cover

Dick & Felix Francis

Schikanen

Roman

Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2008 bei
Michael Joseph, London,
erschienenen Originalausgabe: ›Silks‹
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2010 im Diogenes Verlag
Copyright © 2008 by Dick Francis
Umschlagfoto (Ausschnitt):
Copyright © Mark Guthrie

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24096 2 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60013 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Wir danken

Miles Bennett, Barrister
Guy Ladenburg, Barrister
David Whitehouse, Kronanwalt

[7] Prolog

März 2008

»Schuldig.«

Ich beobachtete den Sprecher der Jury bei der Bekanntgabe des Geschworenenspruchs. Er trug ein helles Tweedsakko über einem blauweiß gestreiften Hemd. Zu Beginn des Prozesses hatte er noch stets eine nüchtern gestreifte Krawatte umgehabt, die ihm angesichts der sehr saloppen Kleidung seiner elf Mitgeschworenen dann aber wohl doch zu steif vorkam, und jetzt trug er das Hemd mit offenem Kragen. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er grau an den Schläfen und hielt sich gerade. Vielleicht war er deshalb zu ihrem Sprecher ernannt worden. Er hatte etwas von einem pensionierten Lehrer an sich, der es gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen und in einer Klasse voll ungebärdiger Jugendlicher für Ruhe zu sorgen.

»Schuldig«, sagte er noch einmal, etwas nervös zwar, aber mit fester, tiefer Stimme. Sein Blick ruhte einzig auf dem Richter in Talar und Perücke, der ein wenig erhöht zu seiner Linken saß. Nicht ein einziges Mal sah er zu dem jungen Mann auf der Anklagebank hinüber, der ebenfalls etwas erhöht, aber rechts von ihm saß. Wir waren in Saal 3 am Old Bailey, einem der alten viktorianischen Gerichtssäle des Central Criminal Court, erbaut zu einer Zeit, als man bei Übeltätern noch auf Einschüchterung und bei [8] Unbescholtenen auf Abschreckung setzte. Bei aller formellen Strenge war es jedoch ein kleiner Saal, nicht größer als ein geräumiges Wohnzimmer. Der Richter oben in seiner langen Bank beherrschte den Raum und thronte über den anderen Beteiligten – dem Angeklagten, den Anwälten und Geschworenen –, die so eng beieinandersaßen, dass sie sich kaum bewegen konnten, ohne sich zu berühren, doch das vermieden sie nach Möglichkeit.

Insgesamt wiederholte der lehrerhafte Sprecher achtmal dasselbe Wort, bevor er sich mit einem Seufzer spürbarer Erleichterung darüber, dass die Sache ausgestanden war, wieder hinsetzte.

Die Jury hatte den jungen Mann in allen acht Anklagepunkten für schuldig befunden: Körperverletzung in vier Fällen, gefährliche Körperverletzung in drei Fällen und ein Mordversuch.

Es überraschte mich kaum. Sogar ich als der Verteidiger des jungen Mannes war von seiner Schuld überzeugt.

Warum hatte ich dann die schönste Zeit des Jahres im Old Bailey herumgehockt und versucht, einen Kerl, der es nicht verdiente, vor einem ziemlich langen Aufenthalt hinter Schloss und Riegel zu bewahren?

Des Geldes wegen, nehme ich an. Dabei wäre ich wegen der Renntage viel lieber in Cheltenham gewesen. Zumal ich geplant hatte, an diesem Nachmittag meinen zwölfjährigen braunen Wallach im Foxhunters Chase, dem »Gold Cup der Amateure«, zu reiten.

Die britische Justiz geht seit fünfhundert Jahren davon aus, dass Menschen unschuldig sind, bis ihre Schuld erwiesen ist. Deshalb braucht der Angeklagte nicht seine Unschuld[9]  nachzuweisen, sondern sich lediglich gegen Anschuldigungen zu wehren, Anschuldigungen, die erst anerkannt werden, wenn kein berechtigter Zweifel mehr an ihrer Richtigkeit besteht. Der Angeklagte wird je nach Titel als Mister, Doctor oder Sir, wenn nicht als Hochwürden, Euer Gnaden oder Euer Ehren angeredet. Sprechen die Geschworenen ihn aber schuldig, fallen diese hübschen Unterscheidungen sofort weg, und der Angeklagte wird zum »Täter«. Statt um höfliche Wahrheitsfindung und Aufdeckung der relevanten Fakten geht es nunmehr um Strafe und Vergeltung für nachgewiesene Vergehen.

Noch ehe der Geschworenensprecher richtig Platz genommen hatte, erhob sich auch schon der Staatsanwalt, um das Gericht über die Vorstrafen des Täters in Kenntnis zu setzen. Das waren nicht wenige. Bereits viermal war er wegen Gewalttätigkeit verurteilt worden, allein zweimal wegen gefährlicher Körperverletzung. Zweimal hatte der junge Mann dafür in einer Jugendstrafanstalt gesessen.

Ich beobachtete, wie die Geschworenen die Neuigkeit aufnahmen. Fast eine Woche lang hatten sie sich vor der Abgabe ihres Urteils beraten. Jetzt waren einige von ihnen sichtlich entsetzt über den zutage tretenden wahren Charakter des elegant gekleideten Dreiundzwanzigjährigen auf der Anklagebank, der aussah, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Konnte mir jemand verraten, was ich hier machte? Zum x-ten Mal fragte ich mich, warum ich einen so hoffnungslosen Fall übernommen hatte. Ich kannte die Antwort. Weil der Freund eines Freundes der Eltern des jungen Mannes mich dazu gedrängt hatte. Weil alle mich bekniet hatten,[10]  seinen Fall zu übernehmen, mir versichert hatten, er sei unschuldig, den gegen ihn erhobenen Vorwürfen liege eine Verwechslung zugrunde. Und auch, wie gesagt, weil sie anständig zahlten.

Ich fand jedoch schnell heraus, dass der einzige Irrtum hier in dem unerschütterlichen Glauben der Eltern lag, ihr Goldjunge könne unmöglich mit einem Baseballschläger auf eine ganze Familie losgegangen sein. Das einzige Motiv für den abscheulichen Überfall bestand darin, dass sich der Familienvater bei der Polizei beschwert hatte, der junge Mann benutze die Straße vor ihrem Haus allnächtlich bis um zwei oder drei Uhr früh als Dragster-Rennpiste.

Alles, was ich über meinen Klienten herausgefunden hatte, bestätigte mir nur immer wieder, dass es ein Fehler gewesen war, den Fall anzunehmen. Seine Schuld lag für mich so klar auf der Hand, dass ich dachte, der Prozess würde im Nu vorbei sein und ich könnte leichten Herzens mit dicker Brieftasche nach Cheltenham zum Pferderennen fahren. Dass die Geschworenen aus unerfindlichen Gründen so lange gebraucht hatten, um zu dem einzig möglichen Schluss zu gelangen, war leider nicht zu ändern gewesen.

