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Mario Gmür

Meine Mutter weinte, als Stalin starb

Erzählungen

Inhalt

Die Probevorlesung

Meine Mutter weinte, als Stalin starb

Amazonas

Mörder

Er

Unbedeutende Begegnungen mit bedeutenden Leuten

Elias Canetti

Die letzten Hosen von Canetti

Max Frisch

Friedrich Dürrenmatt

Franz Hohler

Weihnachtsferien im Irrenhaus Rosegg

Der Autor

Die Probevorlesung

Ich will Professor werden. Die Studenten sollen mich anbeten, unter meiner Fuchtel lernen und vor mir zittern, wenn sie zur Prüfung antreten. Dissertanten und Assistenten werden für mich über ihren angefangenen Arbeiten schmachten, werden unter meinem Namen forschen. Der Name des Chefs ist das Pseudonym seiner Mitarbeiter. Ich werde von Kongress zu Kongress fliegen, auf allen Kontinenten Vorträge halten, die als Frucht der harten Arbeit meiner rund fünfzig Mitarbeiter in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden sollen. Mein Name wird ein Begriff sein in der Welt meines Faches. Jawohl, ich will Professor werden, zuerst Privatdozent, dann Assistenzprofessor, später außerordentlicher und zuletzt, ganz oben, ordentlicher Professor.

Heute bin ich noch gar nichts. Nur Doktor. Und das ist jeder. Ich bin eine Null unter hundert Nullen. Doch das werde ich bald ändern. Fünf Jahre lang habe ich in harter Knochenarbeit an meinem wissenschaftlichen Forschungsprojekt geschuftet. Die Habilitationsschrift ist von allen Instanzen akzeptiert worden. Es ist so weit. Ich bin kurz vor dem Ziel. Noch nicht am Ziel; denn ich muss noch meine Probevorlesung vor der gesamten medizinischen Fakultät halten. Am 18. Januar, um 17:45 Uhr, bin ich aufgeboten, im Hörsaal West der Universitätsklinik. Eine Viertelstunde soll sie dauern, einschließlich Diskussion, das verlangt das Fakultätsreglement. Sie muss frei gehalten werden, ohne Notizen. Maximal sechs Dias dürfen verwendet werden. So steht es im in lakonischer Kürze abgefassten Schreiben des Dekanates. Von den drei von mir eingereichten Themenvorschlägen ist von den Fachgruppen der Fakultät mehrheitlich folgender ausgewählt worden: »Was hilft die Methadon-Behandlung?« Zehn Tage habe ich jetzt Zeit für die Vorbereitung, zweihundertvierzig geschlagene Stunden. Ich werde mich bestens vorbereiten. Jedes Wort, jede Silbe, jede Geste muss sitzen, wenn ich vor hundertfünfzig Professoren, vor den professoralen Missgünstlingen meine Sprechprobe absolvieren werde. Ich muss meine Rede in einem Fluss, in einem Guss hinlegen. Auf den Dias werde ich bestechend klare Übersichtsdarstellungen präsentieren. Die Ohren sollen den durchlauchtigen Fakultätsmitgliedern nur so wackeln und die Augen sollen glotzend aus ihren akademischen Schädeln hervortreten vor Bewunderung für den werdenden Privatdozenten am Katheder. Den Text für meine Ausführungen habe ich am letzten Wochenende bereits aufgesetzt. Die Dias schon verfertigt. Und jetzt will ich in den verbleibenden Tagen zweimal täglich den Text proben, wie ein Schauspieler eines Einmann-Stückes. Zweimal täglich gehe ich in den leeren Hörsaal im vierten Stock unserer Klinik und leiere meinen Text herunter. In allen möglichen Lebenssituationen tue ich das ebenfalls, im Bett vor dem Einschlafen, nach dem Erwachen in der Früh, auf der Toilettenschüssel sitzend. Ja, in allen Körperlagen auch, nicht nur stehend und sitzend, sondern auch auf dem Bauch liegend, auf dem Rücken mit angezogenen Beinen, im Kopfstand; unter verschiedenen atmosphärischen Bedingungen ferner, bei Sonnenschein und während eines Wolkenbruches, in strömendem Regen stehend auf dem Balkon, durch den Schnee watend und so fort. Nur so wird der Text niet- und nagelfest sitzen und doch aus mir heraussprudeln mit den passenden Akzenten, Intonierungen, Atempausen, Crescendi und Decrescendi, unbeirrt von allen möglichen Überraschungen wie Geräusche durch zu spät eintreffende Zuhörer, das Rascheln Zeitung lesender »Nichtzuhörer«, das Rutschen der Stühle, Klappern der Pultdeckel, das Husten erkälteter Dozenten und Poltern in Ohnmacht fallender Honorar-Professoren. In allen erdenklichen Lebens- und Körperlagen trainiere ich meinen Text, um auf alle vorstellbaren Ereignisse und Zwischenfälle gefasst zu sein, wie ein Schauspieler, der zum hundertfünfzigsten Mal König Lear spielt.

