »Sie machen mir Mut.«

»Den Sie auch bitter notwendig haben, ja?«

Er lachte, und sie erhoben sich vom Frühstückstisch. Wenige Minuten später hatte ein livrierter Boy den silbergrauen Mercedes-Coupé vor dem Portal vorgefahren, den Alan für die Dauer ihres Aufenthalts am Flughafen von Nizza per Vorbestellung gemietet hatte.

»Das Haus von Anthony Capo liegt oben in den Bergen«, erklärte Alan, als er den Wagen durch Cannes lenkte. »Die Fahrt dorthin wird Ihnen gefallen.«

Er und Anthony Capo hatten nicht zu viel versprochen. Die Blumenpracht und die Palmen, mit denen Cannes sich schmückte, waren nach den trüben grauen Monaten schon ein Labsal für das Auge. Doch als sie die Stadt verließen und auf einer kurvigen Straße in das bergige Hinterland vorstießen, zeigte ihnen die Natur das Wunder und die farbige Vielfalt eines südländischen Frühlings. Die Obstbäume entlang der Straße standen schon in voller Blüte, und die Wiesen waren mit Wildblumen übersät.

Sie kamen durch mehrere malerische Dörfer. Einige Kilometer vor Grasse verließen sie die Landstraße und folgten einer bedeutend schmaleren Straße, die nur mit Schotter belegt war. Sie führte durch einen großen Olivenhain, der schon zu Anthony Capos Anwesen gehörte.

Dann tauchten sie in den Schatten einer Allee alter, hoher Zypressen ein. Sie mündete vor einer efeubewachsenen Mauer mit einem großen schmiedeeisernen Tor mit Doppelflügel, das schon seit Generationen an dieser Stelle die Weiterfahrt verwehrte. Die Fernsehkamera, die von der Mauerkrone aus ihr Weitwinkelobjektiv auf die Torauffahrt gerichtet hielt, und die Sprechanlage waren der einzige Hinweis, dass die moderne Zeit mit ihrer Technik auch an diesem abgelegenen Ort Einzug gehalten hatte.

Alan stieg aus und meldete sich über die Sprechanlage. Wie von Geisterhand schwang das Tor im nächsten Moment auf, öffneten sich die hohen, schmiedeeisernen Flügel nach innen. Der Weg hinter dem Tor war mit hellem Kies bestreut und schlängelte sich durch eine blühende Parklandschaft, die Daniela den Atem raubte. Büsche, Bäume und Blumenbeete wurden ohne Zweifel von Gärtnern gepflegt, doch war die Natur nicht in ein starres, künstliches Gartenkonzept gepresst worden. Hier hatte man vielmehr ihrer kreativen Zufälligkeit Rechnung getragen und ein harmonisch natürliches Miteinander geschaffen statt jenes abgegrenzte Nebeneinander, das vielen Parklandschaften ihren sterilen Charakter gab.

Hinter einer Kurve tauchte schließlich das Haus auf, ein alter hochherrschaftlicher Landsitz mit braunroten Ziegeldächern. Er hatte trotz seiner Größe und Seitentrakte diese typische südländische Leichtigkeit, zu der schattige Arkadengänge, ein Innenhof mit alten Bäumen und Wasserspeier ihren Teil beitrugen.

»Mein Gott, was für ein Anwesen!«, rief Daniela bewundernd.

»Ja, hier und da findet man noch ein Fleckchen Paradies auf dieser Welt«, pflichtete Alan ihr bei und stellte den Motor ab. »Anthony hat so ein Stück Paradies gefunden. Warten Sie erst einmal ab, bis Sie hinten auf der Terrasse stehen und die Berge und das Meer vor sich liegen sehen.«

Ein großer, in den Schultern kräftiger und in der Taille schlanker Mann mit dichtem, pechschwarzem Haar trat aus dem Haus und kam auf sie zu. Er trug schwarze Leinenhosen und ein graues Seidenhemd. Eine Kette mit einem goldenen Kreuz blitzte in der Sonne um seinen Hals auf.