Ich hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, mich krankzumelden und nach Cheltenham abzusetzen, aber der Richter war selbst turfbegeistert und hatte mir am Vorabend noch sein Mitgefühl dafür ausgesprochen, dass ich am Foxhunters nicht würde teilnehmen können. Hätte ich Krankheit vorgeschützt und wäre in dem Rennen gestartet, hätte er mich wahrscheinlich wegen Missachtung zu sich bestellt, und damit hätte ich alle Hoffnung, einmal Kronanwalt zu werden, begraben können.

[11] »Es findet ja auch nächstes Jahr statt«, hatte der Richter mit einem irritierenden Lächeln gesagt.

Aber zum Foxhunters konnte man sich nicht einfach anmelden, man musste sich durch Rennsiege dafür qualifizieren, und das war mir nach zehnjährigem Bemühen jetzt zum ersten Mal gelungen. Nächstes Jahr wären Pferd und Reiter wieder ein Jahr älter, und wir standen beide nicht mehr in der Blüte unserer Jugend. Vielleicht kam die Chance für uns nie wieder.

Ich sah auf meine Armbanduhr. In einer halben Stunde ging das Rennen los. Mein Pferd würde zwar starten, aber mit einem anderen Jockey, und der Gedanke daran war mir zuwider. Wie oft hatte ich das Rennen im Kopf durchgespielt, und jetzt nahm jemand anderes meinen Platz ein. Ich hätte in diesem Augenblick in der Jockeystube in Cheltenham die leichte Reithose, den bunten Seidendress überziehen sollen, statt in Nadelstreifen, Talar und Perücke hier zu sitzen, weit weg vom jubelnden Publikum, deprimiert und ohne einen Funken freudiger Erregung.

»Mr. Mason«, riss mich der Richter aus meiner Träumerei. »Ich habe gefragt, ob die Verteidigung vor der Urteilsverkündung noch etwas sagen möchte.«

»Nein, Euer Ehren.« Ich erhob mich halb und setzte mich wieder hin. Soweit ich sah, gab es keine mildernden Umstände, auf die ich das Gericht hätte hinweisen können. Weder ließ sich behaupten, der junge Mann stamme aus ärmlichen oder zerrütteten Verhältnissen, noch ließ sein Verhalten sich auf irgendeinen erlittenen Missbrauch zurückführen. Im Gegenteil. Seine glücklich verheirateten Eltern liebten ihn, und er hatte eine namhafte englische Privatschule besucht, [12] jedenfalls bis er mit siebzehn hinausgeworfen wurde, weil er die jüngeren Mitschüler schikaniert und den Lehrer, der ihn dafür zur Rechenschaft zog, mit einer zerbrochenen Flasche bedroht hatte.

»Der Angeklagte erhebe sich«, rief der Gerichtsschreiber.

Fast aufreizend langsam erhob sich der junge Mann. Auch ich stand auf.

»Julian Trent«, sprach ihn der Richter an, »dieses Gericht hat Sie des gewaltsamen Überfalls auf eine unschuldige Familie für schuldig befunden und legt Ihnen einen Mordversuch zur Last. Sie haben keine Reue für Ihre Taten gezeigt, und ich betrachte Sie als eine Gefahr für die Gesellschaft. Da Sie bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten verurteilt worden sind, hat es den Anschein, als könnten oder wollten Sie aus Ihren Fehlern nicht lernen. Ich bin mir bewusst, dass ich die Pflicht habe, die Öffentlichkeit zu schützen. Daher verurteile ich Sie zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Nach unten mit ihm.«

Achselzuckend ließ sich Julian Trent von zwei stämmigen Vollzugsbeamten in den Zellentrakt hinunterbringen. Im Publikum brach seine Mutter in Tränen aus und wurde von Mr. Trent, der nie von ihrer Seite wich, beschwichtigt. Ich fragte mich, ob sie nach der achttägigen Gerichtsverhandlung und den erdrückenden Beweisen immer noch so ein rosiges Bild von ihrem Sprössling hatten.

Im Stillen hatte ich gehofft, der Richter würde Julian lebenslang einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Denn spätestens nach der Hälfte der ihm zugemessenen acht Jahre würde er wieder auf freiem Fuß sein und selbstherrlich mit [13] seinem Baseballschläger irgendeinen armen Tropf, der ihm über den Weg lief, bedrohen und verprügeln.

Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass er lange vor Ablauf der vier Jahre schon wieder draußen sein könnte und dass ich der Betroffene sein würde.

[15] Teil 1

Mord, Festnahme, U-Haft

November 2008

[17] 1

»Hallo, Perry. Wie geht’s?«

»Danke, gut«, sagte ich und winkte. Eigentlich heiße ich nicht Perry, sondern Geoffrey, aber ich erwarte schon lange nicht mehr, dass die anderen Jockeys in der Umkleide mich so nennen. Wenn man Anwalt ist, zumal Prozessanwalt, und mit Nachnamen Mason heißt, drängt sich »Perry« einfach auf. So wie jedem White in der Armee unweigerlich der Spitzname »Chalky« verpasst wird.

Insgeheim freute es mich, dass die Profis, mit denen ich gelegentlich in Berührung kam, mich überhaupt ansprachen. Sie waren tagaus, tagein zusammen und gingen auf den vielen Rennbahnen im Land ihrem Broterwerb nach, während ich gerade mal auf ein Dutzend Rennen im Jahr kam, fast alle auf meinem eigenen Pferd. Ein »Amateurrennreiter«, so die amtliche Bezeichnung, wurde allenfalls geduldet, solange er wusste, wo er hingehörte, nämlich auf den Platz an der Tür der Jockeystube, wo es immer am kältesten war und die Kleider und Handtücher regelmäßig platt getreten wurden, wenn ein Funktionär die Jockeys hinaus zum Führring rief.

In einigen Jockeystuben gab es noch den alten Holzofen in der Ecke, der Wärme spendete, wenn es draußen nass und eisig kalt war. Wehe dem forschen jungen Amateur, der sich zu nah am Ofen postierte, und wenn er noch so früh auf die [18] Rennbahn gekommen war. Solche Annehmlichkeiten musste man sich verdienen, und sie waren das Vorrecht der gestandenen Profis.

»Irgendwelche heißen Fälle, Perry?«, rief eine Stimme von hinten.

Ich blickte auf. Steve Mitchell gehörte zur Elite; seit einigen Jahren kämpfte er immer wieder mit zwei anderen Hindernisjockeys um den Meistertitel. Noch war er der regierende Champion, da er im vergangenen Jahr mehr Rennen gewonnen hatte als jeder andere, und in der laufenden Saison lag er an dritter Stelle.

»Nur das Übliche«, sagte ich. »Entführung, Vergewaltigung und Mord.«

»Wie verkraften Sie das bloß?«

»Es ist mein Job«, erwiderte ich. »Und Ihrer ist gefährlicher.«

»Kann sein. Aber von Ihnen hängt das Leben anderer Leute ab.« Er zog seine Rennhose an.

»Na ja, Mörder werden ja nicht mehr gehängt«, meinte ich. Was ich bei einigen sogar bedauerte.

»Das nicht«, sagte Steve. »Aber wenn Sie pfuschen, muss Ihr Klient vielleicht jahrelang ins Gefängnis.«

»Oder er kommt ins Gefängnis, weil er’s verdient, egal, was ich tue«, meinte ich.