Um zehn Uhr morgens des siebenten Vorbereitungstages schleiche ich mich wiederum heimlich in den menschenleeren Hörsaal im vierten Stock der Klinik, schließe wie immer die Eingangstüre hinter mir ab, um den andern Befugten den Eintritt zu verwehren, um ungestört, vor allem unbeobachtet, mein Ritual absolvieren zu können. Eine Störung wäre nur zur Testung meiner Unbeirrbarkeit im Redefluss willkommen gewesen. Ich wende mich an die rund sechzig leeren, in acht Sitzreihen angeordneten Stühle und halte in diskreter Hörsaallautstärke meinen Vortrag: »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen und Herren …« So beginne ich und setze dann meine Rede fort, indem ich an der Fassung des Vortrages noch vereinzelte Korrekturen vornehme, Wortweglassungen, Akzentverschiebungen, Verlangsamungen und Beschleunigungen des Sprechrhythmus. Der Vortrag war tadellos. Summa cum laude, ohne Zweifel. Tosender Beifall erhebt sich in meiner Vorstellung. Ich starre in die leeren Sitzreihen und lasse vor meinem inneren Auge die Fakultät Platz nehmen. Einzelne Professoren kenne ich noch aus meiner Jahre zurückliegenden Studentenzeit, andere sind seither neu hinzugekommen und mir von einzelnen Zeitungsnotizen im Zusammenhang mit Lehrstuhlbesetzungen, sensationellen Entdeckungen und Erneuerungen sowie Skandalen beruflicher oder privater Natur bekannt. Was ich nicht alles weiß! Da ist Professor Strick, Blutspezialist, der noch nie im Leben ein Hungergefühl verspürt hat, sondern nur aus purer Vernunft isst; Professor Witzig, Pädiater, der, freilich eine Generation früher als ich, im gleichen Quartier aufgewachsen ist und von welchem der Rektor des Gymnasiums das Gerücht verbreitet hatte, er sei der intelligenteste Schüler weit und breit. Sein älterer Bruder war an einem Hirntumor gestorben, er selber hatte Kinder adoptiert; einmal, vor Jahren, wurde er angeklagt, weil ein Kind aus seiner Abteilung aus dem Bett gefallen war. Er ist ein international renommierter Immunologe. So fallen mir zusammenhangslos Eigenschaften, Anekdoten, Erinnerungen ein und fliegen solche Gedankenfetzen auf die leeren Fakultätsstühle, auf denen mit mehr oder minder deutlicher Prägnanz die Professoren Konturen annehmen. Da sitzt jetzt auch Professor Mühlethaler, Internist und Leiter der medizinischen Poliklinik, von dem böse Zungen behauptet haben, er habe früher, als er noch subalterner Extraordinarius war, täglich das Elektrokardiogramm seines Chefs studiert. Eine einzige Frau nimmt Platz, Leiterin des strahlenbiologischen Institutes, üppig beleibt und mit zu einem turbanähnlichen Gebilde hochgestecktem Haar. Welche Ausstrahlung geht von dieser prächtigen, an Nofretete gemahnenden Dame aus. Ihr Mann, so war vor Jahren in der Zeitung zu lesen, besorgt den Haushalt, und das Wichtigste an ihm sei, so erklärte sie dem Interviewer, dass er schön sei. Im feierlichen Frack, gewaschen und geleckt, sitzt auf dem verhältnismäßig harten Holzstuhl der millionenschwere Gynäkologieprofessor, der wegen konsequenter Weigerung, für sein luxuriöses Zweitauto ein zusätzliches Nummernschild zu beschaffen, ein Streitverfahren bis vor das höchste Landesgericht zog. Und direkt neben ihm folgt, mit aufmerksamer Miene, unter einer wuchtigen grauen Mähne, der Mikrobiologieprofessor Lindenwurm meinen Ausführungen, eine Intelligenzbestie sondergleichen, von ungewöhnlicher Bildung und Sprachgewalt, der Entdecker des Interferons, wofür er seit zwei Dezennien jeden Herbst den ersehnten Nobelpreis nicht zugesprochen erhält, was ihm etwa schon so viel Ruhm eingebracht hat, wie wenn er ihn ein einziges Mal erhalten hätte. Und dann sitzen in der illustren Versammlung natürlich auch die Psychiater der Fakultät, die drei Ordinarii Kegel, Bitter und Frost und die vier Extraordinarii Wildi, Herz, Lichtenhagen und Schleifenberger.

Heute Abend werde ich noch einmal meine rhetorische Trockenübung im Hörsaal absolvieren, vor den leeren Stühlen, spekulierend auf einen Lehrstuhl.