Daniela erkannte ihn sofort. Es war Anthony Capo, der berühmte Sänger, der viel jünger als neunundvierzig aussah. Er war auch größer, als sie ihn von Bildern her in Erinnerung hatte. Ein herzliches Lächeln, das seine Freude über ihr Kommen offen zum Ausdruck brachte, lag auf seinem markanten Gesicht, dessen Haut eine gesunde Bräunung aufwies.

Daniela stieg aus und ergriff die ausgestreckte Hand von Anthony Capo. »Ich freue mich und fühle mich geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signore Capo«, sagte sie.

Er schaute ihr lächelnd in die blauen Augen und erwiderte: »Seien Sie herzlich willkommen, Frau Stern. Auch ich freue mich, dass Sie es doch noch einrichten konnten, zu kommen.« Er hielt ihre Hand mit beiden Händen umschlossen und nahm den Blick nicht von ihrem Gesicht. »Wissen Sie, manchmal kennt man von einem Menschen erst nur die Stimme, und man macht sich nach der Stimme unwillkürlich ein Bild von dieser Person, das man dann grundlegend korrigieren muss, wenn man dieser Person gegenübersteht. Ich glaube, so ergeht es jedem, nicht wahr?«

Daniela nickte.

»Von Ihnen habe ich mir natürlich auch ein Bild gemacht«, fuhr er mit seiner dunklen, samtigen Stimme fort. »Doch in Ihrem Fall brauche ich es nicht der Wirklichkeit anzupassen. Alan hat Sie mir so gut beschrieben, dass ich das Gefühl habe, Sie mir nie anders als so vorgestellt zu haben. So etwas ist wirklich selten.«

Daniela wusste nicht, was sie erwidern sollte, doch sie wusste schon in diesem Moment, dass sie ihn mochte und mit ihm privat wie geschäftlich wunderbar auskommen würde. Er war ein Mann, der völlig in sich ruhte und keiner Starallüren bedurfte, um respektiert zu werden und die Menschen in seiner Umgebung für sich einzunehmen. Er besaß eine Ausstrahlung, die ihn zusammen mit seinem musikalischen Talent zu diesem Ausnahmekünstler gemacht hatte, der er war.

»Soll das ein Kompliment sein oder nur eine sizilianische Spitzfindigkeit?«, mischte sich Alan ein.

»Immer diese lauten Amerikaner, die Worten nur dann Glauben schenken, wenn sie aus einer Werbeabteilung kommen«, rief Anthony Capo mit kummervoller Miene, tauschte mit Alan jedoch einen herzlichen Händedruck.

Unbeschwert über die Reise und die vom Frühling verzauberte Landschaft plaudernd, führte Alan sie ins Haus, das sein ganzes Wesen widerspiegelte. Die Räume waren sehr persönlich und sehr geschmackvoll, aber doch eher sparsam als überladen eingerichtet. Es war nicht das Haus eines millionenschweren Stars, der damit protzte, was er sich an Kunst und Komfort alles leisten konnte. Es war vielmehr das großzügige und dennoch gemütliche Heim eines Ehepaars, das mit den Möbeln, Bildern, Teppichen und all den Kleinigkeiten lebte, die es in diesem Haus zusammengetragen hatte.

Im Wohnzimmer, das auf die Terrasse hinausging, trafen sie auf Anthonys Frau Lucia. Sie war eine kleine, schlanke und sehr zerbrechlich wirkende Frau, der man auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte, dass sie vier Kinder zur Welt gebracht hatte und die Ehefrau eines weltberühmten Sängers war. Sie war wohl auch in ihrer Jugend nie eine Schönheit gewesen, doch sie besaß beeindruckend klare Gesichtszüge, die Daniela unwillkürlich an die einer Madonna denken ließen, und wunderschöne große Augen, die wie das smaragdgrüne Wasser einer Südseelagune schimmerten und unter langen Wimpern ruhten.

