Über den Autor

Christian Barmettler wurde 1980 in Sursee in der Schweiz geboren, wo er auch aufwuchs. Nach der Schule machte er eine Berufslehre als Fernseh- und Radioelektriker und später wechselte er auf die Signalübertragungsseite (Kabelfernsehnetz), wo er auch heute noch als Servicetechniker tätig ist.

Als junger Erwachsener entdeckte er seine Liebe zu einem kleinen Land an der Nordseeküste: zu den Niederlanden. Die Gegensätzlichkeit zur Schweiz – flaches Land, Deiche, salzig riechende Luft, blühende Tulpenfelder – zogen ihn magisch an und Jahr für Jahr radelte er nun immer wieder durch weite Teile dieses Landes, wobei er mit der Zeit auch Niederländisch lernte.

Das Schreiben war schon immer eine Leidenschaft von ihm. Schon als Kind schrieb er Kriminalgeschichten, welche er den Schulkollegen zum Lesen auslieh. Sein Erstlingswerk „Das Geheimnis vom IJsselmeer“ ist ein gefühlvoller Roman, in welchem er auch einige Erlebnisse aus seinen Reisen durch die Niederlande verarbeitet hat.

Das Buch Das Geheimnis vom IJsselmeer ist also nicht nur ein spannender, mitfühlender Roman, sondern auch detaillierte Reiseliteratur.

Christian Barmettier

Das Geheimnis vom IJsselmeer

Christian Barmettier

Das Geheimnis vom lJsselmeer

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

Prolog

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Epilog

Über den Autor

Prolog

Tief atmet Erik die frische Brise ein, die vom IJsselmeer zu ihm herüber weht. Er spürt, wie diese Luft, in welcher er bereits ein bisschen Salz zu riechen glaubt, seinen Körper belebt. Von seiner Lunge breitet sich ein herrlich wohliges Kribbeln in seine Arme und Beine und bis in die Fingerund Zehenspitzen aus. Dabei schweift sein Blick über die kleinen Häuser dieses niederländischen Fischerstädtchens. Die Nachmittagssonne taucht die grünen und hellbraunen Fassaden der gepflegten zwei- bis dreigeschossigen Gebäude in ein warmes Licht. Die rostroten und dunkelgrauen Dächer sind von weissen Giebeln gerahmt, die sich vor dem blauen Hintergrund deutlich abzeichnen.

Die Segelschiffchen im Hafen vor den Häusern schaukeln im Spiel der Wellen sanft auf und ab. Die Buchstabenfolge UK prangt von den Vordersteven der meisten Schiffe. Die Spitzen der Masten ragen hoch in die Luft und scheinen eine geheimnisvolle Zeichnung in den Himmel malen zu wollen. Kindergelächter dringt an Eriks Ohr. Dort drüben am Kai spielen vergnügt einige Kinder. Und auch dort, an Bord dieses kleinen blauen Segelschiffchens mit der hellbraunen Kajüte sind Kinder zu sehen, die sich über die Reling lehnen. Erik hat das Gefühl, dass in diesem kleinen Fischerstädtchen vor allem Kinder leben würden.

Er dreht seinen Kopf und überblickt den weissen Sandstrand. Im Hochsommer tummeln sich hier bestimmt hunderte von Badegästen. Doch jetzt ist er leer; menschenleer zumindest. Nur ein paar Möwen flattern kreischend über die Sandfläche und scheinen sich um etwas Essbares zu streiten. Dahinter erstreckt sich die riesige Wasserfläche des IJsselmeers, dessen Oberfläche durch Wind und Wellen gekräuselt ist. Weit draussen ist ein einsames Segelschiffchen unterwegs. Und es macht den Anschein, als würde es in die Unendlichkeit fahren. An einen Ort, wo Zeit, Geld, Hektik, Krieg und Gewalt Fremdwörter sind. Und Erik wünscht sich in diesem Moment nichts mehr, als dorthin mitfahren zu können.

1 13. Mai 2009 - Gekonnt und in zügigem Tempo lässt Erik seine Finger über die Tastatur gleiten. Gerade gibt er einige HTML-Befehle in den Quelltext ein. Er arbeitet an der Website eines Kunden, eines Reiseveranstalters, der sich auf Destinationen in Europa spezialisiert hat.

Erik ist Webdesigner von Beruf. Er mag seine Arbeit sehr. Es ist für ihn immer wieder spannend, die Vorstellungen und Ideen von Kunden zu konkretisieren und umzusetzen in eine Homepage, die dann seine Handschrift trägt. Erik hinterlässt gerne Spuren. Spuren im Internet zum Beispiel.

Er arbeitet gerade an der Unterseite, auf welcher der Reiseveranstalter Vorschläge macht für Trips in die Benelux-Staaten. Amsterdam im Frühling zum Beispiel, inklusive blühende Tulpenfelder, alte Windmühlen und Holzschuh-Fabrikationen. Oder eine Flandern-Rundfahrt mit den geschichtsträchtigen belgischen Städten Antwerpen, Gent und Brügge.

