Cover

Helga Gutowski

Sandersommer

Mit Illustrationen von Kerstin Meyer

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Helga Gutowski

Helga Gutowski absolvierte eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitete als Sozialpädagogin und Lehrerin. Heute ist sie ehrenamtlich als Gestalttherapeutin in einer psychologischen Beratungsstelle des Diakonischen Werkes tätig.

Über dieses Buch

Jettes Sommer ist voller Ereignisse: Bald wird sie eingeschult! Und nun ist auch noch Sander auf die Welt gekommen, ihr kleiner Cousin. Jette versteht nicht, warum sich die Erwachsenen solche Sorgen machen, dass Sander zu früh geboren wurde. Je früher, desto besser, findet Jette. Und ihre Katze Miralda bestimmt auch – sie weicht gar nicht mehr von Sanders Seite.

 

Doch ein paar Tage später ist Sander tot. Und die Trauer der Erwachsenen deckt sich über Jettes Leben wie ein großer, schwerer Mantel …

 

Am Ende lernt Jette, mit dem Verlust und mit der Trauer umzugehen und sich wieder auf das zu freuen, was in ihrem Leben auf sie wartet. Und das hat Jette auch Miralda zu verdanken.

 

«Es gelingt der Autorin, das Thema Tod auf literarisch ansprechende Weise aufzugreifen.» (Jury Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2011)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat Helene Hillebrandt

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlag- und Innenillustrationen Kerstin Meyer

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-21662-6 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48991-2

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48991-2

Schon wieder der goldene Fisch

Im Kindergarten sitzt Jette.

Natascha, die Erzieherin, zeigt die Geschichte vom goldenen Fisch. Sie liest von weit oben. Auf niedrigen Stühlen sitzen die Kinder unten um sie herum.

Nico boxt Milan in die Seite. Milan boxt zurück.

Jette kennt das Bilderbuch vom goldenen Fisch auswendig. Natascha zeigt das Buch im Morgenkreis und mittags den Spätkindern. Nie zeigt sie das Buch mit der Wut im Bauch und auch nicht das vom Goldesel. Immer nur die Geschichte vom goldenen Fisch.

Mare rutscht eng an Emi heran. Emi ist fast noch ein Baby. Mare guckt Emi an wie eine Mutter.

Hundertzwanzigmal schlafen, bis Jette in die Schule kommt. Hätte Jettes Papa das bloß nicht gesagt. Jetzt ist es noch langweiliger in der Kita.

Mare wischt Emi das Haar aus der Stirn. Emi dreht den Kopf weg. Sie mag das Wischen nicht. Aber Mare macht einfach weiter mit dem Wischen.

Das Bilderbuch steht aufgeklappt vor dem braunen Pullover von Natascha. Ein goldener Fisch schwimmt in einem runden Glas. Der braune Pullover von Natascha ist das Land.

Jette schwingt ihre Beine. Nico schwingt seine Beine schneller.

Sie schauen sich an und lachen.

Natascha sperrt den Fisch ins Bilderbuch und guckt auf Jettes Beine.

«Nico hat angefangen», sagt Jette.

Nico grinst.

In Jettes Bauch wächst eine Blase und steigt höher. Sie sitzt schon fast in Jettes Hals. Gleich wird die Blase sie ersticken. Jette schreit: «Bei Greta und Ruth kommt nämlich ein Baby!»

Jette hat es geschafft. Die Blase ist zerplatzt.

«Nicht jetzt, Jette. Jetzt lesen wir den goldenen Fisch zu Ende.»

Natascha klappt das Bilderbuch wieder auf.

Der Fisch macht ein beleidigtes Maul.

 

Manchmal sagt Jettes Vater: «Wenn es ein Mädchen wird, hättest du eine Freundin. Sie würde Mirthe heißen.»

«Aber ich will einen Freund. Er soll Sander heißen», antwortet Jette dann.

Als sie hochschaut, zum Buch, schwimmt Sander durch das Bilderbuch.

Tante Greta und Ruth, Mama, Papa und Oma nennen das Baby in Gretas Bauch Mirthe-Sander.

Die Erzieherin klappt das Fisch-Buch zu.

Kim, Milan, Emi, Nico, Mare stehen auf. Natascha geht mit den Kindern hinaus.

 

Jette steht ganz allein in dem riesigen Raum. Die Sonne bescheint das Bilderbuch.

Jette klappt es auf: Da schwimmt der Fisch.

Jette streicht mit dem Zeigefinger um sein goldenes Maul herum.

Der Fisch grinst.

Plötzlich steht Natascha im Zimmer: «Jette, hörst du mir zu? Zieh dich an. Und hilf den Kleinen.»

Die Kleinen anziehen dauert immer so lange. Ein richtiges Baby anziehen, das wäre toll.

«Heute holt deine Oma dich ab», sagt Natascha, als Jette sich die Schleife bindet.

«Oma Maliese oder Oma Kurt?»

«Ich weiß nur: Oma.»

Jette formt zwei Schlaufen und drückt sie fest zusammen. Sie quetscht die Enden in ihren Schuh hinein.

«Oma Maliese ist ja immer nur in Bonn. Wenn mit Tante Greta was ist, kommt Oma Kurt.»

«Was ist denn passiert mit Tante Greta?»

«Kann sein, sie kriegt Sander heute. Keiner will, dass er schon kommt, nur ich. Alle sagen, es ist zu früh. Er soll erst im Sommer auf die Welt kommen, ein Sommerkind. Und jetzt ist Mama zu Greta gefahren.»

«Warum hast du mir denn gar nichts davon erzählt?»

«Weil du gesagt hast: ‹Nicht jetzt. Jetzt lesen wir das Fisch-Buch zu Ende.›»

«Tut mir leid», sagt Natascha. «Komm schnell mit raus. Ich kann die Kinder nicht allein lassen.»

