image

Titelschriftzug

Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer,
E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das
E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book Shop, gekauft hat.
Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von
uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und
dem Verlagswesen

Bestell-Nr. 395.146

ISBN 978-3-7751-7103-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5146-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2012
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: A dream to call my own
© Copyright der Originalausgabe 2009 by Tracie Peterson
Published in English by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
Cover images used by permission of Bethany House Publishers.
All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm




Für alle in Belgrade, Montana,
die für mich jeden Tag ein Segen sind.
Ihr wisst schon, wen ich meine.

1

Ende Januar 1881

Vielleicht war es ein Hüttenkoller, vielleicht lag es an der Nachricht, dass Beth schwanger war, oder es war einfach die allgemeine Aufregung und Anspannung, weil Gwens Baby jeden Moment kommen konnte. Was auch immer der Grund sein mochte: An diesem Morgen wachte Lacy Gallatin eine ganze Stunde früher auf als sonst und hatte sofort nur den einen Gedanken im Kopf: Ich muss hier für eine Weile weg.

Sie sprang aus dem Bett und zog sich rasch an – Wollstrümpfe, Flanellhosen, darüber ihren dicksten Hosenrock und zum Schluss die wärmste Bluse und den wärmsten Pullover, die sie besaß. Ihr Haar flocht sie zu einem dicken Zopf und vervollständigte ihre Aufmachung schließlich mit klobigen Winterstiefeln.

Dann packte sie ein paar weitere Kleidungsstücke in ihre Satteltaschen. Zum Schluss schrieb sie noch eine kurze Nachricht für ihre Schwestern, in der sie ihnen zu erklären versuchte, dass allein das triste Wetter für ihren spontanen Entschluss verantwortlich sei.

Sie las die letzten Zeilen noch einmal laut, zum einen, weil sie sich überzeugen wollte, dass sie das Richtige geschrieben hatte, und zum anderen, um sich selbst in ihrem Entschluss zu bestärken. »Es ist alles in Ordnung. Bitte schickt niemand hinter mir her. Ich weiß noch nicht genau, wo ich hingehe. Aber ich versichere euch, dass ich auf mich aufpassen kann.«

Und das konnte sie in der Tat. Sie besaß ein wenig Geld und – was sehr viel wichtiger war – die erforderliche Erfahrung, um selbstständig loszureiten. Sie war eine hervorragende Reiterin und ausgezeichnete Schützin.

Die Straßenräuber, die die Gegend unsicher gemacht hatten, waren seit dem Schlechtwettereinbruch im letzten Monat nicht mehr gesichtet worden. Die Wölfe stellten natürlich immer eine Gefahr dar, doch mit ihnen würde sie fertig werden, wenn es sein musste. Blieb also nur noch das Wetter.

Lacy eilte die Treppe hinunter, griff sich ein paar Lebensmittel und stopfte sie zu den Kleidungsstücken in die Satteltaschen. So konnte sie sich, wenn sie von einem Schneesturm überrascht wurde, irgendwo verkriechen und abwarten, bis das Unwetter vorüber war. Sie zog ihren dicken Mantel an, band sich einen Schal um und drückte sich den Filzhut tief in die Stirn. Als Letztes steckte sie noch Streichhölzer, einen kleinen Topf und eine Feldflasche ein.

Dunkelheit umfing sie, als sie aus dem Haus trat. In einer halben Stunde würde ihre Familie aufstehen und ihr Tagewerk beginnen. Die langen, dunklen Tage im Winter änderten nichts am Arbeitsablauf der Menschen, sie verlangsamten ihn nicht einmal. Die Tiere mussten versorgt und der Laden musste geöffnet werden, damit die Leute ihre Besorgungen machen konnten. Lacy war froh, dass im Moment keine Postkutsche erwartet wurde. Das Wetter hatte die Zahl der Reisenden, die nach Gallatin Crossing wollten, stark reduziert. Das war gut so. So würden sie kein Frühstück vorbereiten und servieren müssen und auch Wäsche würde kaum anfallen.

Lacy seufzte. Sie hatte das Gefühl, in letzter Zeit nur noch zu versagen, inzwischen sogar im Hinblick auf ihre Arbeit in Gallatin House. Sie führte gemeinsam mit ihren Schwestern eine Postkutschenstation. Seit ihr Vater getötet worden war, hatte sie kleinere Reparaturen im und am Haus durchgeführt und zum Teil auch schwerere Arbeiten übernommen. Doch seit Gwen und Beth verheiratet waren und Hank und Nick bei ihnen im Haus wohnten, bestanden ihre Pflichten nur noch aus Haushaltsaufgaben, was sie ganz und gar nicht befriedigte. Sie war einfach das fünfte Rad am Wagen.

Die kalte Luft schnitt ihr erbarmungslos in Gesicht und Hände, doch das konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie schlüpfte in ihre Handschuhe – dicke Wollhandschuhe, die sie für die Arbeit im Freien benutzte – und ging über den Hof. Ihre Stiefel knirschten im Schnee und hinterließen eine Spur vom Haus zum Laden.

Hank hatte Nick geholfen, eine ziemlich große Koppel hinter dem Laden zu bauen, in der er die Ersatzpferde für die Postkutsche unterbringen konnte. Zu Lacys Glück verbarg der Laden die Koppel und dass sie sich darin zu schaffen machte. Sie konnte nur beten, dass die anderen Hausbewohner noch schliefen oder mit sich selbst beschäftigt waren, während sie aufbrach.

Die Pferde hatten Schutz im Stall gesucht und schauten wenig neugierig auf, als Lacy ihre Morgenroutine unterbrach. »Schon gut, Jungs«, sagte sie beruhigend. Ihr Pferd, ein Wallach, kam gleich zu ihr und wollte gestreichelt werden, doch sie schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, mein Kleiner.« Sie sattelte ihn rasch und band die Satteltaschen fest. Dann stieg sie auf und hängte Feldflasche und Topf über das Sattelhorn.

»Los, mein Junge.« Sie trieb das Pferd durch das Tor, das sie, wie sie es sich angewöhnt hatte, öffnete und wieder schloss, ohne abzusteigen. Der Wallach schien zu verstehen, was von ihm erwartet wurde. Bei einem letzten raschen Blick auf Gallatin House sah Lacy, dass in den Fenstern im oberen Stockwerk Licht brannte. Ihre Familie war zu einem neuen Tag erwacht. Es wurde Zeit, dass sie fortkam.

Ein leises Jaulen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte hinunter und sah, dass Major ihr gefolgt war. »Heute nicht, mein Lieber. Geh wieder nach Hause.« Der Hund sah sie traurig an. »Geh jetzt. Geh!«, befahl sie mit so viel Strenge, wie sie aufbringen konnte. Major ließ den Kopf hängen und trottete zurück zum Haus. Lacy fühlte sich schrecklich, weil sie ihn fortschickte, aber sie hatte noch keine Ahnung, wohin sie sich wenden würde. Plötzlich stieg die Vorstellung in ihr auf, wie sie tagelang nur im Kreis herumritt.

»Ich hätte das Ganze besser planen sollen.« Ihr Pferd nickte wie zur Bestätigung. »Ach, du findest das also auch?« Sie trieb den Wallach an.