Der große Tag rückt näher. Die Professoren machen mir Angst. Sie werden mich aus der Fassung bringen. Das Herz wird rasen. Die Stimme versagen. Das Hirn fragen, wie es weitergeht. Einen völligen Blackout wird es geben, einen Höhepunkt der Peinlichkeit. Durchgefallen, jawohl, fünf Jahre Fleißarbeit für nichts, für die Katz. Ich stelle die eindeutige Diagnose: Lampenfieber. Als Psychiater sollte ich eigentlich imstande sein, dieses zu behandeln, ohne Medikamente, rein psychologisch. Lampenfieber ist ein gutes Zeichen, rede ich mir ein. Es ist ein gutes Zeichen, dass du gut vorbereitet bist, und ist Ausdruck der Angst, dass deine gute Vorbereitung nicht honoriert werden könnte. Lampenfieber gibt deinem Vortrag das Feuer, das ihn zum Leuchten bringt. Ein besonders günstiger Umstand ist, dass du jetzt schon, und nicht erst bei Beginn der Vorlesung, an Lampenfieber leidest. So wirst du dich bei der entscheidenden Prüfung schon daran gewöhnt haben und darum mit Leichtigkeit darüber hinwegkommen. Und überhaupt, gerade durch das Ankämpfen gegen das Lampenfieber entwickelst du eine Energie, die dich während des Vortrages, den du selber schon zum weiß Gott wievielten Mal hörst, wachhält und deinen Blutdruck vordem Absinken auf null bewahrt. Solcherart sind meine Gedanken, meine Beruhigungs- und Selbstermunterungsversuche. Auch die letzten drei Hauptproben im Hörsaal verlaufen reibungslos. Das Lampenfieber, das mich bisher beim Betreten des Hörsaals beschlich, klingt jetzt mit den ersten Worten ab und meldet sich erst einige Stunden später wieder, wenn sich das Gefühl der Selbstsicherheit verflüchtigt, das ich durch die erfolgreiche Abwicklung des Referates, ohne Stottern und Hängenbleiben, gewonnen habe. Da greife ich zu einem neuen Gedankenmittel, um mir die Gründe für die Aufregung zu nehmen. Ich denke, die Professoren werden sich überhaupt nicht oder höchstens ganz beschränkt für diese Probevorlesung interessieren. Fünf Minuten vor ihrem Eintreffen im Hörsaal wird der eine Chirurg noch schnell ein paar Fäden aus einer zugenähten und vernarbten Wunde eines von ihm operierten Patienten nehmen, ein anderer seiner Sekretärin das Protokoll einer Mastektomie vom Vormittag diktieren und ein Internist die Angehörigen über den unerwarteten Herztod einer Patientin persönlich unterrichten. Kurz, jeder kommt mitten aus einer hektisch-angestrengten Tätigkeit, um im Hörsaal die tagsüber von Studenten vorgewärmten Schulbänke zu drücken, und hat seinen Kopf noch ganz bei den beruflichen Verrichtungen der verflossenen Stunden oder schon bei den Traktanden der der Probevorlesung folgenden Fakultätssitzung. Meinen Ausführungen werden sie alle nicht zuhören. Ja, die Annahme ist sogar nicht übertrieben, dass ich ohne weiteres das Telefonbuch oder den Koran vorlesen, meinen Vortrag in serbokroatischer oder koreanischer Sprache halten könnte, ohne dass auch nur einer der Herren das merken würde. Sie werden nur auf vier Dinge achten, die Herren: Anzug und Krawatte müssen sitzen; die Schuhe sauber und gewichst sein; aus dem Munde müssen wie aus der Pistole geschossen menschliche Laute hervorschießen und das Referat muss nach zwölf Minuten beendet sein. So, ich kann mit Gelassenheit zur Probevorlesung antreten.

In meinem dunkelgrauen Flanellanzug und mit dunkelblauer Krawatte geschmückt, schreite ich die ansteigende Rämistrasse hinauf, die zur Universitätsklinik führt. Hunderte Male habe ich diesen Weg im Akademikerviertel der Stadt schon als Student zurückgelegt, zu Vorlesungen, Kursen, Prüfungen. Der Weg führt an dem Schulhaus vorbei, in dem ich meinen ersten Gymnasialunterricht genossen und die ersten Prüfungsängste durchgestanden habe. Wie ich das schmiedeeiserne Eingangstor des Gymnasiums erblicke, durch das ich vor dreißig Jahren als Zwölfjähriger mit pochendem Herzen zur schicksalsbestimmenden Eintrittsprüfung geschritten war, überschwemmt mich mit einem Mal wieder eine Flut von Versagensängsten. Funktioniert mein Gedächtnis noch? Bin ich in meinem dunklen Anzug nicht etwas zu feierlich gewandet? Werde ich dafür ein mitleidvolles Lächeln bekommen? Bin ich auf alle möglichen Fragen genügend vorbereitet? Wie lächerlich klein werde ich dastehen, wenn ich eine nicht zu beantworten weiß. Ich trete wohl besser gar nicht zur Probevorlesung an, sondern ziehe mich zurück und verzichte auf die ganze Veranstaltung. Die akademische Karriere kann mir gestohlen bleiben! Ich steigere mich in einen pessimistischen Resignationsparoxysmus hinein. Du kannst doch den Text. Und was sind das für Zuhörer? Professoren, nein, dumme Affen sind das. Ja, Affen. Etwas weiter oben, bei der übernächsten Tramstation, ist der zoologische Garten. Ja, da gehst du jetzt hin und hältst den Vortrag vor den versammelten Gorillas. Diese Professoren, Strick, Mühlethaler und wie sie alle heißen, das sind nur Gorillas mit einem intellektuellen, wenn möglich bebrillten Schädel, aber drinnen, drinnen ist gar nichts. Du kannst denen sagen, was du willst. Die verstehen nur Bahnhof. Jetzt bin ich frei. Die Ruhe selbst betrete ich die Universitätsklinik und dann den Hörsaal West, wo, es ist Viertel nach fünf geworden, der Hausmeister schon mit einigen Vorbereitungsarbeiten beschäftigt ist.

»Sind Sie der …?«

»Ja, der bin ich, Herr Bär, ich komme wegen den Dias.«

Ich fühle mich in meiner Fantasie bestätigt, im zoologischen Garten angekommen zu sein. Aber ich bleibe bei der Vorstellung, dass jetzt bald Gorillas eintreffen werden. Ich steige die Treppe des Hörsaals, die noch steiler abfällt als die Rämistrasse, hinunter bis zum Katheder und blicke in den Raum. »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen, meine Herren …« Hoffentlich erscheint wenigstens eine Dame, sonst sind sie noch beleidigt, wenn ich sie teilweise als Damen anspreche.