Brügge. Auf einmal hält Erik inne und lässt seine Finger auf die Tastatur sinken. Als er die Vorschau dieser Unterseite betrachtet, sieht er ein Foto von prunkvollen alten Häusern und darunter wieder der Name dieser Stadt: Brügge. Erik war noch nie dort und trotzdem erfüllt dieser Name seine Gedanken mit Schmerz. Von dort bekam er einst eine Ansichtskarte. Im Jahre 2000, von seiner Schwester Anita. Es war ihr letztes Lebenszeichen. Seither ist sie verschollen. Erik lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und betrachtet den Bildschirm mit dem Foto. Auf der Ansichtskarte damals war ein ähnliches Bild mit reich verzierten alten Häusern. Jahrelang hat Erik versucht, den Schmerz zu verdrängen. Die Ungewissheit über das Schicksal seiner Schwester zur Seite zu schieben. Er hat sich in seine Arbeit gestürzt, die ihm Ablenkung gebracht hat. Er hat bereits geglaubt, diesen grausamen Schicksalsschlag von damals überwunden zu haben, immerhin sind doch bereits neun Jahre seither vergangen. Und wie heißt es doch so schön: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch jetzt holt ein einziges Wort all diese schlimmen Erinnerungen wieder zuvorderst in sein Gedächtnis: Brügge.

Erik hat eine wohlbehütete Kindheit erlebt. Er ist zusammen mit seinen Eltern und seiner um zwei Jahre jüngerer Schwester Anita aufgewachsen. Und zu seiner Schwester hatte er immer ein besonders inniges Verhältnis. Fast die ganze Freizeit verbrachten sie als Kinder zusammen; zogen zu zweit durch die Wälder, vergnügten sich am Bach und spielten Verstecken.

Erik kann sich an jenen Tag erinnern, als er nicht den Mut aufbrachte, auf den grossen Kastanienbaum hinter dem Schulhaus zu klettern. Dieser Baum, das war die Mutprobe schlechthin für alle Buben seiner Schule. Wer oben war, der hatte die Mutprobe erfüllt. Wer es nicht schaffte, der war ein Feigling. Erik hatte es nicht geschafft. Er war ohnehin nicht der, der von Selbstvertrauen und Mut strotzte. Er war für sein Alter immer ein bisschen klein und schmächtig.

Erik erinnert sich daran, wie er Anita an diesem Abend von seiner Blamage erzählt hatte. Und wie sie liebevoll ihren Arm um seinen Hals legte und ihm ins Ohr flüsterte: „Weisst du, Erik, mir ist es vollkommen egal, ob du auf dem Baum oben warst oder nicht. Für mich bist du einfach der beste Bruder, den man haben kann!“

All die kleinen Kindersorgen hatten sie damals gemeinsam bewältigt. Bei schlechten Schulnoten trösteten sie sich gegenseitig. Auch später, als Jugendliche, blieb diese starke Bindung zwischen den beiden Geschwistern erhalten. Als Erik zum ersten Mal verliebt war und das Mädchen ihm nach kurzer Zeit den Rücken zu kehrte, hatte Anita ihn getröstet.

Und als wenige Monate später Anitas erste Liebe den Bach runter ging, war es Erik, der seine Schwester in den Arm nahm und Trost spendete.

Das war eine wunderschöne Zeit und vor allem auch eine menschliche. Erik hatte das Leben in dieser liebevollen Umgebung sehr genossen. Bis dann das Schicksal so erbarmungslos zuschlug.

Als er 21 war, starb völlig überraschend seine Mutter an einem Krebsleiden. Vor allem Anita, die ihre Mutter über alles verehrt hatte, konnte diesen grauenvollen Schicksalsschlag einfach nicht verarbeiten. Wochenlang hatte sie geweint. Erik hatte oft versucht, sie zu trösten. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich war er selber auch so traurig und erschüttert und wenn er sie in den Arm nahm, um ihr Trost zu spenden, endete es häufig damit, dass sie beide um die Wette heulten. Zudem wollte Erik nach vorne schauen und das Schlimme hinter sich zurücklassen.

Dann kam der Tag, an welchem Anita ihm eröffnete, dass sie eine Reise machen wolle. Eine Reise quer durch Europa. Und sie wünschte sich, dass er sie begleiten würde. Doch Erik hatte zu diesem Zeitpunkt gerade eben diese Stelle als Webdesigner angetreten. Ein Traumjob mit einem guten Lohn. Und den wollte er auf keinen Fall schon wieder aufgeben. Deshalb zog seine Schwester alleine los.

Heute weiss Erik, dass es ein Fehler war. Er hätte seine Schwester niemals alleine gehen lassen dürfen, nicht in dem Zustand, in dem sie war. Obwohl seit dem Tod ihrer Mutter damals zwei Jahre vergangen waren, hatte sie diesen Schicksalsschlag noch immer nicht verwunden. Sie trauerte noch immer. Und ihr Schmerz war immer noch riesig. Warum liess er sie nur alleine ziehen?

Und dann ein paar Monate später gleich der nächste Fehler: wieso hatte er nicht nach ihr gesucht, nachdem sie verschwunden war? Warum war er ihr nicht nachgereist? Das einzige, das er getan hatte, war, eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufzugeben. Herzlich wenig für einen Menschen, den man liebt.

Noch immer fixiert Eriks Blick das Foto der verschnörkelten historischen Häuser auf dem Bildschirm. Brügge. Er spürt, wie es ihm die Kehle zuschnürt und wie die Tränen in seine Augen steigen.

„Hey, Erik, was ist denn los mit dir?“ fragt plötzlich ein Arbeitskollege. Er läuft zu ihm hin, legt ihm die Hand auf die Schulter und schaut auf seinen Bildschirm. Es ist nichts Außergewöhnliches darauf zu sehen.