Zum Glück hatte es aufgehört zu schneien. Die Straße wurde viel benutzt; die Postkutschen und Frachtwagen und auch die ortsansässigen Rancher und Reiter, die hier ständig durchkamen, hatten den alten Schnee festgetreten, sodass das Pferd gut vorankam.

Im Licht der Morgendämmerung konnte Lacy gerade so den Weg erkennen. Anfangs hatte sie nicht darauf geachtet, welche Richtung sie einschlug, wusste aber instinktiv, dass sie auf dem Weg zur Ranch von Patience und Jerry Shepard war, die etwa fünf Kilometer vor der Stadt lag. Patience war ihr im Laufe der Zeit zu einer Art Ersatzmutter geworden und genau das hatte Lacy jetzt verzweifelt nötig. Vielleicht würde sie bei Patience Rast machen und ein Weilchen mit ihr reden und dann … ja, was dann?

Es war erstaunlich windstill. Als über den südlichen Ausläufern der Berge die Sonne aufging, sah Lacy, dass die Wolken verschwunden waren. Es würde ein heller, sonniger Tag werden.

Eine orangegelbe Sonne stieg auf und tauchte den Himmel in herrliche Rot- und Rosatöne. Das war kein gutes Omen; schon in der Bibel galt eine solche Morgendämmerung als Vorzeichen für schlechtes Wetter. Lacy versuchte, nicht daran zu denken. Immerhin schien es ein bisschen wärmer zu werden, als die Sonne höherstieg. Sie wusste, dass ihre Familie sich inzwischen schon auf den Tag vorbereitete. Ein Weilchen würden sie sich noch keine Sorgen um sie machen. Doch spätestens, wenn das Frühstück auf dem Tisch stand, würde irgendjemand hinaufgehen, um sie zu holen, und die Nachricht finden.

»Sie werden sehr böse sein«, sagte Lacy zu ihrem Pferd. »Dave noch mehr als die anderen. Und da er das Gesetz vertritt, wird er es übernehmen, mich zu verfolgen.«

Der Gedanke an Dave Shepard, Patience' und Jerrys Sohn, färbte ihre Wangen tiefrot. Er war Hilfssheriff und hatte viel zu tun, wie Lacy sehr gut wusste. Gestern Abend hatte er gemeint, dass er heute, wenn das Wetter sich hielt, nach Bozeman reiten müsse.

»Hoffentlich tut er, was er vorhatte, und lässt mich in Ruhe. Vielleicht denkt er ja, dass ich auch nach Bozeman geritten bin.«

Das Pferd nickte und Lacy klopfte ihm den Hals. »Tut mir leid, dass ich dich in die Kälte hinausgejagt habe, ohne dich zu füttern. Aber ich mache es wieder gut. Die Shepards werden gut für dich sorgen.«

Ornament

»Wenigstens wissen wir jetzt, warum sie nicht unten war, um Frühstück zu machen«, sagte Beth und wedelte mit dem Zettel vor den Augen ihrer Schwester herum. »Sie hat beschlossen, eine kleine Reise zu machen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Gwen.

»Sie schreibt, dass der Winter sie fertigmacht und dass wir uns keine Sorgen um sie machen sollen.« Beth gab Gwen den Brief. »Ehrlich gesagt, verstehe ich sie manchmal einfach nicht.«

Gwen schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, wann sie aufgebrochen ist. Es muss mitten in der Nacht gewesen sein.«

»Was muss mitten in der Nacht gewesen sein?«, fragte Hank, der gerade in die Küche kam, seine Frau. Er nahm sich eine Kaffeetasse und ging zum Herd. Dann schaute er Gwen an. »Nun?«

»Lacy ist weggeritten.«

Hank goss sich Kaffee ein. »Wohin?«

»Das wissen wir nicht«, gestand Beth. »Sie schreibt nur, sie könne den Winter nicht mehr ertragen. Und dass alles in Ordnung sei und wir nicht nach ihr suchen sollten.«

»Hat sie so etwas schon einmal gemacht?«

Gwen nickte. »Ja, aber das ist eine ganze Weile her. Du weißt doch, wie unberechenbar sie sein kann.«

»Ihr müsst von Lacy sprechen«, sagte Dave, der gerade in die Küche kam. »Ah, da hatte jemand die gleiche Idee wie ich.« Auch er nahm sich eine Tasse und goss sich Kaffee ein. »Nick macht gerade Feuer im Vorderzimmer, Beth. Dann geht er hoch und holt Justin zum Frühstück.«

»Lacy ist weg«, sagte Beth sachlich.

Dave sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Wie meinst du das – weg?«

»Weg. Sie ist weggeritten. Sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie ein bisschen allein sein muss.«

Gwen nickte bestätigend. »Sie sagt, sie könne auf sich selbst aufpassen, aber …« Ihre Worte verstummten. Plötzlich schloss sie die Augen und presste die Hand auf ihren Leib. Doch gleich darauf schlug sie die Augen wieder auf und lächelte ihren Mann an. »Hank … ich glaube, es kommt.«

»Bist du sicher?«, fragte Beth.

»Ich habe schon seit gestern Abend leichte Wehen, aber jetzt werden sie stärker und ziehen bis nach vorn in den Bauch. Ich glaube, das Baby kommt.«

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Hank, der leichenblass geworden war.

»Ich schicke nach dem Arzt. Wenn Gwen schon die ganze Nacht Wehen hatte«, überlegte Beth, »könnte das Baby jeden Moment kommen. Ich bringe sie ins Bett.«

»Aber was ist mit dem Frühstück?«, fragte Gwen, als seien plötzlich alle verrückt geworden.

Dave lachte. »Das schaffen wir schon. Du lässt dich jetzt von Hank und Beth ins Bett bringen. Ich hole den Arzt.«

Ornament

Dave war froh, aus dem Haus zu kommen. Frauen, die ein Kind bekamen, machten ihn nervös. Er erinnerte sich noch daran, wie es war, als seine jüngeren Schwestern geboren wurden. Er war noch ziemlich klein gewesen und hatte furchtbare Angst gehabt, als seine Mutter vor Schmerz schrie.

Zum Glück gab es jetzt einen Arzt in Hamilton. Es würde nicht lange dauern, ihn zu holen. Dave trieb sein Pferd an, froh, dass es in der Nacht kaum geschneit hatte. Er sah frische Hufabdrücke, die aus der Stadt hinausführten, und fragte sich, ob sie von Lacys Pferd stammten. Aber sie war schließlich nicht die Einzige, die möglicherweise hier entlanggeritten war.

Er dachte über die Richtung und die Tiefe der Abdrücke nach. Es musste ein leichter Reiter gewesen sein, also konnten die Abdrücke tatsächlich von ihrem Pferd stammen. Beth schien zu glauben, dass Lacy mitten in der Nacht aufgebrochen war, doch wenn es so gewesen wäre, hätte der Neuschnee ihre Spuren verdecken müssen.

Dave grübelte immer noch darüber nach, als er an die Wegbiegung nach Hamilton kam. Die Spuren blieben auf der Hauptstraße, die nach Norden führte. Im Westen ballten sich bereits dunkle Wolken zusammen, die zu ihnen herüberzutreiben schienen. Wenn ein Schneesturm aufkam, würde er die Spuren verlieren.