»Heißt das dann, Sie haben versagt?« Er knöpfte seine quergestreifte Jacke zu.

Ich lachte. »Wenn ich gewinne, rechne ich mir das zumindest zum Teil als Verdienst an. Wenn ich verliere, sage ich, die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf.«

»Ich nicht«, gab er lachend zurück und breitete die Arme [19] aus. »Wenn ich gewinne, ist das allein mein Verdienst, und wenn ich verliere, lag’s am Pferd.«

»Oder am Trainer«, warf ein anderer ein.

Alle lachten. Fünf- oder sechsmal am Tag, jeden Tag, riskierten diese Männer Kopf und Kragen, wenn sie eine halbe Tonne Pferd mit fünfzig Stundenkilometern über anderthalb Meter hohe Hindernisse jagten – ohne Sicherheitsgurt, ohne Airbag und mit herzlich wenig Schutz.

»Es sei denn, du hast gezockt.« Die Stimme hatte einen starken schottischen Akzent. Das Lachen hörte sofort auf. Scot Barlow war mit Sicherheit nicht der Beliebteste im Kreis der Jockeys. Seine Bemerkung hätte genauso für Lacher sorgen können wie die anderen Sprüche, doch aus dem Mund von Scot Barlow klang sie bedrohlich.

Wie Steve Mitchell gehörte auch Barlow zu den großen Drei, und er hatte dieses Jahr im Rennen um den Titel mit ein, zwei Siegen die Nase vorn. Unbeliebt bei den Kollegen war er aber nicht wegen seines Erfolgs, sondern weil er – zu Recht oder zu Unrecht – in dem Ruf stand, andere Jockeys bei den Behörden zu verpfeifen, wenn sie gegen das Reglement verstießen. Reno Clemens, der Dritte der großen Drei, hatte mich einmal vor ihm gewarnt: »Barlow petzt, also passen Sie auf, dass er Ihre Wettscheine nicht zu sehen kriegt.«

Berufsrennreiter durften nicht auf Pferde wetten, das stand ausdrücklich in ihrer Jockeylizenz. Manche wetteten trotzdem, und ich wusste aus zuverlässiger Quelle, dass Scot Barlow dabei ertappt worden war, wie er die Taschen seiner Mitstreiter nach den unerlaubten Scheinen durchsucht hatte, um sie der Rennleitung vorzulegen. Natürlich wusste ich das nur vom Hörensagen, und vor Gericht hätte es vielleicht [20] keine Beweiskraft gehabt, aber die andern sahen es als absolut erwiesen an.

Mir als Amateur waren Wetten seltsamerweise erlaubt, und ich wettete regelmäßig, wenn auch meistens nur auf meinen eigenen Sieg. Optimist musste man sein.

Wir waren in der Jockeystube von Sandown Park in Surrey, und ich ritt im fünften Lauf, einem 4800-Meter-Jagdrennen für Amateure. In einem attraktiven Rennprogramm wie diesen Samstag starten zu dürfen war ein seltenes Vergnügen für mich. Besonders an Wochenenden fanden kaum Amateurrennen statt, und auf die musste ich mich in der Regel beschränken, da ich unbarmherzig zunahm, wie es bei einem Mann von einssiebzig, der auf die sechsunddreißig zuging, nun mal zu erwarten war. Ich gab mir alle Mühe, mein Gewicht zu halten, und hungerte mich regelmäßig durch den Winter, um bei den Amateurrenntagen im Frühjahr antreten zu können. Wenigstens lagen bei den für meinesgleichen reservierten Rennen die Gewichte höher als in den gemischten, wo ich gegen die Profis hätte antreten müssen. Dreiundsechzig Kilo würde ich nie wieder wiegen, und das niedrigste Renngewicht, mit dem ich wirklich rechnen konnte, lag jetzt bei dreiundsiebzig, da zu meinem schwerer werdenden Körper noch Kleidung, Rennstiefel und Sattel hinzukamen.

Die Jockeys für das dritte Rennen wurden aufgerufen, die Hauptattraktion des Nachmittags, und wie üblich drängte mal wieder niemand zur Tür. Jockeys sind generell sehr abergläubisch, und viele versprechen sich Glück davon, wenn sie als Letzte rausgehen; andere möchten einfach nicht länger als nötig mit dem Trainer und dem Besitzer des Pferdes, das [21] sie reiten, im Führring plaudern müssen. Manche putzen sogar noch zum x-ten Mal ihre Rennbrille, nachdem schon das Signal zum Aufsitzen ertönt ist, und treiben den Funktionären den Schweiß auf die Stirn. Ich hatte meine Siebensachen vom Boden aufgerafft und hielt sie schützend an mich gedrückt, bis auch der Letzte der Trödelbande sich hinausbequemt hatte, dann zog ich die Tweedjacke über meinen Renndress und ging raus, um mir auf dem Bildschirm im Waageraum den Wettkampf anzusehen.

Die blauweißen Streifen schossen mit einem Kopf Vorsprung in einem knappen Einlauf als Erste durchs Ziel. Steve Mitchell hatte mit einem weiteren Sieg den Abstand zu Barlow und Clemens verringert.

Ich kehrte ins Allerheiligste der Jockeys zurück, um mich mental auf das fünfte Rennen vorzubereiten. Denn ich hatte festgestellt, dass es für mich immer wichtiger wurde, mich in die richtige Verfassung zu bringen. Ohne gezielte Vorbereitung lief das Ganze irgendwie an mir vorbei und war zu Ende, bevor ich überhaupt erfasst hatte, dass es losging. Da meine Renntage gezählt waren, wollte ich keinen davon vergeuden. Ich setzte mich auf die Bank, die um den ganzen Raum lief, und ging noch einmal im Kopf durch, wo ich sein wollte, wenn die Bänder hochschnellten, wo ich sein würde, wenn wir das erste Hindernis anritten, und wo ich zu sein hoffte, wenn wir uns dem letzten näherten. Vor meinem geistigen Auge gewann ich natürlich das Rennen und erlebte, wie meine Anspannung in Freude umschlug. Und ganz unerwartet käme das nicht. Mein brauner Wallach und ich gingen nämlich als Favorit ins Rennen. Dafür sorgte schon sein Foxhunterssieg beim Cheltenham Festival im März.

[22] Steve Mitchell kam in die Umkleide getänzelt, und das Grinsen auf seinem Gesicht war breiter als die achtspurige Fernstraße draußen.

»Wie fanden Sie das, Perry?«, fragte er und riss mich mit einem Klaps auf den Rücken aus meiner Versenkung. »Einfach Zucker. Und Barlow, dem Bastard, hab ich’s gezeigt. Sein Gesicht hätten Sie mal sehen sollen. Stinksauer war der.« Er lachte schallend. »Geschieht ihm verdammt noch mal recht.«

»Wieso denn?«, fragte ich arglos.

Er blieb einen Augenblick stehen und sah mich verwundert an. »Weil er ein Bastard ist.« Dann ging er zu seinem Kleiderhaken.

»Ist er das wirklich?«, warf ich ihm nach.

Er drehte sich zu mir um. »Was denn?«

»Ein Bastard.«

Es war still.