Da kommt in Begleitung zweier Sekretärinnen der Dekan, der ist Ordinarius für Zahnmedizin. »Sie wissen, wie es geht«, sagt er, »Sie dürfen alles sagen, was Sie wollen, aber es darf nicht länger als zwölf Minuten dauern, mit Diskussion fünfzehn Minuten maximal. Sie können hier in der ersten Reihe Platz nehmen.« Er schaut mir nicht in die Augen, als Zahnarzt ist er es wohl gewohnt, in den Mund des Patienten und zur Abwechslung in die Augen der Gehilfin zu schauen. Die Vorstellung eines Gorillas entschwindet in mir. Und jetzt kommen Stück für Stück die Kollegen des Dekans, der hier als Primus inter pares den Vorsitz führt. Mit welchen Intelligenzbestien und Großverdienern sich das Auditorium nun füllt! Mindestens fünftausendfünfhundert Punkte Intelligenzquotient haben sich, in kleinen Grüppchen herumstehend, bereits eingefunden, und zusammengezählt mindestens zwölf Millionen Jahreseinkommen und hundert Millionen versteuertes Vermögen, und mit jedem eintretenden Klinikdirektorenhaupt steigt der Intelligenzquotient um hundertzwanzig bis hundertsechzig Punkte, das Einkommen um drei bis vier Hunderttausenderlappen, das Vermögen um eine Million, manchmal um zwei, drei, vier oder noch mehr. Ganze Villenviertel mit zwei Dutzend Schwimmbecken und ein Heer von Gartenzwergen erstehen vor meinen Augen. Dreißig Mercedes 560 SEC, zwanzig BMW 735, zehn Porsche 911, fünf Bentley, zwei Cadillac, vier Rolls Royce und im Schatten der Karossen ein Deux Chevaux stehen in den Garagen und auf den Parkplätzen. Jetzt gleitet der Mikrobiologieprofessor schwebenden Schrittes ins Auditorium. Der Gesamt-IQ im Hörsaal schwellt um zweihundert Punkte in die Höhe, das Vermögen nur um knapp fünfzigtausend Franken. Jetzt stampft der Chirurgieprofessor in den Saal. Der IQ steigt um knapp hundert Punkte, das Vermögen um zwanzig Millionen. Die Uhr steht auf achtzehn Minuten vor sechs. Noch rund hundertsechzig Millionen werden erwartet. Vierzig Millionen fließen in den letzten drei Minuten in den jetzt zu drei Vierteln besetzten Saal, Aktien, Obligationen, Goldbarren, Immobilien, Perserteppiche, Gemäldegalerien, Ikonensammlungen, Luxusautos und Jachten. Und jetzt, Punkt Viertel vor sechs, mein Puls steigt auf hundertsechzig, schreitet majestätisch die Strahlenkönigin, die einzige Frau der Fakultät, die Treppe herunter, Frau Professor Stritz, und beschwert den äußersten Platz in der sechsten Reihe, welche Ausstrahlung! Und der Dekan erhebt sich und eröffnet die Sitzung, indem er in neutral freundlichem Ton kurz meine Probevorlesung ankündigt. Der Moment ist gekommen. Ich stehe auf, schaue kurz noch einmal in das Auditorium, wo Herr Bär am Schaltwerk mit meinen Dias in Bereitschaftsstellung harrt, denke kurz »Gorillas!« – und mein Puls fällt in einer Art Sekundenphänomen auf etwa sechzig herunter. In diesem Moment, in dem ich mich an die Gorilla-Vollversammlung wende, bemächtigt sich meiner als Folge dieser autosuggestiven Beeinflussung ein Gefühl cooler Gelassenheit und unerschütterlicher Selbstsicherheit, und es spricht aus mir mit fester Stimme: »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen, meine Herren!« Und dann sage ich mein Probevorlesungsgedicht wie schon fünfzig Mal zuvor auf, alles geht wie am Schnürchen, zuerst die Einleitung, dann die ersten drei Dias und dann der Zwischentext, der überleiten soll zu den weiteren drei Dias. Und das Glücksgefühl, das in mir durch den völlig programmgemäßen, wie der Countdown eines computergesteuerten Raketenstartes vor sich gehenden Ablauf des Vortrages entsteht, steigert sich zu einer wahren Euphorie, die mich kurz vor der zweiten Diaserie zum übermütigen Wagnis hinreißen lässt, vom vorbereiteten Text abzuweichen, wie ein souveräner Staatsmann von den strengen Anweisungen des Protokolls, um mich nochmals an das geneigte Publikum mit einer Anrede zu wenden: »Meine verehrten Damen und Herren Gorillas!«

