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Über dieses Buch:

Ein Skandal im Dänemark des 16. Jahrhunderts: Der junge Adelige Tycho Brahe widersetzt sich allen Konventionen. Statt einer Frau aus bester Familie verliebt er sich in die Tochter eines Bauern und kehrt mit ihr der feinen Gesellschaft den Rücken zu. Als der begeisterte Astronom dann bis dahin unbekannte Himmelsbeobachtungen aufzeichnet, lenkt er auch noch den Zorn der Kirche auf sich – denn damit widerlegt er die „göttliche“ Lehre von der Unveränderlichkeit des Kosmos! In größter Gefahr flieht Tycho vor den Häschern der Inquisition durch Europa – und wird zur Legende …

Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei sind heute noch jedem ein Begriff – doch allzu oft wird Tycho Brahe vergessen, ein großer Astronom und ungewöhnlicher Denker. Mattias Gerwald setzt ihm mit diesem Roman das verdiente Denkmal!

Über den Autor:

Mattias Gerwald ist das Pseudonym des Erfolgsautors Berndt Schulz, dessen Kriminalreihe rund um den hessischen Ermittler Martin Velsmann ebenfalls bei dotbooks erscheinen: Novembermord, Engelmord, Regenmord und Frühjahrsmord. Er lebt in Frankfurt am Main und in Nordhessen.

Unter dem Namen Mattias Gerwald veröffentlichte er historische Romane, in denen entweder eine außergewöhnliche Persönlichkeit oder ein ungewöhnliches historisches Ereignis im Mittelpunkt steht. Er gilt als Experte für die Geschichte der europäischen Mönchsritterorden.

Bei dotbooks erscheint Die Geliebte des Propheten.

Für die Tempelritter-Saga schrieb Mattias Gerwald folgende Bände:

Die Tempelritter-Saga – Band 5: Die Suche nach Vineta

Die Tempelritter-Saga – Band 8: Das Grabtuch Christi

Die Tempelritter-Saga – Band 9: Der Kreuzzug der Kinder

Die Tempelritter-Saga – Band 18: Das Grab des Heiligen

Die Tempelritter-Saga – Band 20: Die Stunde des Rächers

Die Tempelritter-Saga – Band 24: Die Säulen Salomons

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Neuausgabe August 2015

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel Die sterbende Sonne bei Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Originalausgabe 2004 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Gemäldes von Ada Elsheimer

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-321-7

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Mattias Gerwald

Die Sternenburg

Roman

dotbooks.

ERSTES BUCH

»Mir kommen die Wege,
auf denen die Menschen zur Erkenntnis
der himmlischen Dinge gelangen,
fast ebenso bewunderungswürdig vor
wie die Natur dieser Dinge selber«


Tycho Brahe

Erster Teil

Rostock.

Helsingborg.

Kopenhagen.

1566-1568

IM MORGENGRAUEN

Um sieben Uhr morgens war Tycho noch nicht zum Sterben bereit. Und auch nicht zum Töten. Doch an diesem Tag war alles anders.

Dicht über seinem Kopf hing ein schwerer Himmel. Die eiskalte Luft kitzelte ihn in der Nase. Tycho erblickte in einiger Entfernung drei Reiter, die sich im Galopp näherten. Der Staub, den die Pferde aufwirbelten, schien mitten aus der Nacht zu kommen, so dunkel und drückend lag sie über der klammen Wiesenlandschaft. Als der Trupp vor ihm hielt, die Reittiere sich aufbäumten und verängstigt schnaubten, stieg Tycho der scharfe Geruch von Pferdeschweiß und Staub in die Nase.

Seinen eigenen Angstschweiß roch er nicht. Und als er jetzt seinen Feind, der mit einem Satz abgesessen war, so dicht vor sich sah und dessen gedrungene, zwar wenig imposante, vor unterdrückter Spannung jedoch wie eine geballte Faust wirkende Gestalt im schwarzen Rock erblickte, da war ihm, als würde sich tief in seinem Herzen ein festes Etwas bilden, ein inneres Zentrum, kühl und beruhigend, das ihn ganz und gar erfasste.

Tycho schüttelte seine Furcht ab und wich keinen Zoll vor den schnaubenden Pferden zurück.

Sollte passieren, was wolle. Er lief nicht davon. Niemals würde er davonlaufen.

Der junge Student blickte kurz zum Himmel auf. In einer knappen halben Stunde wurde es hell.

Sein Gegenüber warf mit stolzem Schwung die Pelerine nach hinten über die Schulter. Das Gesicht Parsbjergs zeichnete sich bleich in dem nur von zwei Kienspanfackeln erhellten Waldstück ab. Seine Lippen bewegten sich; er versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein hässliches Grinsen zustande.

Der dänische Magister stand nun fünf Schritte vor ihm. Tycho nahm die Mütze ab und warf sie im großen Bogen seitlich von sich. Sofort packten Stigme und Morten, die er noch aus der Zeit in der Heimat kannte, seine Arme und führten ihn wie einen Gefangenen nach vorn. Sie versuchten, die beiden Feinde zu einem Handschlag zu bewegen, doch Manderup Parsbjerg machte keine Anstalten, Tycho zu begrüßen. Er starrte ihn nur voller Hass und Verachtung an.

So blieb Tycho Brahe ebenfalls stehen, wo er war, und lauschte den Worten der vier schwarz gekleideten Totenvögel mit den kerzengeraden Zylindern, die sich jetzt die weiß behandschuhten Hände reichten und die Regeln erläuterten.

Wieder blickte Tycho zum Himmel. Weit im Osten bildete sich ein schmales Band Helligkeit. Der Anblick erinnerte ihn an den zarten Streifen nackter Haut, den er noch im Vormonat an der Hüfte Katinkas gesehen hatte. Ihr Wams war verrutscht, und Tycho sah ihre weiße Haut über dem Rockgürtel. Es war ein schöner, unglaublich intimer Anblick gewesen, wie eine Liebeserklärung. Allerdings nur für Sekunden. Dann stopfte die hübsche Küchengehilfin auf dem Gut seines Vaters in Knutstorp die Bluse wieder in den Rock und beugte sich über die nach gedünstetem Fleisch, Nelken und Lorbeer duftenden Eisentöpfe im Feuer.

Tychos Gedanken bahnten sich nur unwillig den Weg zurück in die Gegenwart. Er hörte jetzt, wie der Magister ihn mit seiner hustenden Stimme anfuhr: »Du wirst mir niemals entkommen, Tycho Brahe. Du bist mein inwendiger Feind, mein innerster Hass. Ich muss dich vernichten. Erst dann finde ich Ruhe.«

Diese Worte hatten keinerlei Bedeutung, wie Tycho wusste; er brauchte sie nicht zu verstehen, musste nicht nach einer Begründung suchen, die das Verhalten seines fanatischen Gegenübers erklären konnte. Er hatte Manderup Parsbjerg niemals einen Grund für seinen tiefen Hass gegeben. Genau genommen kannte er den Mann gar nicht richtig, obwohl sie sich schon zweimal so gegenübergestanden hatten – vor zwei Jahren im deutschen Wittenberg und vor einem Jahr an der Festung seines Vaters Otte, gegenüber von Kronborg, der schonischen Burg des Prinzen Hamlet. Immer hatten die Sekundanten sie lebend auseinander bringen können, zuletzt nach einer guten Stunde verbissenen Kampfes mit gegenseitig durchbohrten Oberarmen.