»Komischer Typ sind Sie, Perry«, meinte er gereizt. »Was liegt daran, ob er tatsächlich unehelich geboren ist oder nicht?«

Langsam wünschte ich, ich hätte mich auf das Gespräch nicht eingelassen. Mit den Anwaltsreflexen machte man sich nicht unbedingt Freunde.

»Glückwunsch jedenfalls«, sagte ich zu ihm, doch dafür war es schon zu spät – mit einer wegwerfenden Handbewegung wandte er mir wieder den Rücken zu.

»Jockeys!« Ein Funktionär steckte den Kopf zur Tür des Umkleideraums herein und rief uns – neunzehn Amateure – hinaus zum Führring.

[23] Mein Herz schlug einen Tick schneller. Das war immer so. Adrenalin pulste mir durch die Adern, ich sprang förmlich auf und hechtete zum Ausgang. Kein abergläubisches Trödeln, um als Letzter vor die Tür zu kommen, ich wollte jede Sekunde auskosten. Mir war, als berührten meine Füße kaum den Boden.

Ich liebte dieses Gefühl. Deshalb nahm ich so gern an Rennen teil. Das war mein Kick, meine Droge. Eine, die vielleicht gefährlicher war als Kokain und vor allem teurer, aber ich brauchte sie, kam nicht ohne sie aus, war süchtig danach. Gedanken an schwere Stürze, Lebensgefahr, Knochenbrüche und Prellungen wurden in der Erregung und der Freude auf das bevorstehende Rennen einfach weggeschoben. So erlebte ich es jedes Mal, daran änderten auch die Jahre und die Gewohnheit nichts. Oft sagte ich mir, dass ich die Stiefel erst dann endgültig an den Nagel hängen würde, wenn sich das Hochgefühl beim Hinausrufen der Jockeys nicht mehr einstellte.

Ich schaffte es zum Führring, ohne völlig abzuheben, und stand aufgeregt mit meinem Trainer Paul Newington auf dem kurzgemähten Gras.

Als ich mir vor rund fünfzehn Jahren mein erstes Pferd zugelegt hatte, war Paul der »kommende Mann« unter den Trainern gewesen. Jetzt wurde er als der Mann betrachtet, der sein Potential nie ganz ausgeschöpft hatte. Ursprünglich aus Yorkshire stammend, war er mit Ende zwanzig nach Südengland gekommen, weil ein großer alter Herr des Rennsports, der wegen Krankheit in Rente ging, ihn als Nachfolger haben wollte. Nicht gerade vom Erfolg verwöhnt, hatte er jetzt Mühe, sich mit seinem großen Rennstall in Great Milton östlich von Oxford über Wasser zu halten.

[24] Aber ich mochte ihn und hatte persönlich nur gute Erfahrungen mit seinen Trainingskünsten gemacht. Im Lauf der Jahre hatte er mir eine Riege von fähigen Hindernispferden besorgt, die mich fast ohne Zwischenfall Hunderte von Kilometern weit über Tausende von Hindernissen getragen hatten. Sie waren eher zuverlässig als überragend gewesen, aber so hatte ich sie mir auch gewünscht. Heil zu bleiben war mir wichtiger als siegen.

»Die Truppe solltest du schlagen«, meinte Paul und winkte lässig zu den anderen Grüppchen im Führring hin. »Er strotzt geradezu vor Energie.«

Es gefiel mir nicht, wenn von mir ein Sieg erwartet wurde. Auch vor Gericht schätzte ich die Aussichten meiner Mandanten lieber gering ein. So war ein Sieg immer eine angenehme Überraschung und eine Niederlage keine allzu große Enttäuschung.

»Hoffentlich«, antwortete ich. Meine Besorgnis nahm zu, als die Glocke ertönte und ein Funktionär das Kommando zum Aufsitzen gab.

Paul warf mich auf meinen derzeitigen Augenstern. Sandeman war mit Abstand das beste Pferd, das ich jemals besessen hatte. Paul hatte ihn als Achtjährigen mit durchwachsener Hurdler-Vergangenheit für mich gekauft. Seiner Ansicht nach war Sandeman zu groß für die Hürden und viel besser als Steepler geeignet, und damit hatte er recht behalten. Das Pferd hatte schnell gelernt, die größeren Hindernisse zu nehmen, und musste bald schon immer höhere Gewichte tragen. Bisher hatten wir zusammen acht Rennen gewonnen, und er hatte ohne mich im Sattel noch fünf weitere Siege geholt, darunter den beim Foxhunters in Cheltenham.

[25] Dies war sein erster Lauf nach der Sommerpause. Am ersten Januar würde er dreizehn sein, und somit näherte er sich dem Herbst seiner Karriere. Paul und ich hatten vor, ihn bis zum nächsten Cheltenham Festival nur noch zweimal laufen zu lassen, in der Hoffnung, dass er dann im Foxhunters noch einmal siegte.

Mein Onkel Bill hatte mich mit dem Jagdrennsport bekannt gemacht, als ich zwölf war. Onkel Bill war der jüngere Bruder meiner Mutter und noch Anfang zwanzig, als er gebeten wurde, einen Tag etwas mit mir zu unternehmen und aufzupassen, dass ich nichts anstellte. Begeistert war ich auf den Beifahrersitz seines offenen MG-Midget-Kabrios gesprungen, und auf ging’s nach West Sussex, wo wir uns im Küstenort Worthing die Zeit vertreiben sollten.

Weder ich noch seine etwas strengen Eltern ahnten, dass Onkel Bill nicht vorhatte, seinen kleinen Neffen über Worthings steil abfallenden Kieselstrand oder den eleganten viktorianischen Pier entlangzuschleifen, damit ich mir Souvenirs kaufen konnte. Stattdessen fuhr er mit mir zwanzig Kilometer weiter zur Rennbahn Fontwell Park, und meine anhaltende Leidenschaft für den Hindernissport wurde geboren.

Auf fast allen britischen Rennbahnen können sich die Zuschauer direkt an ein Hindernis stellen, um hautnah zu erleben, wie Pferde mit einem Gewicht von einer halben Tonne über und durch die straff gebundenen Reiser streichen, den Aufschlag der Hufe auf dem Turf zu hören, das Beben der Erde zu spüren und die Erregung, mitten im Rennen zu stehen. Aber in Fontwell ist der Hinderniskurs eine Acht, und man kann zwischen den Sprüngen am [26] Kreuzungspunkt hin und her laufen und bei jedem Durchgang zweimal im Zentrum des Geschehens sein, sechsmal insgesamt bei einem Rennen über 4800 Meter.

Onkel Bill und ich rannten den größten Teil des Nachmittags über das Gras von einem Hindernis zum anderen, und anschließend stand für mich fest, dass ich auch so ein mutiger junger Mann im bunten Seidendress sein wollte, der furchtlos sein Pferd antreibt, voller Zuversicht mit fünfzig Stundenkilometern durch die Luft saust und darauf vertraut, dass die spindeldürren Beine des Vollblüters unter ihm sie beide vor einer Bauchlandung auf der anderen Seite bewahren.

Der Wunsch war so stark in mir, dass ich wochenlang an nichts anderes denken konnte und meinen Onkel bat, mich zum Pferderennen mitzunehmen, wann immer ich mich von alltäglicheren Dingen wie Schule und Hausaufgaben freimachen konnte.

