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Frido Mann erzählt

Ein Lesebuch

Frido Mann erzählt

EIN LESEBUCH

Ausgewählt und herausgegeben
von Heinrich Detering

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© 2015 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel / Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg
Umschlagfoto: ©Thomas Elsner Studio

ISBN: 978-3-529-09221-3

Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Frido Mann erzählt
Vorwort des Herausgebers

Aus dem Leben Alexanders

Im Klinikum

Hinter der Mauer

Der Tod des Infanten

In Terezín

Brasilianische Spuren

Die Wege der Hexenkinder

Der Klang des Nachthorns

Das Pogrom in Dregkwitz

Nidden im Dritten Reich

Der Gang über den Zürichsee

Ein Konzert in Ramallah

An die Musik

Jenseits der Hoffnungslosigkeit

Die vielen Geschichten:
Ein Gespräch statt eines Nachworts

Biographische Notiz

Quellennachweis

Frido Mann erzählt

Wer geboren und aufgewachsen ist wie Frido Mann, der bleibt »lebenslang Enkel«. Scherzhaft hat er selbst das einmal gesagt in einem Gespräch, in dem es um seine literarischen Arbeiten ging. Und in der Tat betrat er die Welt der Literatur schon, bevor er selber lesen und schreiben konnte. Dass sein Großvater ihn als kleines Kind zum Modell jenes »Echo« genannten Nepomuk Schneidewein machte, der im Roman vom Doktor Faustus die letzte Liebe und das letzte Todesopfer des Teufelsbündners Adrian Leverkühn wird: das versuchte die Familie dem kleinen Frido vergebens zu verheimlichen. Für die respektvoll erschütterte Nachwelt galt diese Episode, am suggestivsten in Breloers Thomas-Mann-Film, oft als ein besonders grausames Beispiel für die Rücksichtslosigkeit eines Dichters, der seiner Kunst selbst seine Nächsten geopfert habe.

Frido Mann hat seinen Großvater ganz anders in Erinnerung behalten, als die warmherzige und liebevolle Vatergestalt, die ihm sein leiblicher Vater Michael Mann nicht sein konnte und wollte. Und wer heute in den Tagebüchern nachliest, was und vor allem wie Thomas Mann über ihn schreibt, der kann nicht übersehen, dass der Zauberer »das Kindlein« wie seinen jüngsten Sohn betrachtet, unter Übergehung des eher fremden leiblichen Vaters. Fünfzehn Jahre war Frido Mann alt, als Thomas Mann starb, die Fotos von der feierlichen Beisetzung in Kilchberg bei Zürich zeigen ihn im Trauergefolge mit den Eltern, zwischen Golo und Erika, Monika und Elisabeth Mann; der geliebte und bewunderte Onkel Klaus war da schon seit fünf Jahren tot. Und sein Vater Michael Mann schrieb ihm in einem Brief, er halte die Idee einer besonderen Nähe und Vertrautheit zwischen Vätern und Söhnen für eine überholte Konvention.

Dass der Halbwüchsige eines Tages ein Schriftsteller werden könnte, so wie sie alle es auf ihre eigene Weise waren, das war das Einzige, was er an diesem Tag mit größter Entschiedenheit ausgeschlossen hätte. Nach dem Tode Klaus und Thomas Manns war für ihn die Literatur zum Synonym einer Familie geworden, vor und aus der er fliehen musste. Selbst die Romane und Erzählungen des geliebten Großvaters wollte er nicht lesen, gerade sie nicht; er las, weil er die überlebenden Angehörigen damit am sichersten zu provozieren meinte, in der Bibel und in den Schriften Luthers. Er konvertierte zur katholischen Kirche, wurde mit einer Studie über Luthers Abendmahlsverständnis zum Doktor der Theologie promoviert und war eine Zeitlang Assistent Karl Rahners in Münster. Weil es ihn aus der Theorie in die Praxis drängte, wechselte er das Fach, wurde klinischer Psychologe bis zur abgeschlossenen Habilitation, arbeitete in der psychiatrischen Klinik in Gütersloh und schrieb über Lebensläufe von Patienten der geschlossenen Abteilung. Dass er in dieser Zeit schon längst das Musikstudium absolviert hatte, das sein Großvater vormals gern absolviert hätte, das sollte seine Privatsache bleiben und kein Beruf werden, so wenig wie die Literatur.

Dieser Großvater hatte, wenn er von seinem Schreiben sprach, von früh an gern »meine Musik« gesagt. Das Schreiben war es, vor dem der Theologe und Psychiater Frido Mann floh, der den Beruf des Theologen und schließlich auch den des Psychologen wieder aufgab und Schriftsteller wurde. Er war es schon während dieser Jahre gewesen, in denen seine ersten, wissenschaftlichen Bücher entstanden; aber jetzt erst, als längst erwachsener Mann, stellte er sich – wie es sein Onkel Golo Mann auf durchaus vergleichbare Weise tat – den Anforderungen einer Begabung, die, da half keine Verdrängung mehr, in der Familie lag. Liest man heute einige der Passagen wieder, die sich in den wissenschaftlichen Arbeiten dieser ersten Schreib-Phase finden, dann begegnet man einem Erzähler, der sich strikt auf die »Fallstudie« beschränken will und, um deren Genauigkeit willen, eben doch erzählen muss. (Die im vorliegenden Band enthaltenen Porträts »Hinter der Mauer« zeigen das eindrucksvoll.)