Ich erschrecke über das, was meiner Brust entfahren ist, öffne erneut den Mund, doch bringe ich keinen Laut mehr über die Lippen. Meine Augen glotzen starr in das Publikum, in welchem eine Welle der Entrüstung durch die Reihen zu gehen scheint. Ich merke, dass ich mich entweder für den Versprecher entschuldigen oder gleich mit dem Text fortfahren muss, um die Bedeutung des Patzers abzuschwächen, doch meine Kiefer sind gesperrt und lassen keine Lautbildung mehr zu. Ich beobachte, dass wie in einem Dominospiel ein Gorilla nach dem anderen sich zu seinem zur Linken sitzenden Nachbarn neigt. Ich sehe das Runzeln auf den Stirnen etlicher glatzköpfiger Herren und wie einige mit der rechten Hand zum gleichseitigen Nasenflügel greifen, halb aus Verlegenheit, halb um zu überlegen, ob und wie sie reagieren sollen. Einzelne schwerhörige Dozenten älteren Semesters bilden mit einer Hand einen Trichter am Ohr und lassen sich von ihrem Sitznachbarn das Wort »Gorilla« wiederholen, worauf sie die Mundwinkel nach unten ziehen und ihre Augen weit aufreißen, wie man das kurz nach der Entgegennahme einer Hiobsbotschaft reflexartig zu tun pflegt. Dann verstärkt sich die Unruhe ganz allgemein im Saal, ein Hüsteln, Räuspern, Schnäuzen und Knistern ist zu hören, ohne dass irgendjemand ein Wort zu sagen wagt. Und während ich jede Regung im Auditorium gewahre, verstärkt sich die starre Regungslosigkeit in meinem Körper, ich bin zu keiner Bewegung, zu keiner Äußerung fähig, sondern blicke und horche nur in die erhabene Gorilla-Versammlung hinein, wie ein von Tetanus oder Botulinusgift Gelähmter, der kläglich dazu verurteilt ist, der Dinge zu harren, die um ihn vorgehen. Und plötzlich erhebt sich ein älterer, aber scheinbar noch agiler Gorilla mit einer glänzenden Kopfglatze, es ist Professor Hüssli, von seinem Sitz, ruft in die Versammlung hinein: »Da ist, meine Herren, einer kurz vor dem Abkratzen«, macht mit turnerischem Elan einen Sprung von der siebten Reihe bis zu mir ans Pult, zieht einen Katheter aus seiner inneren Jackentasche hervor und sagt in konstatierendem Ton: »Gut, dass der Anästhesist da ist«, womit er niemand anderen als sich selbst meint, zieht aus seinem geröteten und wulstigen Hintern ein langes Stethoskop, legt mir die Membran auf die Brust, und während er die Herztöne abhört, blickt er in die Runde seiner Kollegen und stößt ein »Hoppla, hoppla, Herr Kollege Strick, das Blutbild bitte« und »Die ganze Fakultät in Aktion, anfassen!« hervor. In diesem Moment lösen sich von der Decke des Hörsaals vier Zielgesteine, und rund zwanzig Schnüre senken sich ins Auditorium herunter. Jeder der Gorillas, der ein Stück Schnur ergreifen kann, tut dies, sodass drei oder gar vier an einer Schnur hängen und sich von ihrem Platz zu mir herunterpendeln lassen. Nun bin ich richtiggehend belagert von der Fakultät. Jeder sieht seine Chance, vor der versammelten Runde zu brillieren, sei es diagnostisch, therapeutisch oder indem er die überraschend entstandene Situation durch treffende Worte zu charakterisieren versucht. Ein Dozent, der durch das ganze Wirrwarr recht belustigt zu sein scheint, sagt: »Das ist ja eher eine Abschiedsvorlesung als eine Probevorlesung.«

»Keine Sprüche jetzt!«, faucht ihn der Anästhesist Hüssli an:

»Bitte jetzt die Infusion«, worauf nicht weniger als sieben Affen mir ihre Zeigefingernägel, die sich allesamt zu Spritzen geformt haben, in eine Vene stechen, jeder in eine andere, und bis zum rechten Vorhof meines Herzens vorstoßen, dann ihre Finger zurückziehen und die dadurch losgelösten Nägel an eine der immer noch herabhängenden Schnüre anschließen. Der Chefinternist atmet tief auf und haucht schweißtriefend die Worte: »Da haben wir’s, ein regelmäßiger Herzrhythmus, Sinusrhythmus! Der Kerl kann vermutlich noch heute habilitiert werden!« Doch da fährt ihm der Dekan mit der Bemerkung über den Mund: »Dekan bin immer noch ich, meine Herren, bitte, Sie haben noch drei Minuten Zeit, dann ist die Diskussion zu Ende, so will es das Reglement.« Und da geht mit doppelter Geschwindigkeit, wie beim Endspurt eines Wettlaufs, ein Stechen, Spritzen, An- und Abzapfen an meinem immer noch in wächserner Bewegungsstarre verharrenden Körper vor sich. Der Urologe findet es urologisch, mir einen Katheter zu stecken, der Proktologe proktologisch, mir einen Einlauf zu verpassen, der Gynäkologe gynäkologisch, mir den Bauchnabel mit einem Gummischlauch zu durchstoßen. So bin ich an hundert Schläuchen angeschlossen. Da sagt Hüssli in einem halb gelassenen, halb gespannten verheißungsvollen Ton: »In drei Sekunden haben wir die Gesamtverdachtsdiagnose … ja, da haben wir sie schon: vegetative Dystonie!« Ein Raunen breitet sich durch die Gorilla-Versammlung aus. Professor Brechbühl, Neurologieprofessor, zieht seine linke Augenbraue in die Höhe, blickt vielsagend zu den drei hinter ihm stehenden Psychiatern zurück und schlussfolgert aus dem Bisherigen mit bedeutungsvoller Miene: »Supranasal.« Mit diesem einen Wörtchen entlässt er die gesamte Clique von Somatikern, die sich mit der Körpermedizin außerhalb des Zentralnervensystems befassen, nach Hause, oder, um es etwas drastischer zu sagen: Er schickt sie gewissermaßen in die Wüste. Jetzt ist es an ihm, den ganzen Kuchen mit den fünf anwesenden Psychiatern aufzuteilen. Ein Examensstupor kann praktisch ausgeschlossen werden, sind sich diese bald einig, denn mitten in einem souverän gehaltenen Vortrag hatte noch nie jemand einfach so einen Blackout. Zwischen Katatonie und hysterischem Anfall schwanken sie lange hin und her, am meisten zu reden gibt das Wort »Gorilla«. Es wird die Neuschöpfung eines »Gorillazoenwahns« erwogen. Aus der verwandtschaftlichen Nähe des Wortes Gorilla zu »Grille« wird gefolgert, ich hätte einfach Grillen im Kopf. Doch alle vermag dies nicht so recht zu überzeugen. Nachdem Brechbühl mehrmals erfolglos auf meine Patella links und dann auch rechts geklopft hat, überreicht mir Professor Frost nicht minder erfolglos einen Fragebogen, Professor Bitter, für den der ganze Zwischenfall als Habilitationsvater von höchster Peinlichkeit ist, erklärt, dass alle Abteilungen in seiner Klinik bereits überfüllt seien und ich bloß als wertvolle Bereicherung seiner Absagestatistik zu betrachten sei und schon deshalb eine Annahme der längst fälligen Habilitation verdiene, Professor Kegel befürchtet bei aller Originalität einer solchen Probevorlesung die Schaffung eines Präzedenzfalles, will mich aber als Demonstrationsobjekt für seine Studentenvorlesung reservieren. Lichtenhagen hingegen wittert wieder einmal die Chance, mich zu disqualifizieren, und bemerkt: »Ich glaube, ihr merkt es nicht, der hält euch alle zum Narren, wie er es mit mir schon seit Jahren tut«, worauf sich Schleifenberger einschaltet: »Nein, nein, da wagt einer, uns die Wahrheit zu sagen, wir sind doch alle Gorillas.«