Ich meldete mich in einem Reitstall an und beherrschte schon bald die Kunst nicht der Dressur, was man dort lieber gesehen hätte, sondern die Kunst, in vollem Tempo über Hindernisse zu reiten. Vergebens versuchte mein Lehrer mich dazu zu bringen, aufrecht mit geraden Beinen im Sattel zu sitzen. Ich wollte über den Widerrist des Tiers gebeugt in den Bügeln stehen, wie ich es bei den Jockeys gesehen hatte.

Als ich mit siebzehn Auto fahren lernte, hatte ich ein landesweites Navigationssystem im Kopf, dessen Eckpunkte nicht die großen Städte, sondern die britischen Rennbahnen waren. So wusste ich zwar nicht unbedingt, wie man nach Birmingham, Manchester oder Leeds kam, kannte aber blind den schnellsten Weg von Cheltenham nach Bangor-on-Dee oder von Market Rasen nach Aintree.

[27] Zu der Zeit hatte ich mich bereits damit abgefunden, dass ich niemals mit Rennreiten mein Brot verdienen würde. Obwohl ich nach Kräften die Schulmahlzeiten verweigerte, wurde ich nämlich immer größer, und es war abzusehen, dass ich fürs Berufsrennreiten zu schwer werden würde. Dazu kam eine aufscheinende Begabung für Geisteswissenschaften und die Tatsache, dass meine Zukunft im Rechtswesen von meinem Vater genauestens vorausgeplant war. Er hatte entschieden, dass ich auf dieselbe Londoner Universität wie er gehen sollte, dann auf die Rechtsakademie in Guildford, um schließlich in die gleiche Anwaltskanzlei einzutreten, der er seit rund dreißig Jahren angehörte. Wie er sollte ich mein Leben damit verbringen, Eigentumsübertragungen abzuwickeln, Verfügungen und Testamente aufzusetzen und die Bande gescheiterter Ehen in den Randbezirken Südwestlondons zu lösen. Die zu erwartende Langeweile des Ganzen erfüllte mich mit Grausen.

Als ich einundzwanzig war und im dritten Jahr meines Jurastudiums in London stand, verlor meine geliebte Mutter endgültig ihren langen Kampf gegen die Leukämie. Ihr Tod kam für mich nicht überraschend, sie hatte sogar wesentlich länger gelebt, als irgendjemand in der Familie erwartet hatte, doch damals wurde mir vielleicht zum ersten Mal bewusst, wie hinfällig und vergänglich wir Menschen sind. Sie starb an ihrem neunundvierzigsten Geburtstag. Kein »Happy Birthday!«, keine Torte, kein Kerzenausblasen. Nur Verzweiflung und Tränen. Viele, viele Tränen.

Nach dieser Erfahrung nahm ich mir vor, das zu tun, was ich wirklich wollte, und nicht, was alle von mir erwarteten. Dafür fand ich das Leben auf einmal zu kurz.

[28] Meinen Abschluss machte ich zwar, weil es mir verkehrt erschien, nach so viel Zeit die Brocken hinzuwerfen, aber auf keinen Fall wollte ich ein Anwalt wie mein Vater werden. Ich zog meine Anmeldung für das Aufbaustudium an der Rechtsakademie zurück, den nächsten Schritt hin zum Anwaltsberuf, und setzte mich, sehr zum Ärger meines entgeisterten Erzeugers, mit einem mäßig erfolgreichen Trainer für Rennpferde in Verbindung, um als unbezahlter Trainerassistent und Amateurrennreiter nach Lambourn zu gehen.

»Ja und wovon willst du leben?«, hatte mein Vater empört gefragt.

»Mum hat mir doch was vermacht«, hatte ich erwidert.

»Ja, aber …«, war er herausgeplatzt. »Das war als Anzahlung für ein Haus gedacht.«

»Davon steht nichts in ihrem Testament«, hatte ich etwas taktlos geantwortet, worauf mein Vater eine Tirade über das fehlende Verantwortungsgefühl der heutigen Jugend vom Stapel ließ. Darauf wurde bei uns daheim öfter geschimpft, und ich war es gewohnt wegzuhören.

Also hatte ich im Juni meinen Abschluss gemacht, war im Juli nach Lambourn gegangen und hatte vom Erbe meiner Mutter nicht nur meine Lebenshaltungskosten bestritten, sondern mir außerdem einen siebenjährigen braunen Wallach zugelegt, mit dem ich Rennen reiten konnte, denn mir war klar gewesen, dass ich Ritte auf anderen Pferden so schnell nicht bekommen würde.

Meinem Vater sagte ich nichts davon.

Den August verwandte ich hauptsächlich darauf, mich in Form zu bringen. Jeden Morgen ritt ich mit dem Lot zum Trainingsgelände auf den Hügeln oberhalb des Dorfs, und [29] jeden Nachmittag lief ich die gleiche Strecke ohne Pferd. Mitte September sah es aus, als wären Pferd und Jockey bereit für die Rennbahn.

Rein zufällig, wenn nicht durch höhere Fügung, ritt ich Anfang Oktober in Fontwell mein erstes reguläres Rennen. Die ganze Angelegenheit huschte wie im Nebel an mir vorbei, und alles passierte auf einmal. Ich war so naiv und nervös, dass ich beinah das Auswiegen vergaß, dann den Start verpennte und eine ganze Runde kämpfen musste, um das Feld einzuholen, bevor ich am Ende aus mangelndem Stehvermögen elend unterging. Wir wurden Elfte von dreizehn, und den einen hatte ich nur hinter mir gelassen, weil er am letzten Hindernis gestürzt war. Der Trainer schien dennoch relativ zufrieden zu sein.

»Wenigstens bist du nicht runtergefallen«, hatte er auf der Heimfahrt in seinem Wagen gesagt.

Ich fasste das als Kompliment auf.

Mein Pferd und ich hatten in dem Jahr noch fünf Rennen absolviert und in jedem etwas besser abgeschnitten als im vorhergehenden; beim Jagdrennen der Amateure in Towcester in der Woche vor Weihnachten wurden wir knapp Zweite.

Bis zum März des Folgejahrs war ich in neun Jagdrennen gestartet und auch einmal gestürzt, in Stratford. Das war für mein Ego allerdings schlimmer gewesen als für meine Knochen. Mein Pferd und ich hatten weit in Front gelegen und nur noch einen Sprung vor uns gehabt, da wurde mir die Aufregung zu viel, und ich versemmelte alles, indem ich das Pferd zu einem Riesensatz aufforderte, als es gerade beschlossen hatte, einen Zwischenschritt einzulegen. Die Folge war, [30] dass wir am Hindernis hängen blieben und als trauriges Häuflein vom Boden aus zusehen mussten, wie die anderen an uns vorbei durchs Ziel rauschten.

Trotz des Unfalls und der ausbleibenden Siege machte mir die Aufregung des Wettkampfs Spaß, doch die Zeit zwischen den Rennen wurde mir ziemlich lang. Mir fehlte die geistige Anregung, die ich im Studium so genossen hatte. Und die Erbschaft meiner Mutter würde nicht ewig reichen. Es war Zeit, meine Wunschträume wegzupacken und mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber womit? Anwalt wie mein Vater wollte ich nach wie vor nicht werden, aber was konnte ich mit meinem Juradiplom sonst anfangen?