„Du brauchst ein bisschen frische Luft. Komm, wir gehen schnell raus!“

Die beiden begeben sich auf die Terrasse, die sich hinter dem Büro befindet und auf welcher die Raucher jeweils ihr Verlangen stillen. Eriks Arbeitskollege zieht eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich in den Mund.

„Gibst du mir auch eine, Timmy?“ fragt Erik.

„Ich denke, du bist Nichtraucher?“ meint sein Arbeitskollege erstaunt.

„Eigentlich ja, aber jetzt brauche ich eine.“

Tim streckt ihm die Packung entgegen. Erik zieht eine Zigarette heraus und steckt sie in seinen Mund. Dann lässt er sie sich von seinem Kollegen anzünden.

„Willst du darüber reden?“ fragt Tim, nachdem es etwa eine Minute lang absolut still war.

„Ich arbeite doch gerade an der Website für diesen Reiseveranstalter“, erzählt Erik. „Da bin ich auf eine Rundreise gestoßen durch flämische Städte, unter anderem nach Brügge.“

„Na und?“

„Hab ich dir mal von meiner Schwester erzählt, Timmy?“

Tim schüttelt den Kopf. „Du erzählst sowieso nie etwas aus deinem Privatleben, Erik.“

„Na ja. Ich finde, wenn man zur Arbeit geht, sollte man sein Privatleben zu Hause lassen.“ Erik zieht an der Zigarette und bläst dann den Rauch über seine Lippen. Dann beginnt er zu erzählen: „Vor elf Jahren starb unsere Mutter überraschend an Krebs. Meine Schwester Anita konnte diesen Schicksalsschlag einfach nicht verkraften. Zwei Jahre später sagte sie mir, sie müsse weg. Sie wollte eine Reise durch Europa machen. Und sie wollte, dass ich mitkomme. Aber damals hatte ich gerade diesen Job hier angetreten und den wollte ich nicht verlieren. So ging sie dann eben alleine. Seither habe ich sie nie wieder gesehen. Sie verschwand spurlos. Ihr letztes Lebenszeichen war eine Ansichtskarte. Eine Ansichtskarte aus Brügge.“

„Oh Gott, das ist ja furchtbar“, meint Tim. „Und als du nun ein Bild von diesem Brügge gesehen hast, ist natürlich alles wieder hochgekommen.“

„Es war ein Fehler, sie damals alleine ziehen zu lassen“, resümiert Erik. „Und es war genauso ein Fehler, die Suche nach ihr der Polizei zu überlassen. Ich hätte selber nach ihr suchen müssen.“

„Ach komm, nun mach dir doch keine Vorwürfe, Erik“, meint Tim und legt seinem Arbeitskollegen die Hand auf die Schulter. „Das Schicksal kannst du ohnehin nicht beeinflussen.“

„Hast du eine Schwester, Timmy?“ will Erik wissen. Tim nickt. „Was würdest du tun, wenn sie verschwinden würde?“

„Das gleiche wie du, Erik“, antwortet Tim. „Ich würde eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben.“

Erik drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. „Seltsam“, flüstert er. „Warum sind wir Menschen so egoistisch? Ich verstehe das nicht.“

2 Es fällt Erik schon auf, dass es irgendwie nach Essen riecht, als er seine Wohnung betritt. Das ist außergewöhnlich, denn in der letzten Zeit war seine Freundin so sehr mit ihrer Höheren Fachschulausbildung beschäftigt, dass ihr zum Kochen schlicht die Zeit fehlte.

„Jolanda? Bist du schon zu Hause?“ ruft er, während er sich die Schuhe auszieht und die Tür hinter sich ins Schloss zieht. Dann läuft er den Gang entlang und steckt seinen Kopf durch die Türöffnung ins Wohnzimmer. „Jolanda?“

Auf einmal spürt Erik, wie sich zwei Arme um seinen Bauch legen. Instinktiv legt er seine Hände darauf und schaut zurück über seine Schultern. Er blickt direkt in das strahlende Gesicht seiner Freundin.

„Hallo, Schatz!“ begrüsst sie ihn und gibt ihm einen Kuss.

„Schön, dass du da bist!“

„Hallo, Liebling“, antwortet Erik. „Na, du machst vielleicht einen glücklichen Eindruck! Was ist denn los mit dir?“

„Ich habe heute endlich meine Diplomarbeit abgeschlossen!“

erzählt Jolanda feierlich.

„Ach, wirklich? Das heißt, ich brauche in Zukunft nicht mehr auf Zehenspitzen durch die Wohnung zu laufen?“

„Nein, das brauchst du nicht mehr, mein Schatz!“ frohlockt die junge Frau. „Und kochen musst du in Zukunft auch nicht mehr selber!“

„Na ja, ich hätte mich beinahe schon daran gewöhnt!“

erwidert Erik.