»So, Schluss jetzt«, verschafft sich der Dekan in dem fachsimpelnden Palaver wieder Gehör, »die Diskussion ist zu Ende, spülen bitte, ich meine die Infusionen, und dann schreiten wir zur Abstimmung.« Da löst sich, offensichtlich zum Erstaunen aller, ein zusätzlicher Ziegel von der Decke des Auditoriums, und durch das dadurch entstandene Loch schlüpft zur noch größeren Verwunderung aller Professor Grzimek, Gastprofessor für Zoologie und oberster Verwalter des zoologischen Gartens, und ruft in den Saal: »Prima habt ihr das gemacht, meine Herren Kollegae, prima, das war die beste Gorilla-Sondernummer, die ich je in meinem Affenhaus gesehen habe, nicht einmal im Zirkus bringen sie eine Affennummer von so hohem Format zustande! Und Sie, Herr Doktor, und Sie …«

Ich spüre, wie sich die Starre in meinem Körper löst, ich öffne die Augen und sehe am Fenster die Sonnenstrahlen in mein Zimmer scheinen. Ich schaue auf die Uhr, ich muss zur Arbeit, heute Nachmittag habe ich die Probevorlesung, um Viertel vor sechs. Ich will Professor werden.

Meine Mutter weinte, als Stalin starb

Meine Mutter weinte, als Stalin starb. Aus der dunkelbraunen Kiste im Wohnzimmer, gleich nach dem Eingang links, dröhnten Musik und fremde Stimmen. Ein Sender aus Russland, sagte man mir. Nur meine Mutter konnte Russisch verstehen. Als Achtjähriger war mir das noch fremder als die Sprache der Großen. Aber dass ein ganz Großer gestorben war, das verstand ich. Dass es ein großes Unglück sein musste für die Welt, für die Familie, für mich, den Kleinsten … ein Zusammenbruch, ein Absturz, ein Gleiten ins Nichts. Ich konnte mich nicht mehr verlassen auf das Erwachsene, wenn das Erwachsene weinte. Ein erstes Gefühl von Entsetzen, Einbrechen, Einknicken, von Vertrauensverlust … von Davonrennen der Führung, von Getäuscht- und von Betrogenwerden, von Einsamkeit. Es muss das Jahr 1953 gewesen sein.

Das Weinen meiner Mutter – es sei sentimental, meinte mein Psychoanalytiker. Er sagte es trocken, als ich es ihm zu schildern, zu erklären versuchte. Das Weinen meiner Mutter, es versetzte mich immer in einen innerlichen Zustand der Entrüstung, der Fassungslosigkeit. Ich wertete es jedes Mal als eine Unverschämtheit, eine Ungehörigkeit, ein Versagen auch. Es durfte nicht sein. Ich wollte ihr das Recht dazu absprechen.

Meine Mutter weinte selten. Sie hatte so viele Gründe, allen Grund zum Weinen, dass die Geringfügigkeit der äußeren Anlässe ihres wie gesagt seltenen Weinens mir unverständlich, unbegreiflich schien und mich am Sinn des vom Schöpfer geschaffenen biologisch-physiologischen Vorganges »Weinen« zweifeln ließ. Sie weinte zum Beispiel jedes Mal beim Betreten einer Kirche, was – sie war praktizierende Atheistin jüdischer Herkunft – nicht häufiger als im Durchschnitt vielleicht alle fünf Jahre einmal vorkam. Auf einer Hochzeit oder einer Ferienreise, beim obligaten Besuch einer Kathedrale. Das Weinen hatte dann mitunter etwas pawlowartig Reflektorisches. Sowie die Kirchenglocken zu läuten anfingen, als wollten sie sagen »Meine Damen und Herren, bitte hereinkommen und Platz nehmen«, verzog sich ihr Mund zu einem zusammengekniffenen U oder O, zog sich ihre Stirn von links und rechts gegen die Mittellinie hin zusammen, als gelte es, das Andrängen eines emotionalen Flusses aufzuhalten, der sich dann aber in einer Art von seelischem Einnässen ungehindert Bahn brach und das sich vor Ermüdung wieder erschlaffende Gesicht schamlos überschwemmte. Sie weinte gewissermaßen gegen den Strom, wenn sich die versammelte Feiergesellschaft aufmachte zum fröhlichen Ereignis, sie weinte antizyklisch, machte traurige Miene zum frohen Fest. Einmal, es war glaube ich die Hochzeit meiner ältesten Schwester in Pfäffikon, gab ihr mein älterer Bruder bei einem solchen Weinanfall mit dem Ellbogen einen Stoß in die Flanke und mahnte sie halblaut: »Spinnst du, hör auf!«, worauf sie sofort ihr wie immer lautloses Weinen abrupt einstellte, zudrehte wie einen Wasserhahn, als wäre sie gerade bei einer Unbotmäßigkeit oder einer Unhöflichkeit in flagranti ertappt worden. Jetzt hab ich’s: Lautlos war ihr Weinen, eine sad isolation, ein Weinen, das es von den Augen zu entdecken gilt, weil es die Ohren nicht in Schwingung versetzen will, lautlos, aber nicht still, von überhörbarem Vorwurf vielmehr, ein Weinen, das den Anwesenden Ignoranz vorhält, Lebensunerfahrenheit – wer nie ein Brot mit Tränen aß –, das einen nicht ernst nimmt, aber dann doch auch nicht in Ruhe lässt, ein Weinen, das sich selbst eine Privatheit gibt, an der die Öffentlichkeit durch das Schild Bitte nicht stören teilhat und in ihrer Neugier gleichzeitig aufgerüttelt und abgewiesen wird. Kein endloses Weinen, nur eines, das sich bei guter Gelegenheit vernehmen lässt, um zu sagen: »Ihr wisst gar nicht, was und wie und wo und woran ich schon gelitten habe.«

