image1
Logo

Kompendium Behindertenpädagogik

 

Hrsg. von Heinrich Greving

Joachim Schroeder

Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023433-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026756-5

epub:    ISBN 978-3-17-026757-2

mobi:    ISBN 978-3-17-026758-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Es existieren zurzeit relativ unterschiedlich strukturierte und gestaltete Lehrwerke zu den verschiedenen Ausprägungen der sog. Behindertenpädagogik, diese sind jedoch häufig recht kategorial orientiert und nehmen aktuelle disziplin- und professionsbezogene Diskurse auf den Feldern der Behindertenhilfe kaum einmal auf. Zudem konzentrieren sich viele dieser Lehrwerke auf das Handlungsfeld der Schule: in diesem und von diesem ausgehend scheint somit ein Großteil der Behindertenpädagogiken stattzufinden.

Die Bände mit dem Reihentitel „Kompendium Behindertenpädagogik“ versuchen dieser Situation Abhilfe zu schaffen, da in jeder der geplanten Publikationen alle Ausprägungen einer je spezifischen behindertenpädagogischen Grundlegung sowohl durch die Perspektiven der Disziplin und Profession als auch durch eine organisations- und handlungsfeldbezogene Lebenslauforientierung beschrieben, analysiert und konzeptuell verortet werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Gliederungslogik aller Bände zu verstehen, in welcher die Autorinnen und Autoren ihre Inhalte durch die Perspektiven dieser drei größeren Kapitel (Disziplin – Profession – Organisationen/Handlungsfelder) fokussieren und darstellen.

Im Hinblick auf die Beschreibung der Disziplin wird es jeweils darum gehen, die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen Behindertenpädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren. Auch wenn der Begriff der „Behinderung“ zurzeit intensiv diskutiert wird, er zudem nicht in allen Punkten kohärent ist, erscheint er im Rahmen der Gesamtdarstellung der hier zu bearbeiteten Themen als Brücke zwischen den einzelnen Teilbereichen und Problemen nutzbar zu sein. Dennoch wird er in den unterschiedlichen Bänden dieser Reihe, im Hinblick auf die jeweilige Thematik, konkret beschrieben, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Aussagen der einzelnen Bände stellen folglich auch eine kritische Differenzierung und Weiterentwicklung des Begriffes der „Behinderung“ dar. Im Rahmen der Professionsorientierung, also dem zweiten größeren Kapitel des jeweiligen Bandes, werden dann Konzepte, Methoden und Handlungsansätze dargelegt, so wie sie sich im Rahmen dieser Pädagogik, für die jeweils entsprechende Organisation als zielführend erwiesen haben bzw. als relevant erweisen können. In einem letzten größeren Kapitel wird dann die institutionelle Begründung und organisatorische Differenzierung einer je spezifischen Pädagogik erläutert. Hierbei wird auf die lebenslauforientierte Darstellung des pädagogischen Ansatz eingegangen, so dass dieser nicht nur für den Bildungsbereich, sondern auch für weitere behindertenpädagogische Handlungsfelder beschrieben wird. Hierbei unterscheidet die Differenziertheit der Lebenslaufperspektive die verschiedenen pädagogischen Disziplinen, d. h. dass diese in jenen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, wahrgenommen wird und (strukturelle wie inhaltliche) Konsequenzen erforderlich macht.

Einen zentralen weiteren Inhalt bildet der, auch kritisch zu führende, Inklusionsdiskurs: dieser stellt das Querschnittsthema dar, welches in allen drei Unterkapiteln bearbeitet wird – eine innovativ, diffizil und kritisch differenziert dargelegte Positionierung der Inklusion ist folglich das Netz bzw. das Referenzsystem aller Kapitel und Aussagenkomplexe der jeweiligen Bände. Hierbei wird es jedoch, je nach Autorin und Autor und konkretem Thema zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen. In der wechselseitigen Durchdringung einer inklusiven Perspektive mit den Themen der Disziplinorientierung, der Professionsbezogenheit und der hierbei relevanten Organisationen und Handlungsfelder leistet demzufolge jeder Band dieser Reihe eine in sich schlüssige und kohärente Gesamtdarstellung des jeweiligen Themenfeldes.

