ERIK HÄNDELER

Die Geschichte

der Zukunft

Sozialverhalten heute und der Wohlstand von morgen / Kondratieffs Globalsicht

9., vollständig bearbeitete Auflage

Impressum

Widmung

Meinem Großvater Erich Händeler,

der 1931 als Bankangestellter arbeitslos wurde und erst 1936 wieder eine feste Stelle fand, um die Familie ernähren zu können (nach dem dritten, dem Elektro-Kondratieffzyklus);

meinen Eltern,

die in den 70er Jahren unter wirtschaftlichen Turbulenzen zu leiden hatten (nach dem vierten, dem Auto-Kondratieffzyklus),

meiner Generation,

dass wir stark genug sind, den Wandel zu gestalten (jetzt nach dem Computer-Strukturzyklus);

und meinen Kindern,

dass sie in 20 Jahren eine stabile, gesunde und lebenswerte Welt vorfinden.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

9., vollständig bearbeitete Auflage 2013

ISBN 9783865064356

© 2003 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers Einbandgestaltung: Georg Design, Münster

Titelfotos: Getty Images

Autorenfoto: Manfred Remitz, Berlin

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Titelinformationen

Vorwort

Die Krise ist da

Erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit lässt in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen (Thesen über die nächsten 20 Jahre)

Kapitel 1: Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit

Was die Geschichte über ähnliche Situationen wie heute erzählt

Kapitel 2: Kondratieffs Globaltheorie und unsere Wirtschaftspolitik heute

Warum es nicht um Geld geht, sondern um Produktivität, und warum dabei kulturelle Faktoren stärker wirken als Löhne, Zinsen und Staatsausgaben

Kapitel 3: In Zukunft viel Arbeit

Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen wird zur wichtigsten Quelle der Wertschöpfung

Kapitel 4: Die neuen Spielregeln im Management

Künftig überleben nur jene Firmen am Markt, in denen Menschen produktiver mit Informationen umgehen www.neuearbeitskultur.de

Kapitel 5: Was wir uns künftig ersparen könnten

Die größten Produktivitätsreserven liegen in der Überwindung destruktiver Verhaltensweisen

Kapitel 6: Der Weg aus der Zahlungsunfähigkeit

Wie Gesundheits-Innovationen und gesunderhaltende Strukturen zum Wachstumsmotor werden

Kapitel 7: Börsenausblick

Immaterielle Faktoren entscheiden, welche Aktien künftig Gewinn abwerfen

Kapitel 8: Wissen für die Zukunft

Wie wir lernen, effizient mit Informationen umzugehen

Kapitel 9: Chancen und Perspektiven

Welche Regionen der Welt in den nächsten 20 Jahren prosperieren werden

Kapitel 10: Gelassenheit in Vielfalt

Die Chancen der Kirche(n) im ökonomischen Paradigma der Zukunft

Danksagung

Eine Einladung

Stichwortregister

»Eine wissenschaftliche Erkenntnis setzt sich nicht deshalb durch, weil die Vertreter des alten Systems überzeugt wurden, sondern weil sie aussterben und eine neue Generation an ihre Stelle tritt, die mit den neuen Gedanken aufgewachsen ist.«

Max Planck

»Eine neue Idee wird in der ersten Phase belächelt, in der zweiten Phase bekämpft, in der dritten Phase waren alle immer schon begeistert von ihr.«

Arthur Schopenhauer

»A ship in harbor is safe; but that’s not what ships are made for.«

John A. Shedd

Vorwort

Wer einen Weg aus der instabilen Lage sucht, die die Weltwirtschaft bedroht, sollte Erik Händeler lesen. Der Wirtschaftsjournalist begnügt sich nicht damit, in einer packenden Sprache den Daseinsvorsorgestaat zu kritisieren, mehr Eigenverantwortung zu fordern und von der Senkung von Steuern, Abgaben und Sozialleistungen einen neuen Wirtschaftsaufschwung zu erwarten. Er meint, notwendig sei viel mehr: eine Änderung der Lebensführung des Einzelnen, nicht zuletzt auch seines Verhaltens gegenüber anderen. Im Grunde ist Händelers Buch ein Plädoyer dafür, endlich zu begreifen, dass die Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger zu Leistung und Kooperation heute der entscheidende Faktor geworden ist, der Wohlstand schafft.

Auch die Wirtschaftswissenschaft betont ja inzwischen die Bedeutung von Human Capital für die wirtschaftliche Entwicklung. Händeler begründet aber seine zentrale These anders. Er greift auf die Theorie von den langen Wellen der Konjunktur zurück, die in den 1920er Jahren von Nikolai Kondratieff entwickelt wurde. Dies ist ein Wagnis, bei dem ihm kein Vertreter der Volkswirtschaftslehre ohne Einschränkung folgen würde – die Existenz von »langen Wellen« bestreitet niemand, aber die Realität sei zu komplex, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern seien zu groß, eine umfassende Theorie im Stile Kondratieffs sei nicht möglich. Doch die gegenwärtigen Krisensymptome passen zu Kondratieffs langen Wellen: Eine grundlegende technische Innovation wie die Mikroelektronik hat ihren 20 Jahre anhaltenden Wachstumsimpuls verloren.

Erstmals wird hier beschrieben, wie sich in den vergleichbaren Situationen der vergangenen 250 Jahre alle Lebensbereiche im Rhythmus der Kondratieffwellen entwickelten: Sozialverhalten, Technik, Kriege, Machtverschiebungen, Managementmethoden, Revolutionen und Kunst. Damit verstehen die Leser den heutigen Veränderungsdruck. Wir sind einer Rezession mit ihren innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen jedoch nicht ausgeliefert: Detailliert beschreibt Händeler, was sich in den Schulen, in der Arbeitswelt, in der Gesundheitspolitik und im gegenseitigen Umgang ändern sollte. In diesem Umbruch entstehen neue Berufe und Tätigkeiten. Es liegt an uns, ob wir auf den nächsten langen Wachstumsschub hoffen können.

Prof. Dr. Dieter Grosser, Universität München

Die Krise ist da

Erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit lässt in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen (Thesen über die nächsten 20 Jahre)

Zuerst die schlechte Nachricht: Die nächsten Jahre könnten ungemütlich werden. Die Welt wandelt sich zu langsam von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, deswegen wird die Arbeitslosigkeit global zunehmen – trotz stabiler Preise, großer Anstrengungen und niedrigster Zinsen. Das Wirtschaftswachstum sinkt, und das löst Verteilungskämpfe aus. Die Menschen sind verunsichert, weil sie die Veränderungen nicht einordnen können. Erklärungen setzen nur punktuell an. Wer glaubt, wir müssten jetzt nur auf den nächsten Aufschwung warten, um mit der Krise fertig zu werden, der wird lange warten.