Es war ein schwieriger Neuanfang. Keineswegs bedeutete die flüchtige Sensation, dass der »Lieblingsenkel« nun doch selbst unter die Schriftsteller gegangen sei, auch einen literarischen Erfolg. Im Gegenteil. Professor Parsifal, das mit dem sonderbar zwitterhaften Untertitel Autobiographischer Roman versehene erste erzählerische Buch, erschien der Literaturkritik weithin als ein verkrampfter, ja verdruckster Versuch, sich der eigenen schwierigen Biographie zu stellen. Und so verletzend die Schärfe mancher Angriffe wirken musste, so begründet waren doch die Einwände. Nicht frei und souverän schien der Roman geschrieben, nicht das Werk eines seiner selbst und seines Gegenstandes sicheren Künstlers, sondern unsicher in der schwankenden Balance zwischen der fiktionalen Erzählung und einem nur flüchtig verdeckten Selbstporträt. Die Kritiker unterstellten damals als Grund dieses Schwankens den verschämt in eine halbherzige Fiktion verschobenen Wunsch, von sich selber zu sprechen. Im Rückblick scheint vielmehr das genaue Gegenteil der Fall zu sein: Nicht weit genug hat sich das Erzählen einer auf eigenen Beinen stehenden Geschichte von der Autobiographie entfernt, die doch nur das Material dafür hergeben sollte. Der Weg, auf dem Frido Mann hier die ersten tastenden Schritte ging, führte gerade nicht in eine unverstellte Selbst-Erzählung hinein, sondern in die Gegenrichtung, in den Roman. Die in die vorliegende Auswahl aufgenommenen Kapitel zeigen, wie selbstsicher sich einzelne Passagen schon hier in ein freies Erzählen aufmachen; nur waren sie noch Teil eines Textganzen, dem die klaren Konturen fehlten.

Ganz frei ist das Erzählen für Frido Mann vielleicht nie geworden; zu sehr war und blieb es umstellt von den Geistern der Vergangenheit, die kein noch so angestrengter Exorzismus hatte austreiben können. Zu beharrlich sah sich der werdende Autor auf allen Seiten dem nur manchmal offen ausgesprochenen Verdacht ausgesetzt, von seiner Herkunft und seinem Namen profitieren, womöglich mit seinen berühmteren Vorfahren konkurrieren zu wollen. Aber wie hätte er, der lebenslange Lieblingsenkel, der sich nun endlich freischreiben wollte, denn ganz frei schreiben können?

Seine Antwort war klar: indem er sich so entschlossen ins unabsehbar weite Feld der Fiktion hinauswagte, wie er es mit seinen folgenden Romanen tat. Jedes Mal blieben dabei die eigenen und die Familien-Geschichten das Reservoir der Stoffe und Motive, nun aber oft nur noch Kennern und Eingeweihten erkennbar. Denn nicht um diese Herkunft ging es, sondern um die Geschichten, die daraus geformt wurden. Schon Frido Manns zweiter Roman Der Infant, sieben lange Inkubationsjahre nach dem unsicheren Debüt 1992 erschienen, setzte das private Material experimentell aufs fiktionale Spiel. Wer wollte, konnte auch hier die eigenen Kindheitszwänge, Ängste und Aggressionen wiederentdecken; aber der Roman kam nun ganz ohne dieses Wissen aus. Der Sohn eines bundesdeutschen Zeitungsmoguls, der als schizophrener Patient in einer psychiatrischen Klinik seine Geschichte in einer Prosa erzählt, die im Laufe des Textes so restlos in Fragmente zerfällt wie das erzählende Ich: dieser Sohn ist eine so eindrucksvolle Gestalt, dass sie einer Rückbeziehung auf außerliterarische Umstände nicht mehr bedarf. Dennoch wurden solche Umstände dem Verfasser auch diesmal zum Verhängnis – nicht die der eigenen Familie allerdings, sondern die des Verlegers Axel Springer und seines Sohnes, als deren Geschichte der Roman weithin gelesen wurde (von der tatsächlichen psychischen Erkrankung von Springers Sohn wusste Frido Mann damals nicht). Unversehens fand sich so ein Kunstwerk, dessen Erzählverfahren Aufmerksamkeit und Respekt verdient hätte, reduziert auf die Klatschqualitäten eines Schlüsselromans.

Aber Frido Mann hatte sich mit diesem Buch nicht nur in privater, sondern auch in künstlerischer Hinsicht tatsächlich freigeschrieben. Die große Erzählung Terezín, die 1994 aus der Darstellung einer Theateraufführung in Theresienstadt eine Parabel werden lässt über Kunst und Terror, tödliche Unterdrückung und Freiheitsverlangen, hat den Bannkreis der Familiengeschichte vollständig verlassen. Und der nun endlich eingetretene Erfolg gab ihm recht. Kein Geringerer als George Tabori machte das Buch dem Publikum bekannt. Es war zuerst das Publikum seines Wiener Burgtheaters, dem er es in einer eigens für diesen Anlass eingerichteten szenischen Lesung präsentierte, dann aber auch das Lesepublikum, an das er einen (ebenfalls in die vorliegende Auswahl aufgenommenen) Widmungstext adressierte.