Heinrich Greving

INHALTSVERZEICHNIS

  1. Vorwort des Herausgebers
  2. Einleitung
  3. I Disziplin: Aufwachsen, Lernen und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen
  4. Disziplinäre Perspektiven
  5. 1 Das Lernen in der modernen Gesellschaft
  6. 1.1 Die Institutionalisierung des Lernens
  7. 1.2 Frühe Kontroversen zur Bedeutung sozialer Bedingungen für das Lernen
  8. 1.2.1 „Zuerst Natur ohne Dressur, dann Kultur“ (Wilhelm Preyer)
  9. 1.2.2 „Die Gesellschaft tritt hindernd in den Weg“ (Otto Rühle)
  10. 1.2.3 „Welche pädagogischen Maßnahmen eignen sich für Kinder, welche durch die Volksschule nicht genügend Förderung erfahren?“ (Otto Hintz)
  11. 2 Prekarität, Pluralität und Bildung
  12. 2.1 Lebensphasen, Lebenslauf und lebenslanges Lernen
  13. 2.2 Klassen, Schichten und Milieus
  14. 2.3 Lebenswelten und Sozialraum
  15. 3 Erschwerte Bedingungen des Aufwachsens und Lernens im Lebenslauf
  16. 3.1 Benachteiligungen als Verknüpfungsprobleme
  17. 3.2 Biografie und Lebenslage
  18. 3.2.1 Bildung im biografischen Verlauf
  19. 3.2.2 Bildung in erschwerten Lebenslagen
  20. 4 Disziplinäre Erweiterungen und Entgrenzungen
  21. 4.1 Sozialpädagogische Unterstützung und Bewältigung
  22. 4.2 Berufspädagogische Qualifizierung und Weiterbildung
  23. 4.3 Erwachsenpädagogische Alphabetisierung und Grundbildung
  24. 4.4 Kulturpädagogische Entfaltung und Kreativitätsförderung
  25. 5 Unliebsame Erbschaften der Didaktik
  26. 5.1 Reduktive Didaktik
  27. 5.2 Heimlicher Lehrplan
  28. 5.3 Didaktischer Monismus
  29. II Profession – Aufgabenfelder der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens
  30. Professionsstränge und Professionswissen im Überblick
  31. 1 Sozial situierte Vermittlung von Kulturtechniken
  32. 1.1 Förderung multimodaler Dekodierungskompetenzen
  33. 1.2 Kontextualisierung des Rechnens, Lesens und Schreibens
  34. 1.3 Streitfall: Fremdsprachenunterricht
  35. 2 Entwicklung alltagsorientierter Bildungskonzepte
  36. 2.1 Anfragen an alltagsorientierte Bildungsarbeit in der Schule
  37. 2.2 „Alltag“ als didaktischer Bezug der Lernförderung
  38. 3 Vorbereitung auf die Arbeitswelt
  39. 3.1 Vorbereitung auf die Arbeitswelt im allgemeinbildenden Schulsystem
  40. 3.2 Übergangspädagogik für Jugendliche und junge Erwachsene
  41. 3.3 Arbeitsweltbezogene Grundbildung für Erwachsene
  42. 4 Entwicklung und Durchführung von Mentorenprojekten
  43. 5 Organisation und Gestaltung kreativitätsfördernder Angebote
  44. III Institution – Wege zu unterstützenden Bildungslandschaften
  45. Lebenslagen im institutionellen Zusammenhang
  46. 1 Institutionen der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens
  47. 1.1 Das institutionelle Gefüge im Überblick
  48. 1.1.1 Pädagogische Institutionen nach Schulrecht
  49. 1.1.2 Pädagogische Institutionen nach Kinder- und Jugendhilferecht
  50. 1.1.3 Pädagogische Institutionen nach Arbeitsrecht
  51. 1.1.4 Pädagogische Institutionen nach Behinderungsrecht
  52. 1.2 Antinomien des institutionellen Feldes bei Beeinträchtigungen des Lernens
  53. 1.2.1 Geschlossene und offene Einrichtungen
  54. 1.2.2 Halbtags- und Ganztagseinrichtungen
  55. 1.2.3 Stationäre und mobile Einrichtungen
  56. 1.2.4 Profilbildende und integrative Einrichtungen
  57. 2 Lebenslagen im sozialräumlichen Zusammenhang
  58. 2.1 Bildungsberichterstattung als Planungsinstrument
  59. 2.2 Das warnende Beispiel: „Der Atlas der Gemeinschädlichkeit“
  60. 2.3 Gestaltung kommunaler Bildungslandschaften
  61. 2.3.1 Handlungsempfehlungen: Pädagogik des Kindesalters
  62. 2.3.2 Handlungsempfehlungen: Pädagogik des Jugendalters
  63. 2.3.3 Handlungsempfehlungen: Pädagogik am Übergang von der Schule in den Beruf
  64. 2.3.4 Handlungsempfehlungen: Grundbildung für Erwachsene
  65. 3 Lebenslagen im globalen und transnationalen Zusammenhang
  66. 3.1 Zuwanderung
  67. 3.1.1 Rechtliche Ausschlüsse und Benachteiligungen identifizieren
  68. 3.1.2 Den sogenannten Kulturkonflikt entlarven
  69. 3.1.3 Einen pädagogischen Begriff der Ehre entwickeln
  70. 3.1.4 Schwer erreichbare Gruppen aufspüren
  71. 3.1.5 Den Begriff „Familie“ reflektieren
  72. 3.1.6 Behinderung und Migrationshintergrund zusammendenken
  73. 3.2 Transnationale Migration
  74. 3.3 „Bildung für alle“ – ein hegemonialer Diskurs
  75. 3.3.1 Bildungskritik und Bildungsalternativen aus „dem Süden“
  76. 3.3.2 „Weltverwicklungen“ in pädagogischen Settings
  77. Literatur

EINLEITUNG

Nein, dies ist nicht noch eine Einführung in die Lernbehindertenpädagogik! Hierzu gibt es bereits genügend Texte, einige sind sogar im selben Verlag erschienen wie dieses Buch. Im Folgenden werde ich auch nicht die mehr oder weniger überzeugenden Entwürfe der Inklusionspädagogik referieren. Denn sowohl die Lernbehinderten- als auch die Inklusionspädagogik sind sonderpädagogische Zugänge zu den Beeinträchtigungen des Lernens, Zugänge, die sich mal als Teilgebiet, mal als „Gegenentwurf“ der Sonderpädagogik verstehen. Obwohl ich an der Universität Hamburg an einem Institut für Behindertenpädagogik arbeite, verorte ich mich selbst in der Erziehungswissenschaft. Zur Beantwortung der Frage, wie im Lernen beeinträchtigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene begleitet und unterstützt werden können, nehme ich somit eine erziehungswissenschaftliche Perspektive ein. Folglich blicke ich auf die vielen pädagogischen Fachdisziplinen, die sich mit den erschwerten sozialen Bedingungen des Lernens befassen: Neben der Sonderpädagogik sind dies insbesondere die Schul-, die Sozial- und die Berufspädagogik sowie die Erwachsenenbildung und die Kulturpädagogik. Jedes einzelne erziehungswissenschaftliche Teilgebiet liefert wichtige Beiträge, keines kann jedoch für sich eine theoretische oder terminologische Deutungshoheit beanspruchen.

Dem „Kompendium: Behindertenpädagogik“ ist die Lebenslaufperspektive zugrunde gelegt. Deshalb begrenzen sich die Ausführungen zur Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens nicht – wie sonst üblich – auf den Unterricht in den allgemeinbildenden Schulformen für Kinder und Jugendliche. Stattdessen sind weitere formale und non-formale Bildungseinrichtungen für junge und ältere Erwachsene in den Blick zu nehmen. Die internationale Verortung des Buches liegt indes in der transnationalen Perspektive, die sich weniger für die Frage interessiert, ob es nun in Finnland oder in Kanada die „inklusivsten“ Schulen gibt, denn solche großflächigen Vergleiche nationalstaatlicher Bildungssysteme sind für das pädagogische Handeln in spezifischen kommunalen Kontexten und in konkreten sozialen Lagen in der Regel wenig ergiebig. Für die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens ist es hingegen unabdingbar, sich mit den Folgen der weltweiten Mobilität und Migration für das Lernen von Menschen jeden Alters und damit mit der Transnationalisierung sozialer Ungleichheit zu befassen.

Mit drei Hauptteilen hält sich die Gliederung des Buches an die übergreifenden Vorgaben für die Reihe „Kompendium: Behindertenpädagogik“: Zunächst werden Entwicklungslinien und Kontroversen erörtert, die für die fachliche Herausbildung der Disziplin wichtig waren und wichtig bleiben. Es zeigt sich, dass der zentrale Gegenstand der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens die Begleitung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist, die in prekären Lebenslagen bestehen müssen (Teil I). Unter dem Anspruch der Ermöglichung eines lebenslangen intergenerationellen und interkulturellen Lernens gilt es sodann, die Profession in ihren relevanten Aufgabenstellungen zu skizzieren und die spezifischen Handlungsfelder an Beispielen zu veranschaulichen (Teil II). Abschließend wird ein Überblick zu den vielfältigen Institutionen der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens und zu deren lokaler, kommunaler, regionaler, föderaler, nationaler und internationaler Reichweite gegeben. Schwerpunkt ist die Bestimmung wichtiger disziplinärer Antinomien und professioneller Paradoxien, die auf das institutionelle Handeln wirken (Teil III).

