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Dick & Felix Francis

Verwettet

Roman

Aus dem Englischen von

Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe

erschien 2009 bei Michael Joseph, London,

unter dem Titel ›Even Money‹

Copyright © 2009 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 2011

im Diogenes Verlag

Umschlagfoto: Copyright © Barry Lewis/

Corbis

 

 

Der Übersetzer dankt
Herrn David Conolly-Smith, München,
für seine Erklärungen zum englischen
und deutschen Wettsystem

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24202 7 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60223 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] Für unsere

Enkelsöhne bzw. Söhne

MATTHEW

anlässlich seiner Heirat mit Anna

und

WILLIAM

zum Abschluss der

Königlichen Militärakademie Sandhurst

voller Stolz auf sie beide

 

mit Dank an

NICK BENNETT

Buchmacherassistent

MALCOLM PALMER

Coral Bookmakers

und den

Hanging Rock Racing Club

Victoria, Australien

[7] 1

Ich versank noch tiefer in meiner Depression, als das begeisterte Publikum in Ascot den nächsten haushohen Favoriten ins Ziel jubelte. Na gut, eine klinische Depression war es nicht – damit kannte ich mich aus –, aber aufs Gemüt schlug es mir trotzdem.

Wieder einmal fragte ich mich, was ich hier sollte. Eigentlich war ich noch nie gern nach Ascot gekommen, schon gar nicht an diesen fünf Tagen im Juni. Meistens war es viel zu heiß, um im Cutaway herumzustehen, oder es regnete, und ich wurde klatschnass. Mir waren meine üblichen Reviere lieber, die kleineren Rennbahnen der Midlands, wo es lockerer zuging. Aber mein Großvater, der Gründer des Familienunternehmens, hatte immer groß damit geworben, dass wir in Royal Ascot standen. Seiner Meinung nach verlieh uns das ein gewisses Ansehen, und danach hatte er schon immer gestrebt.

Wir waren Buchmacher. Parias der Rennwelt. Bei allen unbeliebt, von vielen regelrecht gehasst, auch von einer Menge Leuten, deren Lebensunterhalt vom Wetten abhing. Ich hatte im Lauf der Jahre festgestellt, dass meine Kunden niemals meine Freunde waren. Zwischen Anlegern und ihren Maklern konnte durchaus eine nicht nur geschäftliche Beziehung entstehen, aber Wetter wollten nie privat mit ihren [8] Buchmachern zu tun haben. Die meisten meiner Stammkunden wussten nicht mal, wie ich hieß, und es interessierte sie auch nicht. Nun gut, ich kannte ihre Namen meistens auch nicht. Wir waren einfach Partner in einem Geschäft, bei dem einer den andern ruinieren wollte. Eine solche Situation ist vermutlich nicht dazu angetan, gegenseitigen Respekt zu wecken.

»Zwanni auf die Sieben«, sagte ein schlanker junger Zylinderträger und hielt mir einen Geldschein hin. Ich schaute auf unserer Anzeige nach der Quote für Pferd Nummer sieben.

»Zwanzig Sieg auf die Sieben, elf zu zwo.« Damit steckte ich seinen Schein zu dem Bündel in meiner Linken.

Ein kleiner Drucker vor mir surrte und spie ein Ticket aus, das ich dem Mann reichte. Er schnappte es sich und verschwand rasch im Gedränge, als wollte er nicht beim Fraternisieren mit dem Feind gesehen werden. Statt seiner stand gleich darauf ein beleibter kleiner Herr vor mir, dessen farbenfrohe Weste einen aussichtslosen Kampf gegen seinen umfangreichen Bauch führte. Er gehörte zu meinen Royal-Ascot-Stammkunden. Ich kannte ihn lediglich als AJ und hatte keine Ahnung, wofür die Initialen standen.

»Hundert Sieg auf Silverstone«, keuchte er und hielt mir die gefalteten Scheine mit seinen Wurstfingern hin.