Weltweit werden wir bei hoher Unterbeschäftigung auf der Stelle treten, weil der Computer unseren Wohlstand nicht mehr so spürbar erhöht wie seit den 80er Jahren: Mit ihm konnte man zum Beispiel Autos billiger und besser herstellen. Das geht uns jetzt ab: Ein noch schnellerer PC auf dem Schreibtisch macht einen Büroarbeiter nicht mehr effizienter, die Fabrikation ist längst automatisiert, für die meisten Anwendungen der breiten Masse bringt bessere Informationstechnik keinen so großen zusätzlichen Nutzen mehr wie früher. Seit den 50er Jahren hatte sie die Wirtschaft produktiver gemacht: zunächst mit den Groß- und Universalrechnern, die Datenbanken oder Gehaltsabrechnungen billiger und effizienter machten, dann die PCs, schließlich die multimediale Vernetzung mit Handy und Internet.1 Damit ist jetzt ein gigantischer Produktivitätsschub zu Ende gegangen. Er hat mit seinen vielen Anwendungen die Wirtschaft angetrieben, alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen und für sozialen, kulturellen und politischen Wandel gesorgt.2

Das alleine ist noch keine Katastrophe: Wirtschaft entwickelt sich eben nicht gleichmäßig, sondern sie schwankt – das wissen wir aus eigener Erfahrung. Es gibt aber auch langfristige Konjunkturzyklen, die mit 40 bis 60 Jahren viel länger dauern als die Zeiträume, in denen Politiker die nächsten Wahlen planen und jeder Einzelne von uns seinen Werdegang. Das lässt sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch verfolgen3, vor allem aber während der letzten beiden Jahrhunderte: Grundlegende Erfindungen wie Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrifizierung oder das Auto haben den Wohlstand auf völlig neue Höhen getragen (siehe Grafik). Benannt sind diese langen Konjunkturzyklen heute nach dem Russen Nikolai Kondratieff (1892  1938), der sie 1926 anhand von statistischem Material in der Berliner Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« beschrieb4. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1919 hatte er zweieinhalb lange Wellen festgestellt und sagte einen langen Abschwung für die 20er und 30er Jahre voraus (der als Weltwirtschaftskrise auch so eintraf).

Kondratieff suchte den Grund für mehr Wohlstand in produktiveren Herstellungsverfahren: Als die Dampfkraft nach 1769 Spinnmaschinen antrieb, leisteten diese 200-mal mehr als das Spinnrad. Textilien wurden viel billiger, mehr Menschen als vorher konnten sich nun welche leisten. Dazu benötigte dieses Paradigma eine neue Infrastruktur und beschäftigte zusätzlich viele Menschen, um Kohle und Erz zu beschaffen und Waren auf Dampfschiffen in neu gegrabenen Binnenkanälen zu transportieren. Doch das, was man so zum Herstellen und Vermarkten von Gütern braucht, wächst nicht gleichmäßig mit: Irgendwann gibt es einen Produktionsfaktor, der lässt sich kurzfristig nicht mehr vermehren und wird daher so teuer, dass sich weiteres Wachstum nicht mehr lohnt: Das waren ab den 1820ern die Transportkosten. Der Transport war so aufwändig, dass er sich mit ein paar Kutschen mehr auch nicht effektiver lösen ließ. Die Produktivität stagnierte, es kam zu Massenelend und Arbeitslosigkeit.

In dieser Situation – und das war bisher nach dem Ende aller langen Aufschwünge so – wächst der zu verteilende Kuchen nicht mehr. Zwar haben alle Akteure auch weiterhin zusätzliche Bedürfnisse: der Staat in der Verwaltung und Infrastruktur, die Wirtschaft in der Investition und Ausbildung, die Bevölkerung im Konsum, für Krankenbehandlung, Altersrenten und Kindererziehung. Doch die lassen sich nicht mehr durch die langsamer hinzuwachsenden Ressourcen befriedigen, sondern nur noch, indem einem anderen Bereich Ressourcen entzogen werden. Deswegen türmten sich in der Vergangenheit während eines langen Kondratieffabschwungs die Probleme immer auf: Verteilungskämpfe, Handelskriege, Massenarbeitslosigkeit, Lohneinbußen. Stagnierende Wachstumsraten über einen längeren Zeitraum hinweg drücken die öffentliche Stimmung, erzeugen Unzufriedenheit und verschärfen die Diskussionen, nach welchen Prioritäten eine Gesellschaft ihre Ressourcen verteilen soll. Diese Depression endet erst, wenn der knappe Produktionsfaktor durch bessere Lösungen wieder verfügbar wird: Als die Eisenbahn gebaut wurde, verbilligte sie die Transportkosten derart, dass Handel und Industrie über weite Entfernungen ausgedehnt werden konnten. Die Wirtschaft boomte, wieder wurden neue Arbeitsplätze massenweise geschaffen. Das heißt: Wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, kann es nach einem langen Abschwung wieder aufwärts gehen.

Und das ist die gute Nachricht: Die Entwicklung des Computers ist nicht das Ende der Entwicklung der Menschheit. Auch heute gibt es knappe Produktionsfaktoren, die sich nicht einfach von heute auf morgen vermehren lassen und der Wirtschaft weltweit den Atem abdrücken: Jeder hat den Mangel an Energie vor Augen, der zu neuen, aber jetzt nachhaltigen Energien und Technologien führen wird. Die Öffentlichkeit nimmt jedoch kaum wahr, dass es jetzt vor allem um immaterielle Knappheiten geht. Die computerisierte Gesellschaft hat aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus flachere Strukturen in der Arbeitswelt geschaffen. Doch die Menschen, die in der Blütezeit der Industriegesellschaft groß geworden sind, haben nicht gelernt, partnerschaftlich, sachlich und zielorientiert so zusammenzuarbeiten5, zuzuhören oder sich gegenseitig so zu fördern, dass Probleme zu angemessenen Kosten gelöst werden können. Umgang und Lebensstil machen die Menschen so krank, dass sie mit den bisherigen Mitteln nicht wirksam genug geheilt werden. Erst wenn wir ein produktiveres Gesundheitssystem aufgebaut ( S. 299) und unsere Kultur der Zusammenarbeit den neuen wirtschaftlichen Anforderungen angepasst haben6, werden wir die ökonomischen Probleme bewältigen (Arbeitslosigkeit, Bildung, Rente, Krankheitskosten, Steuerausfälle – denn diese Probleme gehören alle zusammen). Wir sind der Krise daher nicht ohnmächtig ausgeliefert. Wir haben die Wahl.