Diesmal, das spürte Tycho, würde mehr geschehen. Eine Entscheidung würde fallen, und einer würde sterben. Oder etwas würde sterben. Es herrschte Sterbestimmung. Es war ein guter Tag für Abschiede.

Man klappte die langen, mit Leder überzogenen Waffenkästen auf. Auf dunkelrotem Samt lagen die Klingen mit Griffen aus Perlmutt. Der große Säbel, der feine Dolch. Tycho wusste, sie waren noch viel schärfer geschliffen als die gefürchtete sardonische Zunge seines deutschen Professors Mathis, der ihn das Neue Strafrecht lehrte. Diese Klingen konnten blitzschnell töten.

Er griff in die Schatulle und nahm die Waffen heraus. Prüfte den Säbel in der Hand, wie ausgewogen er war und wie leicht er sich führen ließ. Sein Gegner hieb den Säbel immer wieder prüfend wie eine Peitsche durch die Luft, sodass es einen pfeifenden Laut gab.

So hört sich der Tod an, dachte Tycho. Er pfeift.

Dann schmerzt er.

Und dann löscht er aus.

Die Totenvögel dirigierten die Feinde und stellten sie gegenüber auf. In drei Schritten Abstand sah Parsbjerg wie ein Büffel aus. Seine Augen, das konnte Tycho trotz der Dunkelheit im Licht der Fackeln sehen, waren blutunterlaufen. Seine ganze Haltung drückte den Wunsch aus, über ihn herzufallen und ihn zu vernichten. Dieser Mann war zum Töten entschlossen.

Tycho erschauerte vor diesem Hass. Sein Leben war ihm bisher einfach erschienen. Er hatte die Freundin des Magisters an der Universität von Rostock kennen gelernt und sie im Rathauskeller auf die Wange geküsst. Sie hatte nach Nelken geschmeckt. Er hatte die Nächte durchgezecht, am Tag studiert, die Gesetzestafeln auswendig gelernt, und einmal war er sogar ins Hurenhaus am Hafen gegangen. Das alles war ihm wie ein Spiel erschienen, das er vor dem eigentlichen Beginn seines Lebens spielte. Vielleicht, um das widerspenstige und eigensinnige Leben in die Finger zu kriegen, es anzulocken. Ein Spiel, dessen Regeln er sich jedenfalls selbst ausgedacht hatte. Er hätte auch etwas anderes spielen können. Mit Geld, mit Raub, mit der Sünde. Irgendetwas. In Rostock war das Leben leicht.

Aber jetzt war es damit vorbei. Hatte er das leichte Leben überzogen? Sich schuldig gemacht? Irgendetwas ging jedenfalls zu Ende. Jetzt präsentierte jemand ihm die Rechnung.

Tycho hob den Säbel in der Rechten, hielt den Dolch in der Linken, zum Ausfall auf der Außenbahn bereit. Sein Gegner tat es ihm nach. Höhnisch, als imitiere er den vergeblichen Versuch, unverletzt aus diesem Kampf hervorzugehen. Tycho besaß nur wenig Übung mit den Waffen, auch wenn Hauslehrer ihn auf dem Adelsgut seines Vaters neben allem anderen auch in der Kunst des Fechtens geschult hatten. Doch er war nicht mit dem Herzen dabei gewesen. Seine Sache waren eher die Bücher, die Atlanten und Karten.

Und die Lippen der Mädchen.

Der Magister war ein gewiefter Kämpfer. Das wusste Tycho. Das hatte er schon zweimal erfahren. Er führte den Säbel wie einen Dirigentenstab und den Dolch wie einen Federkiel. In seinen Fäusten wogen diese Waffen leicht. Parsbjerg war ein gefährlicher Gegner – umso gefährlicher, als er nur einen Gegner kannte, auf den er sich nun stürzen würde: auf ihn, Tycho Brahe.

Den ersten Hieb führte der unversöhnliche Feind. Doch Tycho war gewarnt und konnte parieren. Metall klirrte auf Metall, Funken stoben in die Schwäne der Nacht. Während er focht, nahm Tycho, dessen rechter Arm schon nach den ersten Schlägen schmerzte, den Schrei eines Uhus in den rauschenden Baumwipfeln war. Ein Totenvogel! Wem galt sein Schrei? Er hoffte inbrünstig, dem Magister. Ihm selbst, versuchte er sich während des Parierens einzureden, galt dieser Schrei nur dann, wenn er eine nachweisbare Schuld auf sich geladen hatte, die nun beglichen werden musste.

Tycho, vor Anstrengung wegen der pausenlosen Attacken seines Gegners keuchend und schwitzend, dachte darüber nach. Gab es so etwas wie eine umgehende Bestrafung für Sünden? Konnte es sein, dass seine hartnäckige Ablehnung der Beichte höheren Ortes ihm diesen Racheengel geschickt hatte, der ihn verfolgte und töten wollte? Oder war es die Sünde im Hurenhaus gewesen, die zum Anlass genommen wurde, ihn unverzüglich zu züchtigen? Gab es das? Seine lutherischen Erzieher hätten über solche Gedanken gelacht.

Aber es war unbestreitbar, dass er, der Student des Rechts und der Hansegesetze aus Schonen, an diesem kalten Dezembermorgen in einem Wald bei Rostock um sein Leben kämpfen musste.

Tycho versuchte einen Ausfall. Der linke Arm mit dem Dolch schoss nach vorn. Gleichzeitig hieb er mit dem Säbel zu. Doch der Angriff ging ins Leere. Sein Gegner lachte hämisch. Tycho durchfuhr ein Schauer. Er erkannte, dass der Magister besser vorbereitet war als jemals zuvor. Er kämpfte ausdauernd und ohne jede Furcht. Diesmal ging es wirklich um Tod und Leben.

Tycho Brahe versuchte sich auf den Kampf zu konzentrieren. Er fintierte. Schlug zu. Wich aus.

Doch wieder schweiften seine Gedanken zu den Fragen von Schuld und Sühne. Bestrafte der Herrgott ihn, weil er Katinka mit lüsternen Blicken betrachtet hatte? Aber sie war so schön gewesen! Und er war so jung … das konnte doch keine Sünde sein.

Tycho sah den Säbel des Gegners heranfliegen. Im letzten Moment duckte er sich, tauchte unter der Klinge hindurch. Dann spürte er die körperliche Gegenwart des Feindes zum ersten Mal. Sie rangen miteinander. Jeder versuchte, die Hände für einen entscheidenden Hieb freizubekommen.

Tycho hörte das Keuchen des anderen, spürte seinen Atem, der ihm als feiner, heller Dunst entgegenschlug. Ihn ekelte vor der Berührung mit diesem warmen, lebendigen Körper; es hatte etwas Obszönes. Tycho Brahe stieß einen angewiderten Schrei aus und löste sich so heftig aus der Umklammerung des anderen, sodass er mehrere Schritte zurücktaumelte.