Solcherart sicher geworden im Gebrauch seiner literarischen Mittel und im Ansehen als ein Schriftsteller, der längst auf eigenen Füßen stand und nicht mehr nur auf dem Fundament einer familiären Herkunft, konnte Frido Mann sich auf neue, befreite Weise der ihm mit dieser Herkunft gegebenen Stoffe bedienen. Die Geschichten eines brasilianischen Mädchens, das unter die Europäer gerät und in dessen Gestalt sich, wenn man will, Züge der Urgroßmutter Julia Mann wiedererkennen lassen, um deren Erbe und Andenken in Brasilien sich Frido Mann jahrelang bemühte. Seine Romane jedoch, die von 1999 bis 2002 erschienene, später so genannte Brasilien-Trilogie mit den Bänden Brasa, Hexenkinder und Nachthorn, wurden zu einem Komplex aus phantasievollen, atmosphärisch dichten Erzählungen über zwei Kontinente und drei Jahrhunderte. Von den Zeiten der Sklaverei ist darin die Rede und von der postkolonialen Gegenwart, von den Mythen und Ritualen einer Welt, in der Hexerei noch zur Alltagskultur gehört, und von der Hexenjagd der McCarthy-Jahre, deren Düsterkeit noch die frühen kalifornischen Jahre des Autors und seiner Familie überschattet hatte. Die Schriftstellerfiguren, die in diesen erzählten Welten zu sehen waren, die aus NS-Deutschland verjagten Juden und amerikanischen Exilanten – sie trugen manchmal Züge der eigenen Familienangehörigen, aber sie waren nun aufgegangen in einem Erzählen, das ohne Autobiographie auskam.

Mit dem siebten und letzten Roman Babylon, erschienen 2007, war dieses Reservoir erschöpft, trotz einiger eindringlicher Kapitel, die sich auch hier noch finden. Mit dem Nachlassen der erzählerischen Lust und Einfallskraft und dem allmählichen Überwiegen essayistischer Reflexionen, die sich nicht mehr ohne Anstrengung in die Dialoge fiktiver Figuren einfügen ließen, begann die dritte und vorerst letzte Phase in Frido Manns Werk: nach den wissenschaftlichen und den romanhaften Texten nun eine Synthese aus beiden in literarischen Essays. Wie eine Gelenkstelle fungierte, ohne dass das geplant gewesen wäre, das Buch, das der Autor eigentlich nie hatte schreiben wollen und das ihm nun der Rowohlt-Verlag verlockend vorschlug: die Autobiographie Achterbahn (2008), die zu seinem auflagenstärksten Buch wurde. Sie liest sich heute wie ein Abschied von den Romanen, die doch anderthalb Jahrzehnte zuvor aus der Verweigerung einer Autobiographie hervorgegangen waren, und zugleich wie ein Aufbruch zu neuen Texten. Aus dem eigenen Erleben heraus die religiösen, ästhetischen, politischen Reflexionen zu entfalten, die ihn schon seit seinen Anfängen in der Musik, in Theologie und Psychiatrie beschäftigt hatten, das wurde nun zu seinem Vorsatz. Das Reisebuch Mein Nidden, das er 2012 im Mare-Verlag veröffentlichte, beginnt darum als eine Erzählung, die mit Besuchen im einstigen Sommerhaus Thomas Manns auf der Kurischen Nehrung einsetzt, weitet sich dann zu einem Panorama der kulturellen und politischen Geschichte eines einstigen Grenzlandes zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn und lässt Raum für Beobachtungen und Bemerkungen, die nicht abstrakt geraten, sondern aus persönlichen Begegnungen hervorgehen: zu Krieg und Frieden, zu Politik und Religion und immer wieder zu Kunst und Musik.

Mein Nidden wurde so zum ersten von mittlerweile drei Essaybüchern, die sich ganz diesen Lebensfragen zuwenden; ihm folgten Das Versagen der Religion, das mit dem provozierenden und programmatischen Untertitel Betrachtungen eines Gläubigen erschien, und der Essay An die Musik, der Kunsterlebnisse und musikgeschichtliche Betrachtungen mit dezidiert autobiographischen Erinnerungen verbindet – und sich nun, zum ersten Mal in dieser Unbefangenheit, auch jenem weltliterarischen Musikroman vom Doktor Faustus zuwendet, in dem Thomas Mann einst den fiktionalen Doppelgänger seines Lieblingsenkels sterben ließ.

Damit spätestens ist unübersehbar geworden, wie vital Frido Mann jenen »Echo« überlebt hat. Als im doppelten Sinne des Wortes freier Schriftsteller ist der Lieblingsenkel zum Mann geworden. Als Erzähler und Essayist seiner eigenen Sujets, mit seiner eigenen Schreibweise, seinen eigenen Stärken und Schwächen ist er dem Familienfluch entkommen, und gerade so ist er zum Mitglied einer Familie von Schriftstellern geworden. Im Jahr 2015 wird er, der mittlerweile längst selber Großvater geworden ist, fünfundsiebzig Jahre alt. Es wird Zeit, ihn als Schriftsteller wiederzuentdecken. Also, blättern wir eine neue Seite auf: Frido Mann erzählt.

Heinrich Detering

Aus dem Leben Alexanders

Frido Manns literarisches Debüt, der »autobiographische Roman« »Professor Parsifal« (1985), erzählt die Geschichte von Alexander, Enkel eines weltberühmten Schriftsteller-Großvaters. Alexander sucht auf seine Weise »den Gral«, die Befreiung nämlich vom Fluch seiner familiären Herkunft. Dabei geht er sehr eigene, oft unerwartete Wege auf der Suche nach Selbstverwirklichung, immer wieder schwankend zwischen Selbstüberforderung und Selbstgefälligkeit. Den einsamen Genuss von Kunst und Musik, die ihn wie religiöse Erlösungsangebote locken, versucht er in eine soziale Wirklichkeit zu überführen: in der Kunstpsychiatrie zunächst, dann auf einem Weg, der ihn – wie einst Wilhelm Meister – ganz aus dem Bannkreis der Kunst weg und in die praktisch nutzbringende Tätigkeit als Mediziner führen soll. Die Entwicklungsgeschichte aber, wie auch die in ihr beginnende und sie begleitende Liebesgeschichte, endet offen.