Leo Nefiodow hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass der fünfte Kondratieff zu Ende gehen und ein neuer Zyklus kommen werde, der von dem Streben nach Gesundheit angetrieben werde.7 1996 gab er im eigenen Verlag sein Buch »Der Sechste Kondratieff«8 heraus, in dem er den Gesundheitszyklus ausführlich beschrieb. Ich bin damals freier Journalist geworden, um die Kondratiefftheorie, deren Originaltexte ich vorher durchgearbeitet hatte (siehe Kapitel zur Kondratiefftheorie, S. 182), und ihre politischen Konsequenzen in eine breite öffentliche Diskussion zu bringen.9

Doch die bisher erreichte Aufmerksamkeit bewegt noch nicht die Politik: Informationsgesellschaft heißt nicht etwa, dass Gedanken schneller als früher verbreitet werden. Sondern dass es im Gegenteil immer mühsamer wird, in dieser gigantischen Flut ewig wiedergekäuter veralteter Ideen den besseren Argumenten Gehör zu verschaffen. Zwar haben viele die Theorie der langen Konjunkturzyklen aufgegriffen, dann aber nur fragmentarisch als Steinbruch für ihre persönlichen Zwecke. Nach Hunderten Presseartikeln und Vorträgen sehe ich noch nicht, dass die politische Diskussion darauf eingeht. Dabei haben wir jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Die vergangenen Bundestagswahlkämpfe drehten sich immer noch lediglich darum, ob Steuern erhöht oder gesenkt werden sollten, ob die Regierung Schulden machen solle oder nicht. Dabei geht es – jenseits der üblichen angebots- oder nachfrageorientierten Konzepte – in Wirklichkeit um eine ganz andere Qualität von Wirtschafts-, Bildungs-, Gesundheits-, ja Gesellschaftspolitik.

Denn das ist das Besondere an der Kondratiefftheorie: Wirtschaft ist nicht nur ein ökonomischer, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang.10 Wenn eine grundlegende Erfindung die Wirtschaft über viele Jahre hinweg antreibt, dann berührt sie alle Bereiche des Lebens. Denn es gibt neue Spielregeln und Erfolgsmuster dafür, wie man Wohlstand schafft; die neue grundlegende Erfindung verändert die Art, wie sich eine Gesellschaft organisiert – schließlich wollen die Menschen die neue Basisinnovation optimal nutzen. Dazu gehören eine neue Infrastruktur, neue Bildungsinhalte, neue Schwerpunkte in Forschung und Entwicklung, neue Führungs- und Organisationskonzepte in den Unternehmen. In der Vergangenheit war das immer so: Jene Volkswirtschaften, die sich auf die neuen Spielregeln und Erfolgsmuster am besten einstellten, konnten mit ihrer technischen Spitzenposition in den neuen Wachstumsbranchen genug Arbeitsplätze schaffen, gute Sozialleistungen anbieten und große Armeen finanzieren. Die Engländer sind also im 19. Jahrhundert nicht deswegen reich und mächtig, weil die Zinsen niedrig, Löhne, Staatsausgaben oder Geldmenge hoch oder niedrig sind (so die zweitrangigen, wenn nicht sogar irrelevanten Themen der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte, siehe Kapitel zur Wirtschaftspolitik, S. 182), sondern weil sie zuerst mit der Dampfmaschine, dann mit der Eisenbahn eben viel produktiver sind als jene Volkswirtschaften, die das Tuch noch per Hand weben und sich mit einem Eselskarren über morastige Feldwege quälen.

Weil Großbritannien nach 1890 an den Erfolgsmustern von Kohle und Dampf festhält, sich nicht an die neuen Anforderungen des dritten Kondratieffs anpasst (elektrischer Strom löst Boom des Stahls und der Chemie aus) und sich ab dem Zweiten Weltkrieg nicht schnell genug auf den vierten Kondratieff einstellt (Petrochemie, Auto), wird es von den USA und Deutschland überholt (siehe Geschichtskapitel, S. 29). Bis zum Ölschock 1973 wächst die Wirtschaft mit allem, was mit billiger Erdölenergie zu tun hat – durch das Auto samt Infrastruktur von der Fahrschule bis hin zur Autobahnraststätte. Auch die Sowjetunion ist damals dank ihrer riesigen Energiereserven in der Lage, Großmacht zu sein – und zerfällt, als Macht von Faktoren abhängig wird, die sie mit ihren starren Strukturen nicht bewältigen kann. Nach einer vergleichsweise kurzen Krisenzeit mit Weltuntergangsszenarien (»Grenzen des Wachstums«) trägt die Informationstechnik das Wirtschaftswachstum. Vor allem die USA und Japan nutzen die neue Basisinnovation. In Europa verhindern zunächst starke Vorbehalte (»Jobkiller Computer«, »Die verkabelte Gesellschaft«) ihre Diffusion. Deswegen fielen die Europäer seit den 70er Jahren in der Produktivität vergleichsweise zurück und verloren im 5. Kondratieff viele Arbeitsplätze. Doch die Karten werden jetzt wieder neu gemischt.

Das macht die Kondratiefftheorie im Gegensatz zu den mechanistisch-monetären Denkmodellen der etablierten Wirtschaftswissenschaft so brisant: Wie stark oder schwach die Wirtschaft eines Landes prosperiert, entscheidet sich demnach an der Frage, wie sehr seine Bewohner die neuen technischen, aber eben auch sozialen, institutionellen und geistigen Erfolgsmuster verwirklichen.11 Das ist eine andere Perspektive als die klassische Vorstellung, Vollbeschäftigung pendele sich über den Marktpreis ein. Und auch der Machbarkeitswahn des Keynesianismus, über makroökonomische Gießkannengrößen wie Geldmenge und Staatsausgaben die Konjunktur global zu steuern, hat sich in der harten Marktwirklichkeit längst aufgelöst. Die tieferen Ursachen der aktuellen Krise können diese Theorien weder erfassen noch lösen ( Kapitel zur Wirtschaftswissenschaft, S. 182): Sie sind in den realen Produktionsbedingungen zu suchen.

Die Wachstumsraten der Informationstechnik gehen schon seit den 90er Jahren zurück. Der erste Schock dieses auslaufenden Paradigmas ist nach der Jahrtausendwende zu spüren. Die Schränke sind voll, der Bedarf mit langlebigen Konsumgütern gedeckt, die Lebensmittel in den Discountermärkten werden immer noch billiger, und selbst die größte Preissenkungsaktion in der Geschichte des Sommerschlussverkaufs bringt nur bescheidene Verkaufszuwächse. Die Zuversicht sinkt. Der einbrechende Werbemarkt dünnt Zeitungen und Redaktionen aus – und könnte langfristig das journalistische Niveau senken. Zeitungen streichen Beilagen oder werden von ihrem Verlag ganz eingestellt.