Anwalt ist nicht gleich Anwalt, hatte einer meiner Lehrer in den ersten Wochen meines Studiums verkündet. Es gibt auch plädierende Anwälte.

Für jemanden, der Solicitor – also allgemein beratender Rechtsanwalt – werden wollte oder sollte, war die Welt der Barrister – der plädierenden Anwälte bzw. Prozessanwälte – ein versiegeltes Buch. Ich hatte mich im Studium auf die Bereiche konzentriert, mit denen ich am ehesten zu tun bekommen würde: Grundstücksangelegenheiten, Familie, Arbeits- und Vertragsrecht. Strafrecht, Verteidigung und Rechtsprechung hatte ich weitgehend ausgespart.

Über den Unterschied zwischen Barrister und Solicitor hatte ich mich in der Stadtbibliothek von Hungerford informiert und herausgefunden, dass der eine aufstand und rechtete, während der andere juristische Schreibarbeit im Hintergrund erledigte. Barrister gifteten sich gegenseitig in Gerichtssälen an, während der Solicitor allein im stillen Büro Verträge und Klageschriften aufsetzte.

[31] Mit einem Mal war mir die Aussicht, ein Anwalt zu werden, der aufstand und rechtete, überaus verlockend erschienen, und voller Elan hatte ich mich um die Rückkehr zur Juristerei bemüht.

Jetzt, vierzehn Jahre später, war ich in der Welt der Rosshaarperücken, Seidentalare und Gerichtsverfahren längst zu Hause, aber im Rennreiten hatte ich den Bogen noch immer nicht raus.

»Jockeys! In die Boxen.« Der Ruf des Starters holte mich in die Gegenwart zurück. Wie gedankenlos, in so einem Moment Träumereien nachzuhängen. Konzentrier dich, ermahnte ich mich scharf.

Alle neunzehn stellten wir uns nebeneinander auf, der Starter legte den Hebel um, das Band schnellte hoch, und ab ging’s. Nicht dass man es sofort gemerkt hätte, denn offensichtlich hatte keiner richtig Lust, das Tempo zu machen. Es war ein beinah gemächlicher Auftakt, bei dem der Pulk langsam vom Schritt zum Trab überging und schließlich in einen leichten Galopp fiel.

Der Start für die viertausendachthundert Meter in Sandown liegt direkt hinter dem Bogen am Ende der Einlaufgeraden, die Pferde müssen also fast zweimal um die ganze Bahn gehen und insgesamt zweiundzwanzig Hindernisse überspringen. Das erste, das bald nach dem Start kommt, sieht harmlos aus, hat aber schon etliche Amateure und Profis kalt erwischt. Die Landestelle liegt dort tiefer als der Absprung, und durch den Höhenunterschied fallen Pferde dort gern auf die Nase. Bei dem müden Anfangstempo dieses Rennens hatte aber auch der unerfahrenste Jockey auf dem weltschlechtesten Springer Zeit, die Zügel aufzunehmen, [32] damit das Tier den Kopf oben behielt. Alle neunzehn Pferde waren also noch auf den Beinen, als das Tempo anzog und wir nach rechts auf die Gegengerade bogen, um die berühmteste Siebener-Kombination im Hindernissport anzugehen. Zwei normale Sprünge und ein Graben dicht hintereinander, nach etwas Abstand der Wassergraben und dann die berühmten Bahnschranken – drei normale Hindernisse in rascher Folge, so nah beieinander wie sonst nirgends im britischen Rennsport. Geht man gut über das erste, heißt es immer, dann knackt man sie alle, aber wer am ersten patzt, kann froh sein, wenn Pferd und Reiter heil hinten ankommen.

Viertausendachthundert Meter sind lang, besonders im Novembermatsch nach einem nassen Herbst, und keiner von uns machte den Fehler, zu früh zu schnell zu werden. Deshalb waren alle neunzehn noch dabei und dicht zusammen, als wir aus der Gegengeraden kamen, den langen Bogen zum Wassergraben nahmen und zum ersten Mal das Publikum auf der Tribüne passierten.

Was mir am meisten auffiel, als ich anfing, Rennen zu reiten, war die scheinbare Isolation, in der die Teilnehmer agierten. Tausende fiebernde Wetter mochten auf der Tribüne sitzen und ihre Tipps anfeuern, aber für die Jockeys hätten die Ränge ebenso gut menschenleer sein können. Das Trommeln der Hufe auf dem Turf, das Geräusch, das mich als Junge an jenem ersten Tag in Fontwell so fasziniert hatte, nahm mehr als alles andere die Sinne ein. Und während es für den Zuschauer auf seinem Platz kommt und geht, begleitet es natürlich die Pferde. Dazu kommen das Knallen der Zügel und der Peitsche, zusammenschlagende Hufe, die Rufe der Jockeys und das Geräusch von Huf oder [33] Pferdeleib auf Reiser und Holz, wenn die Tiere knapp über die Hindernisse wischen. All das zusammen macht ein Pferderennen laut, und von außerhalb dieser Lärmglocke bekommt man nichts mit. Kein Zuruf dringt durch, nicht ein einziger Satz des Bahnsprechers. Oft genug wissen Jockeys hinterher am wenigsten über Erfolg oder Misserfolg der anderen. Wenn es hinter ihnen passiert, ahnen sie nicht, dass der heiße Favorit gestürzt ist oder ein reiterloses Pferd den Pulk aufgemischt hat. Im Gegensatz zur Formel 1 gibt es keine Funkverbindung und keine Anzeigetafeln zu ihrer Information.

Das Tempo zog erneut merklich an, als wir die Tribüne hinter uns ließen und bergab am Start vorbeizogen. Jetzt war das Rennen wirklich in Gang.

Sandeman und ich hatten uns innen gehalten, an den kürzesten Weg, ein, zwei Längen hinter dem führenden Trio. Jetzt wurde das Pferd unmittelbar vor mir etwas müde, und ich befürchtete, ebenfalls verlangsamen zu müssen, da ich wegen der anderen neben mir nirgends hinkonnte.

»Mach Platz da«, rief ich dem Jockey vor mir zu, ohne das wirklich von ihm zu erwarten. Erstaunlicherweise ging er ein wenig nach außen, und ich schloss innen zu ihm auf.

»Danke«, rief ich ihm zu, als ich rechts neben ihm war. Ein rotbackiger junger Amateur mit großen Augen schnitt mir eine Grimasse. So war ich auch, als ich anfing, dachte ich, im Unterschied zu jetzt. Heutzutage würde ich keinem Kontrahenten mehr Platz machen, und wenn er mich den ganzen Tag anschrie. Beim Pferderennen dreht sich alles um den Sieg, und man siegt eher selten, wenn man der Konkurrenz allzu höflich begegnet. Nicht dass ich vorsätzlich [34] jemanden behindern würde, indem ich ihn schnitt, obwohl mehrere Kollegen das schon mit mir gemacht hatten. Manche Jockeys waren in der Umkleide vor und nach dem Rennen supernett und freundlich, im Wettkampf aber brutal und rücksichtslos. Es war ihr Job. Gerade Amateure sollten von Profis kein Entgegenkommen erwarten.