Als Dave nach Hamilton hineinritt, versuchte er, nicht an seine Sorgen zu denken. Die kleine Stadt war bereits voller Leben. Die Händler fegten die dünne Schneeschicht von letzter Nacht vor ihren Ladentüren fort. Mehrere Leute winkten ihm zu, als er die Straße hinunterritt.

Dave wusste, dass die Praxis und das Wohnhaus des Arztes nicht mehr weit waren. In der Ferne konnte er schon die Arztfrau sehen, die ebenfalls vor ihrem Haus fegte.

»Guten Morgen, Mrs DuPont. Ist der Doktor da?«, fragte Dave ohne abzusteigen.

»Ja. Aber er ist krank. Er hatte die ganze Nacht Fieber und hustet sich die Seele aus dem Leib.«

»Dann kann er wohl keinen Hausbesuch machen.« Dave kratzte sich am Kinn. »Mrs Bishops Baby kommt. Sie hatte schon die ganze Nacht Wehen.«

Die Frau nickte. »Das tut mir leid. Das Beste ist, Sie holen eine Hebamme. Ich würde selbst kommen, aber ich muss mich um meinen Mann kümmern.«

»Ja, das verstehe ich.« Dave dachte einen Moment nach. »Hoffentlich geht es Ihrem Mann bald wieder besser.«

»Ärzte sind schlechte Patienten«, meinte sie. »Sie versuchen immer, ihre Krankheiten herunterzuspielen.« Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. »Ihre Mutter müsste bei der Geburt helfen können. Sie hat das schon oft gemacht.«

»Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber Sie haben recht.« Dave tippte sich an den Hut. »Ich reite gleich zu ihr.«

»Grüßen Sie sie von mir und sagen Sie ihr, dass wir beten, dass alles gut geht.«

Dave wendete sein Pferd und ritt aus Hamilton hinaus. Vor der Stadt nahm er die Spur wieder auf und folgte ihr. Überrascht stellte er fest, dass sie auf die Shepard Ranch abbog. Je sicherer er war, dass es sich um Lacys Pferd handelte, desto hoffnungsvoller wurde er.

Es war schon fast neun Uhr, als er bei der Ranch anlangte. Sein Vater war gerade dabei, einen Wagen mit Heu zu beladen, als Dave sein Pferd in die Scheune führte.

»Wir scheinen heute Morgen ja mit Besuchern förmlich gesegnet zu sein. Dich habe ich nun wirklich nicht erwartet. Was führt dich zu uns?« Jerry lehnte sich auf die Heugabel und sah seinen Sohn neugierig an.

»Gwen Bishops Baby kommt. Dr. DuPont ist zu krank, um sich um sie zu kümmern, deshalb wollte ich Ma holen.« Dave schaute zum Stall hinüber und sah Lacys Pferd. »Wie ich sehe, ist Lacy hier.«

»Ja. Sie kam schon ganz früh.« Jerry trat zu seinem Sohn und nahm ihm die Zügel ab. »Ich versorge dein Pferd und spanne den Wagen an. Sag deiner Ma, dass ich auf sie warte«, sagte er. »Könntest du vielleicht hierbleiben und das Heu auf die Westweide bringen?«

»Klar«, sagte Dave. »Ich sage nur rasch Ma Bescheid, dann erledige ich das.«

Dave lief über den Hof auf die Veranda zu. Die drei Stufen nahm er mit einem Satz, wie er es schon als Junge gemacht hatte.

Oben angekommen, trat er ins Haus und rief laut: »Ma!« Dann ging er in die Küche, wo er sie um diese Tageszeit mit Sicherheit finden würde.

Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Lacy Gallatin in der Küche stand. Da er seine Mutter kannte, hatte er gedacht, sie hätte Lacy ins Bett gesteckt, um sie zu verwöhnen.

Lacy sah ihn mit so großen Augen an, dass Dave klar war, dass sie genauso überrascht war, ihn hier zu sehen.

»Ich habe doch gesagt, dass sie niemanden hinter mir herschicken sollen«, brummelte sie und fuhr fort, den Teig zu kneten.

»Ich bin nicht wegen dir hier. Aber ich muss sagen, dass es sehr unüberlegt von dir war, einfach so wegzureiten und alle in größte Unruhe zu versetzen.«

Sie blickte auf. »Ich habe eine Nachricht hingelegt.«

»Ja, ich weiß. Aber es stand nicht drin, dass du auf unsere Farm reitest.«

»Das wusste ich da auch noch nicht.«

Daves Mutter kam von der Veranda herein. »Es fängt wieder an zu schneien.« Als sie ihren Sohn sah, lächelte sie froh. »Was für eine nette Überraschung.«

»Gwens Baby kommt und Dr. DuPont ist krank. Vater spannt schon an. Kannst du mitkommen und helfen?«

»Natürlich. Ich hole nur schnell meine Sachen«, antwortete Patience. Sie wollte schon hinausgehen, doch plötzlich blieb sie stehen und drehte sich zu Lacy um. »Kannst du vielleicht das Backen übernehmen? Wir können doch nicht den ganzen Teig einfach umkommen lassen. Ach nein, wahrscheinlich willst du ja bei deiner Schwester sein.« Dieses Dilemma schien sie kurz aus der Fassung zu bringen, doch Lacy löste es rasch.

»Natürlich backe ich die Brote fertig. Mach dir keine Sorgen. Sag meiner Schwester, ich bete für sie, dass alles gut geht. Ich könnte ihr sowieso nicht viel helfen. Also mache ich mich am besten hier nützlich.«

Dave entging ihr gequältes Gesicht nicht. Sie biss sich auf die Unterlippe und schien sich zu ducken, als wollte sie sich vor ihm verstecken, aber er hatte es schon gesehen.

»Ich bleibe hier und bringe Lacy nach Gallatin House zurück, wenn sie mit dem Backen fertig ist. Ich weiß doch, dass sie in einer solchen Situation bei ihrer Familie sein will.«

Lacy sagte nichts. Ihre Miene war völlig undurchdringlich.

Lacy konnte nicht fassen, in welche Lage sie sich manövriert hatte. Da hatte sie ihren Sorgen endlich einmal entfliehen wollen und nun folgte ihr die größte dieser Sorgen wie ein Hund dem Fuchs.

Sie schob den letzten Brotlaib in den Ofen und prüfte das Feuer. Es war alles perfekt. Dann reckte sie sich, um ihre Muskeln zu lockern, und war erleichtert bei dem Gedanken, dass Dave beschäftigt war. Sein Vater hatte ihn gebeten, das Vieh auf der Westweide zu füttern. Dort lag normalerweise nicht ganz so viel Schnee. Deshalb hatte Jerry das Vieh nicht auf eine andere Weide getrieben, sondern im Gegenteil näher zum Haus geholt, sodass er es leicht erreichen konnte. Doch dieser Winter war verheerend gewesen. Die Temperatur war so schnell gefallen, dass sogar große Gänse im Weiher festgefroren und verendet waren. Jerry hatte mehrere trächtige Kühe und auch ein paar Stiere verloren. Es war kein gutes Jahr für die Rancher gewesen.