Jolanda packt ihren Freund an der Hand und zieht ihn in Richtung Küche. „Komm, Erik, schau mal, ich habe dein Leibgericht gekocht! Piccata milanese!“

„Oh, du bist ja wahnsinnig! Aber warum hast du denn nicht dein Leibgericht gekocht, Liebling? Schließlich hast du ja Grund zum Feiern!“

„Das mache ich dann, wenn mein Abschluss erfolgreich war“, erklärt Jolanda. „Schließlich habe ich meine Diplomarbeit erst fertig geschrieben, abgenommen ist sie noch nicht! Und du hast mich in der letzten Zeit soo sehr unterstützt!“

„Ich habe dich unterstützt?“, fragt Erik erstaunt. „Das muss mir entgangen sein. Womit denn?“

„Na ja, du hast keinen Lärm gemacht, du hast keine unnötigen Fragen gestellt, du hast selbst gekocht und abgewaschen und es hat dich auch nicht gestört, dass ich den Computer ständig besetzt habe.“

„Nun ja, abgewaschen hat immer noch die Geschirrspülmaschine“, relativiert Erik. „Und was den PC betrifft: Ich sitze schon im Büro die ganze Zeit vor der Kiste, da geniesse ich es doch richtig, meine Freizeit nicht auch noch davor zu verbringen.“

„Hauptsache, du setzt dich jetzt an den Tisch, Erik, das Essen kommt gleich!“

„Kann ich dir nicht behilflich sein?“

„Hüte dich! Die Küche ist heute allergisch auf männliche Wesen.“

„Oh, na gut, dann lasse ich das lieber sein!“ meint Erik und setzt sich an den Tisch. Kurz darauf serviert Jolanda das Essen und setzt sich danach zu ihrem Freund.

„Guten Appetit, Erik!“

„Dir auch, Jolanda!“ erwidert Erik und beginnt in den Tomatenspaghetti herum zu stochern.

„Schmeckt es dir nicht, Schatz?“ fragt Jolanda nach einigen Minuten.

„Doch, es ist ausgezeichnet“, antwortet Erik.

„Aber du hast ja noch fast nichts gegessen!“

„Ich habe heute irgendwie keinen richtigen Appetit. Es tut mir so leid, Jolanda, du hast so gut gekocht!“

Besorgt schaut Jolanda ihren Freund an. „Was fehlt dir denn, Schatz? Bist du krank? Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein, das ist nicht nötig“, versichert er. „Ich fühle mich nur ein bisschen flau in der Magengegend.“

Jolanda steht auf, stellt sich hinter ihren Freund und legt ihm die Arme um den Hals. „Dabei wollte ich dir doch eine Freude mit dem Essen machen.“

„Das hast du doch auch, Liebling“, entgegnet Erik. „Es ist wunderbar!“

„Aber du hast doch kaum etwas gegessen“, stellt Jolanda fest und lässt ihren Blick traurig über den Teller ihres Freundes schweifen. Ihre Fröhlichkeit, die sie eben noch versprüht hat, ist wie weggeblasen.

„Macht es dir etwas aus, wenn ich mich ein bisschen ins Wohnzimmer setze, Liebling?“ fragt Erik. Jolanda schüttelt den Kopf. „Soll ich dir etwas bringen? Möchtest du einen Tee?“

„Nein, danke, im Moment brauche ich nichts.“

Müde steht Erik auf, läuft ins Wohnzimmer und setzt sich auf das Sofa. Er hört, wie seine Freundin im Esszimmer das Geschirr abräumt und die Geschirrspülmaschine damit füllt. Er weiss, dass er sie enttäuscht hat und das tut ihm weh. Doch dann sind seine Gedanken schon wieder bei seiner Schwester. Erik erinnert sich an jenen Tag, an welchem er die Ansichtskarte aus seinem Briefkasten fischte. Die Ansichtskarte aus Brügge. Es war nicht die erste Karte, die er während dieser Reise von seiner Schwester bekommen hatte. Zuvor erhielt er schon eine Postkarte von der Côte d’Azur, dann eine aus der Bretagne und schließlich eben jene aus Brügge. Und immer lagen zwei bis drei Wochen dazwischen.

Erik erinnert sich daran, wie er die Postkarte gelesen und sie, ohne sich etwas Besonderes dabei zu denken, auf den Schreibtisch gestellt hatte. Damals konnte er ja noch nicht ahnen, dass dies das letzte Lebenszeichen seiner Schwester sein würde. Doch dann kam einfach nichts mehr. Keine Postkarte, kein Telefonanruf. Nichts. Einfach Flaute. Und dies bis heute.

Inzwischen hat Jolanda neben ihrem Freund Platz genommen und legt ihren Arm behutsam um seine Schultern. „Dich bedrückt doch etwas, Erik“, meint sie. „Willst du mir nicht sagen, was es ist?“

Erik schaut seiner Freundin in die Augen, dann beginnt er leise zu erzählen: „Ich habe heute auf der Homepage eines Kunden ein Foto von Brügge gesehen.“

Er schweigt mehrere Sekunden, als ob er darauf warten würde, dass bei Jolanda der Groschen fällt. Doch sie kann den Zusammenhang nicht erkennen, obwohl Erik ihr damals, als sie sich vor einigen Jahren kennenlernten, vom Schicksal seiner Schwester erzählt hatte.

„Ja und?“ hakt sie nach.

„Aus Brügge kam die letzte Postkarte meiner Schwester“, erklärt Erik und beginnt leise zu schluchzen.