Dann ging er wieder in Auslage. Er sprang vor und führte eine Serie von Schlägen aus. Ausfall, Stoß, Hieb, Blocken, mit dem Dolch reizen. Er fingierte, lockte den Gegner mit einem angezeigten Angriff heraus und stieß dann, so schnell er konnte, in die neue Blöße. Doch Parsbjerg wich geschickt aus. Und plötzlich, als hätte er gesehen, dass Tycho sich mit vielen Ausfällen und Schlägen verausgabt hatte, änderte er blitzschnell den Abstand der Mensur und attackierte seinerseits.

Wieder schrie der Totenvogel. Tycho nahm es trotz der klirrenden Waffengeräusche deutlich wahr. Noch rasender wirbelten seine Gedanken, schrien in seinem Innern. Wenn er sie doch zum Schweigen bringen konnte!

Wer bist du, kleiner Studiosus aus Schonen, schoss es Tycho durch den Kopf, dass du glaubst, das Leben ginge in dieser furchtbaren Zeit der Prüfungen – der Pest, der Glaubenskriege, des Sittenverfalls – immer so weiter? Wer bist du, dass du dir ein Nest bauen wolltest für ungestörte Vergnügungen? Nein, das Leben ist die Hölle. Und hier schicke es dir einen allerersten Höllenhund. Er ist nur für dich da, er wird dich einweisen.

Wieder ein Stoß, dann ein Hieb mit dem Säbel. Tychos rechter Arm fühlte sich fast schon taub an, doch er parierte. Ein gefährlicher Stich mit dem Dolch, der beinahe seine Seite aufschlitzte. Tycho sprang behände einen Schritt zurück und nahm dem Angriff damit die Spitze. Sein Gegner schrie vor Wut auf. Jetzt schrien auch die Sekundanten, feuerten ihren jeweiligen Schützling an, obwohl es gegen die Regeln war; sie riefen so laut, dass in Tychos Kopf für den Moment Ruhe einkehrte.

Doch kurz darauf setzte das Gebrüll seiner Gedanken wieder ein. Während erneut Metall auf Metall klirrte, die Rufe der Kämpfer sich mit den Anfeuerungen der Sekundanten mischten, die Natur um sie herum aus dem eisigen Winterschlaf erwacht war und die Vögel zu kreischen begannen, dachte Tycho: Warum sind meine Eltern nicht bei mir? Warum beschützen sie ihren Sohn nicht vor diesem Ungeheuer? War sein Vater nicht Kommandant der Festung von Helsingborg? Er hätte seine Wachen herüberschicken können. Es waren nur drei Tagesreisen übers Wasser bis Rostock …

Sei nicht kindisch, sagte eine andere Stimme. Jetzt bist du für dich selbst verantwortlich. Es gibt keine Ausreden mehr für dein Leben.

Kämpfe!

Verdiene dir dein Leben!

Tycho schwitzte; Wasser lief ihm in die Augen, aber er ließ seinen Feind nicht aus dem Blick. Der Magister duckte sich wie ein Raubtier vor dem Sprung. Die weiße Fahne seines Atems flatterte vor seinem aufgerissenen Mund. Und wieder griff er an, schwang seine Waffen, trat nach Tycho, führte gleichzeitig Hieb auf Hieb.

Tycho fühlte Zorn über die unsaubere Kampfesart seines Feindes in sich aufwallen. Er blickte zu seinen Sekundanten hinüber, doch sie bedeuteten ihm nur mit heftigen Gesten weiterzumachen.

Tycho nahm sich zusammen, verscheuchte jeden Gedanken. Jetzt kam es nur noch auf diesen gnadenlosen Kampf an. Eine kleine Schwäche, und der Magister würde ihn zerfetzen, würde von ihm nichts übrig lassen als blutiges Fleisch und zerschmetterte Knochen.

Tycho kämpfte, schnellte vor, wich zur Seite aus, stach und hieb. Doch die Schläge seines Gegners schienen an Kraft zuzunehmen. Attacke, Cœur, Finte, Parade …

Jetzt fochten sie beinahe schon eine halbe Stunde. Und es wurde noch immer nicht hell.

Plötzlich sah Tycho den Gegner nicht mehr. Die Dunkelheit schien noch zugenommen zu haben. Er drehte sich suchend einmal um sich selbst. Wo war der verfluchte Manderup Parsbjerg?

Da!

Die finstere Mauer des Waldrands hatte seinen schwarz gekleideten Körper für den Moment verdeckt. Jetzt sah er ihn wieder.

Tycho sprang auf ihn zu. Wieder parierte der andere. Bei der nächsten Attacke stolperte Tycho über eine Wurzel, die aus dem Boden ragte. Er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel zu Boden.

Aus!, dachte er. Gleich durchbohrt mich der verfluchte Hund mit seinem Stahl. Zugleich fiel ihm ein, dass es eine Regel gab, dass der Kampf beim Sturz eines Gegners ausgesetzt wurde. Tycho drehte den Kopf zu den Totenvögeln hinüber. Was taten sie? Waren sie überhaupt noch da, oder waren sie schon geflohen und hatten ihn allein gelassen mit diesem Höllenhund?

Als er noch nach den Vögeln Ausschau hielt, fiel ihm etwas Seltsames auf. Etwas gänzlich Unerwartetes machte sich am linken Rand seines Blickfeldes breit. Etwas Helles. Tycho blickte irritiert zum Himmel. Und da sah er es.

Plötzlich war weit oben in der Höhe ein gleißend heller Streifen. Was war das? Litt er an Halluzinationen? Ein Blitzstrahl, der aus seiner eigenen Mitte her leuchtete, zog gemächlich am noch immer schwarzen Morgenhimmel entlang. Erst langsam, dann immer schneller. Jetzt raste er auf ihn zu …

Es scheint zu explodieren!, schoss es Tycho durch den Kopf. So wie das Schwarzpulver, von dem jetzt alle erzählten.

Für einen Augenblick dachte er wieder an ein Himmelsgericht. War es ein Bote, der vom Himmel kam, um ihn zu bestrafen? Dann aber zog der helle Schein vorbei, der aussah, als klemme ein Stern zwischen den Fingern des Weltenrichters fest; beim Versuch, sich zu befreien, zog er sich in die Länge und jagte von Ost nach West über ihren Köpfen dahin. Flüchtete er vor der aufgehenden Sonne?

Vielleicht wurde soeben ein neuer Stern geboren, dachte Tycho. Ja, so sah es aus. Am Himmel wurde ein Stern geboren, und hier unten, auf Erden, wird ein Mensch sterben.

Er sah sich nach seinem Feind um.

Noch bevor er ihn sah, roch er ihn, roch seinen Atem. Seinen Schweiß. Und vor allem seinen Hass.

Der Säbel des Gegners landete mitten in Tychos Gesicht.