Lacy blickte aus Patience' Küchenfenster und erschrak. Es schneite heftig. Draußen war nur noch ein weißes Schneegestöber zu sehen. Jetzt hörte sie auch, wie der Wind heulte. Es klang klagend, fast wie ein Schrei. Der jähe Umschwung war typisch für das völlig unberechenbare Wetter in den Bergen.

Dave kam hereingestapft. »Es stürmt ganz schön.« Er blieb im Windfang stehen und schüttelte den Schnee von seinem Mantel. »Im Moment können wir nichts tun, als abzuwarten.«

»Wie meinst du das?«, fragte Lacy. Sie legte die ersten fertigen Brotlaibe auf den Tisch.

»Ich meine, dass ich dich erst nach Gallatin House zurückbringen kann, wenn der Sturm vorüber ist.«

Sie warf ihm einen Blick zu und sah, dass sein Gesicht von dem kalten Wind ganz blaurot war. Plötzlich tat er ihr leid. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

Er grinste. »Das wäre nicht schlecht. Und kann ich vielleicht auch ein Stück frisches Brot haben?«

Sie nickte. »Deine Mutter hätte sicher nichts dagegen.«

Sie goss ihm eine Tasse Kaffee ein und stellte sie vor ihn hin. Er hatte sich ganz ans andere Ende des Tisches gesetzt. »Das Brot ist noch warm, es lässt sich noch nicht so gut schneiden.«

»Das macht nichts. Wenn du mir ein Messer gibst, schneide ich es selbst ab.«

Sie ging zum Schrank und holte einen Teller, dann nahm sie ein Messer vom Tisch. »Hier ist auch frische Butter.«

Lacy stellte die Butter auf den Tisch und ging wieder zum Ofen. Sie hatte ein komisches Gefühl. In Gallatin House hatte sie Dave schon oft bedient, aber hier kam es ihr seltsam intim vor.

»Wo sind denn die Rancharbeiter?«, fragte sie. »Brauchen sie auch etwas zu essen?«

»Sie sind auf der Westweide. Wir erwarten ein paar Kälber. Du kennst doch meine Mutter; sie hat ihnen alles mitgegeben, was sie brauchen. Sie werden sich wahrscheinlich ein Zelt am Fluss aufschlagen. So schnell, wie die Temperatur fällt, werden sie ständig das Eis aufschlagen müssen, damit das Vieh trinken kann.«

»Sie bleiben also draußen?«, fragte Lacy und sah aus dem Fenster. Der Sturm schien jetzt förmlich zu brüllen.

»Ich denke, sie werden sich abwechseln. Wir erwarten dieses Jahr zu viele Kälber, um das Vieh allzu lange allein zu lassen. Aber keine Sorge, die Arbeiter kommen schon zurecht.« Dave biss herzhaft in seine Scheibe Brot und lächelte. »Mmmmmh!«

Lacy wusste nicht, warum, aber der Genuss, den die improvisierte Mahlzeit ihm bereitete, ging ihr auf die Nerven. Sie ging zum Spülbecken und fing an, die leeren Brotformen abzuwaschen. »Ich kann auch allein zurückreiten, wenn ich mit dem Backen fertig bin.«

»Macht es dir Angst, mit mir allein zu bleiben?«, fragte er leise.

Lacy drehte sich um und begegnete seinem Blick. Dann beging sie den Fehler, einen Moment auf seine Lippen zu sehen. Hastig wandte sie sich ab. »Das wäre ja dumm«, sagte sie mit einer Stimme, die alles andere als überzeugt klang.

»Das wäre es wirklich«, stimmte Dave ihr zu, »aber das heißt nicht, dass du keine Angst hast.«

»Ich möchte ganz einfach nach Hause und helfen. Immerhin bekommt Gwen ein Baby. Ich werde Tante. Ich bin nur hiergeblieben, damit deine Mutter wegen des Brots beruhigt ist.« Ihre Hände zitterten jetzt so sehr, dass sie sie ins Wasser tauchen musste in der Hoffnung, dass Dave es nicht sah.

»Es stürmt sehr«, sagte Dave. »Wir müssen das Beste daraus machen. Wenn das Wetter rechtzeitig aufklart, bringe ich dich nach Hause. Wenn nicht, bleiben wir eben hier.«

Lacy drehte sich so schnell um, dass das Spülwasser durch die ganze Küche spritzte. »Du meinst, wir bleiben über Nacht hier?«

»Du hast schließlich schon öfter hier übernachtet, oder?«

»Ja … aber nicht, wenn du hier warst.«

Er lachte und trank seinen Kaffee aus. »Die letzte Zeit habe ich in Gallatin House gewohnt und das schien dir auch nichts auszumachen.«

Es machte ihr sehr wohl etwas aus, doch das würde Lacy nie zugeben. »Ja, aber dort sind noch mehr Menschen. Und nicht nur das – dort wohnst du im Anbau. Das ist ein ganz anderes Haus. Aber jetzt sind deine Eltern nicht da und auch sonst niemand.«

Dave lehnte sich mit einem lässigen Grinsen zurück. »Ich weiß. Eine pikante Situation, nicht wahr?«

Lacy spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Kümmert es dich denn überhaupt nicht, dass du meinen Ruf ruinierst?«

Er lachte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und kippte den Stuhl gegen die Wand. »Lacy Gallatin, dich kümmert es doch sonst auch nicht, was die Leute über dich und deinen Ruf sagen.«

»Ja, aber so etwas habe ich noch nie gemacht.« Sie sah zur Tür hinüber und hätte sich am liebsten in das Zimmer geflüchtet, das Patience ihr zugewiesen hatte.

»Was noch nie gemacht?«, fragte er. Es war nur zu deutlich, dass er ihr Unbehagen genoss.

»Hör auf damit. Ich werde nicht hier stehen bleiben und mit dir streiten.« Sie drehte sich zum Herd um und spürte die heiße Luft im Gesicht, als sie die Tür öffnete. Das Brot war noch nicht fertig, also konnte sie sich noch nicht einmal beschäftigen, indem sie die nächsten Laibe herausholte.

Sie schloss die Ofentür und richtete sich auf. Dies war ganz und gar nicht die Zuflucht vor ihren Problemen und Gefühlen, die sie erhofft hatte. Im Gegenteil, es war ein Albtraum. Ein Albtraum, dem sie entfliehen wollte, der sie aber andererseits auch faszinierte und verlockte.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass Dave sie beobachtete. Jetzt lächelte er nicht mehr und das war fast noch schlimmer. Mit seinen Neckereien konnte sie umgehen, aber sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er ernst wurde.