Daniela konnte sich nicht erinnern, jemals ein Bild von Lucia Capo gesehen zu haben. Anthony war bekannt dafür gewesen, dass er sein Familienleben rigoros unter Verschluss hielt. Er hatte seine Frau und seine Kinder systematisch davor geschützt, mit ihm in die Öffentlichkeit gezogen und damit zwangsläufig Opfer der Klatsch- und Boulevardpresse zu werden. Und da er ein Mann ohne Skandale gewesen war und es verstanden hatte, die sensationshungrigen Medien auf andere Weise zu befriedigen, hatten die Pressefotografen ihn und seine Familie auch nicht mit ihren teleobjektivbestückten Kameras verfolgt.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl«, sagte Lucia Capo, nachdem ihr Mann sie mit Daniela bekannt gemacht hatte, und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

»Es ist wunderschön bei Ihnen«, versicherte Daniela.

»Und in einem Haus, in dem Sie das Sagen haben, muss man sich einfach wohl fühlen, Lucia«, fügte Alan hinzu.

»Er gibt zwar vor, mich besuchen zu kommen«, erklärte Anthony, zu Daniela gewandt, »doch statt richtige Männergespräche mit mir zu führen, hockt er dann die meiste Zeit bei meiner Frau in der Küche und lässt sich von ihr in die sizilianische Kochkunst einführen.«

»Die Kunst kennt viele Gesichter«, gab Alan fröhlich zurück. Lucia lächelte, und Daniela bemerkte, mit welcher Liebe der Blick ihres Mannes auf ihr ruhte. Sie sah schnell weg, weil sie das Gefühl hatte, etwas allzu Privates zu beobachten. Oder war es ihr aus einem anderen Grund, der in ihr lag, unangenehm?

»Sie entschuldigen mich«, sagte Lucia mit ihrer ebenso klaren wie melodischen Stimme. »Ich muss noch einige Vorbereitungen für das Mittagessen treffen.«

»Können Sie einen Küchenjungen gebrauchen, Lucia?«, fragte Alan leichthin.

Lucia sah ihren Mann an.

»Gehen Sie nur mit, Alan!«, forderte Anthony ihn lachend auf. »Früher oder später zieht es Sie ja doch zu den Töpfen und Pfannen.«

Alan grinste. »Es ist mir nun mal in die Wiege gelegt worden, in alle Töpfe zu gucken. Daniela, ich überlasse Sie unserem großen Sänger. Sie sind bei ihm in den besten Händen. Wir sehen uns dann zum Essen wieder.«

Ein wenig verwundert schaute Daniela ihm nach, wie er mit Lucia in Richtung Küche verschwand. Dann bat Anthony sie hinaus auf die Terrasse, und sie bewunderte die grandiose Aussicht, die sich ihr bot. Ihr Blick ging ungehindert über die Berge und Täler nach Cannes hinüber und weiter nach Süden bis zum Horizont, wo das tiefe Blau des Mittelmeers mit dem lichteren Blau des Himmels verschwamm.

Anthony führte sie zu einer mit Wein und Rosen umrankten Pergola, wo weich gepolsterte Korbsessel standen, und bat sie, Platz zu nehmen. Auf dem dazugehörigen Tisch war ein Tablett mit Gläsern und eine Karaffe mit frisch ausgepresstem Orangensaft sowie eine Flasche Campari.

»Möchten Sie auch einen Campari mit Orange?«

»Ja, gern.«

Wenig später reichte er ihr ein Glas und setzte sich zu ihr. »Sie machen so ein verwundertes, nachdenkliches Gesicht, Frau Stern«, stellte er fest.

»Ach, nur wegen Alan, Signore Capo. Ich hätte nie gedacht, dass er eine Schwäche fürs Kochen hat.«

Anthony schmunzelte. »Eigentlich hat er die auch nicht. Und ich wage die Behauptung, dass seine eigenen Kochkünste kaum über die Bedienung einer Mikrowelle zum Erwärmen eines Fertiggerichts hinausgehen.«

Daniela sah ihn verständnislos an. »Ja, aber … Sie haben doch selbst gesagt, dass Alan sich bei jedem Besuch meist bei Ihrer Frau in der Küche aufhält.«

Anthony nahm genüsslich einen Schluck aus seinem Glas und sagte dann vergnügt: »Aber nicht, weil er wild auf sizilianische Rezepte ist. Sie müssen wissen, dass Lucia nicht nur die große Liebe meines Lebens und die Mutter von drei prächtigen Söhnen und einer von mir abgöttisch geliebten Tochter ist, sondern auch meine Agentin und Managerin.«

Daniela konnte ihre Verblüffung nicht verbergen.