Wenige Jahre ist es her, dass man an das Ende aller Konjunkturzyklen und das ewige Wachstum glaubte. Nach der Jahrtausendwende befindet sich zum ersten Mal seit den frühen 70er Jahren die gesamte industrialisierte Welt in einem synchronen Abschwung. Alles legt den Rückwärtsgang ein: Welthandel, Tourismus, Transport. Das Attentat vom 11. September 2001 auf das World Trade Center ist oft nicht der Auslöser, sondern nur eine günstige Gelegenheit für Manager, unangenehme Anpassungen an die gesunkene Nachfrage durchzuziehen.

Dass eine große Rezession bevorstehen könnte, darüber können auch die nach den Einbrüchen wieder gestiegenen Aktienkurse und Immobilienpreise nicht hinwegtäuschen, die durch künstlich niedrige US-Zinsen angefacht wurden: Befeuert vom Aufholprozess der Schwellenländer ist das Durchatmen nur kurz. Weil es am Ende des fünften Kondratieffs nicht mehr genug gibt, wofür es sich lohnt, rentabel zu investieren, geht das Geld in die Spekulation. Die Weltbank warnt im Dezember 2006, der Weltwirtschaft drohe eine Rezession, wenn die Immobilienblase in den USA noch schneller platzt als erwartet und ausländische Investoren auch wegen des großen Handelsbilanzdefizits der USA das Vertrauen in den Dollar verlören. Kurzzeitig erreicht der Ölpreis im Sommer 2008 fast 150 Dollar pro Fass, Aktien bleiben übertrieben hoch, Immobilienpreise klettern immer weiter (weil auch Leute einen Kredit für den Hauskauf bekommen, die ihn sich nicht leisten können) – bis diese Blase ab 2007 leicht abrutscht. Ende 2008 beschleunigt sich der Absturz: Zuerst sinken die Hauspreise, viele Kredite für US-Immobilien sind nicht mehr gedeckt, Banken brechen zusammen, der Konsum geht zurück, der Autoabsatz bricht weltweit ein. Es ist dieselbe Geschichte wie 1929, eben ein Kondratieffabschwung. Mit einem Kredit auf den Wert der Währung und einer unglaublich hohen Neuverschuldung stabilisieren die Industrieländer die Konjunktur, die instabil bleibt, was – was die Fallhöhe nur noch weiter vergrößert. In den guten Jahren waren Schulden kein Problem gewesen. Sie ließen sich ja durch die ständig hinzuwachsenden Ressourcen leicht tragen. Sobald die aber ausblieben, wurden die Schuldzinsen unbezahlbar – das ist der Hintergrund für die Schuldenkrise im südlichen Europa, die es als erstes trifft.

Den eindeutigsten Beweis für die Stagnation lieferte der Kosmetik-Konzern Esteé Lauder beim Platzen der New-Economy-Blase: Die Frauen kaufen Lippenstift, was das Zeug hält. Nach dem September 2001 verkauft der Kosmetikkonzern doppelt so viel Lippenstifte wie sonst. Warum das ein Indikator ist? Wenn Frauen kein Geld für Kleider oder neue Schuhe ausgeben wollen oder können, dann doch wenigstens für einen Lippenstift. Damit haben sie das Gefühl, sich etwas gegönnt zu haben. Je roter der Stift, desto tiefer die Krise – und das knallige Rot ist zurzeit der Renner. Das bestätigen auch die historischen Daten aus den 1920er Jahren.12 Die Lippenstift-Konzerne geben daher in schlechten Zeiten deutlich mehr Geld für Werbung aus: Im Finanzkrisenjahr 2008 waren es um 25 Prozent mehr als 2007.

Die Strukturkrise ist längst da. Die Frage ist nur, wie lange die Stagnation anhalten wird, und wo es gelingt, die Strukturen des nächsten Zyklus zu errichten. Und dabei sollten wir aus der Geschichte lernen: Die tiefen Depressionen der Vergangenheit, als sich das Potenzial der jeweiligen Basisinnovation abgeschwächt hatte, hätten so nicht sein müssen. Die Produktivität stagnierte vor allem deshalb, weil die Gesellschaften zu lange an den vorherigen Strukturen festhielten und sich gegen die neue Basisinnovation so lange wehrten, bis der Leidensdruck zu groß wurde. Die Kondratiefftheorie kann zwar Wachstumsmärkte identifizieren anhand dessen, was an Material oder Kompetenzen knapp geworden ist, aber sie kann nichts darüber aussagen, ob es ausreichend Pioniere geben wird, die ihrer Gesellschaft helfen, ein neues Paradigma zum laufen zu bringen.

Thesen über die nahe Zukunft

Die meisten von uns kennen nur Zeiten, in denen es immer aufwärts geht – die Krise nach dem Ölschock 1973 war nicht so tief, weil der Computer bald stark genug war, als Wachstumslokomotive die Wirtschaft zu tragen. Diese Erfahrung fehlt uns: Wir würden jetzt eine schmerzvolle und kostspielige Zeit vor uns haben, wenn wir nicht aus Einsicht, sondern erst durch den Leidensdruck des fünften Kondratieffabschwungs dazu gezwungen würden, produktiver mit uns, mit anderen und mit Informationen umzugehen. Deswegen sollten wir uns deutlich vor Augen führen, womit frühere Generationen der vergangenen 200 Jahre in den krisenhaft langen Kondratieffabschwüngen zu kämpfen hatten (siehe ausführlich im Geschichtskapitel, S. 29) – wir werden jetzt mit denselben Problemen konfrontiert:

Verteilungskämpfe: Verteilen ist einfach, solange es jedes Jahr mehr zu verteilen gibt. Die Frage, wie die eingenommenen Steuern und Sozialabgaben ausgegeben werden sollen, wird jedoch zum Kampf, wenn nicht mehr, sondern nur noch weniger als bisher verteilt werden kann. Die demokratische Große Koalition der Weimarer Republik zerbricht nach dem dritten Kondratieff 1930 im Streit über eine höhere Arbeitslosenversicherung ( S. 109), die sozialliberale Koalition 1982 an der Neuverschuldung des Bundes ( S. 142), und auch Bismarck trägt sich 1880/​81 mit Staatsstreichsplänen, weil der Reichstag seine Steuer- und Haushaltsvorstellungen nicht genehmigt ( S. 111). Wir erleben diese Verteilungskämpfe zunehmend über die Sozialversicherungen, in der Rente und in den Krankenkassen, aber auch beim Aushandeln von Löhnen. Daran könnte sich die Parteienlandschaft zersplittern wie einst in den 1920er Jahren. Regierungen und Parlamentarier werden sich in den nächsten Jahren ebenso verschärfte Verteilungskämpfe liefern – hoffentlich haben sie dabei die historische Situation der vergangenen Kondratieffabschwünge vor Augen. Denn ausgerechnet dann, wenn es weniger zu verteilen gibt, kommt es darauf an, möglichst viele Ressourcen für neue, produktive Investitionen zu mobilisieren. Zu leisten ist das nur durch einen überproportionalen Konsumverzicht.