2

Gwen schnappte nach Luft. »Aber … was ist … wenn etwas schiefgeht? Wir brauchen … einen Arzt.«

»Nichts wird schiefgehen«, versicherte ihr Patience. »Das Kindchen ist schon fast da, es ist also überhaupt keine Zeit mehr, noch nach jemand anderem zu schicken. Außerdem habe ich das schon oft gemacht. Es läuft alles bestens.«

»Ich … fühle mich aber … nicht bestens.« Gwen keuchte und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit in dem Versuch, sich von den Schmerzen abzulenken. Der Schweiß lief ihr den Nacken hinunter. »Du weißt doch, … dass meine Mutter … bei der Geburt gestorben ist.«

»Ja, aber du bist nicht deine Mutter.« Patience fuhr Gwen mit einem feuchten Tuch über die Stirn und drückte das Tuch dann Beth in die Hand. »Mach das immer wieder frisch und wisch ihr die Stirn ab.«

Beth nickte. Sie beugte sich über die Waschgarnitur auf dem Nachttisch. »Ich hoffe, mein Kleines quält mich nicht genauso.«

Patience lächelte. »Jedes Baby ist anders, aber ohne Schmerzen geht es nie. Doch hinterher wirst du dich kaum noch daran erinnern. Die Freude darüber, ein Kind zu haben, löscht die Erinnerung an die Schmerzen aus.«

Im Moment fühlte Gwen sich, als würde sie mitten entzweigerissen. Sie würde ganz bestimmt niemals vergessen, wie das wehtat. Es war ihr völlig gleichgültig, wenn sie nie mehr ein Kind bekommen würde. Plötzlich wurde sie von dem überwältigenden Bedürfnis gepackt, das Baby aus ihrem Leib herauszupressen. Fast gegen ihren Willen steuerte sie plötzlich darauf zu. »Ich glaube, es kommt.«

Patience sah nach. »Ja, gleich ist es so weit. Du musst weiterpressen. Beth, lass das mit dem Tuch jetzt. Hilf deiner Schwester. Stütz ihre Schultern, damit sie stärker pressen kann.«

Die Schmerzen schlugen über Gwen zusammen. Sie flossen durch ihren ganzen Körper und entluden sich als verzweifelter Schrei: »Es soll aufhören!«

Hank, der mit den anderen Männern unten war, hörte Gwen schreien. Er presste die Lippen zusammen und packte die Stuhllehne. Da muss etwas schieflaufen, dachte er. »Ist es immer so?«, fragte er dann Jerry. Major tappte zu ihm, um ihn zu trösten, doch Hank nahm ihn gar nicht wahr.

Jerry, der mit Justin, Nicks neunjährigem Sohn, vor dem Kamin saß und Schach spielte, blickte auf. »Immer. Aber das erste Mal ist es am schlimmsten. Du weißt nicht, was dich erwartet. Alles schlägt über dir zusammen.«

Hank ging ruhelos auf und ab, während Nick an einem Stück Holz schnitzte.

Er wirkte kaum weniger aufgewühlt als Hank; das Stück Holz in seiner Hand wurde immer kleiner, ohne dass etwas daraus entstand. Hank schüttelte den Kopf, als ihre Blicke sich trafen. »Das nächste Mal bist du an der Reihe.«

»Erinnere mich nicht daran.«

Jerry lachte. »Ihr beide solltet euch ein bisschen beruhigen. Es hilft nichts, wenn ihr euch so aufregt.«

»Ich rege mich nicht nur auf«, entgegnete Hank, »ich bete auch.«

»Findest du nicht, dass das eine das andere ausschließt?«

Hank schüttelte den Kopf. »Warum? Gott weiß, dass ich ihm vertraue. Aber mit einer Situation wie dieser habe ich noch keinerlei Erfahrung.«

»Dann vertrau ihm umso mehr. Ich weiß noch gut, wie es war, als Dave geboren wurde. Ich war damals ganz allein mit Patience.«

Hank glaubte, er hätte sich verhört. »Du warst alleine? Aber ich dachte, Dave wurde im Osten geboren, in der Stadt.«

Jerry grinste, als Justin ihm seine letzte Figur nahm. »Sieht so aus, als hättest du gewonnen.« Der Junge strahlte. Jerry stand auf, reckte sich und gähnte ausgiebig.

»Dave kam während einer Gelbfieberepidemie zur Welt. Damals waren in der ganzen Stadt weder ein Arzt noch eine Krankenschwester aufzutreiben. Die Krankenhäuser waren überfüllt mit Schwerkranken und Sterbenden. Auch die Hebammen waren entweder krank oder unterwegs, um den Kranken zu helfen. Ich hatte nach meiner Mutter geschickt, aber sie lebte ein ganzes Stück von uns entfernt und ich hatte zu lange gewartet.«

Nick starrte den Älteren fassungslos an. »Und da hast du Dave auf die Welt geholt?«

»Ja, klar. Ich war ein solcher Grünschnabel damals! Du meine Güte, wir waren Kinder, die ein Kind bekamen. Jedenfalls hat es sich so angefühlt.«

»Was hast du gemacht?«

»Ich tat, was ich konnte. Ich wusste nicht viel über Geburtshilfe, aber ich habe schnell gelernt. Dave machte keine Schwierigkeiten, aber als er da war, wusste ich beim besten Willen nicht, was ich mit der Nabelschnur und der Nachgeburt tun sollte. Patience war ohnmächtig geworden und ich stand da und schaute das Baby und die Nabelschnur an und wusste, dass ich ihn irgendwie davon befreien musste. Schließlich hatte ich noch nie ein Kind gesehen, das das ganze Zeug mit sich herumschleppt.«

Hank lachte. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wenn man mich vor die Aufgabe gestellt hätte, unser Kind auf die Welt zu holen, wäre ich derjenige gewesen, der ohnmächtig wird.«

Jerry zuckte die Achseln. »Man tut, was man tun muss. Als Patience wieder zu sich kam, fuhr ich sie an.« Er lachte. »Ich schrie, sie solle sich ja nicht einfallen lassen, wieder ohnmächtig zu werden – was sie auch nicht tat, auch nicht bei der Geburt der Mädchen. Sie hat mir dann erklärt, was ich tun musste. Sie sagte, ich müsse die Nabelschnur abbinden und abschneiden.« Ein leichter Schauder durchlief ihn. »Das möchte ich nie wieder tun müssen.«

Nick schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, dass mir so etwas nie passiert.«

»Als Mann sollte man für alles gewappnet sein.« Jerry wärmte sich die Hände am Feuer, dann drehte er sich um und ließ sich den Rücken wärmen.

Hank musste denken, wie schlimm alles hätte werden können, wenn es Patience nicht möglich gewesen wäre zu kommen. Er wusste beim besten Willen nicht, was sie in diesem Fall getan hätten, zumal es wieder zu schneien angefangen hatte.

»Meine Mutter traf ein, als ich gerade alles sauber gemacht hatte, auch Dave. Sie begutachtete ihn, erklärte ihn für gesund und gratulierte Patience zu ihrem prächtigen Baby. Ich war schwer beleidigt. Ich räusperte mich und sagte: ›Ich möchte bitte bemerken, dass ich ihn auf die Welt geholt habe. Sie hat nur gepresst und geschrien.‹«

Hank musste fürchterlich lachen. »Und was hat deine Mutter geantwortet?«

»Sie hat gesagt, ich hätte den leichteren Teil gehabt und sollte das gefälligst nie vergessen. Das hat mir einen ziemlichen Dämpfer versetzt, kann ich dir sagen.«

Nick kicherte und legte sein Messer weg. Er hob das Stück Holz hoch, das inzwischen nur noch ein dünner Stecken war. »Ich glaube, ich habe das Ding jetzt genug geplagt.«

Er bückte sich, fegte die Späne zusammen und warf sie zusammen mit dem Stecken ins Feuer. Als er sich die Hände abwischte, durchschnitt ein weiterer Schrei die Luft.