Der innere Aufbau der einzelnen Kapitel durfte frei gestaltet werden. Jeder der drei Teile dieses Buches besteht aus einem Fließtext, in dem die Fakten dargestellt und die Argumente entfaltet werden. Des Weiteren sind grau unterlegte Kästen eingefügt, die zur Konkretisierung und Veranschaulichung der Erörterungen dienen: Hier werden Projektbeispiele beschrieben, zentrale Begriffe etwas ausführlicher geklärt, und es wird auf besonders interessante weiterführende Literatur oder auf für die Praxisarbeit hilfreiche Materialien verwiesen. Die Kernaussagen der einzelnen Abschnitte wurden in ein, zwei Sätzen zusammengefasst – diese Statements sind an den Rahmungen erkennbar, mit denen zur raschen Orientierung die handlungsleitenden Spezifika der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens hervorgehoben werden.

Der Text nimmt für sich in Anspruch, in geschlechtergerechter Sprache formuliert zu sein, wenngleich die üblichen orthografischen Mittel zur Berücksichtigung beider Geschlechter (Binnen-I, „-frau“, „/-innen“ oder Gender_Gap) nicht benutzt wurden. Solche standardisierten Markierungen verkommen leicht zu „Pflichtübungen“ der Rechtschreibung und konterkarieren somit das Anliegen einer sprachlichen Sichtbarmachung der Übergangenen. Deshalb bevorzuge ich die sprachliche Irritation, das heißt, hin und wieder ist beispielsweise von „Sonderpädagoginnen“ die Rede, selbst wenn „Sonderpädagogen“ mitgemeint sind. Nicht nur beim Geschlecht habe ich den Gebrauch homogenisierender Gruppensubstantive vermieden (Lebenslagen von Frauen) und stattdessen adjektivische Konstruktionen verwendet (weibliche Lebenslagen), obwohl sich auch diese in vielen Fällen als alterierende und somit unangemessene Kollektivattribuierungen erweisen (afrikanische Frauen). Historische Ausdrücke, die wir heute als abwertend, diskriminierend oder kolonialistisch empfinden (schwachsinnig, Hilfsschüler, Ausländer), oder Begriffe, die sprachlich dramatisieren (sozialer Brennpunkt, Least Developed Country), sind fortan in Anführungszeichen gesetzt, um sie als Zitate von Diskursen kenntlich zu machen, von denen ich mich distanziere.

Manche Bezeichnungen, wie „Sonderpädagogik“ oder „Sonderschule“, werden im Weiteren nicht markiert, obgleich sie im Nationalsozialismus in die Bildungspolitik eingeführt und nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland – kaum hinterfragt – weiter benutzt wurden. Auch wenn es somit geschichtlich sehr belastete Begriffe sind, werden sie bis heute in den Gesetzestexten und amtlichen Dokumenten und in der Erziehungswissenschaft verwendet, was die Notwendigkeit zur historischen Reflexion zentraler Kategorien der Disziplin anzeigt, eine Aufgabe, die ich in diesem Buch aber nicht für alle Fachvokabeln leisten konnte. Gleichwohl habe ich mich bemüht, mir die Entstehungsgeschichte möglichst vieler Wörter, die ich in diesem Text gebrauche, bewusst zu machen. Dazu gehört ebenso, dass ich bevorzugt die derzeitigen Selbstbenennungen der Bezeichneten verwende (Roma, beruflich Reisende). Andere Begriffe hingegen benutze ich im Sinne eines Terminus technicus (Benachteiligung, funktionaler Analphabetismus, Transmigration), auch wenn zu vermuten ist, dass einige Leser und Leserinnen für solche Vokabeln ebenfalls die Verwendung von Anführungszeichen fordern würden.

Hamburg, im April 2015
Joachim Schroeder

 

 

I           DISZIPLIN: AUFWACHSEN, LERNEN UND ARBEITEN UNTER ERSCHWERTEN BEDINGUNGEN

DISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN

Im ersten Teil des Buches soll es, so die Vorgabe des Herausgebers, darum gehen, „die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen (Behinderten-)Pädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren“. Die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens (in älteren Bezeichnungen wurde sie „Hilfsschulpädagogik“ oder „Lernbehindertenpädagogik“ genannt) gilt als eine der „jüngeren“ sonderpädagogischen Fachdisziplinen, denn ihre Geschichte beginnt im Wesentlichen erst Mitte des 19. Jahrhunderts (Möckel 32001, S. 14). Sie konstituiert sich – wie auch die Sozialpädagogik – in einer Zeit, in der in Europa, in Nordamerika und in den Kolonialländern die „soziale Frage“ breit diskutiert wurde.

Von ihren Anfängen an versucht die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens, jene Aufgaben zu bestimmen, die sich in pädagogischen Institutionen stellen – Kindergarten und Hort, Schule und Berufsschule, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und der kulturellen Bildung –, um das Lernen von Menschen zu fördern, die unter schwierigen sozialen Bedingungen aufwachsen und leben. Diese sonderpädagogische Fachdisziplin entwickelt mithin Erziehungs-, Bildungs- und Unterstützungskonzepte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die für sich mit den üblichen Angeboten des Bildungssystems nicht viel anfangen können, die aber dennoch lernen möchten und lernen müssen, nicht zuletzt, um besser mit den sozialen Verhältnissen zurechtzukommen, in denen sie leben und an denen sie kaum etwas ändern können. Die Zielsetzung dieses Kapitels, unterschiedliche „disziplinäre Begründungsmuster“ und spezifische „Leitideen“ und „Modelle“ historisch „zu verorten“, soll aus mehreren Perspektiven angegangen werden:

In einem bildungsgeschichtlichen Rückblick zeigt sich ein gemächlicher, in seiner Bedeutung indes sehr nachhaltiger gesellschaftlicher Einstellungswandel zum Lernen. Die Auffassung, dass man Menschen unterscheiden kann in solche, die rasch oder langsam lernen, die unterschiedlich „begabt“ sind oder aber im Lernen gefördert werden müssen; die Meinung, dass man spezielle Institutionen einrichten sollte – allen voran die Schule –, deren Aufgabe es auch ist, Menschen hinsichtlich ihres Lerntempos, ihrer Lernpotenziale und ihrer Lernergebnisse zu klassifizieren; das Verständnis schließlich, dass die individuelle Lernleistung ein wichtiges Kriterium zur sozialen Organisation der Gesellschaft sein kann, all diese Ideen stehen in engstem Zusammenhang mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft. In Abschnitt 1 werden deshalb in groben Zügen wichtige Entwicklungslinien skizziert.