Es war nicht möglich zu wissen, nur zu vermuten, was sie in solchen Momenten bewegte. Der Tod ihrer Mutter, die an multipler Sklerose, an einer fortschreitenden, aufsteigenden Lähmung elendiglich zugrunde gegangen war. Das Emigrantenschicksal ihres Vaters, der vor den Pogromen im zaristischen Russland in die sichere Schweiz geflohen war und als Jude in katholischster Umgebung sein diasporisches Leben gefristet hatte. Ihre Erinnerungen an Rostow am Don, das sie als Kleinkind mit ihren Eltern besucht hatte, bevor sich diese, noch vor der Revolution, definitiv, wie sich später herausstellen sollte, in Bern niederließen.

Immer hatte sie recht. Sie terrorisierte die Familie mit ihren selbstsicheren Charakteranalysen und ihren treffsicheren Prognosen, die einem keinen Raum zu einem eigenen Urteil ließen. »Du wirst dich erkälten … Es wird kalt sein in Barcelona … Jürg Kaufmann wird unmittelbar nach seiner Wahl in den Stadtrat eine Rechtswendung vollziehen, du wirst sehen … Thomas Ernst wird nie konzertieren, sondern später sein Leben als Klavierlehrer fristen müssen.« Das war eine Art, ihre Lebenserfahrung so in die Waagschale zu werfen, dass diese keine Chance hatte, durch ein Gegengewicht wieder angehoben zu werden. »Du sollst nicht immer widersprechen! Aber sicher ist Pinkus geschäftstüchtig und Rosenbusch ein Frühaufsteher, und Solschenizyn wird sich mit Heeb nicht verstehen, das ist doch ein richtiger Russe, Solschenizyn, aber ein richtiger Russe, wie er im Buche steht, einer, der trockene, pingelige, kleinliche Schweizer wie den Heeb nicht ausstehen kann, die werden sich überhaupt nicht verstehen«, wiederholte sie mit anschwellender Stimme, wenn ich ihre Prognosen mit einem Fragezeichen zu versehen mich unterstand. »Heeb wird ihm schon nach wenigen Wochen auf die Nerven gehen, er wird ihm, du wirst sehen, schon nach einem halben Jahr das Mandat entziehen und einen anderen Anwalt nehmen. Solschenizyn hätte Heeb nie als Anwalt genommen, wenn er nicht russisches Recht aus dem Effeff kennen würde. Den Heeb hat der Frisch ihm in Moskau empfohlen.« Immer wusste sie es, ohne es zu wissen. Und immer steigerte sie sich in eine Aufregung hinein.

Zum Beispiel bei einem Mittagessen im Sommer 1970. Ich hatte gerade den ersten Teil meines medizinischen Staatsexamens beendet und war mit der Vorbereitung des zweiten beschäftigt. Es war ein Samstag. Man lauschte wie üblich den Nachrichten im Radio, welche in die wegen des Lebenswandels meines Vaters geladene Atmosphäre am Familientisch eine gewisse Entspannung brachten. Eine Angestellte der Stadt Zürich, hieß es, ohne dass der Name genannt wurde, sei wegen langjähriger Spionagetätigkeit zugunsten eines Ostblockstaates verhaftet worden. Ein Zusammenziehen der Stirnhaut, dann ein Aufschrei der Überraschung, wie wenn es gilt, eine Hiobsbotschaft aufzufangen: »Das ist doch die Lili Seldmayr«, röhrte es aus ihr heraus, »ich habe doch immer gesagt, dass sie ein Spitzel ist. Du meine Güte, jetzt ist sie verhaftet worden. Jetzt kann sie hocken, sie wird Jahre kriegen.«

»Es steht ja nicht fest, dass sie es ist«, wagte ich einzuwerfen.

»Aber sicher ist es sie, da gibt es keinen Zweifel, das kann niemand anders sein. Sie arbeitet bei der Stadt, stell dir vor, ich habe mich immer gefragt, weshalb sie zu ›Kultur und Volk‹ kommt, sie hätte ja schon längst die Stelle bei der Stadt verloren, wenn sie nicht spioniert hätte. Sie hat natürlich für die Bundespolizei gearbeitet, das ist ganz klar. Und dann ist sie gekippt.«

»Das weißt du ja gar nicht.«

»Hör doch auf«, steigerte sich ihre Stimme, »das ist ganz sternenklar, dass sie ein Spitzel ist, da gibt’s gar nichts zu husten. Das ist eine Doppelagentin. Sie kam ja an jeden Basar der Partei, eine so hübsche, gediegene Dame, eine richtige Dame, wo doch sonst nur die armseligsten Kommunistenfrauen von der Partei der Arbeit kamen. Andere hätten sich gar nicht getraut. Ich bin ja nur hingegangen, damit ich die Lydia wieder mal sehe. Was hat eine so elegante Dame auf diesem erbärmlichen Parteibasar zu suchen? Und immer hat sie mit Lydia geplaudert, und mich hat sie einmal ausgefragt über Anita, die wusste natürlich, dass sie auf der Parteischule ist, das ist ja ganz klar.«

»Jetzt müssen wir erst mal wissen, ob es überhaupt sie ist«, versuchte ich die Spekulationen meiner Mutter abzubremsen.