Zuerst spürte Tycho Brahe, Student des Hanserechts, gar nichts. Alles schien taub. Müde hob er den Säbel zur Abwehr. Eine seltsame Gleichgültigkeit machte sich in seinem Innern breit. Was ging es ihn an? Was ging ihn der Magister Manderup Parsbjerg an? Nur ein Totenvogel unter vielen …

Die Sinne schwanden ihm. Dann kam der Schmerz. Etwas Weißglühendes zuckte durch sein Gesicht, breitete sich in seinem ganzen Kopf aus, lähmte seinen Körper. Tycho konnte sich nicht mehr bewegen. Er versuchte, den Mund zu öffnen, um zu sagen: Das alles hier, dieser Morgen, ihr alle … es ist einerlei. Doch es war nur Blut, das aus seinem Mund schoss, warmes Blut. Aber nicht warm genug, um ihn vor der Kälte zu schützen, die ihn jetzt überfiel. Er begann am ganzen Körper zu zittern.

Verschwommen nahm er wahr, wie mehrere Gestalten den Magister zur Seite zogen. Sie zerrten ihn grob von ihm herunter. Seine beiden Sekundanten beugten sich über ihn. Sie sagten etwas, doch Tycho verstand es nicht.

Dafür nahm er etwas ganz anderes wahr.

Am Horizont erhob sich ein rundes Etwas. Eigentlich hätte es die Sonne sein müssen, doch sie konnte es nicht sein. Denn war die Sonne nicht immer golden gewesen? Gleißend? Hell?

Dies aber war ein Feuerball, der aus nichts als Schwärze bestand!

Tycho versuchte, die lästigen Arme und Hände abzuwehren, die ihm helfen wollten. Er sah Gesichter, sah Münder, die auf ihn einredeten, spürte Hände, die ihm aufhelfen wollten. Aber er schien ohne jeden Knochen zu sein, nur noch aus erschlafften Muskeln zu bestehen. Er konnte nicht aufstehen.

Das Weißglühende in seinem Kopf war lästig. Aber was da am Horizont vor sich ging, beschäftigte ihn ungeheuer. Es war ganz ohne Zweifel eine schwarze Sonne! Ja, jetzt war der Morgen der Abrechnung wirklich gekommen! Jetzt ging die Welt wirklich unter!

Oder bin ich schon tot?, dachte Tycho. Ja, so muss es sein. Es ist die schwarze Sonne der Hölle! Ich bin nicht mehr von dieser Welt!

Tycho versuchte, auf diese schwarze Sonne zu zeigen, die immer höher kroch. Die anderen aber interessierten sich nicht dafür; vielleicht nahmen sie den dunklen Feuerball nicht einmal wahr, denn sie beschäftigten sich nur mit ihm.

Die schwarze Sonne führte irgendwie die Helligkeit des Morgens mit sich, aber auf sonderbare Weise. Es war eine Art von heller Dunkelheit, die da heraufzog! Tycho bekam Angst; er hätte schreien können. Wo sonst eine strahlende Sonne über der Finsternis des Wintermorgens aufging, rollte nun ein schwärzliches Etwas heran. Es gab für Tycho keinen Zweifel. Entweder war er gestorben oder irgendwie schuld daran, dass sich nun alles verkehrte.

Denn wenn die Sonne starb und schwarz wurde, würde auch bald die Nacht mit Feuern leuchten, die Vögel würden von den Bäumen fallen, die Erde sich auftun und die Wasser in einer neuen Sintflut steigen lassen. So jedenfalls hatten die Propheten der neureformierten Kirche es immer wieder verkündet, die auch in der Familie der Brahes auf Knutstorp ein und aus gingen.

Ich bin schuld, dachte Tycho, während ihm das Blut in einer Fontäne aus dem Gesicht schoss. Ich habe ein liederliches Leben geführt. Ich habe nicht fleißig genug studiert. Ich habe die Mädchen lüstern angesehen. Ich bin an allem schuld.

Jemand drückte ihm eine Binde ins Gesicht, die scharf roch und ihm den Atem nahm. Er rang nach Luft; dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, spürte er etwas Hartes, Verkrustetes im Gesicht, und das Blut floss nicht mehr. Vier Männer beugten sich über ihn und blickten ihn besorgt an. Und von hinten näherte sich ein Pferdefuhrwerk mit einer weißen Fahne.

Und die schwarze Sonne rollte in diesem Augenblick hinter einer dunklen Wolke hervor und breitete ihr gleißendes, schwarzes Licht erneut vor ihm aus.

Alles blieb dunkel, sogar die zunehmende Helligkeit des Morgens …

In Tychos Kopf blieb die Schwärze, und ebenso lag Schwärze über der Welt.

Die Gehilfen richteten den jungen Mann auf und führten ihn zum Rettungsfuhrwerk des Stadtmediziners. Tycho ging mühsam zwischen ihnen, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. Dann ließ er sich auf die Strohmatten gleiten und blieb erschöpft liegen. Als er vorsichtig mit der Hand zu seinem Gesicht tastete, fand er keinen Widerstand. War sein Gesicht verschwunden? War es auch zu einer schwarzen Kugel geworden, eine sterbende Sonne aus Augen, Nase und Mund?

Jemand redete beruhigend auf ihn ein. Als das Fuhrwerk rumpelnd losfuhr, sah Tycho den Magister. Er stand geduckt am Waldrand, wie ein Schatten, der bereit war, aus der Dunkelheit hervorzuspringen und ein Loch hineinzureißen oder sich in der Dunkelheit aufzulösen. Manderup Parsbjerg hatte gesiegt, das war Tycho klar. Er hatte ihn zwar nicht getötet, hatte ihm aber schweren Schaden zugefügt. Und jetzt rollte die schwarze Sonne über ihn hinweg, um ihn zu zermalmen. Sie stand wie ein riesiger Ball, aus dessen Seiten Flammen zu schießen schienen, dicht über dem Horizont. Doch sie bewegte sich nicht. Sie schien abzuwarten, wie Tycho sich machte.

Der Student schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Sonne verschwunden. Der Wald hatte das Pferdefuhrwerk aufgenommen, und es ging langsam und rumpelnd nach Rostock zurück.

Als sie den Fluss, die Warnow, auf der Holzbrücke überquert, den Stadtgraben bei der Teufelskuhle passiert und die Stadtmauer erreicht hatten, standen überall Menschen und blickten zum Himmel empor. Sie hielten sich die Hände in einigem Abstand vor die Augen. Ein alter Mann rief: »Das ist das Strafgericht Gottes! Die Welt geht endlich unter! Betet für euer Seelenheil!«

Auch wenn Tycho bei klarem Verstand gewesen wäre, hätte er nicht gewagt, dem Schreier zu sagen, wer schuld daran war. Er nahm alles wie in einem Nebel war, der seinen Kopf ausfüllte.

Sie fuhren weiter. Überall der gleiche Anblick. Menschen über Menschen; ganz Rostock schien auf den Beinen zu sein. Wegen des Kampfes? Wegen der schwarzen Sonne? Warum wusste er, Tycho Brahe, nichts über diese Vorgänge? War er der einzige Mensch auf der Welt, der nicht wusste, was hier vor sich ging? Aber ging es ihn überhaupt etwas an?

Überall flatterten die Fahnen der mecklenburgischen Herzöge im Morgenwind. Eine frische Brise riss an der Kleidung der Marktfrauen auf dem Hopfenmarkt, zerrte an den Windhähnen der roten Kirchtürme, den Windrosen auf den Dächern der Kontore und Speicherhäuser und fuhr in die Holzfeuer, die überall angezündet worden waren.