Die Welt der Prinzen und Kobolde

Weitaus am feierlichsten und schönsten – und ich kann vielleicht auch sagen: am intimsten – ging es zu, wenn wir Kinder manchmal abends zum Vorlesen von Märchen eingeladen wurden. Das war ein Akt, der ausnahmslos im Arbeitszimmer stattfand, wo wir, ganz unter uns, hinter den fest zugezogenen schweren Gardinen von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen, auf einem Sofa vor dem Schreibtisch, dicht neben dem Vorlesenden, Platz nahmen, um uns im Lichtkegel der Stehlampe Grimms, Andersens oder Hauffs berühmteste Märchen anzuhören. Es dauerte nie lange, und wir waren ganz versunken in die Welt der Prinzen, Feen, Hexen und Kobolde, der bösen Stiefmütter, buckligen Zwerge, schnaubenden Drachen und der mächtig aufragenden Burgen und Schlösser inmitten tief-verwunschener Traumlandschaft. Dabei waren es weniger die einfachen, deftigen, geradlinigen Grimm’schen Allerweltsgeschichten und -figuren, die es mir angetan hatten. Weit tiefer ließ ich mich einspinnen in die seltsam-schattenhaften, dafür umso anrührenderen Erzählungen Hans Christian Andersens. Hier die überraschende und derbe Urkomik, mit der zum Beispiel im Feuerzeug immer wieder die riesenäugigen Hunde beschrieben werden, die in der Schatzkammer das Geld bewachen; dort das todtraurige Ende des kleinen Mädchens mit den Schwefelhölzern, dessen sehnsüchtige Träume mich einen ersten schauerlichen Blick tun lassen in die Abgründe menschlicher Angst, Not und Gottessuche, viel wirklicher, als dies in sogenannten realen Geschichten nachgezeichnet werden könnte. Merkwürdig auch die Roten Schuhe, die erbarmungslos ihrer Besitzerin ein unaufhörliches Tanzen aufzwingen, bis zum Umfallen. Und dann natürlich das herrlichste und längste Märchen: die sieben Geschichten der Schneekönigin, die innig-zarte Beziehung zwischen den beiden armen Nachbarkindern Kay und Gerda, die Großvater immer und immer wieder vorlesen musste.

Ich ließ mich wie auf Wolken tragen. Hinzu kam, dass ich die frostig-glitzernde Schnee- und Eislandschaft nicht nur als Kontrast zu der intensiven Wärme zwischen den beiden Menschenkindern empfand, sondern dass sich mir hier eine zauberhaft-fremde Welt eröffnete, die von der meinigen im winterlosen Südkalifornien unfassbar weit weg war und mich dennoch unheimlich faszinierte. Die Geschichte wäre jedoch nicht halb so schön gewesen, wäre sie nicht mit so suggestiv-wohlklingender Stimme und kunstvoller Phrasierung vorgetragen worden, und hätte nicht auch der Vorlesende hinter dem Gesagten mit allem Ernst seines Ausdrucks gestanden, der noch lange nachwirkte.

Mir fällt an dieser Stelle auf, dass ich bei der Lesung im großväterlichen Arbeitszimmer fast nur von mir spreche und kaum von Erik – als wäre er nur räumlich anwesend gewesen. In der Tat: Der Großvater machte kaum einen Hehl daraus, dass ich die Hauptperson, der eigentliche Empfänger war, und dass Erik nur zur Wahrung des äußeren Scheins von Gerechtigkeit miteinbezogen wurde. Er erhielt in Wirklichkeit nur kärgliche großväterliche Beachtung, was ihn nicht gerade zu Aufmerksamkeit und Beteiligung an den gemeinsamen Unternehmungen ermutigte, ihn vielmehr in den Hintergrund drängte.

Besonders eine dieser Situationen ist fotografisch festgehalten. Das Bild bringt die Beziehung zwischen dem Großvater und beiden Enkeln deutlich zum Ausdruck. Man sieht auf einem breiten Korbstuhl im Garten sitzend Großvater und mich nebeneinander in freundlich-angeregtem Gespräch. Offenbar wird etwas soeben Vorgelesenes von ihm kommentiert – mit verschmitzt-fröhlichem Blick, hochgerecktem Haupt und scherzhaft erhobenem Zeigefinger. Ich nehme die Ausführungen freudig-dankbar auf. Ja, und Erik – er steht hinter unserem Zweisamkeits-Sessel, sein Kinn und eine Hand darunter auf die Rückenlehne gestützt (man kann auch die kerbenartige Narbe an seiner Nase erkennen), mit einem unendlich traurigen, eher unverständigen Seitenblick zum Großvater.

Mein Bruder war von Anfang an in einer viel schwierigeren Situation als ich, da sich durch eine komplikationsreiche Geburt seine geistigen und auch physischen Funktionen, trotz des unermüdlichen pädagogischen Einsatzes meiner Eltern, nicht ungehindert entfalten konnten. Als quälend in Erinnerung geblieben sind mir vor allem die immer und immer wieder von neuem gemachten verzweifelten Anläufe, dem fast schon Schulpflichtigen das Zählen bis fünf beizubringen – ein Unternehmen, dem beängstigend lange kaum Erfolg beschieden war, obwohl auch ich dabei als Hilfslehrer agierte.