Die Institutionengeschichte der Fachdisziplin verdeutlicht, dass die pädagogischen Aufgabenstellungen bei Beeinträchtigungen des Lernens lange Zeit fast ausschließlich für das Kindes- und Jugendalter und für die auf diese Lebensphasen bezogenen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen diskutiert wurden. Doch auch in den pädagogischen Institutionen des Erwachsenenalters – zum Beispiel in den Volkshochschulen – befasst man sich nicht nur in Alphabetisierungskursen schon lange mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die im Lernen beeinträchtigt sind. Diese oftmals konzeptionell und organisatorisch separierten altersspezifischen Handlungsfelder werden immer häufiger unter einer Perspektive des lebenslangen Lernens einander angenähert. Auf die bildungstheoretischen Konsequenzen geht Abschnitt 2 genauer ein.

Betrachtet man die Fachdisziplin aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive, ergibt sich, wie angedeutet, eine Fokussierung auf die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und der Teilhabe an Bildung. Soziale Bedingungen beeinflussen – wenngleich nicht kausal und mechanistisch – die Lern- und Bildungsbiografien aller Menschen, ob reich oder arm, ob männlich oder weiblich, ob in Deutschland geboren oder zugewandert. Der disziplinäre Kern einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens ist indes die Befassung mit jenen sozialen Bedingungen, die erschwerend, hinderlich und benachteiligend auf das individuelle Lernen wirken (können). Für das pädagogische Handeln wichtige Begriffe und Kategorien – „Biografie“, „Lebenslage“, „Sozialraum“ – werden in Abschnitt 3 erläutert.

Die konzeptionsgeschichtliche Rekonstruktion führt zu der Einsicht, dass sich die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens – beileibe nicht erst seit den Debatten um „Heterogenität“, „Diversity“ oder „Inklusion“ – im „Schnittfeld“ mehrerer erziehungswissenschaftlicher Fachdisziplinen konstituierte. Sie war immer mehr als nur eine „besondere“ Schulpädagogik des Kindes- und Jugendalters. Die „soziale Frage“ stellt sich auch in der Berufspädagogik und somit für den Übergang in das Erwachsenenalter. Die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens reflektiert ihre disziplinäre Nähe zur Sozialpädagogik, und sie ist an der beruflichen Weiterbildung ebenso beteiligt wie an der Kulturpädagogik. Um diese verschiedenen Handlungsfelder soll es in Abschnitt 4 gehen.

In der Geschichte der Didaktik wird auf immer wiederkehrende Fehlentwicklungen des Lehrens hingewiesen, beispielsweise eine wirkmächtige Tendenz zur Unterforderung der lernschwachen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Infantilisierungen und Beschämungen im Unterricht oder in der Kursarbeit sind vielfach beschrieben. In Förder- oder Inklusionsschulen wird der Unterricht für benachteiligte Schülerinnen und Schüler oftmals methodisch und thematisch eng geführt. Auch Lehr-Lern-Settings des Jugend- und Erwachsenenalters sind häufig nicht passgenau genug auf die Erfahrungskontexte der Lernenden und auf die konkreten Anforderungen der Alltagswelt hin abgestimmt. Abschnitt 5 liefert Belege für diese Behauptungen.

1           DAS LERNEN IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT

Im Unterschied zu Behinderungen, die genetische, neurologische, physiologische oder körperlich-motorische Ursachen haben und somit zuvörderst medizinischer Feststellungsverfahren und therapeutischer Behandlungsmethoden bedürfen, werden die Beeinträchtigungen des Lernens vor allem im pädagogischen Feld beobachtet und diagnostiziert. Denn eine wichtige Aufgabe der pädagogischen Institutionen wie Kindergarten, Schule und Einrichtungen der beruflichen Bildung ist es bekanntlich, individuelle (negative) Normabweichungen im Lernen möglichst frühzeitig zu erkennen und geeignete pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, um diese Lernrückstände auszugleichen.

Die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens ist aufs Engste mit dem institutionalisierten Bildungssystem verknüpft. Deshalb nimmt sie eine disziplinäre Perspektive ein, die konsequent das institutionalisierte Lernen in der modernen Gesellschaft im Kontext sozialer Ungleichheit reflektiert.

In groben Strichen zeichnet die folgende Darstellung diesen geschichtlichen Institutionalisierungsprozess des Lernens nach und erinnert an eine zur Zeit der Herausbildung der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens leidenschaftlich geführte Debatte über die psychischen und gesellschaftlichen Ursachen erschwerten Lernens. An dieser Kontroverse werden bis in die Gegenwart vertretene „disziplinäre Begründungsmuster“ sichtbar, die allerdings nur bedingt zur erziehungswissenschaftlichen Fundierung der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens taugen.

1.1        Die Institutionalisierung des Lernens

Beeinträchtigungen des Lernens sind moderne Phänomene. Dies unterscheidet sie von anderen Körper- oder Sinnesbeeinträchtigungen, denn „Lahmheit“ und „Blindheit“ wurden auch schon in der Antike und im Mittelalter als normabweichende Auffälligkeiten wahrgenommen, Lernbehinderungen hingegen nicht. Gewiss, auch in vormodernen Zeiten wird es Menschen gegeben haben, die im Vergleich zu anderen mehr Mühe mit dem Lernen hatten. Dass die Geschichtsforschung zur Vormoderne bislang keine Quellen erschlossen hat, in denen explizit Beeinträchtigungen des Lernen beschrieben werden, kann indes als empirischer Beleg gewertet werden, dass in jenen historischen Epochen keine gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diese Art der Auffälligkeit bestand. Die historische Wissens- und Bildungsforschung zieht daraus folgenden vorläufigen Schluss: Erst mit der Moderne habe sich ein gesellschaftliches Interesse herausgebildet, Lernprozesse von Menschen systematisch zu beobachten und zu messen sowie Störungen im Lernen zu identifizieren, um diese sodann pädagogisch zu bearbeiten (Fried 2002, Kintzinger 2003, Fend 2006).

Die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens reflektiert kritisch an historischen und kulturvergleichenden Beispielen die besondere Funktion, Bedeutung und Aufgabe, die den Bildungsinstitutionen im gesellschaftlichen Einstellungswandel zum Lernen zukommt.