Jolanda seufzt. „Das ist es also. Die Ungewissheit. Ich habe gewusst, dass dich das irgendwann wieder einholt, Erik. Die Ungewissheit, was mit deiner Schwester damals passiert ist.“

„Ich war mir doch so sicher, das Thema abgeschlossen zu haben“, schluchzt Erik. „Ich dachte, darüber hinweg zu sein. Und jetzt hat ein simples Foto von dieser Stadt gereicht, um alles wieder zuvorderst in mein Gedächtnis zu holen.“

„Erik, du weisst, dass ich dich liebe“, flüstert Jolanda. „Ich möchte dich auf keinen Fall fortschicken und erst recht möchte ich dich nicht verlieren. Aber du musst endlich deine Vergangenheit aufräumen! Du musst versuchen, herauszufinden, was mit deiner Schwester passiert ist! Fahr nach Brügge und such nach ihr!“

„Wie stellst du dir das vor?“, fragt Erik verzweifelt. „Das ist neun Jahre her!“

„Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du dir für den Rest deines Lebens Vorwürfe machen, weshalb du nichts unternommen hast.“

„Ich finde doch jetzt nichts mehr von ihr“, meint Erik. „Es ist so lange her. Ich habe viel zu lange gewartet.“

„Du weißt ja noch nicht einmal, ob sie noch lebt oder nicht. Du hast doch immer erzählt, wie deine Schwester und du ein Herz und eine Seele wart. Du musst mit deinem Gefühl arbeiten, Erik! Du musst versuchen, deine Schwester zu spüren und so einen Weg zu ihr zu finden. Vielleicht lebt sie ja in Brügge und wartet auf dich, um dann mit dir wieder in die Schweiz zurückzukehren.“

Erik schüttelt den Kopf. „Das kann nicht sein. Die Polizei hatte damals nach ihr gefahndet. Sie hätten sie gefunden, wenn sie sich irgendwo niedergelassen hätte.“

„Vielleicht hat sie ihre Identität gewechselt“, überlegt Jolanda.

„Vielleicht hat sie ja einen Belgier geheiratet.“

„Findest du echt, ich sollte jetzt dorthin fahren und nach ihr suchen? Neun Jahre nach ihrem Verschwinden?“, fragt Erik zweifelnd. „Das ist doch lächerlich!“

„Erik, willst du in deinem Leben wieder einmal richtig glücklich werden?“, fragt Jolanda ernsthaft.

„Was soll diese Frage?“

„Sag einfach Ja oder Nein!“

„Natürlich möchte ich wieder glücklich werden!“

„Dann pack sofort deine Sachen und fahr nach Belgien!“ sagt Jolanda bestimmt. „Erst wenn du alle Zweifel deiner Vergangenheit besiegt hast, erst dann kannst du dich deiner Zukunft widmen. Wenn du jetzt nichts tust, Erik, dann wirst du nie mehr zu deinem Glück zurückfinden.“

Erik öffnet eine Schreibtischschublade und betrachtet die drei Ansichtskarten, die seit neun Jahren hier liegen. Die drei Ansichtskarten von der Côte d’Azur, aus der Bretagne und aus Brügge. Er nimmt die Karte mit den verschnörkelten alten Häusern sowie dem Schriftzug „Groeten uit Brugge“ auf der Vorderseite und der vertrauten Handschrift seiner Schwester auf der Rückseite heraus. Sie hat einfach eine ganz eigene Schrift, fast so verschnörkelt wie die Häuser, die auf der anderen Seite der Karte abgebildet sind. Noch einmal liest Erik den Text.

Lieber Erik.

Inzwischen bin ich in Belgien und ich habe unterdessen wieder viel erlebt und sehr interessante Menschen kennengelernt. Im Dorf Eernegem durfte ich bei einer netten alten Dame übernachten. Sie hat mir viel von sich erzählt und aus der Geschichte ihres Dorfes.

Hier in Brügge ist es wunderschön. Man hat das Gefühl, in eine andere Zeitepoche einzutauchen, wenn man durch die Altstadt schlendert. Es sieht alles so historisch aus. Ich wünschte mir so sehr, dass Du bei mir wärst und wir all diese schönen Sachen zusammen anschauen könnten.

Liebe Grüsse, Deine Anita

Eigentlich eine normale Postkarte. Nichts besonderes, kein angedeuteter Abschied für immer, kein Hinweis auf die Zukunft. Und doch waren dies die letzten Worte seiner Schwester vor ihrem Verschwinden.

Erik muss den Blick von der Karte abwenden, um nicht wieder loszuheulen. Geheult hat er während den letzten Tagen wahrlich genug. Seit vielen Jahren hat das Schicksal seiner Schwester ihn erstmals wieder aufgerüttelt; und das nur wegen eines kleinen Fotos einer belgischen Stadt auf der Homepage eines Reiseveranstalters. Doch jetzt ist genug geheult. Jetzt will Erik handeln. Er ist fest entschlossen, den Rat seiner Freundin zu befolgen und in Belgien nach seiner Schwester zu suchen.

Er erinnert sich daran, wie seine Schwester von Spuren gesprochen hatte, die sie hinterlassen würde auf ihrer Reise. Es war das letzte, das sie ihm gesagt hatte bei ihrem Abschied. Danach hatte sie sich umgedreht und war verschwunden.

Erik hat keine Ahnung, was für Spuren sie damals meinte. Doch er würde diese Spuren suchen und er ist sich sicher, dass er sie finden würde. Egal, was es ist.