Tycho war jetzt ganz ruhig. In seinem Innern breitete sich erneut kalte Gleichgültigkeit aus. Er blickte im Vorbeifahren unbeteiligt auf das schöne Haus des Hundertmännerkollegiums, unter dessen Dach er eine Mansarde bewohnte, sah die Brauer am Mohlendamm ihre Fässer herausrollen, die Kaufleute ihre Läden öffnen, die Handwerker ihre Geräte auspacken. Hunde liefen umher und bellten das Pferdefuhrwerk an. Kirchenglocken begannen von allen Seiten zu läuten. Und am Steintor, neben dessen klobigem Turm das barmherzige Hospital lag, bildeten sich Trauben gestikulierender Bürger, die ihre ausgestreckten Hände immer wieder zum Himmel hoben, als wollten sie in die schwarze Sonne stechen.

Am Nonnenhof angekommen, wurde Tycho vom Wagen gehoben. Der Morgen war nach dem Sonnenaufgang noch dunkler geworden. Sonnenaufgang?, dachte Tycho. Was für ein seltsames Wort. Ein Wort von gestern. Heutzutage geht die Sonne am Morgen nicht auf, sondern unter. Und alles wird schwarz.

Und dann wurde es auch in seinem Kopf dunkel. Noch bevor man ihn auf eine Pritsche legte, war er wieder bewusstlos geworden.

***

Der Patient erschrak zu Tode.

»Es ist die Nase«, sagte jemand. »Der Säbelhieb hat sie abgetrennt.«

Ein anderer ergänzte: »Ja, aber nur vom Knochen abwärts. Er hat noch Glück gehabt.«

»Aber wie er aussieht!«

Tycho öffnete die Augen und schaute in die Höhe. Er sah einen Ring weißer Gesichter, die auf Körpern in weißer Kleidung saßen. Er wollte sich aufrichten, war aber noch immer wie gelähmt vor Entsetzen über das soeben Gehörte und konnte sich nicht bewegen.

Ein dumpfer Laut kam aus seinem Mund. Es hätte ein Satz werden sollen, der lautete: »Was ist mit meiner Nase?«

»Der Herr Studiosus ist erwacht«, sagte jemand.

Töricht, dachte Tycho. Aber damit bin ich gemeint. Er versuchte weiter Worte zu formen. Es gelang ihm nicht, und das machte ihn traurig. Zugleich verspürte –er eine ungeheure Erleichterung, dass der Magister Manderup Parsbjerg nicht anwesend war. Oder versteckte er sich etwa hinter den breiten Rücken der Weißkittel?

Er blickte in die Runde, ohne den Kopf zu drehen, sah den Magister aber nicht. Überall gewichtige Gesichter. Als er mühsam die Worte herausbrachte: »Was ist mit mir?«, fiel ihm sofort auf, wie seltsam fremd seine Stimme klang.

Ein Medicus hielt ihm einen Spiegel vor. Und da seine Hand nicht ruhig war, sah Tycho jetzt sein Konterfei zittern; es wackelte und bebte, als fürchte es sich vor sich selber.

Sein Gesicht sah eigentlich wie immer aus. Rund, volle Lippen, ausgeprägte Augenpartie mit verträumten, braunen Augen, darüber das schlanke Band der Brauen, hohe Backenknochen. Nur mitten drin saß die silberne Nasenplatte. Vom Knochen abwärts glänzendes Silber. Sie besaß sogar zwei Nasenlöcher.

»Es ist bloß behelfsmäßig«, sagte der Medicus, ein schon alter, bärtiger Mann mit Brille, der in der Runde den Ton angab. »Aber so ungefähr könnte Eure Ersatznase aussehen, Herr von Brahe.«

»Was ist darunter? Kann ich die Wunde sehen?«

»Dazu habt Ihr noch das ganze Leben lang Gelegenheit. Lasst die Wunde heilen. Dann sieht alles besser aus. Wir haben sie abgedeckt, das Blut mit dem Saft der Aloe gestillt, das rohe Fleisch mit dem Gift der Kreuzotter abgerieben, wie Benedictus Barth es lehrt. Danach haben wir die Wunde mit Hanf bestrichen und zugenäht. Uns kamen die Erfahrungen zugute, die wir bei der jüngsten Seuche in Sachsen gesammelt haben, wo Scharbock und englisches Fieber behandelt werden mussten, bevor sie ganz Grimma auslöschten. Ihr werdet Eure Nase gebrauchen können wie jeder andere Mensch auch.«

»Muss ich die Silberplatte immer tragen?«

»Seid froh, dass Ihr eine solche Platte habt, Herr von Brahe! Damit erhaltet Ihr Euch alle Möglichkeiten bei den jungen Damen! Oder glaubt Ihr, die Weiber starren gern auf ein schwärzliches Labyrinth von blutverkrusteten Nasengängen, wenn sie ihre Liebe beteuern?«

Der Medicus lachte meckernd; die anderen fielen ein und stießen einander an. Welch ein gelungener Scherz von Medicus Brant, dem besten Chirurgus und Wundarzt von Rostock!

Tycho fragte: »Kann ich aufstehen?«

»Ja, das dürft Ihr. Ihr habt ja volle drei Tage geschlafen – was übrigens gut war für den Heilungsprozess. Ja, die Jugend heilt sich selbst.«

Tycho stöhnte vor Schmerzen. Mühsam fragte er: »Wurde meine Familie von dem Unfall benachrichtigt?«

»Umgehend. Das besorgten Eure Sekundanten, indem sie einen Reiter nach Schonen sandten. In spätestens vier Tagen, wenn der Sturm nicht stärker wird, werden Eure Eltern Euch in die Arme schließen können. Und vielleicht auch eine kleine Freundin – wenn Er eine solche hat, wie?«

Tycho ließ sich die Erlaubnis erteilen, das barmherzige Hospital am Abend zu verlassen. Er nahm seine Sachen und ging hinaus.

Es war früher Abend, aber jetzt stand die Sonne rot und klar am Himmel, als hätten sich tatsächlich alle Vorzeichen verkehrt und als würde die Sonne am Abend mit ihrem roten, glühenden Licht aufgehen und am Morgen schwarz und klobig am Horizont versinken. Eine kräftige Brise wehte Wolkenfetzen über den Himmel.

Tycho tastete immer wieder zu seiner Nase und spürte unter seinen Fingerspitzen die Kälte der Silberplatte. Das Gefühl dieses fremden Gegenstands in seinem Gesicht machte ihn ganz mutlos.

Er grübelte über alles nach, was geschehen war. Und allmählich ging ihm auf, dass er großes Glück gehabt hatte.

Es war nur ein Teil seiner Nase gewesen, eigentlich nur die Nasenspitze, was dem Säbel des Magisters zum Opfer gefallen war, nicht er selbst. Es war nur die Geburt eines Sterns gewesen und nicht das göttliche Strafgericht, das er am Morgen des Duells gesehen hatte. Und der Rest war nichts weiter als eine gewöhnliche Sonnenfinsternis, wie sie alle Dezennien eintrat. Aber wer dachte an so etwas!