Handelskriege: Wenn die Märkte stagnieren, weil sich die Unternehmer weltweit den Gewinn gegenseitig herunterkonkurrieren, während gleichzeitig die bisher hohen Produktivitätssteigerungen ausbleiben, dann reagieren sie zu allen Zeiten gleich: Sie üben immer mehr Druck auf ihre Landespolitiker aus, den heimischen Markt gegen ausländische Waren mit Importzöllen zu verschließen. Aus der liberalen Wirtschaftspolitik Bismarcks wurde so eine nationalkonservative Schutzzollpolitik ( S. 73), die gegenseitigen Zollmauern nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigten die Depression 1929/​33 ( S. 96), mit Handelsbarrieren wie etwa technischen Normvorschriften machten sich die Europäer in den 70er Jahren das Leben gegenseitig schwer und verschleppten die wirtschaftliche Einigung Europas ( S. 134).

Das alles ist nicht Vergangenheit, sondern schon wieder Gegenwart. 2001 kommen rund 150 Länder der Welthandelsorganisation WTO in Doha im Emirat Katar zusammen, um Handelsschranken weltweit abzubauen: Die Industrieländer wollen ihre Zölle für Agrarerzeugnisse aus den Entwicklungsländern senken, die Entwicklungsländer ihre Zölle für Industriegüter aus den reichen Ländern. Es geht darum, ob die reichen Länder ihren Wohlstand erhalten und die armen Länder dennoch aufholen können. Alle sind bereit, sich ein wenig zu bewegen, außer den USA: Die USA subventionieren ihre Agrarprodukte und fordern die Abschaffung von Agrarzöllen (was die Länder auf der Südhalbkugel betrifft), um Weizen und Reis leichter verkaufen zu können. Indien und China wollen hohe Zölle, um ihre nicht subventionierte Landwirtschaft zu unterstützen. An dieser Frage scheitert im Sommer 2008 die Welthandelsrunde samt aller bisher ausgehandelten Vereinbarungen über Maschinen, Schuhe und Textilien. Der Streit zeigt, dass die USA und Indien kein Abkommen schließen wollten, weil es die anderen Handelsmauern beschädigt, die sie selbst errichtet haben. Bis November 2010 verzeichnet die WTO 172 neue Abschottungsmaßnahmen innerhalb der G-20-Staaten seit Ausbruch der Krise. Auch das verdeutlicht, wie der Kondratieffzyklus umgekippt ist. Denn im Abschwung drängt man besonders rücksichtslos auf die Märkte im Ausland, das sich mit Handelsschranken wehrt, während im langen Aufschwung der eigenen Markt kaum befriedigt werden kann und arbeitslose Farmer aufnehmen würde.

Dazu kommen weitere Handelskriege zwischen der EU und den USA. Die EU lehnt das mit Hormonen behandelte Fleisch der USA ab, die dafür die Zölle auf französischen Roquefort-Käse verdreifachen. Weil die US-Stahlindustrie mit hohen Zöllen geschützt wurde, hatte sie es nicht nötig, in neue, bessere Verfahren zu investieren. Dadurch hinkt sie hinterher, muss durch noch höhere Mauern vor Konkurrenz bewahrt werden. Versteckte Exportsubventionen, für die die USA von der Welthandelsorganisation (WTO) verurteilt wurde, haben sie nicht zurückgenommen – die Europäer verhängten aus Angst vor weiteren Gegenmaßnahmen nicht die in dem gewonnenen Prozess erlaubten Zölle. Und endet die Ausschreibung für ein neues Tankflugzeug mit einem Großauftrag für Europäer, wird das Projekt zurückgezogen und mit veränderten Angaben neu ausgeschrieben, sodass der heimische Hersteller Boeing den Auftrag bekommt. Die USA schotten sich immer häufiger ab. Es ist erst wenige Jahre her, dass mächtige US-Senatoren ankündigten, die USA würde aus der WTO austreten, sollte ihr Land öfter in WTO-Streitigkeiten unterliegen (was ein fragwürdiges Licht auf das Rechtsverständnis mancher Akteure wirft: Gilt das Recht des Gesetzes oder das Recht des Stärkeren?). Auch über einen niedrigeren Wechselkurs werden diese Handelskonflikte ausgetragen, um den eigenen Export zu stärken. Die USA verhalten sich dabei so, wie sie es seit Monaten China vorwerfen: Durch das Drucken von Geld (denn nichts anderes ist das Kaufen von Staatsanleihen der US-Notenbank Fed) versuchen sie, ihre Währung künstlich niedrig zu halten. Allein die Ankündigung der Fed, unter Umständen noch mehr Dollar in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, reichte aus, um einen steilen Anstieg des Euro-Kurses auszulösen. Die japanische Notenbank intervenierte massiv, die Schweizer ebenso. Der brasilianische Finanzminister Guido Mantega erzeugte Unruhe, als er die Selbstverständlichkeit aussprach, ein »internationaler Währungskrieg« sei ausgebrochen. Wie schon in den 20er-Jahren hilft das niemandem, weil alle nachziehen.

Gesellschaftspolitisches Klima: Wer einen immer größeren Teil seiner Lebensenergie darauf verwenden muss, seinen Lebensunterhalt gerade noch so zu verdienen, der hat keine Kraft mehr übrig für Experimente und eigene Sehnsüchte. Er signalisiert schon durch seine Kleidung, dass er sich beflissentlich einordnet. Denn bei schlechter Konjunktur kann es den Job kosten, aufzufallen. Anpassung ist mehr denn je die Norm. Der Dresscode signalisiert: Ich funktioniere. Frauen tragen im Büro wieder mehr einen Hosenanzug oder ein klassisches Kostüm – das vermittelt die nötige Distanz und steht für Souveränität. Die Zeit der großen Freiheiten ist vorbei. Wenn das freie Spiel der Kräfte nicht mehr funktioniert und sich die Schönwetterpolitiker an den Problemen verschleißen, die sich ständig noch höher auftürmen, dann ruft das Volk nach der eisernen Faust und der starken Hand. Das gesellschaftliche Klima wird immer konservativer (im negativen Sinne von: eigene Machtstrukturen erhalten auf Kosten gesamtwirtschaftlicher Effizienz; vorrangig eigene Interessen verfolgen, selbst wenn dies das berechtigte Interesse anderer verletzt).