In verschiedenen historischen Studien wurden Klassifizierungen von Randgruppen rekonstruiert, die für die soziale Organisation mittelalterlicher Gesellschaften bedeutsam waren (Irsigler/Lassota 1984, Hergemöller 21994, Rheinheimer 2000, Castel 22008). An solchen „Tableaus der Auffälligkeiten“ sind die verschiedenen Kategorien erkennbar, auf die sich die sozialen Konstruktionen gesellschaftlicher Normabweichungen im Mittelalter bezogen haben: Es waren Auffälligkeiten des Körpers, „ungewöhnliche“ Verhaltensweisen, eine „illegitime“ Weltanschauung, eine „fremde“ Sprache, eine „falsche“ Religionszugehörigkeit oder die Ausübung eines „unehrenhaften“ Berufs, die zur sozialen Marginalisierung führen konnten. Auch die „Blödsinnigen“ waren sozial auffällig und wurden oftmals weggesperrt, ein Etikett, das sich auf jene Menschen bezog, denen wir heutzutage eine „geistige Behinderung“ zuschreiben. Nach allem was wir wissen, gab es „Lernbehinderungen“ im mittelalterlichen Klassifizierungssystem hingegen nicht.

Randgruppen im Mittelalter

Mittelalterliche Randgruppen waren durch negative kollektive Attribuierungen einem partiellen oder totalen Verlust ihrer Ehre unterworfen. Die wichtigsten Randgruppen des spätmittelalterlichen Reichsgebietes lassen sich unter vier Obergruppen subsumieren: Als sozial abweichend galten, erstens, Menschen, die unehrliche Berufe ausübten, hierzu zählten Artisten, Tänzer (Spielleute) und Prostituierte, aber auch Gruppen wie Bader, Hebammen, Totengräber und Abdecker, die „unreinen“ Tätigkeiten nachgingen und mit Blut zu tun hatten. Zum Zweiten waren verschiedene ethnisch-religiöse Gruppen ausgegrenzt, vor allem Juden, Heiden, Wenden (Slawen), Zigeuner und Tataren. Eine dritte Gruppe stellten die Inquisitionsopfer dar, die von den geistlichen und weltlichen Kriminalitätsinstitutionen verfolgt wurden: Ketzer, Hexen und als „Sodomiter“ bezeichnete Homosexuelle. Eine vierte Gruppe bildeten die körperlich und geistig Signifikanten, beispielsweise Blödsinnige, Zwerge, Lahme, Aussätzige, Krüppel, Fallsüchtige (Epileptiker), Bucklige, Hinkende oder Rothaarige. Vor allem behinderte Menschen wurden zum Gespött einer Gesellschaft degradiert, die sich von dem „Normalbild“ eines vollkommenen, gottebenbildlichen Menschenkörpers leiten ließ. Nicht nur bettelnde Blinde, Lahme und „Krüppel“ wurden auf der Straße angepöbelt und mit Kot beworfen, auch Könige und Fürsten gingen ihres Charismas verlustig und wurden mit boshaften Übernamen belegt, wenn ihre Behinderung bekannt wurde: Albrecht der Lahme, Johann der Blinde, Otto der Einäugige, Johanna die Wahnsinnige, Gottfried der Bucklige. Menschen mit einer geistigen Behinderung wurden vielerorts eingesperrt (aus: Hergemöller 21994, S. 3–9 und S. 29).

Die Lernfähigkeit also war in dieser Epoche gar kein oder zumindest kein relevantes Kriterium zur Unterscheidung von „normalen“ oder „abweichenden“ Menschen bzw. sozialen Gruppen; zur Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien war dieses Merkmal eher bedeutungslos. Denn für eine Feinanalyse des Lernpotenzials und Lerntempos eines Individuums bestanden, nach derzeitigem Stand der Geschichtsforschung, zu jener Zeit nur geringe gesellschaftliche Erfordernisse. Freilich, im Mittelalter gab es Bildungseinrichtungen (Klosterschulen, Domschulen, Kollegs, erste Universitäten), die einen Kanon an Lehrinhalten und feststehenden Wissensbeständen in einem nach definierten Lernstufen geordneten Unterricht vermittelten. Auch Leistungs- und Lernergebnisse wurden von Zeit zu Zeit, beispielsweise durch Prüfungen, kontrolliert. Und wie schon in der Antike wurde im Mittelalter über geeignete Methoden der Wissensvermittlung debattiert. Deshalb stellte der Mediävist Johannes Fried (2002) die empirisch gut belegte These auf, dass man sich die mittelterliche Gesellschaft als eine Wissensgesellschaft vorzustellen habe. Doch diese Wissensgesellschaft war ständisch geordnet.

Der Bildungshistoriker Martin Kintzinger (2003) unterscheidet zwei verschiedene Wissensbestände, die in der mittelalterlichen Gesellschaft vermittelt wurden: zum einen das den künftigen Klerikern und Fürsten zugedachte „gelehrte Bildungswissen“, als „zumeist schulisch erlerntes, theoretisches oder gelehrtes Wissen, in der Tradition der Sieben Freien Künste und der universitären Lehrfächer schriftlich überliefert, in literarischer Ausprägung und mit mehr oder weniger engem Bezug zu einem kirchlichen Kontext“, das „vor Gericht, an der Universität, mehr und mehr auch in Städten und an Fürstenhöfen“ gefragt war (ebd., S. 26f). Demgegenüber benötigten Schreiber und Rechenkundige, Handwerker jeder Art, Kaufleute, Händler und Heilkundige ein zur Lebensbewältigung erforderliches und unmittelbar „praktisch anwendbares Handlungswissen“, das ebenfalls gründlich und systematisch vermittelt wurde. Das akademische Bildungswissen wurde im Lateinischen als der scholastischen Bildungssprache gelehrt, das lebenspraktische Handlungswissen hingegen war eine volkssprachliche Bildung (ebd., S. 27f). Beide Wissensmodi waren strikt voneinander getrennt: „Kein direkter Weg führte von der Welt des gelehrten Universitätstheologen zu derjenigen des Handwerksmeisters“ (ebd., S. 29), denn der Zugang zu diesen beiden Wissensformen war ständisch reglementiert. Mit der Herausbildung urbaner Kultur und der bürgerlichen Gesellschaft lösten sich die Grenzen zwischen diesen „Parallelgesellschaften“ nach und nach auf. Die Ansicht, dass der Lebensweg und die gesellschaftliche Positionierung eines Individuums vom Stand, in den man hineingeboren wurde, vorgezeichnet und gleichsam determiniert sind, wandelte sich zu der Auffassung, dass der soziale Status das Ergebnis einer individuellen (Lern-)Leistung ist.