Ich gestehe ungern, dass ich die benachteiligte Lage meines jüngeren Bruders manchmal etwas ausgenutzt habe. Als der in mancher Hinsicht Überlegene setzte ich im Konfliktfall meine Interessen ohne Schwierigkeiten durch, bisweilen sogar mit physischer Gewalt. Zudem spielte ich mich ab und zu ihm gegenüber ganz gerne als Zuchtmeister auf, bei dem sich echte Bereitschaft, brüderliche Hilfe zu leisten, mit unguten Machtgelüsten vermischte. Freilich schritt unser Vater energisch ein, sobald meine Verstöße gegen Gleichheit und Brüderlichkeit so eklatant wurden, dass sich eine rasche Wiederherstellung gerechter Verhältnisse als notwendig erwies. Manchmal spürte ich sogar eine Solidarisierung meines Vaters mit seinem jüngeren Sohne. Und wenn in solchen Situationen die Vorzüge Eriks mir gegenüber ganz besonders hervorgehoben wurden, geschah dies keineswegs nur, um den Schwächeren zu stützen, sondern aus Überzeugung darüber, dass die vorhandenen positiven Eigenschaften auch wirklich eine besondere Würdigung verdienten. Hinter der häufigen Prophezeiung meines Vaters: »Warte nur ein paar Jahre, dann ist der Erik stärker als du, und dann wird er dich verhauen !« stand Eriks im Vergleich zu mir viel robustere und kräftigere Statur sowie Vaters Überzeugung, dass Eriks Entschluss, eines Tages den Spieß umzudrehen, nur eine Frage der Zeit sei. Es gab übrigens Situationen, in denen Erik außergewöhnlich gewinnend sein konnte. Beim versöhnungsvollen Ende mancher turbulenter Auseinandersetzungen legte er ein so entwaffnend originelles und gemütvoll-offenherziges Verhalten an den Tag, wie ich es in meiner äußerlich viel ruhigeren, braveren und ausgeglicheneren Art niemals fertigbrachte. Mir schien manchmal, dass mein Vater wegen Eriks extremer Wesenszüge eine tiefe innere Verbundenheit mit ihm empfand – vielleicht tiefer, als ihm selber bewusst war. So war ich in meiner Andersartigkeit ziemlicher Eifersucht ausgesetzt.

Erik hatte oft Anwandlungen unbändiger Wildheit und zog mit gelegentlichen lautstarken Gefühlsausbrüchen die Aufmerksamkeit aller auf sich. Aufregende Erzählungen über Unglücksfälle, Brandszenen oder sonstige Gruselgeschichten konnten ihn in hellen Aufruhr versetzen. Wenn es freilich einmal ernst wurde, wie während eines Feuerausbruchs aus dem defekten Gasherd in unserer Küche, als die Flammen um uns beide regelrecht hochschlugen, war er still und drückte sich ängstlich an mich. Noch überraschender wirkten seine stürmischen Freudenbekundungen ohne erkennbaren äußeren Anlass. So kam er eines Tages mit einer Handvoll Münzen ins Zimmer gestürzt, warf sie hoch in die Luft und rief tanzend unter dem prasselnden Geldregen: »Das Gald, das Gald, das Gald !« Solche Temperamentsausbrüche konnten ihm auch zum Verhängnis werden – einmal stürzte er im Garten beim Umhertoben auf einen gefährlich aus der Erde ragenden rostigen Wasserkran und zog sich eine schlimme Verletzung am Nasenbein zu, deren Narbe noch heute zu sehen ist. Dass ich allerdings meiner entsetzt herbeieilenden Mutter in meiner Panik irgendetwas von einem Dornenhaufen erzählte, in den er gefallen sei (es lag einer in der Nähe), zeugt von meinem schlechten Gewissen, denn ich erinnere mich genau, mit ungeduldig-aggressivem Schubsen meinerseits zu dem Unglück maßgeblich beigetragen zu haben.

So sehr ich mich zu Hause häufig zu einem unfairen Ausspielen meiner Überlegenheit gegenüber Erik veranlasst sah und mir darin allenfalls aus Angst vor Strafen Schranken auferlegte, so war mein Verhalten als Bruder beim Spielen mit Freunden aus der Nachbarschaft ganz anders. Hier gab ich mich – meiner sozialen Anerkennung sicherer – gelassen und ausgeglichen und bezog den Kleinen partnerschaftlich mit ein. Die im engen Familienkreis leicht gedeihende Geschwister-Rivalität ließ sich im frischen Klima freier, unbeschwerter Kinderspiele neutralisieren und löste sich in unseren ausgelassenen Aktivitäten mehr oder weniger auf.

Meine früheste Erinnerung an Erik geht auf das Jahr 1944 zurück. Was ich vor mir sehe, ist das Haus in Mill Valley, in das wir im Herbst 1942, kurz nach seiner Geburt, vom ganz in der Nähe gelegenen Tamalpais Woods umgezogen waren, einfach weil es so hübsch war. Ich stehe zusammen mit dem Zweijährigen davor; und neben oder hinter mir sind einige Menschen, die mit einer offensichtlich wichtigen Mitteilung auf mich Vierjährigen dringend einreden. Ich weiß nicht, wie viele Leute es sind, wer es ist und was sie von mir wollen. Es sind schattenhaft riesige Gestalten, weit weg von mir, die etwas Bedrohliches, aber zugleich auch angenehm Erwärmendes an sich haben. Es scheint, als ob sie entweder einfach Kontakt aufnehmen oder vielleicht auch einige Ermahnungen aussprechen möchten. Was dabei wirkliche Erinnerung und was spätere Rekonstruktionen sind, ist nicht auszumachen. Die Frontansicht des Hauses vom Standort dieser Begebenheit aus entspricht jedenfalls genau der Realität, wie ich 25 Jahre später bei einem Kalifornien-Besuch zusammen mit meiner Frau feststellen konnte.

Ähnliche Gedächtnisfotografien existieren in mir noch von anderen Szenen und Situationen in Mill Valley und seiner Umgebung. So sehe ich verschwommen vor mir den Innenraum der Nursery School, einer Art Kinderkrippe, in die ich vor Eintritt in den Kindergarten täglich zusammen mit Erik hingebracht und dann wieder von dort abgeholt wurde. Die Wahrnehmung des ganzen Innenraums übersteigt freilich meinen Horizont. Es sind lediglich einige grobgezimmerte Holzmöbel, die ich sehe, darum herumsitzende, krabbelnde, schwatzende, lachende oder weinende Kinder, irgendwo eine überdimensionale Aufsichtsperson mit teils schützender und tröstender, teils ordnender Funktion und dahinter in eine dunkelgraue Unendlichkeit sich verlierende Zimmerwände.