In der Kunst dominieren konservative Stile wie Biedermeier oder der Historismus. Das war – in unterschiedlicher Intensität – in jedem der bisherigen Kondratieffabschwünge so, ob bei Fürst Metternich, dem Reichskanzler Bismarck, der Machtergreifung der Nazis oder der konservativen Wende zu Beginn der 80er Jahre. In Zeiten knapper Gewinne und sinkender Reallöhne vergeht den meisten die Lust, Neues auszuprobieren. Zu dumm: Ausgerechnet in diesen Zeiten sind gerade unkonventionelle Pioniere gefragt, die innovative Produktion, Handel und Verhaltensweisen umsetzen; die sich über »das war schon immer so« und »das haben wir noch nie so gemacht« hinwegsetzen. Doch solche seltenen Menschen sind in der Regel nicht status-, sondern so sachorientiert, dass sie sich nicht lange mit Formalkram aufhalten – was es ihnen in konservativen formalen Strukturen so schwer macht, den neuen Wohlstand voranzubringen.

Arbeitslosigkeit: Je besser die Geschäfte der Unternehmer in einem langen Kondratieffaufschwung florieren, umso besser ist die Verhandlungsposition der Arbeiter – und umso erfolgreicher ist ihr Streik, wie etwa in den Gründerjahren um 1870 ( S. 63) oder in den 1960er/​frühen 70er Jahren ( S. 134). Die Unternehmer geben nach, denn sie brauchen jeden, den sie kriegen können, und sie können die höheren Löhne ja auch gut bezahlen: Ein neues grundlegendes Innovationsnetz hilft ihnen, etwas viel besser und vor allem mit weniger Aufwand herzustellen. Sie weiten ihre Produktion aus, weil der Markt ihre immer günstigeren und qualitativ besseren Waren aufsaugt. Doch wenn im langen Abschwung die Produktivität stagniert und die Kosten nicht mehr sinken, während die erzielten Preise am Markt wie immer leicht sinken und die Gewinne dahinschmelzen, dann produzieren die Unternehmer weniger – sie wollen schließlich nicht draufzahlen.

Wer weniger produziert, benötigt dafür weniger Arbeit und entlässt einen Teil seiner Beschäftigten; der Rest macht unter schlechteren Bedingungen und geringeren Löhnen als vorher weiter. Auch wenn sie sich dagegen wehren: Im langen Abschwung müssen sich die einfachen Menschen nach langen Streiks und Arbeitskämpfen geschlagen geben und für weniger Lohn arbeiten, wie etwa in den 20er Jahren ( S. 96). Es ist immer derselbe Mechanismus: Im ersten Kondratieffabschwung nach 1815 setzten Handwerker wieder die (vorher zur Zeit der Napoleonischen Kriege längst abgeschafften) Zünfte durch, um vom Wettbewerb der anderen (Arbeitslosen) verschont zu sein ( S. 50). Die Unternehmer geben den Druck der überlegenen britischen Konkurrenz an die Arbeiter weiter, indem sie wenig zahlen. Heute verschlechtert sich die Position der Beschäftigten durch Zeitarbeit, Flexibilisierung und Outsourcen. Sie werden je nach Bedarf tageweise dazugeholt und zum Beispiel nach Stunden anstatt wie bisher nach Tagessätzen (schlechter) bezahlt. Die Reallöhne werden so lange stagnieren oder sinken, bis wir durch unser Verhalten die gesamtwirtschaftliche Informationsproduktivität erhöht haben.

Unternehmer: Stellen Sie sich vor, Sie sind Unternehmer – Ihre Produktion ist technisch ausgereift und optimal durchorganisiert. In den letzten beiden Jahrzehnten haben Sie durch technische Verbesserungen ständig billiger und besser produzieren können und deswegen Ihren Ausstoß ausgeweitet. Was jetzt noch verbessert wird, ist im Wesentlichen nur noch die Verlängerung des Bestehenden. Investitionen amortisieren sich deshalb nicht mehr so schnell, weswegen Sie weniger investieren oder Neuanschaffungen hinauszögern. Der Marktpreis, den Sie für Ihre Waren erzielen, ist aber fest oder sinkt sogar etwas, weil sich die Unternehmer immer gegenseitig hauchdünn unterbieten, um sich Kunden abzuwerben. Weniger Einnahmen – obwohl es ab jetzt an besseren Herstellungsverfahren fehlt, welche die Kosten senken – stellen Sie vor ein Problem: Sie müssen Gewinn erwirtschaften. Denn wenn Sie keinen Gewinn machen, zahlen Sie drauf, zehren Ihr Betriebsvermögen oder sogar Ihr privates Kapital auf. Doch der Markt drückt Ihren Gewinn gegen null, die Situation wird immer verzweifelter. Was können Sie tun, um Ihre Firma zu erhalten?

Während im langen Aufschwung zahlreiche neue kleine Firmen gegründet werden, sind die langen Kondratieffabschwünge immer eine Zeit der Branchenkonzentration und Unternehmenszusammenschlüsse. Die vielen Kleinen werden geschluckt, gehen in Konkurs und überlassen ihre Kunden dem Konkurrenten. Oder sie fusionieren zu mächtigeren Einheiten – in der Hoffnung auf Synergien. Pure Größe soll Fixkosten wie Verwaltung einsparen. Die möglichen Folgen sind Konzerne und Branchenkartelle, die ihre Preise absprechen und sie so dem Käufer diktieren – wie in den 20er Jahren ( S. 70). Die Unternehmenskonzentration geht heute quer durch alle Branchen, von den Bierbrauern bis zu den Banken: »wettbewerbsfähiger werden«, »Kostendruck nimmt zu«, »Geschäftsvolumina bündeln«– so lauten die Wortfetzen, die man auf Pressekonferenzen zu hören bekommt. Doch weltweit kommen die Fusionen ins Trudeln. Managementprobleme, Streit über Führungsstil, unterschiedliche Unternehmenskulturen fressen mehr Ressourcen auf, als Synergieeffekte bringen. Denn eine Fusion bedeutet auch immer, dass Mitarbeiter früher unabhängiger Firmen ein neues Informationsnetzwerk knüpfen müssen – das erzeugt Reibungsverluste, die teurer sein können als das, was durch höhere Massenproduktion und niedrigere Fixkosten eingespart wird.