Für ein einziges Morgengrauen was das alles jedenfalls zu viel gewesen. Und er war nicht darauf vorbereitet, weil er lieber in den Bierschänken am Hafen saß!

Tycho ging langsam durch die wie immer betriebsame Stadt nach Hause. Er betastete immer wieder diesen silbernen Fremdkörper in seinem Gesicht. Der Wind war noch stärker geworden und riss die Rauchfahnen aus den Schornsteinen.

Der Student bezog seine Mansarde, nachdem er den lästigen Hausbesorger abgewehrt hatte, einen übertrieben freundlichen Mann. Er konnte von hier aus den Wald jenseits des Stadtgrabens sehen, in dem vor vier Tagen das Duell stattgefunden hatte. Was war mit dem Magister? Befand er sich noch in der Stadt? Würde er dem eingebildeten Menschen an der Universität begegnen? Konnte er überhaupt weiterstudieren?

Tycho beschloss, auf seine Eltern zu warten, bevor er nach Antworten suchte. Bis dahin musste er sich erst einmal an die Schmerzen und an die Silberplatte auf seinem Nasenrücken gewöhnen. Am nächsten Tag sollte die künstliche Nase endgültig angepasst werden. Tycho hatte darauf bestanden, dass sie eine Gravur enthielt. Cassiopeia. So nannte er den Stern, bei dessen Geburt er dabei gewesen war. Den Stern, der ihn die Nase gekostet hatte. Cassiopeia würde fortan die Richtung seines Lebens bestimmen.

Noch ahnte er nicht, dass es nicht die Geburt seines Sterns gewesen war, der er beigewohnt hatte. Er hatte sein Sterben gesehen.

BEGEHREN

Der Student des Rechts überlegte, ob er zum Barbier, zum Apotheker oder zum Medicus gehen sollte. Die Nase schmerzte. Die Silberplatte saß so fremd und fest in seinem Gesicht und schnitt ins gesunde Fleisch, dass es Tycho nicht mehr aushielt.

Als er durch die Stadt ging, war alles wieder ganz normal. Man hatte die Sonnenfinsternis vergessen und ging den Geschäften der Hanse nach. In den Bürgerhäusern am Hopfenmarkt befand sich eine Ratsapotheke, in der er sich ein Schmerzmittel geben ließ. Ein Kommilitone von der medizinischen Fakultät hatte ihm geraten, eine weiße Ratte über die Nasenwurzel zu führen, das lindere den Schmerz. Ein anderer erbot sich, die Schmerzen mit dem Mund wie ein Gift herauszusaugen und ihn auszuspucken. Doch Tycho hatte den Verdacht, dass dies alles keine Hilfe wäre.

Er blieb vor dem Schaufenster des Ladens stehen und erblickte Schüsseln mit gestoßenen Gewürzen, Kräuter, Hochweine, ein Destilliergerät für Salben und allerlei Kram. Das alles sah wenig Vertrauen erweckend aus. Der heilkundige Apotheker, ein Buckliger mit scharfem, misstrauischem Blick und buschigen Brauen, von dem Tycho hoffte, dass er mehr sei als bloß ein Kräuterhändler, hörte sich mit zusammengekniffenem Mund die Klagen des Kunden an und wickelte ihm dann ein bräunliches Pulver in ein Papier ein.

»Morgens, mittags und abends eine Prise. Aber nicht übertreiben. Nach einigen Tagen geht es Euch besser.«

»Was ist das für ein Pulver?«

Der Heilkundige antwortete unfreundlich: »Es ist ein gemahlenes Doldengewächs von den südlichen Küsten, auch als wilde Engelbrustwurz bekannt, dessen Wurzelstock ätherische Öle enthält, gemischt mit dem Knochenpulver unserer heimischen Eidechse. Etwas Besseres gibt es nicht gegen Schmerzen aller Art. Und nun geht und nehmt es ein.«

In den nächsten Stunden schlenderte Tycho durch Rostock, von den Schmerzen getrieben. Erst in der Nacht ließen sie nach. Tycho besah sich immer wieder im Handspiegel. Ein Ungeheuer, auch wenn das Silber seiner neuen Nase gut zum Schwung seiner braunen Augen und Brauen passte. Er erkannte sich kaum wieder. Nur im Innern spürte er, dass er es war. Tycho Brahe aus Schonen, zwanzig Jahre alt, Sohn des hochwohlgeborenen Offiziers und Geheimrats Otte von Brahe und seiner Gattin Beata Bille, Student der Jurisprudenz in Kopenhagen, Wittenberg, Leipzig und nun in Rostock, ein junger Mann, der unter dem Stern von Cassiopeia stand.

Der Schock saß tief, als nach drei Tagen die Nachricht eintraf, der Vater beordere ihn umgehend nach Knutstorp zurück.

Sie würden also nicht kommen und ihn trösten. Die sanfte, leise Mutter würde ihn nicht an den Busen drücken, nicht im Nacken kraulen, kein liebevolles Bedauern flüstern. Ganz zu schweigen von Katinka. Tycho hatte gehofft, sie könnte die Eltern begleiten. Die junge Katinka mit den bebenden, weißen Brüsten, dem festen Hinterteil und den neckischen Augen. Die junge Köchin fehlte ihm in Rostock am meisten; mit ihr hatte er sich in der Heimat am besten verstanden. Vor allem, wenn sie ihm ihre geheimsten Rezepte verriet, sich mit Tiegeln, Töpfen und Pfannen zu schaffen machte und er ihr dabei in den Ausschnitt schauen konnte. Sie hatte es ihm gestattet, aber darauf geachtet, dass er sie nicht berührte. Katinka besaß einen Versprochenen, den Stallburschen von Knutstorp.

Tycho wusste, er musste dem Befehl seines Vaters folgen, oder der würde ihm umgehend die Mittel streichen. Gleichzeitig spürte er seinen Zorn darüber, abhängig zu sein.

Sollte er dem Vater trotzen und in Rostock bleiben?

Aber wovon sollte er dann leben?

Er fühlte Zorn und Enttäuschung darüber, dass er so jung und so unfertig war. Was hatte er bisher zuwege gebracht? Nichts!

Man muss aus sich selbst heraus etwas schaffen, dachte er, sonst lohnt es nicht zu leben. Oder man muss sich in einer grenzenlosen, zügellosen Liebe als Person auflösen. Das sind die beiden wirklich großen Dinge im Leben. Die lohnenswerten Zustände.

Werde ich jemals dazu in der Lage sein?

Ich werde es nur schaffen, wenn ich meinen eigenen Weg finde!

Tycho benötigte eine Woche, um seine Zelte in Rostock abzubrechen. Manderup Parsbjerg ließ sich nicht blicken. Man munkelte, er sei inzwischen in die Dienste der Kaiserlichen von Schweden getreten.

Der Student aus Schonen löste seine Wohnung unter dem Dach auf. Er verabschiedete sich von seinen Freunden und Kommilitonen, ließ sich von den Ärzten letzte Anweisungen erteilen und kaufte sich eine Passage nach Hause. Er zechte noch eine Nacht mit seinem besten Freund Vicke Schorfer in den Pinten rund um das Kollegium Aquila, wo es die süßesten und leichtfertigsten Mädchen gab, schiffte sich an einem eiskalten Morgen ein und landete zwei Tage später in Kopenhagen.