»Hundert auf die Zwo zu pari.« Ich nahm sein Geld und zählte nach. Wie durch Zauberei kam der nächste Wettschein aus dem kleinen Drucker, und ich händigte ihn aus. »Viel Glück, AJ«, sagte ich, ohne es ihm wirklich zu wünschen.

»Hm?«, machte er etwas überrascht.

»Viel Glück«, wiederholte ich.

»Danke«, schnaufte er und ging.

[9] In der guten alten Zeit, als die Buchmacherei noch eher eine Kunst als eine Wissenschaft war, trug ein Assistent jede abgeschlossene Wette in »das Buch« ein. Heutzutage wurde wie in vielen anderen Bereichen alles auf dem Computer festgehalten, und die Wettscheine wurden ausgedruckt.

Der Computer registrierte nicht nur sämtliche Wetten, die wir annahmen, sondern rechnete auch laufend unsere Gewinne und Verluste für jedes mögliche Rennergebnis durch. Vorbei die Zeiten, als noch das Bauchgefühl des Buchmachers darüber entschied, wann und wie die Quoten auf der schicken elektronischen Anzeigetafel geändert wurden. Jetzt entschied der Computer. Buch gemacht wurde nicht mehr nach Gefühl, sondern nach Bruchteilen.

Als ich bei meinem Großvater anfing, war ich sein »Springer« gewesen. Das hieß, wenn er hohe Wetten auf ein Pferd angenommen hatte, musste ich mit seinem Geld bei anderen Buchmachern auf ebendieses Pferd setzen, um das Risiko für ihn zu verringern. Wurde das Pferd geschlagen, verdiente er dann zwar weniger, wenn es aber siegte, verlor er nicht so viel. Auch das erledigte jetzt der Computer, indem er an den Internetbörsen Wetten anlegte und abwarf, sogar noch während des Rennens. Der Spaß und das Abenteuer waren dabei auf der Strecke geblieben.

Wie das Handy den Zeichengeber des Buchmachers überflüssig gemacht hatte, so starben jetzt langsam die Buchmacher aus, die sich etwas auf ihr Gespür zugute hielten. Und ich war mir keineswegs sicher, ob das gut für die Wetter und für den Rennsport war.

»Zwanzig Pfund, Pferd zwo«, wagte der nächste Kunde den Sprung.

[10] »Zwanzig auf die Zwo zu pari«, wiederholte ich, weniger für den Mann vor mir als für meinen Assistenten Luca Mandini, damit er die Wette in seinen Computer eingab.

Luca war mein Magier, der Internet-Zampano mit dem messerscharfen Rechnerhirn, der hinter mir stand. Seine Finger glitten über die Tastatur, und schon sprang der Wettschein aus dem Drucker.

Ohne Luca hätte ich inzwischen bestimmt aufgegeben, mich zermürben lassen von den gnadenlosen Raubrittermethoden der großen Wettbüros, die alles daransetzten, die unabhängigen kleinen Buchmacher um ihren Gewinn zu bringen. Es war das Gleiche wie im Lebensmittelhandel, wo die großen Supermärkte den kleinen Einzelhändlern das Wasser abgruben. Sie machten das nicht unbedingt mit Absicht; ihnen ging es nur immer darum, Zahlen zu schreiben, die eine gesichtslose Riege von Aktionären zufriedenstellten. Meine Firma gehörte mir allein, und ich spürte den Druck nur zu deutlich.

Tag für Tag befürchtete ich, Luca könnte von einem anderen Buchmacher weggelockt werden, von einer der großen Firmen vielleicht, die in ihrer Gier nach mehr Anteilen am Wettmarkt nichts unversucht ließen, um Leute wie mich aus dem Geschäft zu drängen.

Ich nahm den Schein aus dem Drucker und gab ihn dem Mann, der geduldig vor mir stand.

»Sind Sie Teddy Talbot?«, fragte er.

»Und wer möchte das wissen?«, fragte ich zurück, während ich nach dem nächsten Kunden Ausschau hielt.

»Ich kenne Ihren Großvater«, sagte der Mann, ohne auf meine Frage zu antworten.