Hank packte das Treppengeländer, hielt dann aber inne. Patience hatte ihm gesagt, dass er erst nach oben kommen dürfe, wenn er das Baby schreien hörte. Er sah Jerry an und schüttelte den Kopf. »Warum kommt das Baby denn nicht endlich?«

»Mach dir keine Sorgen. Babys haben ihren eigenen Zeitplan.«

Hank stieß die Luft aus und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Das Ganze bringt mich noch um.«

»Gwen geht es im Moment auch nicht gerade gut«, sagte Jerry, »das kannst du mir glauben.«

Hank spürte, wie ihm ein wenig schwindlig wurde. »Gwens Mutter ist bei der Geburt ihres letzten Kindes gestorben.«

»Justins Mutter auch«, sagte Nick. »Obwohl ich das am liebsten vergessen würde.« Justin ging zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern.

»Ihr beiden seid schlimmer als zwei Großmütter beim Kaffeekränzchen. Hört endlich auf, euch verrückt zu machen. Manche Frauen sterben bei der Geburt, aber die meisten überleben es.«

»Aber es könnte Komplikationen geben.« Hank beugte sich vor und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich weiß, dass sie einen Arzt wollte … Sie hat sich darauf verlassen, dass ein Arzt bei der Geburt anwesend ist. Ich habe sie im Stich gelassen. Wenn wir in Boston wären, hätte ich ihr die besten Ärzte besorgt – womit ich nichts gegen Patience und ihre Hilfe gesagt haben will! Ich bin nur einfach nicht für das Leben im Grenzland geschaffen.«

»Ach Quatsch, das hat doch damit nichts zu tun. Wie ich schon sagte, Hank, ich habe mitten in der Stadt gewohnt und konnte trotzdem keinen Arzt auftreiben, als das Kind kam. Dennoch ist alles gut gegangen. Patience ist bei Gwen; sie hat viel Erfahrung mit Geburten. Sowohl mit dem Kinderkriegen als auch damit, sie auf die Welt zu holen.«

In diesem Augenblick hörten sie einen lauten Schrei. Hank verlor keine Zeit. Er raste die Treppe hoch, so schnell, dass er die Stufen kaum zu berühren schien. Ohne anzuklopfen, stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf und sah zum Bett hinüber, wo seine Frau in die Kissen zurückgesunken war. Beth trocknete ihr die Stirn.

»Ist sie … sind sie …?«

Patience blickte auf und lächelte. »Der Mama geht es gut. Und deiner Tochter auch.« Sie hielt ihm das schreiende Baby entgegen.

Gwen schlug die Augen auf. »Hank.«

Noch nie hatte er etwas Schöneres gehört als in diesem Augenblick seinen Namen aus ihrem Mund. Er trat ans Bett und setzte sich zu ihr. Dann nahm er ihre Hand und küsste sie sanft. »Ich bin hier.«

»Es tut mir so leid, dass ich dir keinen Sohn geschenkt habe«, flüsterte sie mit einem schwachen Lächeln.

»Du meine Güte, Schatz, das ist mir doch vollkommen egal! Es ist ein wunderschönes Kind. Ich bin überglücklich, dass ich eine Tochter habe. Und noch glücklicher bin ich, dass ich endlich zu dir darf. Wie geht es dir?«

Sie lachte leise. »Es ging mir schon besser, aber es ging mir auf jeden Fall auch schon schlechter.«

»Auf jeden Fall bist du nie schöner gewesen«, sagte er und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich sage den anderen, dass das Baby da ist«, verkündete Beth.

»Gute Idee. Sag ihnen, dass es beiden gut geht. Und dann hol Gwen eine Scheibe geröstetes Brot und eine Tasse von dem Brennnesseltee, den du gekocht hast. Er regt den Milchfluss an.«

Hank blickte Beth nach und wandte sich dann zu Patience um, die seine kleine Tochter wusch. Das winzige Kind sah kaum größer aus als eine Spielzeugpuppe. »Ist sie besonders klein?«, fragte er, ohne sich zu überlegen, dass seine Frage Gwen möglicherweise beunruhigen konnte.

Patience lachte. »Wohl kaum. Im Gegenteil, sie ist ziemlich groß und hat starke Lungen. Noch eine Minute, dann habe ich sie fertig gewaschen und angezogen und du kannst sie auf den Arm nehmen.«

Hank sah Patience an und dann Gwen. »Besser nicht. Wahrscheinlich würde ich sie fallen lassen.«

Gwen tätschelte ihm liebevoll die Hand. »Du wirst dich daran gewöhnen, sie auf dem Arm zu haben. Bald wirst du überhaupt nicht mehr darüber nachdenken.« Sie holte tief Luft und schloss die Augen. »Ich bin so müde, ich kann nicht mal mehr die Hand heben.«

Hank beugte sich über sie und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Ich danke dir für meine wunderschöne Tochter.«

Sie lächelte, ohne die Augen zu öffnen. »Das Gleiche könnte ich sagen.« Es war eher eine Aussage als eine Frage.

»Wie soll sie denn heißen?«, fragte Patience und trat mit dem Baby zu ihnen. Sie legte Hank das Kind in den Arm, ohne sein Einverständnis abzuwarten.

Hank betrachtete das winzige Bündel voller Staunen. Seine Tochter erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck, als versuche sie herauszubekommen, wer er war.

Auf einmal fühlte er sich überhaupt nicht mehr unbehaglich. Er lächelte. Die Augen des Kindes öffneten sich weit. Es wirkte, als wollte sie ihn auf eine Besonderheit aufmerksam machen – sie hatte die gleichen strahlend blauen Augen wie er.

»Julianne«, sagte er und strich seiner Tochter über das Haar. Sie hatte dichtes, hellbraunes, ganz leicht lockiges Haar.

Als er aufblickte, sah er, dass Gwen ihn beobachtete. »Du scheinst zufrieden zu sein.«

»Ich bin überaus zufrieden«, versicherte er und legte ihr das Kind in die Arme. »Sie ist einfach vollkommen – wie ihre Mutter.«

Gwen lachte leise. »Ich freue mich, dass du so denkst, auch wenn wir beide wissen, dass ich weit entfernt davon bin, vollkommen zu sein.« Sie strich Julianne vorsichtig mit dem Finger über die Wange. »Sie ist so zart.«

Hank war nicht nah am Wasser gebaut, doch diesmal konnte er die Tränen, die ihm den Blick trübten, nicht unterdrücken.

Er hatte tatsächlich eine Tochter. Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein.

»Ist das Baby hässlich?«, fragte Justin. Es klang beinahe hoffnungsvoll.