Die Behauptung, dass Lernbehinderungen erst im Kontext der Institutionalisierung des Lernens in der Moderne beobachtet werden, lässt sich auch mit kulturvergleichenden Untersuchungen erhärten. Behinderung kann einerseits als ein universales Phänomen begriffen werden, denn vermutlich haben weltweit die meisten Ethnien spezifische Deutungen zum Behindertsein konstruiert (Kemler 1988, Albrecht/Weigt 1993, Meiser/Albrecht 1997, Neubert/Cloerkes 32001, Biewer et al. 2014). Diese sozialen Wahrnehmungen von Behinderung sind jedoch andererseits mit partikularen „ethno-logischen“ Alltagstheorien über Kranksein verbunden. Da es kaum mehr Ethnien gibt, die nicht in Berührung mit der modernen Gesellschaft stehen, muss sich die kulturvergleichende Forschung ebenfalls eher auf historische Studien stützen.

Randgruppen bei den Yupno

Die Yupno, eine in Papua-Neuguinea früher überwiegend in Subsistenzwirtschaft lebende Ethnie, wurden ab 1930 christianisiert, sie nutzten aber zur Alltagskommunikation noch lange überwiegend ihre eigene Sprache (Kâte). Ein Mensch, der nicht über die Fähigkeit zu sprechen und zu hören verfügt, hatte bei den Yupno eine große Beeinträchtigung. Denn in deren Konzeption des Menschen sind diese beiden Kompetenzen besonders wichtig. Es gab zwei Begriffe für Menschen, die „anders“ sind: Das Wort kadim bedeutete ‚verrückt‘ und wurde auf Personen angewandt, die entweder überhaupt nicht sprechen oder hören, die nur Laute von sich geben oder sich nur sehr wirr äußern konnten und die nicht in der Lage waren, klar zu denken. Mit ngamu dagegen wurden Menschen bezeichnet, die als schwach und gebrechlich galten, die nicht auf ihre Kleidung achteten, die „unsinnige“ Gegenstände mit sich herumtrugen, nachts umherwanderten und keine Angst vor „Totengeistern“ hatten. Beide Begriffe bezeichneten folgenschwere Beeinträchtigungen geistiger Verwirrung, Stumm- und Taubheit sowie Verhaltensauffälligkeiten. Eine Person konnte sowohl ngamu als auch kadim sein, denn kadim meinte eine folgenschwere körperlich-geistige Beeinträchtigung, ngamu hingegen betonte stärker das abweichende Verhalten. Für die Yupno war es unwichtig, ob eine Beeinträchtigung angeboren war oder nicht. Menschen, die kadim und ngamu waren, wurden entsprechend ihren Fähigkeiten in die Dorfgemeinschaft integriert, sie wurden weder vernachlässigt noch mit besonderer Zuneigung bedacht. Ihr Tod wurde allerdings deutlich weniger betrauert als der von Menschen, die nicht „anders“ waren (aus: Keck 1997).

Lernbehinderungen kannten die Yupno offenbar nicht, sehr wahrscheinlich hatten sie weder ein Wort für „Lernen“ noch einen konzeptionellen Begriff davon. Vermutlich war es für ihr soziales Leben unwichtig, das „natürliche“ intergenerationelle Lernen in alltäglichen Handlungsvollzügen sprachlich besonders zu markieren. Obwohl auch bei den Yupno zur Bewältigung des Alltagslebens gelernt werden musste, wäre die Bezeichnung „lernende Gesellschaft“ für diese Ethnie unangemessen, weil das Lernen nicht institutionalisiert und vor der Einbeziehung in das „westliche Denken“ auch nicht mit einer Leistungslogik verbunden war.

Somit kann man sagen: Lernbehinderungen treten in solchen Gesellschaftsformationen auf, in denen das Lernen als eine messbare Leistung – eine Kompetenz oder Qualifikation – konzipiert wird. In Europa bildeten sich etwa ab dem 12. Jahrhundert nach und nach solche Vorstellungen zum Lernen heraus. Im 18. Jahrhundert wird dann die Lernleistung zu einer zentralen erzieherischen Kategorie, und mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht wird diese Verknüpfung des Lernens mit dem Leistungsgedanken institutionalisiert und weiter befördert (Furck 1961, Mollenhauer 1986, Luhmann/Schorr 1988, Liebau 1999). Nun gilt es einerseits als eine gesellschaftliche Notwendigkeit und Verpflichtung, allen Heranwachsenden zeitlich und inhaltlich definierte Lernangebote zu machen, und es wird zu einer wichtigen Aufgabe des Staates, hierfür ein funktionierendes flächendeckendes Lernsystem zu organisieren. Es gilt andererseits nun aber auch, individuelle Lernleistungen zu messen, zu dokumentieren und zu bewerten, denn „der Bildungsprozess von Kindern und Jugendlichen wird […] öffentlich rechenschaftspflichtig“ (Mollenhauer 1986, S. 76).

In seiner Untersuchung zur Herausbildung des modernen Konzepts der Bildungszeit zeigt Klaus Mollenhauer (1986), dass in den Schulordnungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Schüler zunächst nur grob in drei „Haufen“ (Klassen) aufgeteilt wurden (nämlich Kinder, die gar nicht, die etwas und die sehr gut lesen konnten). Auch die Unterrichtszeiten waren in den Dokumenten nur vage festgelegt („nach dem Frühstück“, „nach der Frühmesse“). Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts umfassten die Schulordnungen dann schon hundert Seiten, in denen immer mehr und immer detaillierter definierte Leistungsklassen unterschieden wurden für solche Kinder, die andere in der Lerngeschwindigkeit übertrafen. Der Unterrichtstag wurde ebenfalls im Wortsinn immer minutiöser strukturiert:

„Der Grundgedanke ist dieser: Der Bildungsprozeß von Kindern muß als linearer Fortschritt in der Zeit, als ‚progressus‘ bzw. ‚progressio‘, aufgefaßt werden; damit dieser Fortschritt gelingt, müssen die Lerngruppen möglichst homogen sein, sich auf annähernd gleichem Entwicklungsstande befinden; um das zu sichern, muß der gesamte Bildungsprozeß in möglichst kleine Zeiteinheiten unterteilt werden, der Lernfortschritt kontrollierbar sein. Die Konsequenz dieses Gedankens liegt einerseits in der immer genaueren Zeit-Metrik des Schultages, in dem Suchen nach einer feingliederigen Theorie der Entwicklung des Kindes, und, entsprechend, in einer weiteren Unterteilung der ‚Haufen‘, um in der angestrebten Linearität keine Brüche aufkommen zu lassen“ (Mollenhauer 1986, S. 79ff.).