Und selbst wenn das neue Gebilde produktiver fertigt als die zwei kleineren Firmen zuvor: Eine Fusion verschiebt nur die Probleme sinkender Gewinne, die in einem langen Abschwung auftreten. Die Firmen konkurrieren immer mehr um Absatzmärkte statt um Produktionsfaktoren. Wenn die Fixkosten an Maschinen, Fabrikhallen und Verwaltung groß sind, werden Unternehmer die Flucht nach vorne in die Massenproduktion auf Halde antreten, damit der Preis pro Stück geringer wird, sie ihre Waren günstiger verkaufen und daher mehr absetzen können. Doch auch diese Rechnung geht im Kondratieffabschwung nicht auf: 1929 produzierten die Unternehmer Schuhe auf Halde, 1974 Autos. Das Ergebnis ist heute vielleicht nicht mehr bekannt, denn wieder weichen die Firmen auf den Kampf um Marktanteile aus und liefern sich Rabattschlachten mit Schleuderpreisen, anstatt produktiver zu werden oder Neues zu probieren.

Worum sich die Standortdebatte drehen sollte

Der Markt ist aber kein statisches Nullsummenspiel, in dem der, der mehr bekommt, dem anderen etwas wegnimmt; unser Wohlstand ist kein festgelegter Kuchen, auf dessen Verteilung wir uns nun mehr oder weniger gütlich einigen müssen. Wir haben bei höherer Qualität langfristig mehr zu verteilen, wenn wir diesen virtuellen Kuchen vergrößern – in erster Linie, indem wir produktiver werden. Dem werden jetzt viele widersprechen: Die Öffentlichkeit registriert eine Produktivitätssteigerung lediglich als Rationalisierung. So hält sich dort hartnäckig das Gerücht, wir hätten deshalb so hohe Arbeitslosigkeit, weil wir so produktiv geworden sind. Es nährt sich durch Bücher und Vortragsabende über das »Ende der Arbeit«, ob uns nun die Arbeit ausgehe oder dass der unbezahlten Bürgerarbeit die Zukunft gehöre usw.

Was stimmt nun: Haben wir so viele Arbeitslose, weil wir zu produktiv geworden sind, oder ist es umgekehrt so, dass wir gesamtgesellschaftlich nicht ausreichend produktiver geworden sind? Stellen Sie sich dazu das Leben vor sechs Generationen vor. Zu Beginn der Industriellen Revolution arbeiteten über 80 Prozent unserer Vorfahren in der Landwirtschaft. Wenn das so wäre, dass steigende Produktivität Arbeitslosigkeit erzeugt, dann müssten heute fast 80 Prozent derer, die da auf der Strasse herumlaufen, ohne Erwerbsarbeit sein. Das ist, wie wir wissen, nicht der Fall. Seit dem Jahr 1800 ist der Anteil derer, die in der Landwirtschaft tätig sind, stetig gesunken. Sie wurde so produktiv, dass immer mehr Menschen in die Industrie abwandern konnten. Ihr Anteil an allen Erwerbstätigen stieg bis zur besten Ludwig-Erhard-Zeit um 1960 auf die Hälfte an – seitdem sinkt er stark. Die Industrie wurde so effizient, dass immer mehr Menschen Dienstleistungen übernehmen konnten. Das Gegenteil ist also richtig: Die Wirtschaft wächst bei sogar zunehmender Beschäftigung, nur weil wir ausreichend produktiver werden. Und neue Arbeitsplätze entstehen nur dort, wo sie am produktivsten sind.

Die wichtigste Frage für Politik und Unternehmensführung ist daher: Was können wir tun, um den Kuchen zu vergrößern? Wo sind die Kostengrenzen, die limitierenden Faktoren, die das Wachstum jetzt behindern? Wie machen wir sie produktiver? Der künftig erfolgreichste Weg, Kosten langfristig zu senken, ist nicht mehr, eine bessere Maschine zu kaufen oder Leute zu entlassen, sondern dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter produktiver mit Information umgehen ( Management-Kapitel, S. 248).

Denn Informationsgesellschaft ist weit mehr als eine Fortsetzung der alten Industriegesellschaft mit Computern. In den Generationen unserer Eltern und Großeltern standen die meisten Menschen noch in der Fabrik und haben geschraubt, gefräst, montiert, haben mit ihren Händen die reale materielle Welt bearbeitet; nur ganz wenige haben geplant, organisiert, vermarktet. Dieses Verhältnis hat sich umgedreht: In einer Welt, die ihre Wissensmenge alle drei Jahre verdoppelt, geht es nicht mehr in erster Linie um ein Mehr an Information, sondern darum, sie effizient zu verwalten, um schnell an jene Infos zu kommen, die man braucht, um ein aktuelles Problem zu lösen. Nur dort, wo Menschen Informationen sammeln, recherchieren, aufbereiten, präsentieren, vermitteln, nur noch dort entstehen neue Arbeitsplätze: der quartäre Arbeitsmarktsektor nach Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung.

Wettbewerb findet nicht mehr vor allem über den Preis, sondern über Qualität und Zeitvorsprung statt, also über den Umgang mit Information statt. Produktlebenszyklen haben sich dramatisch verkürzt. Geld verdient häufig nur noch, wer als Erster auf den Markt kommt. Während es im Industriezeitalter darum ging, mit Rohstoffen und Energie effizient umzugehen und die Produktivität von Maschinen zu steigern, hängen Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung erstmals vom effizienten Umgang mit Information ab: von Informationsflüssen zwischen Menschen und im Menschen, von Fortschritten im Menschlichen13: Firmen, in denen derjenige als starker Mitarbeiter gilt, der sich auf Kosten anderer profiliert, werden am Markt nicht bestehen. Wo Informationsströme gestört sind – wo Platzhirsche regieren, Meinungsverschiedenheiten zu Machtkämpfen ausarten, wo Mobbing das Klima bestimmt – stagniert die Produktivität. Keine noch so verbesserte »Hardware« wird diesen Verlust künftig noch ausgleichen können.

Das ist der Grund, warum die Standortdebatte so lahm und langweilig geführt wird: Die Akteure spüren selber, dass sie an den Ursachen vorbeireden. Denn wodurch unterscheiden sich die Regionen der Welt in Zukunft noch voneinander? Kapital kann man überall auf der Welt aufnehmen, eine Maschine weltweit einkaufen, das Wissen der Menschheit ist weltweit über das Internet zu beziehen, jeder kann seine Produkte weltweit vermarkten. Der einzige Standortfaktor, durch den sich die Regionen der Welt künftig noch voneinander unterscheiden, ist die Fähigkeit der Menschen vor Ort, mit Information umzugehen.14 Und das ist nicht nur eine intellektuelle, sondern eine soziale Fähigkeit; hier geht es um die Frage, wie gehe ich mit mir selbst und anderen um. In den Kulturen wird sie beantwortet durch die vorherrschende religiöse Ethik und das letzte Ziel, das sie dem Leben setzt. Huntington hatte also Recht mit seinem Buch, dass es zu einem »Clash of Civilizations«15 kommen werde, aber dieser Kampf der Kulturen wird nicht gegeneinander, sondern vor allem im wirtschaftlichen Wettbewerb darum ausgetragen, wie produktiv die Mitglieder einer Gesellschaft mit Informationen umgehen ( Kapitel über die Weltmächte von morgen, S. 389). Sie werden sich darin übertreffen müssen, wer am kooperativsten ist. Die Art, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich organisieren, das wird zum Kernproblem wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit in der Informationsgesellschaft.