Beth lachte und goss eine Tasse Tee für Gwen ein. »Natürlich ist sie nicht hässlich. Sie ist wunderschön. Du warst bestimmt auch schön, als du auf die Welt gekommen bist.«

Justin zuckte die Achseln. »Ich habe schon eine Menge neugeborener Babys gesehen und sie waren alle hässlich. Und außerdem stinken sie.«

»Justin, du bist albern.« Beth nahm das Tablett und ging zur Tür. Justin folgte ihr.

»Da bist du ja. Ich nehme es dir ab. Du hast dir ein bisschen Ruhe verdient«, sagte Patience, die ihr auf der Treppe entgegenkam.

»Was hält unser Mr Bishop denn von seiner kleinen Tochter?«, fragte Jerry seine Frau. Sie lächelte. »Ich glaube, er ist sehr positiv überrascht. Sie soll Julianne heißen.«

Beth ging zu Nick. »Justin sollte längst im Bett sein. Ich komme auch gleich. Wir erwarten morgen Mittag eine Postkutsche. Ich weiß zwar nicht, ob sie es durch den Schneesturm schaffen wird, aber wir müssen auf jeden Fall alles vorbereiten. Und Lacy ist nicht hier, um mir zu helfen.«

Sie runzelte die Stirn und wandte sich an Jerry. »Sie ist doch hoffentlich nicht aufgebrochen und steckt jetzt irgendwo fest, oder?«

»Nein. Das hätte Dave ihr nie erlaubt. Patience hat gesagt, sie hätte frühestens mittags aufbrechen können, und es hat schon viel früher angefangen zu schneien. Dave wusste, dass ein Schneesturm kommt, und hat sie ganz bestimmt nicht losreiten lassen.«

»Arme Lacy«, sagte Beth. »Ich fand, dass sie irgendwie verstört aussah, als ich euch sagte, dass ich ein Kind bekomme. Aber sie meinte, es ginge ihr gut.«

»Warum sollte sie verstört sein?«, fragte Nick. »Babys sind gute Neuigkeiten, keine schlechten.«

»Ja, aber ich glaube, sie fühlt sich … nun ja, sie wirkte irgendwie verstimmt. Schau, wir sind verheiratet, Gwen und Hank sind verheiratet und jetzt haben wir beide auch noch Kinder. Wahrscheinlich fragt sie sich, was nun aus ihr werden soll.«

»Ich hoffe, dass sie einen Mann findet und eine Familie gründet«, sagte Nick achselzuckend. »So schwer ist das schließlich auch wieder nicht.«

Beth verdrehte die Augen. »Aber klar doch. Sie könnte sich ja einen Mann aus dem Osten bestellen.«

Nick sah sie befremdet an. »Warum sollte sie das tun? Dave ist doch völlig verrückt nach ihr.«

Jerry gähnte und nickte. »Das stimmt. Der Junge ist schon ziemlich lange hinter ihr her.«

»Aber das weiß Lacy nicht. Sie weiß nicht, dass ihm etwas an ihr liegt. Sie glaubt, dass er ständig nur ihre Fehler sieht.« Beth winkte Justin zu sich. »Du darfst noch zehn Minuten im Bett lesen, einverstanden?«

»Muss ich jetzt wirklich ins Bett?«

Beth beugte sich hinunter und küsste ihren Stiefsohn auf die Stirn. »Ja. Ich lasse den Unterricht morgen ausfallen, aber dafür musst du mir morgen früh helfen. Und wenn die Postkutsche wirklich durchkommt, musst du mir auch beim Bewirten der Gäste helfen.«

»Und die Schule fällt aus?«

»Ja.«

Justin stieß einen Freudenschrei aus und rannte zur Treppe. »Keine Schule!«

Die Erwachsenen lachten, als der Neunjährige in seinem Zimmer verschwand.

Beth lächelte Nick zu. »Ich mache noch rasch das Gästezimmer oben für Jerry und Patience fertig und gehe dann ins Bett.«

»Ich wärme es schon mal vor«, sagte Nick und zwinkerte ihr zu.

Beth blieb der Mund offen stehen. Sie spürte, wie ihre Wangen ganz heiß wurden. Er hatte zwar nichts Anstößiges gesagt, doch die Anspielung, dass sie zusammen in einem Bett schliefen, kam ihr deplatziert vor. Sie wollte etwas entgegnen, ließ es dann aber sein. Jerry wusste schließlich, dass sie das Bett teilten – schließlich waren sie verheiratet. Ich bin wirklich albern, sagte sie sich.

»Ihr beiden macht mich ja richtig verlegen«, sagte Jerry und tat so, als sei er schockiert. »Man könnte denken, ihr seid noch verlobt.«

»Wir waren nie richtig verlobt«, antwortete Nick. »Beth hatte es viel zu eilig. Habe ich dir eigentlich je erzählt, wie sie mir einen Heiratsantrag gemacht hat?« Er duckte sich, als ein Buch angeflogen kam und seinen Kopf knapp verfehlte.

Beth hoffte sehr, dass ihr Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran ließ, dass Nick besser den Mund hielt und sich nach oben verzog, wenn er erwartete, dass sie ihn in der kalten Nacht wärmte. Nick grinste und ging zur Treppe.

»Ich gehe jetzt lieber hoch.«

Jerry lachte. »Eine weise Entscheidung.«

3

»Es ist schon spät«, sagte Dave.

Die Uhr schlug neun. Lacy schrak zusammen. Sie musste daran denken, welch ein trauliches Bild sich einem Außenstehenden hier bot. Dave saß am Kamin und las in der Bibel, sie selbst war mit einem Stapel Hemden aus Patience' Nähkorb beschäftigt – eine Arbeit, die sie vor lauter Verzweiflung zur Hand genommen hatte, nur um etwas zu tun zu haben. Dabei machte diese häusliche Tätigkeit ihr noch mehr bewusst, wie ihr Leben sein könnte, wenn sie mit Dave Shepard verheiratet wäre.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte er.

Lacy nickte. »Ich habe dich gehört und ich habe die Uhr gehört.«

Den ganzen Abend hatte sie nach einem Vorwand gesucht, das Zimmer zu verlassen. Sie hätte sich liebend gern in die Sicherheit ihres Schlafzimmers zurückgezogen, weil sie die ganze Zeit über Angst hatte, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Das Zusammensein mit Dave machte sie so nervös, dass sie kaum noch klar denken konnte. Seit wann war das eigentlich so? Seit wann machte er sie nicht mehr nur einfach wütend?

Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Ich glaube, der Sturm lässt immer noch nicht nach.«

Er legte die Bibel weg und trat ans Fenster. »Nein. Es wird eher schlimmer. Wahrscheinlich stürmt es noch die ganze Nacht. Ich werde hier unten noch Holz nachlegen, aber die Schlafzimmer sind natürlich trotzdem sehr kalt. Wenn du eine zusätzliche Decke brauchst – meine Mutter hat einen ganzen Stapel in der Zedernholztruhe in ihrem Zimmer.«

Lacy legte die Näharbeit zurück in den Korb, der neben ihrem Stuhl stand, und erhob sich. »Dann eine gute Nacht.«

Dabei sah sie Dave nicht an, aus Angst, was er tun könnte. Der Tag war sehr anstrengend für sie gewesen. Jetzt schwirrten in ihrem Kopf alle möglichen Gedanken. Sie war völlig durcheinander und fühlte sich wie ein Tier in der Falle.