Tycho ließ sich bei stürmischem Wind nach Landskrona übersetzen. Als er am Hafen Kyrkbakken die Kirche St. Ibbs und die im Bau befindliche Zitadelle mit ihrem dreifachen, sternförmig angelegten Wallgraben erblickte, die der König im Renaissancestil erbauen ließ, fühlte er sich zu Hause. An der Baustelle wartete schon die Kutsche mit dem ewig mürrischen Oldentorp, dem die Gicht die Hände verkrüppelt hatte.

Am Abend traf Tycho bei einsetzendem Schneefall auf dem Gut seines Vaters ein. Die Eltern empfingen ihn so überschwänglich, als käme er von einer Weltreise zurück. Die zehnjährige Schwester Sophie tanzte um ihn herum. Auch sein älterer Bruder Steen, mit dem er sich schon als Kind immer nur gestritten hatte, war aus Helsingborg gekommen. Die anderen sechs Geschwister hielten sich an anderen Orten auf. Katinka stand zwischen den anderen Bediensteten; sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, dann umarmte sie ihn stürmisch und gab ihm einen Kuss mitten auf die Silbernase.

Alle lachten. Tycho war selig. Der Magister hatte ihm offensichtlich nicht wirklich etwas anhaben können! Er hätte Katinka im Überschwang der Wiedersehensfreude und seiner eigenen Verwirrung gern gefragt, ob sie mit ihm schlafen wolle, aber die junge Köchin war schon wieder in ihrer Küche verschwunden, wo die köstlichsten Gerichte und vielleicht auch ihr Versprochener auf sie warteten.

Der Vater ließ seinem Sohn Zeit, auszupacken und sich an den Gedanken zu gewöhnen, wieder daheim zu sein. Otte von Brahe war nicht nur Offizier, sondern auch taktvoll. Beim Essen am Abend gab es noch Gelegenheit genug, um zu besprechen, was zu besprechen war.

Schloss Knutstorp lag idyllisch an einem See, ein von Türmchen gekrönter, ausladender Vierseitenhof aus rotem Klinker mit Nebengebäuden zwischen Wiesen und Wäldern. Tycho schaute aus dem Fenster über das vertraute Anwesen und beschloss, vor dem Abendessen noch einen Spaziergang zu machen. Er nahm Kulle mit, einen treuen Terrier, der sich noch mehr freute als alle anderen, ihn zu sehen.

An diesen Tagen vor dem Julfest lag die Natur in Wartestellung. Alles war gefroren, der See mit einer stumpfen weißen Fläche überzogen. Tycho ließ Kulle über das Eis schlittern und amüsierte sich über dessen Rutschpartien. Ein stilleres Land als dieses hier gibt es nicht, dachte er. Er musste an Rostock denken, an das Leben, das er dort ein Jahr lang geführt hatte. Es war eine laute, schnelllebige Zeit gewesen, ein sorgloses und aufregendes Leben. Er hatte es genossen. Aber jetzt war er froh, hier zu sein.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Sie gehörte zweifellos Katinka. Tycho drehte sich um. Das Mädchen rannte ihm nach. Sollte sie nicht in der Küche stehen? War etwas passiert? Er erblickte ihren hastigen Atem als weißen Hauch.

Als sie ihn eingeholt hatte, flog sie ihm um den Hals. Er spürte die Wärme ihres jungen Körpers, der weich und zutraulich war. Verwirrt von den plötzlichen Gefühlen, die ihn übermannten, sagte er: »He, nicht so stürmisch! Du bringst uns ja beide um!«

»Tycho, ich freue mich so sehr, dass du am Leben und wieder zurück bist.«

»Das merke ich, Katinka.«

»Ich habe dich vermisst. Vorhin konnte ich es dir nicht sagen. Aber jetzt wollte ich es nachholen. Du sollst wissen, dass ich dich gern habe. Aber jetzt muss ich wieder zurück.«

»Warte noch! Was soll das heißen, dass du mich gern hast? Wie gern?«

»Sehr gern … zum Fressen gern!«

Sie rannte davon.

»Warte, Katinka! Lass mich nicht allein auf diesem verdammten See! Ich erfriere!«

Schnell war das Mädchen nur noch ein dunkler Punkt in der Winterlandschaft mit ihrem Raureif, ihrem Schnee, der erfrorenen Luft. Tycho machte ebenfalls kehrt und ging langsam zurück. Er rief Kulle und sah zu, wie der Terrier einen Stock apportierte. Seltsames Mädchen, ging es ihm durch den Kopf. Entweder ist sie kokett und spielt mit mir, oder sie meint es ernst. Und was dann? Sie war eine Küchenmagd!

Aber war das nicht egal?

Sie war ein süßes Mädchen, ein warmherziger Mensch. Das allein zählte.

Knutstorp lag in der weißen Stille des immer stärkeren Schneefalls. Zum Abendessen hatte der Vater, dessen Familie zu den höchsten Adelskreisen des Landes gehörte, einige Gäste von Stand eingeladen, die Tycho nur zum Teil kannte. Während des Essens warf ihm Katinka, die mit den anderen Bediensteten die Schüsseln auftrug, vertrauliche Blicke zu. Als sie ihm einen Teil vom gesottenen Peterfisch auf den Teller legte, beugte sie sich so weit vor, dass er ihren schneeweißen Busen bis hin zur rosigen Spitze sehen konnte. Zumindest bildete Tycho sich das ein. Ihn schwindelte.

Verlegen beugte er sich über seinen Teller und stopfte sich den wohlschmeckenden Fisch in den Mund. Das Leben ist sonderbar, dachte er. Die Dinge des Lebens, Tragik und Süße, liegen so eng beieinander. Man muss aufpassen, dass man sie auseinander halten kann.

In seine Gedanken hinein fragte sein Vater: »Nun sag schon, wie es zu diesem Händel gekommen ist, mein Sohn.«

Tycho hob den Kopf und begriff, dass der Vater von Manderup Parsbjerg sprach. Er riss sich von Katinkas Anblick los, den er noch vor dem inneren Auge hatte.

Er kaute und schluckte. Dann antwortete er: »Ach, es ist eine alte Geschichte. Und eine unerfreuliche.«

»Erzähle sie deiner Mutter und mir.«

»Ich habe es nie erwähnt. Es ist zu aberwitzig. Der Magister ist ein schlichter Junge vom Lande. Er hat sich die Berechtigung zum Studium der Jurisprudenz über einen späteren Eintritt in ein Kloster erworben. Nun hasst er alle Adligen, die ein solches Recht schon als Kind in die Wiege gelegt bekommen.«

»Unsinn! Das kann doch gar nicht sein! Dann müsste er doch gegen jeden Mann von Stand kämpfen!«

»Nein. Er hasst nur mich. Ich habe es gewagt, seine Freundin anzuschauen, und er dachte, ich wollte sie wegnehmen. Das war vor zwei Jahren. Seitdem rennt ist er hinter mir her, den Kopf voller Rachegedanken. Und als er vor zwei Monaten nach Rostock kam, legte er sich sofort wieder mit mir an.«

»Einen solchen Mann muss man dingfest machen! Wozu haben wir unsere Gesetze! Alle Unruhestifter sind sofort in Gewahrsam zu nehmen.«

Otte von Brahe sprach im Brustton der Überzeugung. Und alle Anwesenden pflichteten ihm bei.