Bei Onkel K.

Alexander denkt zurück – an einen Sonntagmorgen im Mai, er ist neun Jahre alt und liegt in seinem Bett im großelterlichen Zollikon. Das von allen Seiten hereinbrechende vielfältige Gedröhne und Gebimmel der Kirchenglocken nimmt er wohl deshalb so bewusst wahr, weil es das in Amerika so wenig gibt wie das sommerliche Vogelgezwitscher, dem er gerade an diesem Tag freudig gelauscht hatte. Jetzt aber sind die hübschen kleinen Sänger nicht mehr zu hören, es ist, als ob sie ehrfürchtig verstummt wären vor den machtvollen Klängen der Glocken. Fast wie auf Befehl haben sie alle gleichzeitig eingesetzt, die großen und die kleinen, die schwerfällig und schleppend schlagenden und die leicht und hell klingenden in all ihren Tonlagen. Fröhlich und dennoch feierlich laden sie die Gläubigen zum Kirchgang ein. Die vertrauteren in der unmittelbaren Umgebung tönen unvermittelt, fast drängend, vom anderen Ufer trägt der Wind den Schall von weit her über den See, vom Berg herab oder von der Stadt herüber.

Minutenlang dauert diese akustische Orgie. Sie scheint kein Ende zu nehmen. Diese ungewohnten Klänge vermitteln dem still daliegenden Alexander die Empfindung von Höhe und Tiefe zugleich und rufen Erinnerungen an weit zurückliegende Eindrücke wach, die mit traurigem Gefühl wahrgenommen werden. Erste Ahnungen von Untiefen menschlichen Seins und ein seltsames Gemisch von Schmerz, Angst und Hoffnung bewegen ihn.

Erst gestern hat er erfahren, dass sein Onkel K. vor wenigen Tagen in Frankreich gestorben ist. »Herzschlag«, wurde ihm gesagt, woran er noch viele Jahre lang geglaubt hat. Die eisigen Gesichter, die er sah, deuteten freilich an, dass etwas Ungewöhnliches mit im Spiel sein musste. Er wusste nur, dass sein Vater, der vor zehn Tagen mit einem Schiff aus Amerika nachgekommen war, seinen Bruder, der lange auf ihn gewartet haben muss, bei einer Zwischenlandung knapp verfehlt hatte. Und zurück fährt der Papa zur Beerdigung mit seiner Geige.

Während dieses langsam unerträglich werdende Glockengelärm ausklingt und all die laut schwingenden Ungeheuer, eines nach dem anderen, allmählich wieder zur Ruhe kommen, tauchen erste flüchtige Erinnerungen an Onkel K. in ihm auf. Er wundert sich darüber, wie wenig davon eigentlich in seinem Gedächtnis geblieben ist, obwohl er ihn doch häufig bei Santa Monica, in Carmel und Mill Valley gesehen haben muss. Die Situationen, in denen er ihn sich greifbar nahe vorstellen kann, sind paradoxerweise solche, in denen sie nicht direkt miteinander zu tun haben: zum Beispiel Familiengespräche im living room der Großeltern bei Likör und schwarzem Kaffee nach dem Mittagessen, wo K. angeregt mitdiskutiert, Alexander aber abseitssteht und das Geschehen wie von außen betrachtet; oder am Strand von Carmel, wo Alexander nahe am Wasser sitzt und zusieht, wie K. mit dem Vater in einiger Entfernung vorbeigeht. An Zwiegespräche mit ihm kann sich Alexander eigentlich nicht erinnern, nur an ein höchst unscharfes Erinnerungsbild – Alexander ist – etwa als Fünfjähriger – auf der Suche nach seiner Mutter in K.s Arbeitszimmer geraten und bleibt verwirrt und schüchtern, die Klinke in der Hand, im Türrahmen stehen. In einen Dunst von Zigarettenrauch gehüllt, ist K. für ihn am Ende des Zimmers, am Fenster an der Schreibmaschine sitzend, nur schwach erkennbar. K. regt sich kaum, Alexander spürt nur, dass er ihn sehr freundlich, interessiert und hilfsbereit anblickt, und seine warme Stimme, mit der er zugleich ermunternde Worte spricht, hat für den Kleinen etwas ungemein Beruhigendes. Das ist alles, was Alexander behalten hat, obwohl ihm später erzählt wurde, dass K. sich mit den Kindern oft und gern abgegeben hat und dabei sehr liebevoll mit ihnen umgegangen sein soll. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn hier nicht Verdrängungskräfte am Werk gewesen sind, die noch lebhaft Präsentes auslöschten, als der Onkel so plötzlich und unheimlich aus dem Leben verschwunden war. Dies ist eine Erklärung, mindestens so naheliegend wie eine andere, an die Alexander auch manchmal denkt, nämlich, dass vielleicht K.s tiefer Wunsch, bald davonzugehen, schon vorher eine Barriere zwischen ihm und dem Jungen aufgebaut hatte. Menschen, die im Aufbruch begriffen sind, können den Zurückzulassenden gegenüber eine heiter-gelöste Liebenswürdigkeit an den Tag legen, die dennoch von Unverbindlichkeit und unterkühlter Distanz gekennzeichnet ist, weil sie vorhandene Bande eher lockern als festigen möchten. Aber erst viel später sind Alexander die Bedeutung, die Onkel K. für ihn gehabt hat, gewisse Ähnlichkeiten im Denken und Fühlen und wohl auch im Handeln – doch auch Unterschiede und Gegensätze deutlich geworden. Das war, als er auf das eine oder andere seiner Bücher stieß, die bei ihm vieles in Bewegung setzten.