Auf dem Bett liegt Eriks Reisetasche, die bereits ziemlich vollgestopft mit Kleidern ist. Zuoberst legt er die Karte aus Brügge drauf, dann schliesst er die Tasche. Die Reise kann beginnen! Erik weiss, dass es eine Reise ins Ungewisse werden wird und dass er keine Ahnung hat, wie lange sie dauern wird.

3 19. Mai 2009 - Ratlos schaut sich Erik um, nachdem er dem Autobus entstiegen ist. Er befindet sich nun in genau jenem Dorf, in welchem neun Jahre zuvor bereits seine Schwester stand. Kurz bevor sie verschwand.

Erik dreht sich um die eigene Achse und lässt seinen Blick über die Häuser schweifen. Vor ihm liegt eine Straßenkreuzung, auf der der Verkehr pulsiert. Pulsiert ist das richtige Wort. Wie das Blut in den Adern zwängen sich die Fahrzeuge über die Straße. Und die Straßen sind die Adern, die dieses Dorf am Leben erhalten.

Eriks Blick fällt auf die Kirche, die am Rand der Kreuzung steht. Das Kirchenschiff mit seinen drei Giebeln erinnert ihn ein bisschen an ein altes Lagerhaus mit seiner schmutzigbraunen Fassade, wären da nicht der Kirchturm und die Kreuze auf den Giebeln. Die Eingangstüren der Kirche leuchten in roter Farbe, über dem Haupteingang hängt ein weisses Schild mit einer Inschrift. Erik kann nicht lesen, was darauf steht. Es wäre ohnehin nicht in seiner Sprache. Wahrscheinlich irgendein biblischer Spruch, der Gläubige in ihrem Glauben bekräftigen und Ungläubigen ein schlechtes Gewissen machen soll. Erik überlegt sich, wann er das letzte Mal in einer Kirche war. Das muss Jahre her sein! Aber seit dem Tod seiner Mutter und dem Verschwinden von Anita hat er den Glauben an Gott verloren.

Auf einmal entdeckt er den Wegweiser mit der Aufschrift

„Politie“. „Das muss Polizei heissen“, flüstert Erik vor sich hin und läuft in die Richtung, in welche der Wegweiser zeigt. Auf dem Polizeiposten will er mit seiner Suche beginnen.

Der Polizeiposten befindet sich in einem Gebäude aus braunen Backsteinen, ähnlich wie die Kirche. Erik steigt die paar Stufen vor der Eingangstüre hoch, öffnet die Tür und tritt in einen Raum, der spärlich beleuchtet ist. Zu seiner Rechten befindet sich ein Schalter, durch welchen er in ein Grossraumbüro sehen kann, das im Moment allerdings nur von einem einzigen Mitarbeiter benutzt wird. Der trägt eine Polizeiuniform und seine Finger lassen die Tasten seiner PCTastatur klappern. Als Erik sich an den Schalter lehnt, schaut der Mann von seinem Bildschirm auf.

„Goedemiddag, Mijnheer“, sagt der Beamte in Richtung Schalter. „Een ogenblikje, alstublieft, ik kom zojuist bij U!“ Auf einmal fragt sich Erik, was er hier eigentlich macht. Will er etwa eine Vermisstenanzeige aufgeben für seine Schwester, die seit neun Jahren verschollen ist? Am liebsten würde er sich umdrehen und wieder verschwinden, doch in diesem Moment erhebt sich der Polizist von seinem Stuhl und kommt zum Schalter.

„Zo, Mijnheer, waarmee kan ik U helpen?“

„Sprechen Sie auch deutsch?“, fragt Erik etwas verunsichert.

„Ja, natürlich, mein Herr“, antwortet der Beamte. „Sind Sie aus Deutschland?“

„Nein, aus der Schweiz“, antwortet Erik.

„Womit kann ich dienen?“

„Ich… ich suche meine Schwester“, erklärt Erik.

Der Beamte reagiert nicht. Erik sieht ihm an, dass er eine genauere Erklärung von ihm erwartet.

„Sie ist verschwunden“, fügt er an.

„Sie möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben?“

„Na ja, ich bin nicht sicher, ob das geht“, meint Erik.

„Grundsätzlich geht alles“, erklärt der Polizeibeamte.

„Ich muss sie einfach darauf aufmerksam machen, dass Vermisstenanzeigen erst 48 Stunden nach Verschwinden einer Person in Kraft treten. Ausnahmen gibt es grundsätzlich nur bei Kindern oder Erwachsenen, die bevormundet sind.“ Erik lächelt müde. „Sie ist schon länger als 48 Stunden weg. Um genau zu sein: seit neun Jahren.“

Der Polizist macht eine abschätzende Kopfbewegung.

„Mein Herr, wenn Sie gekommen sind, um hier den Clown zu spielen, dann muss ich Sie bitten, zu gehen. Ich habe wahrhaft Wichtigeres zu tun, als mich von einem Komiker auf den Arm nehmen zu lassen!“

„Es ist kein Witz, leider“, entgegnet Erik. „Meine Schwester war hier in diesem Dorf, vor neun Jahren. Hier hat sie bei einer alten Dame übernachtet, das hat sie mir auf ihrer letzten Postkarte geschrieben. Und dann ist sie spurlos verschwunden. Von hier kam ihr letztes Lebenszeichen, verstehen Sie?“

„Und dann kommen Sie neun Jahre später hierher, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben? Finden Sie das nicht reichlich spät?“