»Ich sage doch, es ist sie, aber sicher. Jetzt kann sie jahrelang hocken.«

Es war nicht das erste Mal, dass ihr diagnostischer Blick einen Spitzel dingfest gemacht oder die Gefährdung, die Verführbarkeit dieses oder jenes Genossen erkannt hatte. Erika Pinkus, die erste Frau des Buchhändlersohnes Marco aus Hamburg. »Aber sicher ist sie ein Spitzel, sie liebt ihn ja gar nicht … Bei Konrad Farner muss man aufpassen, von irgendetwas muss er doch leben. Frisch und Dürrenmatt können ihm auch nicht so viel zustecken, deshalb kriegt er es von den Chinesen. Das würde mich nicht erstaunen, wenn er für China arbeitet … Und Hermi Meier, der ist ein Doppelspion. Ich habe ihn gewarnt, er wird aus der DDR eines Tages nicht mehr zurückkommen, wenn er so weitermacht. Sie werden ihn mit einem Autounfall kaputtmachen. Ich würde ja nie zu Hermi ins Auto steigen. Und wie viel Geld er verprasst, als Programmverkäufer im Stadttheater verdient er doch nur einen Hungerlohn, verglichen mit dem, was er ausgibt. Nie im Leben würde ich zu ihm ins Auto steigen.«

»Nur am Schluss vom Leben«, bemerkte ich trocken und versuchte mich von den Ohnmachtsgefühlen gegenüber den unerschütterlichen Prognosen meiner Mutter etwas zu erleichtern. Es hatte keinen Sinn, das Rätselraten um die Identität von Spionen fortzusetzen.

Auch andere alltägliche Streitereien pflegten das Klima zu Hause zu vergiften. Eine Zeitung, die nicht ordentlich zusammengelegt war, ein Wasserhahn, den ich nicht richtig zugedreht hatte, die Balkontür, die ich zu schließen unterlassen hatte, sie sorgten für weitere nervöse Tiraden, die sich zu filibusterartigen Monologen auswuchsen, von denen ich mich auch jetzt einmal mehr nur durch Flucht in die Stadt zu befreien vermochte. Ziel war die Zentralbibliothek, wo ich mich in der sitzenden Gesellschaft still vor sich hin lesender und studierender Leidensgenossen im Sommer 1970 auf die Prüfungen vorbereitete. Sobald ich das Haus verließ, war es, als wäre eine Klimaanlage eingeschaltet worden, welche die Atmosphäre abkühlte und die schlechte Luft reinigte. Ich befand mich wie in einem völlig anderen Raum und konnte mir gar nicht mehr vorstellen, dass daheim so dicke Luft herrschte, ebenso wie ich mir im Sommer nie die winterliche Kälte und im Winter nie die sommerliche Hitze vorzustellen vermag. Meine Begabung des Vergessens war die Voraussetzung dafür, dass es mir außer Hause gut gelang, mich auf mein Medizinstudium zu konzentrieren.

Beim Paradeplatz entstieg ich dem Tram, um den Weg zur Zentralbibliothek am Zähringerplatz zu Fuß zu gehen. Da sah ich in einer Zeitungsauslage die eben erschienene neueste Ausgabe der Tat. Ich lenkte meine Schritte direkt dorthin, um nachzuschauen, ob von der aufregenden Affäre schon etwas berichtet wurde. Und tatsächlich fand ich einen zweispaltigen Bericht. In diesem standen zu meiner Verblüffung die Initialen L.S. Ich konnte meine Achtung vor den einmal mehr bewiesenen kriminalistischen Fähigkeiten meiner Mutter, die beinahe an Komplizenschaft zu grenzen schienen, vor mir selbst nicht verbergen und glaubte, mein Gesicht am ehesten wahren zu können, wenn ich sie sofort zu Hause anrufen und ihr die Neuigkeit mitteilen würde. Das Unerträgliche war, dass sie immer recht bekam. Der Unterlegene überbringt die Siegesmeldung am besten selbst. L.S. war der klassische Fall einer Doppelagentin. Sie hatte die Bekanntschaft des rumänischen Botschafters auf einer von meinem Vater präsidierten kulturellen Veranstaltung von ›Kultur und Volk‹ gemacht. Die beiden waren sich nähergekommen. Sie gab dem Botschafter Adressmaterial aus der städtischen Einwohnerkontrolle. Als Übergabeort wurde ein blinder Briefkasten im Hauseingang der Neuen Zürcher Zeitung in der Falkenstrasse benutzt, wo ihr Bruder, der natürlich nichts ahnte, als leitender Angestellter der Druckerei arbeitete. Nach einer solchen Übergabe wurde L.S. verhaftet. Ihr Liebhaber machte sich unter dem Schutzmantel diplomatischer Immunität aus dem Staub.

Von acht bis halb zwölf Uhr war meine Mutter Kapitalistin. Dann bereitete sie das Mittagessen zu. Danach, bis am folgenden Morgen, war sie Kommunistin. Kapitalistin … es war eine Art