Er lachte leise auf. »Diese kleine Person? Agentin und Managerin eines berühmten Sängers? Ich kann Ihre Gedanken fast lesen …«

»Ja, das habe ich wirklich gedacht«, gab sie verlegen zu.

»Machen Sie sich nichts draus. So ergeht es jedem. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe mich nie um Finanzen und Verträge und solche Dinge gekümmert. Das ist eine Materie, die mich ermüdet und bestenfalls meinen Unwillen weckt. Und als ich meine Karriere als Sänger begann, war ich noch zu sehr Sizilianer, um einem Fremden genug zu vertrauen und ihn als meinen Agenten und Manager Verträge aushandeln und abschließen zu lassen. Vertraut habe ich damals nur meiner Frau, und so hat sie sich dieser Dinge angenommen, was ich auch nicht einen Tag bereut habe. Ich bin überzeugt, dass ich in Lucia den besten Agenten und tüchtigsten Manager habe, den ich mir nur wünschen kann.«

»Jetzt verstehe ich, als Sie am Telefon erklärten, Ihre Frau sei eine sehr willensstarke und außergewöhnliche Person«, sagte Daniela.

Er nickte. »Ja, das ist Lucia wirklich. Sie ist das Kostbarste, was ich habe. Ich habe mich immer auf ihren Rat verlassen, und das war das Beste, was ich tun konnte. Nur einmal habe ich eine wichtige Entscheidung gegen ihren ausdrücklichen Willen gefällt …« Er schien in dunkle Gedanken zu versinken. Doch schon im nächsten Moment vertrieb ein Lächeln die Schatten von seinem Gesicht. »Auf jeden Fall reden Alan und meine Frau jetzt in der Küche nicht allein über Soßen und Gewürze, sondern mindestens genauso viel über Prozente und Nebenrechte, Werbeetat und Auftritte.«

Daniela schüttelte lachend den Kopf. »Das bringt natürlich ein ganz anderes Licht in die Sache. So ein schlauer Fuchs! Dann hat Alan also erst einmal Ihre Frau zu Ihrem Comeback überreden müssen, ja?«

Er zögerte. »In gewisser Weise ja. Aber er hat es nicht so plump versucht wie all die anderen Plattengesellschaften. Er ist im letzten Sommer zur Hochzeit meiner Tochter Giulia nach Sizilien gekommen. Ich fühle mich zwar langst nicht mehr als Sizilianer, dafür habe ich an zu vielen Orten der Welt gelebt und war dort auch glücklich, und meinen Kindern ergeht es nicht anders. Aber für gewisse Dinge kehrt der Mensch doch gern zu den Wurzeln seiner Herkunft zurück, und meine Tochter wollte in dem kleinen Ort heiraten, wo ich und Lucia geboren sind. Es war ein Familienfest, das fast eine ganze Woche gedauert hat. Dazu waren natürlich viele hilfreiche Hände nötig, und einer von diesen Helfern war Alan. Als er nach vier Tagen abreiste, hatte er mit meiner Frau nicht ein Wort übers Geschäft gesprochen. Im Herbst, zur Weinernte, war er wieder unser Gast, und auch da unternahm er keinen Versuch, meine Frau dahingehend zu beeinflussen, mich zu einem Comeback zu bewegen. Das hat sie ihm hoch angerechnet. Erst beim nächsten Treffen kam das Thema zur Sprache, doch es war meine Frau, die fragte, was er von einem Comeback halte und ob Goldcoast Records interessiert sei.«