Doch eine solch plumpe Zustimmung war Tycho unangenehm. Denn tief in seinem Innern hatte er gespürt, dass der Magister von etwas angetrieben wurde, das seine Berechtigung hatte. Tycho wusste nur nicht genau, wie er es nennen sollte.

»Ich hoffe, ich begegne ihm nie mehr«, sagte Tycho. »Er ist ein phantastischer Mensch, ein Kämpfer, dem sein eigenes Leben nichts zu gelten scheint. Man kann Angst vor solchen Menschen bekommen.«

»Er soll es nur nicht wagen, sich noch einmal an dich heranzumachen!« Katinka sprach schnell und warf einen besorgten Blick auf Tycho. Sie erntete einen strengen Blick des Geheimrats, denn Bediensteten war es nicht gestattet, sich in die Gespräche der Gesellschaft einzumischen.

»Und wie ist das mit diesem Stern, den du zu sehen glaubtest?«, warf Pastor Henrik Brockam ein, der an der Längsseite des Tisches neben Valkendorf saß, dem Stadthalter von Kopenhagen. »Er soll in dem Moment geboren worden sein, als dieser Mensch dich verletzte.«

Tycho zögerte. »Nun ja. Ich sah etwas am Himmel vorüberziehen. Etwas Langgestrecktes. Wie ein Zeichen, das mir galt. Und diesen Moment nutzte der Magister aus.«

»Ein Zeichen!«, sagte Mutter Beata Bille, wie immer leise, als befürchtete sie, die anderen zu stören. »Wie bei der Geburt unseres Herrn Jesu in Bethlehem, die sich in ein paar Tagen jährt!«

»Nun mal langsam, Frau!«, entgegnete Otte. »Es war nur etwas Helles.«

»Nein, es war mehr. Vor allem war es keine Einbildung. Genauso wenig wie diese Sonnenfinsternis, von der alle außer mir wussten. Es sah wie ein Stern aus, der entsteht und nun seine Reise am Himmelszelt beginnt.«

Ein Mann mischte sich ein, dem ein runder Hut mit drei Kordeln auf dem Kopf saß. »Nun«, sagte der Astronom Jasper Borg bedeutsam, »das kann durchaus sein. Denn die Sterne, die wir am Himmel sehen, sind ja nicht immer da. Sie kommen und gehen sozusagen. Das haben uns schon die alten Völker aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris gelehrt. Von ihnen haben wir die Kenntnis von den Tierkreiszeichen und den Sternbildern. Wenn wir auch nicht wissen, wie wir verlässlich damit umgehen können. Denn welche Gesetzmäßigkeiten stecken dahinter?«

»Das sollten die Astronomen wissen!«, warf der Pastor ein. »Und vor allem sollten sie durchaus vorsichtig sein mit zu kühnen Behauptungen! Sterne kommen und gehen? Das ist wohl Unsinn! Unser Herr hat sie am Anfang der Schöpfung eingesetzt, Stern für Stern an seinem angestammten Ort, und dort befinden sie sich noch heute.«

Der Astronom runzelte die Stirn und wollte heftig antworten. Doch Beata Bille hob die Hände. »Wollen wir nicht lieber dem nächsten Gang zusprechen? Denn jetzt folgt Elchzunge in Wacholder, die Spezialität Katinkas. Nicht wahr, mein Kind?«

Bei Tisch ertönte ein allgemeines, lang gezogenes: »Mmm …« Katinka ging hinaus, um das Angekündigte zu holen.

Währenddessen versuchte Tycho, das soeben Gehörte zu verstehen. Er war Jurastudent, und die Paragrafen kamen ihm zwar manchmal auch so vor, als zögen sie kreuz und quer durch den Himmel seines Kopfes, und auch sie kamen und gingen, doch sie waren immerhin verlässlich und stets gleich lautend. Die Sache mit den Sternen war etwas ganz anderes. Das verstand niemand so richtig. Auch nicht die Astronomen, die so klug taten. Der Mensch war schlicht zu dumm, um diese Dinge zu verstehen.

»Warum kann es nicht sein, dass ein Stern geboren wird, Herr Pastor?«, fragte er. »Ist denn die Lebensdauer von Sternen unbegrenzt?«

»Natürlich! Sonst müssten sie ja auch sterben! Es gibt kein Anfang und kein Ende für etwas, das der Herrgott schuf!«

»Und der Mensch?«

»Ja, lebt er etwa nach dem leiblichen Tod nicht in Gestalt seiner Seele im Himmel weiter?«

Tycho kam ein Gedanke. »Sicher. Aber kann es nicht sein, dass auch ein Stern seine Gestalt verändert? Dass er geboren wird und stirbt und dann irgendwie verändert und anderswo weiterlebt?«

»Und stirbt? Ein Stern stirbt? Ich glaube, mein lieber Junge, mit Eurer Nase ist Euch auch der Verstand abhanden gekommen!«

Des Pastors Gesicht war rot angelaufen, und Tycho erkannte, dass er zu weit gegangen war. Im Haus seiner glaubensstrengen Eltern waren solche Töne nicht angemessen. Und schon blickte sein Vater ihn äußerst missbilligend an, während seine Mutter ihm verängstigte Blicke zuwarf.

Tycho gab dennoch nicht auf. »Man sagt uns, die Sonne existiert seit undenklichen Zeiten. Und ihre Kraft wird für eine weitere unvorstellbare Zeitspanne reichen. Und die Sterne? Sind sie nicht auch Sonnen?«

»Wer weiß das schon!«

Der Astronom mischte sich ein. »Der Junge hat durchaus Recht, Herr Pastor. Man kann die Sterne als Sonnen ansehen, denn sie leuchten ja von innen heraus wie die Sonne. Ihre Leuchtkraft scheinen sie tatsächlich aus sich selbst zu gewinnen. Und einige von ihnen verschwenden sich schon vor der Zeit und gehen zugrunde. Das wissen wir, die wir Augen und Ohren haben, aus der nächtlichen Beobachtung.«

Tycho war hingerissen. »Dann heißt das, Sterne können auch sterben? Sonnen können auch sterben? Meine Cassiopeia könnte auch eine Sonne gewesen sein, die gerade stirbt?«

»Wenn die Verschwender unter den Sternen ihre Kraft vergeudet haben, dann explodieren sie wie … wie Schwarzpulver, an das Feuer gelegt wird.«

»Genau so sah die Erscheinung aus, die ich am Morgen des Duells gesehen habe!«, meinte Tycho. »So hell war noch kein Stern. Es ist ein großartiger Gedanke, sich vorzustellen, ein Stern sei eine Art Lebewesen, das bei der Geburt Schmerzen hat und bei seinem Tod noch einmal für kurze Zeit heller leuchtet, bevor es verlischt. Wie nennt man das in der Medizin?«