 

Als die Sonne hoch am Himmel steht, ist der Vormittag in der Kita fast zu Ende.

Jette läuft mit einem Stock am Holzzaun entlang, einmal ganz und gar um den Garten herum. Der Zaun gehört einer Hexe. Alle Bretter, die Jette mit ihrem Stock berührt, sind frei.

Jette berührt nicht alle Bretter.

Mal das dritte, mal das fünfte oder drei nebeneinander. Manche Bretter sind frei, die anderen bleiben verhext.

Jette blickt zum Gartentor: Eltern und Schulkinder haben sich dort versammelt. Die großen Schulkinder holen ihre jüngeren Geschwister ab.

Natascha stellt sich ans Gartentor; sie ruft Namen: «Nico, Kjel, Mare, ihr werdet abgeholt. Tikko, komm bitte sofort zurück!»

Mit erhobenem Finger schaut Natascha über das Gartentor.

Tikko kommt langsam näher und guckt auf seine Schuhe.

«Du hast dich rausgedrängelt.»

Tikko guckt wie ein Schaf.

Jette zählt die Bretter ihres Zauberzauns: Bald hundert. Hundertzwanzigmal schlafen, bis sie in die Schule kommt.

Jettes Oma, Helena Kurt, stellt sich zu den Wartenden.

Mit zusammengekniffenen Augen sucht sie hinter dem Zaun nach Jette.

«Oma Kurt!», ruft Jette. Der Stock fällt ihr aus der Hand. Die Füße rennen los. Jette läuft an Nico vorbei, an Kjel, Mare, an der Erzieherin. Jette stürzt in die Arme von Oma Kurt.

«Ist Sander schon da? Was ist mit Tante Greta?»

«Vorsicht, Jette, du wirfst mich ja fast um.» Sie tanzen dreimal im Kreis herum, danach laufen sie los.

 

Da kommt der Bus. Oma Kurt zieht Jette mit sich, noch schneller. Gleich vorn erwischen sie die besten Plätze mit den größten Fensterscheiben.

Eine Katze betritt die Fahrbahn und jagt durch den dichten Verkehr. Sie rettet sich in einen Friseursalon.

«Was ist mit Tante Greta? Ist Sander nun da oder nicht?»

«Mama ist bei ihr. Es geht ihr gut. Mirthe-Sander wollte tatsächlich auf die Welt kommen. Deswegen muss Greta jetzt ganz still im Bett liegen bleiben. Vielleicht beruhigt sich das Baby wieder. Es muss warten. So geht das nicht.»

«Immer müssen alle warten, im Kindergarten warte ich auch nur. Und wann kommt Mama zurück?»

«Greta möchte gern, dass sie noch etwas bei ihr bleibt.»

«Und wenn es länger dauert, was ist dann mit mir?»

«Lass uns zu mir nach Hause gehen. Da besprechen wir alles in Ruhe.»

Jette drückt auf den Halteknopf. Der Bus fährt weiter, als wäre nichts.

Endlich hält er an.

Auf dem Klingelknopf steht: Helena Kurt. Das Haus ist gelb. Es hat einen Aufzug und viele Stockwerke. Im Treppenhaus riecht es nach Sauerkraut und Jahrmarktwürstchen.

«Ich hab Hunger, Oma!», ruft Jette. Ihre Beine nehmen zwei Stufen auf einmal.

Helena Kurt wohnt gleich links im Hochparterre. In der Wohnung riecht es nach Oma Kurt.

«Wann kann ich mal wieder bei dir schlafen?»

Der Kühlschrank ist leer. Oma tut erstaunt und greift nach einem einsamen Kräuterkäsedreieck. Sie zieht das Gemüsefach auf, blickt zur Ketchup-Flasche.

«So leer war unser Kühlschrank noch nie», stöhnt Jette.

«Ab zur Griechin. Wir gehen in mein Lieblingslokal.»

 

Die Tür steht weit offen. Auf die Straße strömt Pommes- und Gyrosduft.

Die Luft riecht ölig; es duftet nach gebackenen Auberginen, nach Honig und gesüßtem Tee.

Die Griechin hat grau-schwarzes Haar, eine Kittelschürze und heißt Eleni. Wenn sie gute Laune hat, gibt es zur Begrüßung ein Glas süßen Tee. Heute hat sie gute Laune.

Jette nippt am Tee. «Dürfte ich diesen Tee bei Mama auch trinken?»

«Hier bei mir darfst du jedenfalls.»

«Und was ist nun mit Tante Greta und Sander?»

«Greta wird eine Weile in der Klinik bleiben. Sie muss ganz still liegen. Deine Mama ist bei ihr.»

«Aber wer füttert Miralda?»

«Na, du.»

«Und ich – wie komme ich in den Kindergarten?»

«Mittwochs habe ich Zeit. Da könnte ich dich bringen und abholen.»

«Und die anderen Tage?»

«Lass uns überlegen. Wie ich dich kenne, hast du bestimmt selbst eine Idee.»

«Na klar, ich kann allein in die Kita gehen, ist doch bebi.»

«Du kriegst das hin.»

«Das glaube ich auch», verkündet Jette feierlich. Sie sitzt kerzengerade auf der Eckbank und pustet Wellen über ihren Tee.

«Glauben Papa und Mama auch, dass ich allein in den Kindergarten gehen kann?»

«Was meinst du? Glauben sie’s?»

«Weiß nicht. Nur, wenn du mit ihnen sprichst.»

Eleni stellt zwei Teller auf den Tisch.

Da kitzelt etwas an Jettes Bein.

«Huch!», ruft Jette und guckt unter den Tisch. «Oma Kurt, das ist die Katze, die wir vom Bus aus gesehen haben.»