»Eine sehr rhetorische Frage.«

Anthony lächelte. »Unbestritten, aber sie wurde zur richtigen Zeit von der richtigen Person gestellt, und Alan hatte das Gespür dafür, dass Warten und Vertrauen zu schaffen manchmal der bessere Weg ist als vorschnelles Handeln.«

»Ich freue mich, dass sie wieder auf die Bühne und ins Plattenstudio zurückkehren. Und das hat nichts damit zu tun, dass Sie bei mir in den Stardust Studios aufnehmen wollen«, fügte sie schnell hinzu. »Künstler wie Sie sind einfach zu selten, als dass sie abtreten könnten, ohne eine große Lücke zu hinterlassen. Ihre hat bisher niemand füllen können, und zum Glück werden Sie es nun selbst tun.«

»Ich muss gestehen, dass auch ich mich sehr darauf freue. Doch ich will nicht verheimlichen, dass ich gleichzeitig nicht ganz frei von Angst bin«, gestand er. »Wie berühmt und erfolgreich man auch gewesen sein mag, ein jeder Comeback-Versuch ist doch stets mit einem großen Risiko verbunden. Die Elle, an der ich gemessen werde, wird sehr hoch sein.«

»Ich bin sicher, dass Sie es schaffen und alle Erwartungen sogar noch übertreffen werden«, sagte Daniela mit ehrlicher Überzeugung.

»Sie machen mir Mut. Aber wenn es dieses Risiko und diese innere Anspannung nicht gäbe, dann würde mir, glaube ich, auch etwas Entscheidendes fehlen, das mich zu Höchstleistungen herausfordert und befähigt. Aber jetzt haben wir genug über mich geredet. Erzählen sie mir etwas über sich, Frau Stern. Wie sind Sie dazu gekommen, ein großes Studio aufzubauen?«, wollte er wissen. »Und warum heißt es Stardust Studios? Wenn Ihr Name Pate gestanden hätte, hätte es eigentlich doch Star Studios heißen müssen, nicht wahr?«

»Ich gebe zu, dass ich anfangs versucht war, es so zu nennen. Doch Star erschien mir zu großspurig für den drittklassigen kleinen Laden, den ich da aufgekauft hatte. Und so kam ich dann auf Stardust. Ich war zufrieden, wie Sternenstaub zwischen all den Großen ein wenig zu glänzen«, erklärte sie. »Dieses Wort hat zudem etwas menschlich Vergängliches … ein wenn auch herrliches, so doch kurzzeitiges Strahlen am Himmel und dann ein Verglühen … wie ein Komet … und wie unser Leben. Das hat mich damals innerlich sehr angesprochen.«

»Und so, wie Sie mir das erzählen, spricht es auch mich an«, sagte er und geriet mit ihr in eine angeregte Unterhaltung über die Arbeit im Studio. Sie kamen jedoch auch immer wieder auf sehr persönliche Dinge, und die Mischung aus ruhiger Nachdenklichkeit, tiefsinnigem Humor und bewusster Lebensfreude faszinierte Daniela. Zudem gab er ihr das Gefühl, als kennten sie sich schon lange und könnten daher über alles reden.

Die Zeit verging deshalb wie im Fluge. Als Alan sich wieder zu ihnen gesellte, stellte Daniela verwundert fest, dass es schon halb eins war und sie sich fast zwei Stunden mit Anthony unterhalten hatte.

Das Mittagessen nahmen sie draußen ein. Lucias rotwangiges Küchenmädchen Clair trug fast ein Dutzend köstlicher Antipasti auf. Danach gab es Bordetto, entgrätete Makrelenfilets in Tomatensoße mit Lorbeer, Majoran, gehackter Zwiebel und Pfefferkörnern, sowie Arrostino Annegato, kleine Kalbsnierenstücke am Spieß, gewürzt mit Salbei und Rosmarin und einem Hauch von Knoblauch. Dazu servierte sie frisches Stangenweißbrot und einen vorzüglichen roten Landwein, den Anthony aus seiner Heimat kommen ließ. Es war drei Uhr, als das Dessert, Cassata Napoletana, Vanille-, Himbeer- und Pistazieneis mit Sahne und kandierten Früchten, auf den Tisch kam, gefolgt von einer Käseplatte mit Trauben. Abgeschlossen wurde das Essen mit einem Espresso.