„Sie verstehen mich falsch“, entgegnet Erik. „Eine Vermisstenanzeige hatte ich bereits damals in der Schweiz aufgegeben und die Polizei hatte mir damals versichert, sie würden mit den belgischen und niederländischen Behörden zusammenarbeiten, um meine Schwester zu finden. Aber sie blieb bis heute verschollen. Und jetzt bin ich gekommen, um selbst nach ihr zu suchen.“

„Und was erwarten Sie jetzt genau von mir?“ will der Beamte wissen. „Dass ich jeden Stein im Dorf umdrehe, um zu schauen, ob sich ihre Schwester darunter versteckt?“

„Nein, natürlich nicht“, räumt Erik ein. „Aber ich habe gehofft, Sie könnten mir vielleicht einen Hinweis geben. Vielleicht wissen Sie ja, welche älteren Damen hier im Dorf Durchreisende aufnehmen, um sie bei sich übernachten zu lassen? Oder vielleicht kann sich hier sonst jemand an meine Schwester erinnern?“

„Sie verlangen ein bisschen viel von mir“, meint der Polizist und atmet laut hörbar aus. „Wie soll sich jemand nach neun Jahren an eine Durchreisende erinnern, die hier gerademal eine Nacht verbracht hat? Aber wenn Sie einen Moment warten möchten, kann ich mal schauen, ob im Fahndungsregister noch etwas von Ihrer Schwester zu finden ist.“

„Oh ja, das wäre sehr nett.“

„Wie war der Name Ihrer Schwester?“

„Anita Bergmann“, antwortet Erik.

„Haben Sie mir noch einen Ausweis, damit ich weiss, ob Sie wirklich ihr Bruder sind?“ bittet der Beamte, worauf Erik ihm seinen Schweizer Pass aushändigt. Der Polizist blättert darin und begibt sich damit an seinen Computer. Einige Mausklicks und Tastaturanschläge später scheint er fündig geworden zu sein.

„Hier ist es. Internationale Vermisstenanzeige vom 13. Juli 2000 der Kantonspolizei Bern, erhalten via Schweizer Botschaft in Brüssel, betreffend Anita Bergmann, wohnhaft in Köniz (Bern), die Personenbeschreibung spare ich mir, auf Ferienreise in der Region Belgien – Niederlande. Letzte bekannte Aufenthalte in Eernegem und Brügge, Belgien. Letzte sichere Augenzeugin Frau Gerda van Deursen, Eernegem. Hat bei ihr die Nacht vom 4. auf den 5. Juni 2000 verbracht. Ist am Morgen des 5. Juni mit dem Fahrrad in Richtung Brügge abgefahren und hat gleichentags auf Brügger Stadtgebiet eine Postkarte an ihren Bruder in einen Briefkasten geworfen. Seither verliert sich ihre Spur. Ja, das war’s!“

Erik versucht die Informationen einzuordnen, die er soeben gehört hat. Das meiste hat er bereits gewusst. Lediglich die unbekannte alte Frau, bei welcher sie genächtigt hat, hat nun einen Namen bekommen.

„Lebt diese Frau van Deursen noch?“, fragt Erik mit zittriger Stimme.

Der Beamte schmunzelt. „Oh ja“, antwortet er. „Aber ich rate Ihnen davon ab, sie zu besuchen.“

„Warum denn?“ fragt Erik.

„Erstens haben wir uns damals mit ihr bereits ausgiebig über diesen Fall unterhalten. Zweitens wird sie sich heute nicht besser daran erinnern können als damals und drittens ist diese Frau inzwischen fast 90 Jahre alt und nicht mehr ganz richtig im Kopf.“

„Was macht sie denn?“ will Erik wissen.

„Sie spioniert das ganze Dorf aus“, erklärt der Beamte. „Und dann fantasiert sie sich Geschichten zusammen. Als wir vor einigen Jahren einen Brandstifter suchten, rief sie an und behauptete, sie kenne den Täter. Und dann beschrieb sie ihn als eine grosse dunkle Gestalt mit breitrandigem Hut und stechend gelben, bösartigen Augen. Und einmal rief sie hier an und sagte, sie hätte Jesus auf der Straße gesehen! Sind Sie immer noch sicher, dass Sie zu ihr wollen?“

„Ja! Bitte geben Sie mir ihre Adresse!“

Seufzend nimmt der Polizist einen Notizzettel zur Hand, kritzelt etwas drauf und kommt dann wieder zum Schalter.

„So, hier haben Sie Ihren Pass zurück, Herr Bergmann, und das ist die Adresse von Frau van Deursen. Bei der großen Kreuzung mit der Kirche links die Stationsstraat entlang, nach etwa 200 Metern ist es ein Haus mit schmutzigweißer, bröckelnder Fassade, etwas zurückversetzt, genau in der Straßenbiegung. Aber wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, Herr Bergmann: Sprechen Sie nicht deutsch mit dieser Frau!“

„Warum denn nicht?“, fragt Erik erstaunt.

„Weil sie dann nicht mit Ihnen reden wird“, erklärt der Beamte geheimnisvoll.

Erik starrt den Polizisten verwirrt an. „Ja, aber… spricht sie denn englisch?“

Der Beamte schüttelt den Kopf. „Frau van Deursen spricht nur noch flämisch.“

„Ich kann aber kein Flämisch“, erklärt Erik.