Heute ist ihm voll bewusst, dass der verlorene Friede, der dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar folgte, eine solche verbindende und zugleich trennende Gegebenheit zwischen ihnen ist. Alexander war, ahnungslos und voll Hoffnung, von seinem ersten Schweizer Besuch in seine amerikanische Kinderwelt zurückgekehrt, dort mit der faden, geisttötenden Atmosphäre konfrontiert worden und als Achtjähriger schon unterschwellig zu ähnlichen Auffassungen gekommen wie K. in seinen letzten Büchern und Aufsätzen. In seinem Schulalltag hatte Alexander schon einiges von der wachsenden Atomkriegs-Hysterie mitbekommen, wenn natürlich auch nicht so scharf gesehen wie von seinem Onkel K. Was also für ihn, den am Anfang Stehenden, zwar eine erschreckende Begegnung mit jenem neuen Desaster auf heimatlichem Boden gewesen war, zugleich aber Auftakt für kommende Auseinandersetzungen, war für K. das Ende eines langen, zuletzt nur noch qualvollen Tanzes auf dem Vulkan. Ein Zustand, in dem auch scheinbar geringfügige persönliche Ärgernisse wie letzte Tropfen wirken, die das Fass zum Überlaufen bringen. Dies ist wohl das eigentlich Trennende zwischen den beiden. Politisches Engagement, für Alexander noch in weiter Zukunft, war sinnlos geworden für K. Seine im Krieg erfolgreich eingesetzten Energien im Kampf gegen den Faschismus liefen jetzt ins Leere und verbrauchten sich ganz, als ihm schließlich gar nichts mehr gelang. Eine 1941 gegründete literarisch-politische Zeitschrift war bald wieder eingegangen, sein Kriegsdienst in der US Army war vorüber, und schließlich hatte er sich mit allerlei Böswilligen herumzuschlagen, die ihn als Kommunist denunziert hatten. Und der deutsche Büchermarkt blieb ihm für seine Exil-Romane verschlossen, sie passten politisch nicht in die westdeutsche Nachkriegslandschaft. Diese Fatalitäten waren wie Gift in seinen ohnehin geschwächten Lebensnerv eingedrungen.

Dieser Ausgang war in K.s so intensiv gelebtem Leben von Anfang an angelegt und die Neigung dazu schon früh erkennbar gewesen.

Nun liegt Alexander also im Bett seines Zolliker Zimmers. Es ist inzwischen still geworden. Nur ganz langsam scheinen sich die Singvögel draußen nach dem verstummten Glockenlärm wieder an ihr unbeschwertes Geträller und Gepfeife heranzutrauen. Der geschlossene blaugemusterte Stoffvorhang am Fenster bauscht sich leicht im Wind, sodass durch einen Spalt hindurch sich sanft bewegende Blätter sichtbar werden. Ihrer kräftigen Grünfarbe nach ist es draußen sonnig. Ansonsten ist es im Raum noch halbdunkel. Die im Zimmer verstreuten Gegenstände – Spielsachen und Schuhe auf dem Boden, Kleider auf dem Stuhl, irgendein zusammengefaltetes Deckchen auf der Kommode – haben schon längst ihre magische Anziehungskraft verloren, die sie in der Dämmerung hatten, als man fast glauben konnte, es wären unwirkliche, ängstigende Figuren: merkwürdig verwachsene Gnome, absurd verrenkte Kobolde oder dreist grinsende Fratzen, die gemeinsam einen ausgelassenen Reigen aufführen wollten. Ihres nächtlichen Zaubers entledigt und in die Wirklichkeit zurückgekehrt, wirken sie im nüchtern-fahlen Morgenlicht wie abgelegte Masken und leblose Hüllen. Etwas traurig und allein ist ihm zumute, während er an den toten Onkel denkt. Davon vermögen ihn auch nicht plötzlich hörbare Schritte abzulenken – irgendjemand geht gerade behutsam die knarrende Treppe hinunter zur Küche oder zum Frühstückszimmer. Natürlich kommen ihm jetzt im Bett nicht all die Gedanken und Überlegungen in den Sinn, die sich erst später in Alexander abgesetzt und geklärt haben. Im Augenblick herrschen Verlustgefühle und vage Erinnerungen vor, vermischt mit einer düsteren Ahnung, dass sich da Schlimmes ereignet hatte.

Wenn ein naher Verwandter gestorben ist, kann man sich dazu aufgerufen fühlen, stellvertretend das von ihm in Angriff Genommene weiterzuführen, unabhängig davon, ob es in seinem Sinn ist oder nicht. In der Entfernung des Todes vergrößert sich die bewunderte Figur. Es geht von ihr eine Art Ruf aus, dem man folgen zu müssen glaubt.

Dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass Alexander sich zwei Jahrzehnte später mit einer schon ans Dramatische grenzenden Intensität von den Büchern seines Onkels angesprochen fühlt. Was er darin findet, sind nicht nur wegweisende Gedanken und die Berichte über seine mutigen Initiativen auf kulturellem und politischem Gebiet. Alexander erkennt nun darin seine eigene, inzwischen entwickelte Denkweise wieder und sieht auch im Handeln Parallelen, obwohl ihn eine Generation von seinem Onkel trennt.