Lucia zog sich schon vor dem Kaffee mit der Entschuldigung ins Haus zurück, sie ermüde leicht und brauche jetzt ein paar Stunden Ruhe. Daniela hatte sie bei Tisch als aufmerksame Zuhörerin erlebt. In der Unterhaltung hielt sie sich zwar zurück, ohne den anderen jedoch das Gefühl zu geben, sie nähme an ihrem Gespräch nicht großen Anteil.

»Ich glaube, eine kleine Siesta wird uns nach diesem Essen bestimmt guttun«, sagte Anthony.

Alan und Daniela konnten ihm nur beipflichten und begaben sich in die schon für sie bereitgemachten Gästezimmer, deren Fenster zum Meer hinausgingen.

»War dieses Mittagessen nicht allein schon wert, nach Cannes gereist zu sein?«, fragte Alan Daniela auf ihrem Weg zu ihren Zimmern.

Sie nickte. »Ja, jetzt bin ich froh, dass ich mich Ihnen angeschlossen habe, Alan, auch ohne das Essen, das wirklich eine Offenbarung war. Anthony ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Und er ist so natürlich geblieben.«

»Auch mir sagt man so etwas nach«, scherzte er. »Also lassen sie sich dies hier eine Lehre sein.«

»In welchem Sinn, Alan?«

»Hören Sie auf mich, Daniela. Lassen Sie mich dafür sorgen, dass Sie Ihrem Glück nicht selbst im Weg stehen«, sagte er leise.

Daniela lächelte. »Schöne Träume, Alan«, wünschte sie ihm und schloss die Tür hinter sich. Sie zog sich bis auf ihre seidene Unterwäsche aus, legte sich auf das aufgeschlagene Bett und war im nächsten Moment eingeschlafen. Ihr Schlaf war kurz, aber tief und erfrischend. Als sie aufwachte, dachte sie daran, dass Alan im Nebenzimmer war. Hatte auch er ihr Bild vor Augen, und ahnte er, dass sie nichts weiter als einen dünnen Slip aus weißer Seide und einen BH trug? Sie spürte eine eigenartige Erregung, und zum ersten Mal gestand sie sich ein, dass sie ihn nicht nur sehr mochte, sondern dass sie sich auch sexuell stark von ihm angezogen fühlte.

Am späten Nachmittag unternahmen sie einen langen Spaziergang. Abends setzte sich Anthony dann an seinen weißen Steinway-Flügel und gab einige seiner alten Hits zum Besten. Die Vorstellung seiner neuen Songs hatte er, nicht nur aus dramaturgischen Gründen, für einen der nächsten Tage vorgesehen. Daniela nippte an ihrem Cognac, lauschte hingerissen den vertrauten Songs und fühlte sich in ihrem weichen Sessel geborgen und wunschlos glücklich.

Sie befand sich noch in diesem beschwingten Zustand, als sie mit Alan gegen Mitternacht nach Cannes ins Hotel zurückkehrte.

»Manchmal gibt es Tage, die vom Erwachen bis zum Einschlafen einfach perfekt sind«, sagte sie, als sie den Aufzug verließen und den Gang zu ihren Zimmern hinuntergingen. »Dies war so einer.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete er ihr bei und fügte dann einschränkend hinzu: »Bis auf das Einschlafen.«

Sie wusste sehr wohl, welche Frage hinter seinen Worten stand, doch sie ging nicht darauf ein, sondern schloss ihr Zimmer auf. »Und dass es ein so wunderschöner Tag war, ist auch Ihr Verdienst, Alan.«

»Bekomme ich wenigstens einen Gutenachtkuss?«

Sie zögerte kurz. »Nur wenn Sie mir versprechen, danach nicht ungewaschen ins Bett zu gehen.«

»Ihnen würde ich alles versprechen, Daniela.«

Sie wollte ihm einen Kuss auf die Wange geben, doch er nahm ihr Gesicht schnell in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Als sich ihre Lippen berührten, lief ein Schauer durch ihren Körper, und sie war versucht, die Arme um seinen Nacken zu legen und in seinem Kuss zu versinken.