Zwei Pferde stürzten am nächsten Hindernis, dem mit dem Höhenunterschied. Beide Tiere kippten bei der Landung vornüber, gingen in die Knie und warfen ihre Reiter der Länge nach ins Gras. Der eine Jockey war der junge Mann, der mir innen Platz gemacht hatte. Puh, dachte ich, das war knapp. Zum Glück war er nicht direkt vor mir gestürzt. »Abgeschossen« zu werden, indem man über ein schon liegendes Pferd stolperte, war ungefähr das Dümmste, was einem passieren konnte.

Das restliche Siebzehnerfeld fiel ziemlich auseinander, als wir zum zweiten und letzten Durchgang auf die Gegengerade bogen. Sandeman hielt sich gut unter mir, und ich trieb ihn hart in den ersten der sieben Sprünge. Er flog regelrecht über die Reiser und machte gegenüber den beiden noch Führenden mindestens eine Länge gut.

»Los, Junge«, rief ich ihm zu.

Das Tempo hatte sich jetzt mächtig gesteigert, wir gingen in gestrecktem Galopp, und man hörte, dass einige hinter uns Mühe hatten mitzukommen.

»Nimm die Scheißfüße hoch!«, schrie einer sein Pferd an, als es sich mit den Hinterbeinen ins Wasser setzte.

»Sag deinem Gaul, er soll geradeaus springen!«, schrie ein anderer, als er an der ersten Bahnschranke beinah in den Fang gedrängt wurde.

[35] Als wir in den langen Einlaufbogen gingen, hatten nur noch vier von uns eine reelle Chance. Da ich nach wie vor innen war, an den weißen Plastikrails, mussten die anderen erst einmal um mich herum. Treiben, vor, treiben, vor – meine Hände und Hacken arbeiteten im Akkord, als wir auf den Wassergraben zuhielten. Sandeman lag knapp in Front, und beim nächsten Riesensatz von ihm verschwanden die Reiter hinter mir kurz aus meinem Blickfeld.

»Los, Junge«, rief ich ihm wieder zu, jetzt aber mit weniger Puste. »Los!«

Wir wurden müde, aber die anderen auch. Ein Lauf über viertausendachthundert Meter stellt das Stehvermögen schwer auf die Probe. Aber wer würde als Erster nachlassen? Ich, wollte mir scheinen. Meine erschöpften Beine konnten Sandeman nicht mehr die erforderlichen Hilfen geben, und ich brachte kaum noch die Kraft auf, ihn mit der Peitsche anzutreiben.

Beim Absprung am Vorletzten hatten wir zwar immer noch die Nase vorn, doch Sandeman stolperte über das Hindernis und kam bei der Landung fast zum Stillstand. Mist. Zwei andere Pferde überholten uns, als hätten wir den Rückwärtsgang eingeschaltet, und ich glaubte schon alles verloren. Sandeman war jedoch anderer Meinung und nahm die Verfolgung auf. Am letzten Sprung waren wir mit den anderen wieder gleichauf und überflogen es mit ihnen Seite an Seite. Obwohl die drei Pferde auf gleicher Höhe landeten, gingen die beiden anderen vor uns durchs Ziel, weil ihre Jockeys ein entschlossenes Finish ritten, während ich so müde war, dass ich mich kaum noch oben halten konnte. Unser dritter Platz war eher meiner fehlenden Ausdauer als [36] Sandeman zuzuschreiben. Offensichtlich hatte ich zu oft und zu lange in Gerichtssälen auf dem Hintern gehockt. Die viertausendachthundert Meter Schlammpiste von Sandown waren für mich etwas zu viel gewesen. Die Nervosität vor dem Start hatte sich nicht in Freude, sondern Erschöpfung verwandelt.

Auf dem Absattelplatz rutschte ich von Sandeman runter und setzte mich beinah ins Gras, so weich waren meine Knie.

»Alles in Ordnung?«, fragte mein Trainer Paul besorgt.

»Bestens.« Ich mühte mich mit den Gurten ab. »Nur ein bisschen außer Puste.«

»Du musst fitter werden«, sagte er. »Was nützt ein austrainiertes Pferd, wenn der Jockey wie ein Sack Kartoffeln draufsitzt?« Es war ein hartes Urteil, aber wahrscheinlich gerecht. Paul hatte zu viel in Sandeman investiert, um ihn verlieren zu sehen. Er schob mich sanft beiseite, löste mühelos die Schnalle und drückte mir den Sattel in die Hand.

»Tut mir leid«, murmelte ich. Gut, dass ich die Trainingsgebühren selbst zahlte.

Irgendwie schleppte ich mich zur Waage, um mich zurückwiegen zu lassen, und von dort zur Jockeystube, wo ich mich auf eine Bank fallen ließ und überlegte, ob ich nicht Schluss machen sollte. Schluss mit der Rennreiterei, bevor ich mich ernstlich verletzte. Bisher hatte ich großes Glück gehabt, nur ein paar Prellungen und Beulen plus ein Schlüsselbeinbruch in vierzehn Jahren Hindernisrennen. Wenn ich aber noch ein Jahr dabeibleiben wollte, musste ich was für meine Kondition tun, sagte ich mir, sonst war die Verletzungsgefahr zu groß. Müde lehnte ich mich gegen die cremefarbene Wand und schloss die Augen.

[37] Erst als die Jockeydiener anfingen, die Ausrüstung in ihren großen Weidenkörben zu verstauen, merkte ich, dass das letzte Rennen gelaufen war und dass ich, noch immer nicht umgezogen, so gut wie allein in der Umkleide saß.

Langsam stand ich auf, schälte mich aus der leichten Reitkleidung, griff mir mein Handtuch und ging in die Dusche.

Scot Barlow lag halb auf dem Kachelboden, den Rücken an die Wand gelehnt, und ließ sich vom Duschstrahl die Beine berieseln. Blut tropfte ihm aus dem rechten Nasenloch, und seine geschlossenen Augen waren verquollen.

»Alles in Ordnung?« Ich trat zu ihm hin und berührte ihn an der Schulter.

Er schlug ein wenig die Augen auf und sah mich an, aber sein Blick war abweisend.

»Verzieh dich«, sagte er.

Reizend, dachte ich. »Wollte doch nur helfen«, sagte ich.

»Scheißamateure«, gab er zurück. »Um unsere Existenz bringt ihr uns.«

Ich ging darüber hinweg und wusch mir die Haare.

»Hast du gehört?«, rief er mit hundert Prozent schottischem Zungenschlag. »Leute wie du bringen mich um meine Existenz. Man müsste mir was dafür geben, dass ich euch Rennen reiten lasse.«

Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass ich in einem reinen Amateurrennen gestartet war, zu dem er gar nicht zugelassen worden wäre. Aber das hätte wahrscheinlich nichts genützt, und zu einer ernsthaften Diskussion war er offensichtlich nicht aufgelegt. Ich ließ ihn reden und duschte zu Ende, wobei das warme Wasser meinen schmerzenden Muskeln ein wenig Kraft zurückgab. Barlow blieb sitzen, wo er war. [38] Seine Nase hatte aufgehört zu bluten, und das Blut war vom Wasser weggespült worden.