Wir stehen daher als ganze Gesellschaft vor der immer drängender werdenden Aufgabe, Innenwelt-Probleme zu verringern. Doch bei dem Wort »Seele« reißt der Gesprächsfaden sofort ab: Zu viele unseriöse Seminarveranstalter bieten fragwürdige Methoden an, zu Selbstwertgefühl, Motivation und Gelassenheit zu kommen und mit Stress oder belastenden Gefühlen umzugehen – meist drehen sich diese Techniken sowieso nur um die eigene Person. Es fehlen Kriterien, »gesunde« von »ungesunden« Praktiken und Verhaltensweisen zu unterscheiden, und Personen, die damit umgehen können.

Techniken und Therapien allein können jedoch weder Sinn noch Liebe »produzieren«. Sie stoßen an ihre Grenzen. Da rücken ausgerechnet die veränderten ökonomischen Anforderungen religiöse Fragen wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten: Wie sollen wir uns in der Firma verhalten? Was ist seelische Gesundheit? Wie finde ich wieder zu meiner Ausgeglichenheit zurück (früher nannte man das »Frieden«)? Die Themen, die jetzt aufbrechen, gehören zum Erfahrungsschatz der christlichen Kirchen. Sie wurden arg gebeutelt von sozioökonomischen Paradigmen wie Materialismus und Individualismus während der vergangenen Kondratieffzyklen. Jetzt stehen die Kirchen vor einer optionsreichen Reorganisation, die sich an den Erfolgsmustern des nächsten Strukturzyklus orientiert: Die Wirtschaft benötigt nicht mehr das gehorsame und austauschbare Schäfchen der Fabrikmaschine, nicht mehr den egoistischen Selbstverwirklicher der automobilen Gesellschaft (der sich seine Glaubenswelt individuell zusammenbastelt), sondern den verantwortlichen und kooperativen Informationsarbeiter ( Kirchenkapitel, S. 438), der ein neues gruppenübergreifendes Zusammenleben verwirklicht. Das sorgt auch innerhalb der Kirchen für Zündstoff – zwischen einer früher häufigen unkooperativen Gruppenethik und einer kooperativen Spiritualität, die der Theorie der Universalethik (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) entspricht.

Angeschoben wird diese Entwicklung von den ökonomischen Notwendigkeiten. Wir leben in der Informationsgesellschaft nicht nur von der Arbeit anderer, sondern auch von ihren Ideen. Wir stehen jeden Tag vor so vielen Problemen, dass wir davon abhängig sind, dass andere darüber nachgedacht und sie gelöst haben. Knapp sind jetzt nicht mehr Arbeit, Maschinen oder Rohstoffe, sondern kooperative, umfassend gesunde Wissensarbeiter, ihre Fähigkeiten und Ideen, um Probleme zu angemessenen Kosten zu lösen. Vorausschauende Investoren werden daher in den Knappheitsfaktor Mensch investieren ( S. Börsenkapitel, S. 346). Denn wir haben zuwenig Kinder und wir bilden sie nicht gut genug für den anbrechenden Strukturzyklus aus ( Bildungskapitel, S. 362). Unsere Beziehungen in der Arbeitswelt, im Gesundheitswesen und in unseren Schulen sind nicht produktiv genug, die Familienqualität ist im Durchschnitt nicht ausreichend. Wir verschwenden zu viele Ressourcen für Destruktives16 ( Produktivitätsreserven, S. 277). Die öffentlichen Auseinandersetzungen schlagen im Kern noch immer die Schlachten der alten Industriegesellschaft, anstatt ein Gesundheitswesen aufzubauen, in dem die Akteure das Geld der Krankenkassen mit Gesunderhaltung statt mit Krankheitsreparatur verdienen und so die produktive Lebensarbeitszeit verlängern ( Gesundheitskapitel S. 299).

Noch scheuen sich die Politiker, diese Themen anzugehen. Das liegt nicht an ihnen, sondern an den Leuten, die sie wählen. Denn die meisten Menschen wollen keine echten Änderungen und keine Politiker, die ihnen reinen Wein einschenken. Deutschland braucht aber in der unruhigen Zeit während des Wechsels zweier Kondratieff-Strukturzyklen keine Stimmungs-Surfer, sondern Politiker mit festen Positionen; Denker, Redner und Motivierer in einer Person, ausgestattet mit einem weiten Blick, der über die eigene Lebensspanne mit ihrem Nutzenkalkül hinausreicht. Denn diese Welt wird sich noch drehen, wenn wir längst von ihrer Bühne abgetreten sind. Aber die Verantwortung dafür, dass das nächste Paradigma in der Gesellschaft umgesetzt wird und die Ressourcen zur Verfügung stehen, die neuen Bedürfnisse zu erschließen – die Verantwortung tragen wir heute. Auch wenn wir im Abschwung unter Konsumverzicht und erschwerten Bedingungen werden investieren müssen. Je mehr wir uns vor der Lösung der Probleme drücken und sie in die Zukunft schieben, um so schlimmer werden sie die Gesellschaft einholen.

Wie die langen Wellen in den vergangenen 200 Jahren alle Lebensbereiche – Wirtschaft, Kunst, Politik, Kriege und Technik – durchdrungen haben, das umfasst ein Drittel dieses Buches. Dennoch sollten Sie das nächste Kapitel nicht wie ein Geschichtsbuch lesen. Denn es beschreibt nur vordergründig die Vergangenheit: Zusammen mit der Gegenwart wird sie in der Zukunft präsent sein. Nach dem Höhepunkt der Industriegesellschaft wird die Wirtschaft entweder umkehren zu den Prinzipien des Lebens – oder sie wird stagnieren.17 Diese Zeilen zielen daher auf die heutige Wirtschaftsdebatte. Die früheren langen Auf- und Abschwünge erklären unsere Situation. Nach einigen harten Jahren Arbeit eröffnet sich die Vision von einer prosperierenden Gesellschaft. Und dafür lohnt es sich, zu kämpfen.