Sie widerstand dieser Verlockung jedoch und löste sich sanft von ihm. »Das war aber mehr als nur ein Gutenachtkuss!«, sagte sie und verbarg ihre aufgewühlten Gefühle hinter einem tadelnden Tonfall und hochgezogenen Augenbrauen.

Er verstand sie absichtlich falsch, als er erwiderte: »Ich gebe zu, es war nicht viel, aber es war immerhin ein Anfang, der mir Hoffnung macht.«

Daniela wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie ihm jetzt deutlich zu verstehen geben musste, dass es für ihn von ihr aus keinen Grund gab, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen. Ihre Gefühle hielten jedoch dagegen und wollten nicht, dass sie ihm diese Hoffnung raubte – und sich selbst die Tür in das verlockende Abenteuer mit ihm verschloss.

»Schönen Dank für alles, und schlafen Sie gut«, sagte sie deshalb nur und stieß ihre Zimmertür auf.

»Gute Nacht, Daniela«, wünschte er, und der Blick, mit dem er sie ansah, war eine stumme Liebeserklärung und zugleich die Bitte, ihm ein Zeichen zu geben, dass auch sie die Nacht nicht allein, sondern mit ihm verbringen wollte.

Doch das Zeichen kam nicht. Als Daniela dann im Bett lag und in die Dunkelheit lauschte, wünschte sie plötzlich, sie hätte es ihm gegeben. Wenn er an ihre Tür geklopft hätte, hätte sie ihm geöffnet und mit ihm geschlafen.

22

Daniela genoss jede Stunde dieser sonnigen, unbeschwerten Tage an der französischen Riviera, die sie mit strahlendem Sonnenschein und üppiger Blumenpracht so sehr verwöhnte wie Alan mit der zärtlichen Aufmerksamkeit des Verliebten, der jedoch immer wusste, wie weit er gehen durfte. Sie ertappte sich mehr als einmal bei der Vorstellung, wie es mit Alan wohl im Bett sein mochte, und allein schon der Gedanke daran war aufregend und verschaffte ihr jedes Mal Herzklopfen, denn über einen Mangel an Fantasie konnte sie sich wahrlich nicht beklagen. Und es gab Momente, in denen die sexuelle Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, sie innerhalb weniger Sekunden richtig feucht werden ließ. So, als sie einmal neben ihm im Wagen saß und auf seine Hände blickte, die den Schalthebel betätigten und auf dem Lenkrad lagen. Da sah sie plötzlich ein Bild vor ihren Augen, wie diese Hände sie langsam auszogen und über ihren nackten Körper strichen und überall berührten. Ein andermal, als sie mit Anthony Capo und seiner Frau eine Fahrt ins Hinterland unternahmen und in einem urigen Gasthof zu Mittag aßen, stellte sie sich vor, sie würde seinen Hosenschlitz öffnen, ihre Hand in seine Unterhose schieben und sein Glied umfassen und spüren, wie es sich aufrichtete. Als Lucia sie ausgerechnet in diesem Augenblick ansah, war ihr so, als hätte man sie tatsächlich dabei überrascht, und sie bekam einen feuerroten Kopf, murmelte eine Entschuldigung und brauchte auf dem Hof, wo es zu den Toiletten ging, einige Minuten, um ihre Fassung wieder zurückzugewinnen.

Zum Glück überfielen diese sexuellen Phantasien sie nicht jedes Mal mit solch einer plastischen Eindeutigkeit. Und es gelang ihr auch sehr gut, der Versuchung, ihren Gelüsten nachzugeben, zu widerstehen. Doch sie konnte nicht vergessen, wie sehr ihr sein Kuss gefallen hatte.