Ich kehrte in den Umkleideraum zurück, zog mich an und packte meine Sachen. Die Berufsrennreiter überließen es den Jockeydienern, sich um ihre Ausrüstung zu kümmern. Jeden Abend wurde ihre Reitkleidung gewaschen und getrocknet, wurden die Reitstiefel geputzt und die Sättel für den nächsten Tag gereinigt. Da ich, wenn es hochkam, nur alle vierzehn Tage ritt, brauchte ich diesen Service nicht in Anspruch zu nehmen und hatte auch kein Interesse daran. Ich konnte die Sachen mitnehmen und sie in der Waschmaschine in meiner Küche waschen.

Als ich so weit war, hatte Scot Barlow sich immer noch nicht blicken lassen. Da alle anderen nach Hause gefahren waren, sah ich noch einmal in der Dusche nach. Er saß genauso da wie vorher.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte ich. Ich nahm an, er sei im Laufe des Nachmittags gestürzt und habe das Gesicht als Bremse benutzt.

»Verzieh dich«, sagte er wieder. »Deine Hilfe brauch ich nicht. Du bist auch nicht besser als er.«

»Als wer?«, fragte ich.

»Dein blöder Freund«, sagte er.

»Welcher Freund?«, fragte ich ihn.

»Steve Mitchell, der Arsch«, sagte er. »Oder was meinst du, wer das war?« Er hielt sich die Hand ans Gesicht.

»Was?«, fragte ich verblüfft. »Steve Mitchell hat Sie so zugerichtet? Aber wieso denn?«

»Das musst du ihn schon selber fragen«, sagte er. »Und es ist auch nicht das erste Mal.«

»[39] Dann sollten Sie jemanden informieren«, meinte ich, sah aber ein, dass das bei seinem Ruf als Petze eben nicht ging.

»Red keinen Stuss«, sagte er. »Und jetzt verpiss dich wie ein braves Amateurreiterlein. Und halt bloß die Klappe.« Er wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Was tun, fragte ich mich. Sollte ich den letzten Funktionären, die noch in der Waage waren, Bescheid sagen, dass er da war, damit sie ihn nicht versehentlich einsperrten? Sollte ich jemanden von der Ersten Hilfe holen? Oder sollte ich einen Polizisten suchen und Anzeige wegen Körperverletzung erstatten?

Am Ende unternahm ich gar nichts, sondern raffte meinen Kram zusammen und fuhr nach Hause.

[40] 2

»Scheiße, ich glaub’s nicht«, sagte jemand laut im Sekretariat, als ich am Montagmorgen hereinkam.

Solche Ausdrücke hörte man in der Kanzlei eher selten und noch seltener aus dem Mund von Sir James Horley QC, Kanzleichef und daher nominell mein Vorgesetzter. Sir James stand mit einem Bogen Papier in der Hand vor den Schreibtischen.

»Was glauben Sie nicht?«, fragte ich und widerstand der Versuchung, sein Kraftwort zu wiederholen.

»Das hier«, sagte er und wedelte mit dem Blatt Papier.

Ich ging zu ihm hin und nahm es entgegen. Es war der Ausdruck einer E-Mail. PROZESS GEGEN JULIAN TRENT GEPLATZT, lautete der Betreff. Ach du Scheiße, dachte ich. Das glaubte ich allerdings auch nicht.

»Sie haben ihn im ersten Durchgang verteidigt«, sagte Sir James. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Ja«, antwortete ich. Ich erinnerte mich nur zu gut daran. »Sonnenklarer Fall. Schuldiger geht’s nicht. Wie der eine zweite Chance kriegen konnte, ist mir schleierhaft.«

»Dieser elende Anwalt«, meinte Sir James. »Und jetzt kommt er einfach so davon.« Er nahm das Blatt Papier wieder an sich und las den entscheidenden Satz vor. »Klage mangels Beweisen abgewiesen, steht hier.«

[41] Eher wegen Mangels an aussagewilligen Zeugen, dachte ich. Sie hatten Angst, zusammengeschlagen zu werden.

Ich hatte die Berufung gegen die Verurteilung von Julian Trent interessiert verfolgt, obwohl ich den kleinen Schläger nicht mehr verteidigte. Mit dem »elenden Anwalt« meinte Sir James einen Vertreter der Anklage, der zugegeben hatte, einige der Geschworenen im ersten Prozess zur Abgabe eines Schuldspruchs überredet zu haben. Drei Mitglieder der Jury hatten den Vorgang angezeigt, und alle drei hatten in der Berufungsverhandlung ausgesagt, dass sie unabhängig voneinander von ein und demselben Anwalt angesprochen worden seien. Was ihn dazu bewogen hatte, ging über meinen Verstand, denn die Beweise in dem Fall waren erdrückend gewesen. So aber blieb den Berufungsrichtern kaum etwas anderes übrig, als ein Wiederaufnahmeverfahren anzuordnen.

Den Anwalt hatte der Vorfall um seinen Job, seinen Ruf und letztlich um seine Zulassung gebracht. Ein kleiner Skandal in den Hallen des Anwaltsvereins. Wobei die Berufungsrichter immerhin so vernünftig waren, Julian bis zur Eröffnung des neuen Verfahrens in Untersuchungshaft zu belassen.

Wenn er jetzt freikam, waren seine Verurteilung und die vorgesehene lange Haftstrafe Schnee von gestern.

Ich musste daran denken, was er im März in der Zelle unter dem Gerichtssaal im Old Bailey zu mir gesagt hatte. Es war keine angenehme Erinnerung. Der Verteidiger besucht seinen Klienten zwar üblicherweise nach dem Urteil, egal wie es ausfällt, aber von einem normalen Besuch konnte hier nicht die Rede sein.

»Das zahl ich dir heim, du Waschlappen«, hatte er mich angegiftet, als ich die Zelle betrat.

[42] Ich nahm an, er gab mir die Schuld an seiner Verurteilung, weil ich mich seinem Ansinnen, den Zeugen Gewalt anzudrohen, widersetzt hatte.

»Sieh dich bloß vor«, hatte er nachgeschoben. »Eines Tages erwisch ich dich, ohne dass du weißt, wie dir geschieht.«

Bei der Erinnerung stellten sich mir die Nackenhaare auf, und ich schaute mich unwillkürlich um, als könnte er hier in der Kanzlei sein. Nach dem Urteil hatte ich ihn mit Handkuss den Vollzugsbeamten überlassen, und jetzt wünschte ich bei Gott, er wäre noch in ihrer Obhut. Im Lauf der Jahre hatten mich zwar schon mehrere meiner nicht immer umgänglichen Klienten bedroht, aber Julian Trent hatte etwas an sich, das mir wirklich Angst machte.

»Geht’s Ihnen gut?« Sir James sah mich mit leicht schräggelegtem Kopf an.

»Bestens«, antwortete ich etwas krächzig. Ich räusperte mich. »Danke der Nachfrage, Sir James.«

»Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, meinte er.