Das Tempo und die Qualität des Lernen-Könnens werden somit, neben anderen (Alter, Geschlecht, Konfession, Muttersprache; vgl. dazu Hansen 2003), zu maßgeblichen Kriterien der Unterscheidung und Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Lerngruppen und Klassenverbänden, Bildungsgängen und Schulformen sowie zur Bewertung von in Lernangeboten erzielten Ergebnissen, Leistungen und (Miss-)Erfolgen. Das Messen und Vergleichen der individuellen Lernleistungen von Kindern und Jugendlichen werden zu einem wesentlichen Aufgabengebiet der Schule:

„Wenn alle relevanten Ressourcen nach Leistung verteilt werden sollen, muss es auch einen gerechten Start nach rationalen Kriterien geben. Benötigt wird also nicht nur ein Ort, an dem alle Bürger sich entsprechend ihrer subjektiven Möglichkeiten und Interessen qualifizieren, also Leistungsfähigkeit erwerben können, sondern zugleich ein Ort, an dem die Leistungen miteinander verglichen und in Rangfolgen gebracht werden können. Dieser Ort kann nur die Schule sein“ (Liebau 1999, S. 26).

Die sich weltweit durchsetzende moderne Leistungsgesellschaft schafft sich mit der Leistungsschule jene Institution, die nach möglichst rationalen Kriterien individuelle Leistungsfähigkeit auf der Grundlage der Messung individueller Lernleistungen bestimmt. Die hier beschriebenen Folgen des gesellschaftlichen Einstellungswandels zum Lernen und der flächendeckenden Institutionalisierung des Lernens führen zwangsläufig zur Identifizierung von Schülerinnen und Schülern, die an den institutionellen Normen gemessene Beeinträchtigungen des Lernens aufweisen. Zugespitzt formuliert: Die „Entdeckung“ lernschwacher bzw. lernbehinderter Kinder ist eine zwingende Folge der Einführung der modernen bürgerlichen Schule als einer Leistungsschule „für alle“ (Möckel 32001, S. 73ff.).

Weil aber nicht „alle“ die Leistungsanforderungen der modernen Schule erbringen und nicht „alle“ mit der institutionell vorgegebenen Lerngeschwindigkeit mithalten können, wird zusätzliche institutionalisierte Hilfestellung, Unterstützung und Förderung des Lernens notwendig. Deshalb ist die Funktion der „Nachhilfeschule“, wie die „Hilfsschule“ zunächst genannt wurde, „nur im Zusammenhang mit dem niederen Schulwesen zu verstehen“, weil „die Schulform Hilfsschule das Ergebnis eines langjährigen Ausdifferenzierungsprozesses im Rahmen der Schulpflichtrealisierung darstellt“ (Ellger-Rüttgardt 2003, S. 13). Für den Fortgang der „disziplinären Verortung“ der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens wichtig ist auch die Beobachtung, dass die „Hilfsschule“ von ihren Anfängen an, „ähnlich wie vorher die Armen- oder Freischule, eine Schule für die sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten war“ (ebd.). Welche Bedeutung aber haben die sozialen Bedingungen für das institutionalisierte Lernen? In dieser Problemstellung findet die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens gleichsam ihre disziplinäre Identität.

1.2        Frühe Kontroversen zur Bedeutung sozialer Bedingungen für das Lernen

Im modernen Denken wird die angeborene Lernfähigkeit als ein Spezifikum der menschlichen Gattung betrachtet (Gehlen 1958, Gagné 1970), und insbesondere das reflexive Lernvermögen wird als eine kognitive Besonderheit des Menschen im Vergleich zu Tieren herausgestellt (Aebli 21985, Bateson 1994, Göhlich/Zirfas 2007). Deshalb verwundert es nicht, dass der Erforschung des Lernens große wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den Anfängen der empirischen Untersuchung des Lernens werden in rascher Folge zwei konträre Auffassungen zu den Ursachen von Lernstörungen herausgearbeitet.

Der disziplinäre Diskurs in der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens ist – historisch stabil – insbesondere von der Auseinandersetzung um die Bedeutung sozialer Verhältnisse für die Lernentwicklung geprägt.

Notwendig knapp werden im Folgenden die beiden Perspektiven skizziert, die zu Beginn der wissenschaftlichen Befassung mit gestörten Entwicklungs- und Sozialisationsverläufen vertreten wurden. In der einen Position wird argumentiert, die empirische Beobachtung des Lernens sei möglichst frei von sozialen Einflüssen zu halten, um die „natürliche“ Entwicklung des Lernens beschreiben und erklären zu können. In der anderen Position wird hingegen vehement gefordert, eben diese sozialen Bedingungen des Lernens zum zentralen Gegenstand der Forschung zu machen.

1.2.1      „Zuerst Natur ohne Dressur, dann Kultur“ (Wilhelm Preyer)

Der Arzt und Physiologe Wilhelm Preyer veröffentlichte 1882 das Buch „Die Seele des Kindes“ (81912), das als eine der ersten empirischen Arbeiten der wissenschaftlichen Entwicklungs- und Kinderpsychologie gilt. Preyer beobachtete drei Jahre lang ein einziges Kind, nämlich seinen erstgeborenen Sohn. Er begann die empirische Beforschung der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes mit dem Moment der Geburt und führte sie bis zum Ende des dritten Lebensjahres fort. Er registrierte die Frühstadien psychischer Entwicklungsreihen zu Sprache, Raumwahrnehmung, Gedächtnis oder Handlungen, die er akribisch in einem Tagebuch dokumentierte und in dem Fachbuch systematisierte bzw. interpretierte. Preyer beobachtete nicht nur die Entwicklung des Kindes, sondern er führte auch Tests bzw. Versuche durch. Zur Überprüfung der Fähigkeit seines Sohnes zur Unterscheidung von Farben ging er beispielsweise folgendermaßen vor:

„[…] vom Ende des zweiten Lebensjahres an [habe ich] viele hundert Farbenprüfungen mit meinem Kinde vorgenommen, wochenlang täglich in der Frühe, dann wieder nach wochenlangen Pausen in anderer Weise fast täglich. […] Als wiederholt die beiden Ausdrücke ‚rot‘ und ‚grün‘ mit Vorlegung der entsprechenden Farben vorgesagt worden waren, und nun beim Vorlegen nur der zwei Farben immer abwechselnd gefragt wurde: ‚Wo ist Rot?‘‚Wo ist Grün?‘ erfolgte nach gänzlich resultatlosen Versuchen in der 86. und 87. Woche und nach einer Pause von 22 Wochen am 758. Lebenstage 11 mal eine richtige, 6 mal eine falsche Antwort; am folgenden Tage waren die Antworten 7 mal richtig, 5 mal falsch, am darauffolgenden 9 mal richtig, 5 mal falsch. […] Zu meiner Überraschung aber waren bereits am 763. Tage die Antworten 15 mal richtig und nur 1 mal falsch und am folgenden Tage 10 mal richtig und kein mal falsch. Das Kind hatte also die Zugehörigkeit der Schalleindrücke ‚rot‘ und ‚grün‘ mit zwei verschiedenen Lichteindrücken fest erfaßt. Denn bei solchen Zahlenreihen ist der Zufall ausgeschlossen“ (Preyer 81912, S. 7).