Sie ging hinauf in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel vor. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und schlang die Arme um ihren Körper. Was ging nur in ihr vor? Sie fühlte sich so seltsam – vor allem schwach, sehr schwach. Vielleicht bin ich krank, überlegte sie und legte sich die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob sie Fieber hatte.

Zum ersten Mal war ihr dieser seltsame Zustand beim Abendessen aufgefallen. Es war eine Art Ruhelosigkeit, die sie anfangs auf das Wetter geschoben hatte. Aber gleichzeitig spürte sie eine drückende Enge im Magen und ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen. Sie hatte für sich und Dave gekocht. Als sie sich dann gemeinsam an den Tisch setzten, war ihr die Situation unangenehm nah, ja intim vorgekommen. Der Tisch war für zwei gedeckt, die Lampe warf ihr goldenes Licht auf die Szene. Dave sah plötzlich längst nicht mehr so streng und abweisend aus wie sonst. Im Gegenteil, sie fand ihn außerordentlich attraktiv.

Der Wind heulte auf und rüttelte krachend an den Fensterläden. Lacy erschrak und hob die Arme über den Kopf, beinahe hätte sie sich auf dem Boden zusammengekauert.

Ich bin wirklich nicht ich selbst! Normalerweise rege ich mich doch über so ein bisschen Sturm nicht auf!

Lacy richtete sich wieder auf und ließ die Arme sinken. Es war einfach lächerlich. Sie benahm sich wie eine dumme Gans. Schließlich war sie eine erwachsene, selbstsichere Frau. Ihr konnte ein gewöhnlicher Wintersturm doch wohl keine Angst machen! Sie holte tief Luft. Mochte der blöde Sturm sie doch auf der Shepard-Farm festhalten! Ihr war es völlig egal, wenn sie gezwungen war, noch ein paar Tage mit Dave allein zu verbringen.

»Ich kann seine Gegenwart aushalten, ganz gleich, wie lange es dauert. Ich muss einfach nur vernünftig sein.«

Lacy war sich im Klaren darüber, dass sie, selbst wenn der Sturm über Nacht nachließ, morgen noch lange nicht aufbrechen konnte. Selbst wenn sie und Dave sich zu Pferd bis Gallatin House durchschlagen konnten, würden Jerry und Patience auf gar keinen Fall mit dem Wagen die hohen Schneeverwehungen passieren können, die die Straßen nach einem solchen Blizzard blockierten. Irgendjemand würde auf der Ranch bleiben und die Pferde und Kühe versorgen müssen, falls die beiden nicht durchkamen.

Lacy ging quer durch das Zimmer an den kleinen Frisiertisch und setzte sich davor. Sie betrachtete sich im Spiegel und fragte sich, warum die Frau, die ihren Blick aus dem Spiegel erwiderte, so verängstigt aussah.

»Es ist doch nur ein Sturm«, sagte sie und fing an, ihr Haar zu lösen.

Doch sie wusste nur zu gut, dass es nicht nur der Sturm war. Ihre Gedanken verrieten sie. Sie empfand etwas für Dave, das sie nicht erklären konnte – und lieber gar nicht so genau erforschen wollte. Seit wann war er mehr als nur ein Ärgernis in ihrem Leben? Wann hatte er sich von dem ewigen Querulanten, der sie bei der Aufklärung des Mordes an ihrem Vater behinderte, in einen Mann verwandelt, der ihr Herz rasen ließ und ihr weiche Knie machte?

Ihre Schwestern hatten ihr schon oft gesagt, dass Dave sich für sie interessiere. Gwen hatte sogar mehr als einmal gemeint, dass sie ein hübsches Paar abgaben. Doch Lacy hatte diesen Gedanken immer weit von sich gewiesen.

Sie berührte ihre Lippen und dachte daran, wie Dave sie einmal geküsst hatte. Es hatte ihr sehr viel besser gefallen, als sie sich eingestehen wollte. Sie nahm die Haarbürste auf, studierte kurz ihr Gesicht und fing dann an, ihre zimtfarbenen Haarmassen mit der Bürste zu bearbeiten.

»Was genau empfinde ich für ihn?«, fragte sie die Frau im Spiegel.

Ornament

Rafe Reynolds schleuderte einen zerbrochenen Bierkrug in den Mülleimer. Der Sturm hatte sein Gewerbe so ziemlich zum Erliegen gebracht. Die ganze Nacht war kein einziger Kunde gekommen, deshalb hatten sie die Zeit genutzt, um ein bisschen aufzuräumen. Aber jetzt waren sie fertig und es gab beim besten Willen nichts mehr zu tun.

Cubby kam durch den Saloon auf ihn zu. Rafe fiel auf, dass sein Sohn über Nacht, so schien es ihm jedenfalls, erwachsen geworden war. Er war über einen Meter achtzig groß und hatte die Haarfarbe seiner Mutter. Rafe verzog das Gesicht. Maryland. Er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Sie war ein lebhaftes Mädchen gewesen, sechs Jahre jünger als er und nach dem Heimatstaat ihrer Mutter, einer Dirne, benannt. Die bildhübsche Blondine hatte ihr gutes Aussehen genutzt, um ihren Weg im Leben zu machen, und Rafe hatte sich in sie verliebt.

Mit neunzehn Jahren war sie in die Stadt getanzt, als gehörte sie ihr. Scharenweise erlagen die Männer ihrem Charme – darunter auch Rafe. Maryland war schlicht und einfach unwiderstehlich, da waren sich alle einig. Rafe hatte sie von Anfang an haben wollen, aber nicht für das Bordell oder für andere Männer – er hatte sie für sich haben wollen. Und er war überzeugt gewesen, dass sie dasselbe empfand.

Er hatte sie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte, noch bevor sie sich richtig eingelebt hatte. Maryland hatte nur gelacht und gesagt, dass sie nicht die Absicht hätte, sich an einen Mann oder einen Ort zu binden. Rafe war höchst überrascht gewesen. Die meisten alleinstehenden Frauen waren eigentlich auf der Jagd nach einem Ehemann. Doch Maryland hatte vorgeschlagen, dass sie sich einfach eine schöne Zeit zusammen machen und abwarten sollten, was daraus entstand. Rafe war völlig bezaubert gewesen.

»Ich geh schlafen, Pa«, verkündete Cubby.

»Haben wir genug Holz?«, fragte Rafe barsch.

»Ja. Es reicht für ein paar Tage. Wir werden nicht frieren müssen. Die Mädchen haben auch genug.«

Rafe nickte und sagte nichts mehr. Er sah seinem Sohn nach, als er den Raum verließ, und stieß einen schweren Seufzer aus. Warum war nur alles so schiefgelaufen? Rafe hatte Maryland geliebt. Er war überglücklich gewesen, als sie ihm sagte, dass sie ein Kind erwartete. Doch selbst dann hatte sie ihn nicht heiraten wollen. Rafe hatte unermüdlich versucht, sie zu überzeugen. Er hatte sich nichts mehr gewünscht, als seiner unsterblichen Liebe und seinem Kind seinen Namen zu geben. Doch Maryland hielt ihn für altmodisch und albern.