Faszinierend für ihn sind einmal die politischen Gemeinsamkeiten: fast im selben Alter der jähe Umschwung von jugendlicher Indifferenz zu politischer Wachsamkeit durch aufrüttelnde Ereignisse, bei K. Anfang der dreißiger Jahre, bei Alexander, als das völkerrechtswidrige Vorgehen der Amerikaner in Vietnam bekannt wurde. Dann K.s Interpretationen der politischen Ereignisse, in denen nicht nur hinsichtlich des Antifaschismus eine Kompromisslosigkeit zutage tritt, wie sie sein Vater zumindest am Anfang nicht so konsequent gezeigt hat. Dort liegen auch für die jüngere Generation Leitlinien zum Verständnis und zum Handeln in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation. Gemeint ist damit vor allem die Dreiecksbeziehung: Demokratie plus Faschismus gegen Kommunismus, damals in der Appeasement-Politik des Westens gegenüber Hitler, heute in der ebenfalls gegen den Kommunismus gerichteten Unterstützung faschistischer Regime durch die USA und Westeuropa, diesmal aber im Weltausmaß. Nicht, dass Alexander diese Einsichten nicht schon vor der Lektüre von K.s Büchern und Aufsätzen in sich getragen hätte. Aber die Bestätigung von Gewusstem durch treffende Worte tut gut. Es spornt dazu an, sicherer als zuvor für seine Erkenntnis einzustehen.

K.s Beziehung zum Marxismus, insbesondere zur Sowjetunion, ist in Alexanders Augen freilich ein etwas widersprüchliches, inkonsequentes und extremes Gemisch aus Verherrlichung und Verurteilung. K. hatte allerdings – im Vergleich zu Alexander später – keine Gelegenheit gehabt, ein solches System, dazu noch ein deutsches, aus nächster Nähe, in seinem nüchternen Alltag kennenzulernen. Eins spürt Alexander dabei richtig heraus: die bisher recht grobe Struktur der marxistischen Ideologie, ihren Mangel an differenzierter Auseinandersetzung mit existentiellen Bedürfnissen wie Liebe und Tod, Sinn und Existenz des Menschen – Probleme, auf die der Marxismus auch heute noch keine befriedigenden Antworten hat, sie allerdings inzwischen zu suchen beginnt.

In diesem Zusammenhang machten die weltanschaulich-philosophischen, stark religiös gefärbten Fragmente am Ende von K.s letztem autobiographischem Werk auf Alexander stärksten Eindruck. Dass diese flüchtigen Assoziationen zu Unendlichkeit, Welt und Gott oft hastig, in abgerissener Formulierung, zu Papier gebracht wurden, mag einmal von der Scheu herrühren, sie öffentlich preiszugeben. Der andere Grund liegt vielleicht in den Inhalten selbst. Es sind nicht – wie sonst in seiner Autobiographie – Wiedergaben und Reflexionen von Vergangenem, sondern ein vorsichtiges Vortasten in neue, geheimnisvolle Bereiche. Es ist wie ein erster verhaltener Blick von einem, dem kaum mehr Kraft und Zeit bleibt, sich mit dieser Gedankenwelt auseinanderzusetzen.

Dass sich in K.s Bekenntnissen zum Teil auch eine gewisse Umkehrung religiöser Anschauungen findet wie die Behauptung, dass Gott erfunden werden musste, gäbe es ihn nicht wirklich, weil es nämlich ein unfassbares, unerträgliches Leid für ihn wäre, nicht mit uns leiden zu dürfen, erklärt sich für Alexander damit, dass der Autor wenige Jahre vor seinem Tod konvertieren wollte, es aber nach einem kurzen energischen Anlauf nicht dazu kam. Unklar bleibt, wie weit K. aus eigener Einsicht zurückgetreten ist, oder ob der katholische Feldgeistliche seiner Armee-Einheit ihm abgeraten hat.

Was beschäftigt Alexander bei der Entdeckung dieser (vorher nie geahnten) religiösen Regungen seines Onkels so sehr? Ist es, dass hier ein Weg vorgezeichnet ist, den Alexander gleichsam an seiner Stelle später weitergegangen ist – gemeint ist sein Eintritt in dieselbe katholische Kirche nur ein gutes Jahrzehnt nach K.s Tod? Oder ist es ein ehrliches Bemühen, Antworten zu finden auf Fragen, die sich dem Suchenden in Stunden der Bitternis gewaltsam aufgedrängt haben?

Vielleicht ist es aber gerade das Vorläufige, Unfertige, dieses Gedankenexperimentieren, das Alexander so beeindruckt, das nie enden wollende Suchen und ständige Auf-dem-Wege-Sein? Es mag ihn an seine eigene Entwicklung erinnern, in der Konversion und Theologiestudium nur eine Station auf dem Weg zu anderen Zielen gewesen ist. Alexander wird später an einige in ihrer Aktualität fast prophetisch anmutende Zeilen aus K.s letztem Essay denken. Vielleicht hätte Alexander sie, wenn er sie an jenem Zolliker Sonntagmorgen gekannt hätte, auch schon empfinden können. K. bezieht sich dabei auf die scharfsinnigen und kritischen Betrachtungen eines Zeitgenossen. »So wichtig und willkommen dergleichen Kommentare aber auch sein mögen«, meint er in diesem Zusammenhang, »– die verstörte Jugend Europas braucht anderes. Sie braucht Führung und Trost, neue Ideale und Hoffnungen, einen Glauben.«

Die Anstalt in Gattersleben

Mitten in der Provinz, irgendwo in der nordwestdeutschen Tiefebene, erhebt sich, unscheinbar grau, wenig anmutig, aber selbstbewusst und stolz, das Industriestädtchen Gattersleben. Es ist ein Nest von etwa sechzigtausend Seelen, betriebsame, fleißige, mehr oder weniger auf ihren täglichen Broterwerb eingegrenzte Menschen, überwiegend