„Auch kein Niederländisch?“

„Nein!“

„Na dann, viel Glück!“

4 Erik findet alles genauso vor, wie es der Polizeibeamte beschrieben hat. Die ehemals weiße Fassade des Hauses hätte dringend eine Sanierung nötig. Auch sonst macht das Haus einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.

An der Klingel neben der Haustür ist der Name kaum noch leserlich. Erik drückt auf den Knopf und wartet. Nach kurzer Zeit öffnet sich die Tür und eine alte Frau mit grauen Haaren und einem freundlichen Gesicht steht im Türrahmen.

„Goedemiddag, Mijnheer. Heeft U gebeld?“

„Guten Tag, Frau van Deursen“, erwidert Erik. „Sprechen Sie deutsch?“

Auf einen Schlag versteinert sich die Miene der Frau und aus den Augen, die ihn eben noch freundlich angeschaut haben, funkelt ihm auf einmal blanker Hass entgegen.

„Verschwinden Sie!“ zischt die Frau und schlägt die Türe zu. Wie versteinert steht Erik da. Was hat er falsch gemacht? Da fällt ihm auf einmal die Warnung des Polizisten ein, mit dieser Frau nicht deutsch zu sprechen.

„Frau van Deursen, bitte hören Sie mir zu!“ fleht Erik laut.

„Ich will Ihnen doch nur ein paar Fragen zu meiner Schwester Anita Bergmann stellen. Sie hatte vor neun Jahren bei Ihnen übernachtet und war danach spurlos verschwunden. Bitte öffnen Sie die Tür!“

Tatsächlich öffnet sich die Tür jetzt wieder einen Spalt und die Alte streckt den Kopf heraus. „Sie sind der Bruder von Anita Bergmann?“

„Ja, genau!“ bestätigt Erik.

„Dann sind Sie gar kein Deutscher?“

„Nein, ich bin Schweizer!“, antwortet Erik erleichtert.

Nun öffnet die Frau die Türe ganz weit und lächelt Erik an. Der Hass, der noch eben in ihrem Gesicht zu sehen war, ist wie weggeblasen. „Dann treten Sie bitte ein, junger Mann und seien Sie willkommen in meinem Haus!“

Erstaunt über den plötzlichen Gesinnungswandel betritt Erik das alte Haus. „Kommen Sie, wir gehen ins Wohnzimmer“, schlägt die alte Frau vor und steigt vor Erik eine Treppe hoch. Erik betritt ein großmütterlich eingerichtetes Wohnzimmer. In einer Ecke steht eine große alte Pendeluhr, in der Mitte stehen einige antike Polstermöbel, an der Decke hängt ein genauso antiker Kronleuchter und die Wände sind mit vielen alten Bildern versehen.

„Nehmen Sie bitte Platz, junger Mann!“ bittet die Frau und weist auf einen Polstersessel.

Erik legt seine Reisetasche auf den Boden und lässt sich in den Sessel sinken.

„Tut mir leid, dass ich vorhin so abweisend war“, entschuldigt sich Frau van Deursen, „aber wenn Sie erlebt hätten, was ich erlebt habe, würden Sie allem deutschen gegenüber ähnlich reagieren. Sehen Sie dieses Foto dort an der Wand?“

Erik lässt seinen Blick auf ein altes schwarzweißes Bild fallen, das gerahmt an der Wand hängt. Es ist ein junger Mann darauf zu sehen, der eine Militäruniform trägt.

„Das war mein Mann“, erklärt die Alte. „Im Herbst 1939 hatten wir geheiratet. Wir waren blutjung, so verliebt und freuten uns auf unser gemeinsames Leben. Wir wollten eine Familie mit vielen Kindern gründen. Doch ein paar Monate später musste er in den Krieg. Er stand an der Grenze, wollte sein Vaterland verteidigen. Doch dann haben die Deutschen ihn einfach niedergemetzelt.“

Die Stimme der Frau versagt schier, als sie die grauenvollen Erinnerungen erzählt. Trotzdem fährt sie fort: „Und das Bild daneben zeigt meinen Vater.“

Erik betrachtet das alte Foto, das einen fröhlich lächelnden Mann mittleren Alters zeigt.

„Auch er musste gleichzeitig in den Krieg und auch ihn haben sie einfach umgebracht.“

„Mein Gott, das ist ja furchtbar“, flüstert Erik.

„Begreifen Sie jetzt, weshalb ich mir geschworen habe, bis an mein Lebensende alles zu hassen und zu verachten, das aus Deutschland kommt?“

„Das tut mir leid“, sagt Erik leise.

„Das muss Ihnen nicht leid tun, Sie können nichts dafür. Sie kommen ja nicht aus diesem schrecklichen Land. Und ich weiß, dass Sie auch schmerzliche Zeiten durchlebt haben. Wenn ein Bruder seine verschollene Schwester sogar nach neun Jahren noch sucht und durch halb Europa reist, um sie zu finden, dann zeugt das doch von einer überdurchschnittlichen Geschwisterliebe.“

Erik senkt seinen Blick. „Ich habe meine Schwester geliebt. Als wir Kinder waren, waren wir unzertrennlich. Wir haben alles zusammen gemacht, sie war mein ein und alles. Auch als wir älter wurden, blieben wir unzertrennlich. Als unsere erste Liebe nicht so verlief, wie wir es uns wünschten, haben wir uns gegenseitig getröstet. Wir waren immer füreinander da und haben uns gegenseitig immer geholfen.“