Aus einer primär evolutionsbiologischen Perspektive ging Preyer von Reifungsstadien aus, die ein kleines Kind durchlaufe und die von der Natur gleichsam vorgegeben seien: „Zwar entwickelt sich ein Kind schnell, ein anderes langsam, die größten individuellen Verschiedenheiten kommen sogar bei den Kindern derselben Eltern vor, aber die Verschiedenheiten beziehen sich viel mehr auf Zeiten und Grade als auf die Reihenfolge des Auftretens der einzelnen Entwicklungsmomente. Und diese selbst sind bei allen gleich. Darauf kommt es zunächst an“ (Preyer 81912, S. VI). Diese „Phasen der Menschwerdung des Kindes“ und insbesondere „die Geheimschrift der Seele des Kindes“ gälte es wissenschaftlich „zu erkennen und zu entziffern“ (ebd., S. VIII).

Entwicklung betrachtete Preyer als einen Prozess, den „Organismen“ kraft ihrer Anlagen und ihrer frühen Bestimmung aus sich selbst heraus vollziehen würden. Aufgabe einer Entwicklungslehre sei es, die diesem „Plan der Natur“ zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten zu beschreiben sowie die Formeln zu finden, in denen die „normale Entwicklung“ ausgedrückt werden könnte (Preyer 81912, S. VIff.). Die Entzifferung der physiologischen Entwicklung gelänge am besten durch „die genauere, täglich wiederholte Beobachtung eines gesunden, weder auffallend schnell noch auffallend langsam ohne Geschwister sich entwickelnden Kindes“ (ebd., S. VI). Denn: „Je aufmerksamer aber das Kind beobachtet wird, um so leichter lesbar wird die anfangs unverständliche Schrift, welches es mit auf die Welt bringt“ (ebd., S. VIII).

Preyer suchte ein Forschungsdesign, das es erlaubt, die Entwicklung des Kindes möglichst unbeeinflusst von der elterlichen Erziehung sowie der sozialen Umwelt zu dokumentieren. Deshalb sollte das beobachtete Kind auch keine Geschwister haben, um sicherzustellen, dass dessen Entwicklung nicht durch Nachahmung beeinflusst wird. Und deswegen die Forderung, dass „die chronologische Untersuchung der geistigen Fortschritte im ersten und zweiten Lebensjahr“ methodisch in der „täglichen Registrierung von Erfahrungen“ durchzuführen sei, „welche nur in der Kinderstube gewonnen werden können“ (ebd., S. V). Die Kinderstube ist für ihn ein von sozialen und gesellschaftlichen Einwirkungen weitgehend abgeschlossener Raum, in dem sich, wie in einem Labor, der „Gang der Natur“ am besten erkennen lasse:

„Da ich mit zwei unerheblichen Unterbrechungen fast täglich mindestens dreimal, morgens, mittags und abends, mich mit dem Kinde beschäftigte und es vor den üblichen Dressuren möglichst schützte, so fand ich auch fast täglich eine psychogenetische Tatsache zu verzeichnen“ (S. VI). „Alles Abrichten des ein- und zweijährigen Kindes muß möglichst verhindert werden. Ich habe in dieser Beziehung insofern Erfolg gehabt, als mein Kind erst spät mit den Kinderkunststücken bekannt gemacht und nicht mit Auswendiglernen von Liedern usw. gequält wurde. […] Je früher ein kleines Kind angehalten wird, zeremonielle und andere konventionelle Bewegungen zu machen, deren Sinn ihm unbekannt ist, um so früher verliert es seine ohnehin nur kurzandauernde und nie wiederkehrende poesievolle Natürlichkeit, und um so schwieriger wird die Beobachtung seiner unverfälschten geistigen Entwicklung“ (ebd., S. 321).

Obwohl Preyer zur empirischen Grundlegung seiner Entwicklungstheorie möglichst viele, möglichst ungleich veranlagte – aber gesunde – Kinder untersuchen wollte (vgl. ebd., S. VI), bestand sein Beobachtungs- und Dokumentationsmaterial fast ausschließlich aus Aufzeichnungen über die Entwicklung von Kindern aus dem „gehobenen“ Bildungsbürgertum (vgl. Gstettner 1981, S. 113). Das Aufwachsen der Kinder wurde jedoch in diesen Familien nicht nur von den Eltern und Geschwistern beeinflusst und begleitet, sondern es gab auch Pflegerinnen, Kindermädchen, Köchinnen usw., die sich mit dem Kind befassten. In Preyers Familie war dies nicht anders, doch die Eindrücke des Dienstpersonals ließ er nicht als Datenquelle gelten, er befürchtete sogar, deren Meinungen würden die wissenschaftlichen Untersuchungen negativ beeinflussen:

„Nicht eine einzige Beobachtung habe ich aufgenommen, von deren Richtigkeit ich mich nicht selbst auf das bestimmteste überzeugte. Am wenigsten darf man sich auf die Berichte der Wärterinnen, Pflegerinnen und anderer im wissenschaftlichen Beobachten ungeübter Personen verlassen. Oft habe ich solche nur durch ein kurzes ruhiges Kreuzverhör dahin gebracht, daß sie die Irrtümlichkeit ihrer Angaben selbst einsahen, namentlich wenn es sich um Beweise für die ‚Klugheit‘ der Säuglinge handelte. Dagegen verdanke ich der Mutter meines Kindes viele mit Leichtigkeit von mir verifizierte Mitteilungen über die geistige Entwicklung“ (Preyer 81912, S. 321).

Preyers Untersuchungen hatten, so Gstettner (1981), einen verengten Klassen- bzw. Schichtbezug: „Die Distanz zwischen der ‚Herrschaft‘, nämlich den forschenden Eltern, und dem ‚Personal‘ wird so zum Ausdruck gebracht, daß dem Dienstpersonal stets eine gewisse Primitivität zugeschrieben wird“ (ebd., S. 115). Die „Kinderstubenpsychologie“ schöpfte ihre Erkenntnisse aus ihrem eigenen, dem bürgerlichen Milieu, „tagebuchartige Aufzeichnungen über Kleinkinder aus proletarischem Milieu“ (ebd., S. 116) gab es noch nicht.