[11] Mein Großvater hieß tatsächlich Teddy Talbot, und sein Name prangte immer noch über der Quotenanzeige neben mir. Genau genommen stand da TRUST TEDDY TALBOT, als könnte der um Vertrauen werbende Zusatz die Wettlustigen animieren, zu uns zu kommen statt zu unserem Nebenmann zu gehen.

»Mein Großvater ist tot«, sagte ich, während ich immer noch an ihm vorbeischaute und hoffte, er würde verschwinden. Er war schlecht fürs Geschäft.

»Oh«, sagte er. »Wann ist er denn gestorben?«

Ich sah von der Warte eines dreißig Zentimeter hohen Metallpodests auf ihn hinunter. Er hatte graue Haare, war Ende fünfzig oder Anfang sechzig und trug einen cremefarbenen Leinenanzug über einem hellblauen Hemd mit offenem Kragen. Ich beneidete ihn um die luftige Kleidung. »Hören Sie«, sagte ich. »Ich habe zu tun. Wenn Sie sich unterhalten möchten, kommen Sie bitte später noch mal – nach dem letzten Rennen. Und jetzt gehen Sie bitte zur Seite.«

»Oh«, sagte er erneut. »Entschuldigung.«

Er zog sich zurück, aber nur ein Stück weit, dann blieb er stehen und beobachtete mich. Das war mir ziemlich unangenehm.

»Die Waage ist geschlossen«, verkündete jemand über die Lautsprecher.

Eine Dame mit Strohhut kam herbei und hielt mir einen Wettschein hin. Oben quer stand, wie auf all unseren Wettscheinen, TRUST TEDDY TALBOT. Es war ein Siegticket aus dem letzten Rennen, das erste von viel zu vielen. Heutzutage muss der mögliche Wettgewinn auf dem Schein angegeben sein, also sah ich nach, zahlte ihr den Betrag aus, riss den [12] Schein durch und warf die Schnipsel in den Papierkorb zu meiner Linken. Die Transaktion lief stumm ab – Worte waren hier überflüssig.

Eine Schlange von Siegtickethaltern bildete sich vor mir.

Lucas Freundin Betsy kam und stellte sich links neben mich. Sie zahlte die Gewinne aus, von denen ich einen Teil für Wetten auf das nächste Rennen wieder entgegennahm. Luca blickte auf den Bildschirm und passte die Quoten auf unserer Anzeige den Wetten an, die ich entgegennahm, und auch denjenigen, die er über die Internet-Wettbörsen auf dem Computer hinter mir einging und ablegte. Das war eine Art Balanceakt – potentielle Gewinne und Verluste abgleichen und beides nach Möglichkeit im Rahmen halten.

Mein Nachname stand auf dem Schild, und durch meine Finger ging das Geld der Wetter, aber der eigentliche Buchmacher war bei uns Luca mit seinem Computer, der online wettete und unsere Quoten immer so auszurichten versuchte, dass sein Bildschirm unseren voraussichtlichen Gewinn mit über hundert Prozent bezifferte. Alles, was über hundert lag, die sogenannte »Overround«, stellte Gewinn dar, alles unter hundert bedeutete Verlust. Wir zielten immer auf etwa neun Prozent plus, und um dahin zu kommen, mussten die angenommenen Wetten im richtigen Verhältnis zu unseren Quoten stehen, die wir deshalb laufend anpassten. Da sich die Wetter jedoch nicht immer unseren Plänen fügten, half Luca durch Wetten und Ablegen im Internet nach.

Der Computer war zugleich unser bester Freund und unser schlimmster Feind. Wir gefielen uns in der Vorstellung, dass er unser Sklave sei, ein Sklave, der die ihm übertragenen [13] Aufgaben schneller und besser erledigte, als wir es selber konnten. Doch in Wirklichkeit war der Computer unser Herr und wir die Sklaven. Seine Analyse und die Zahlen auf dem Bildschirm bestimmten ganz klar unsere Entscheidungen. Technik statt Durchblick war jetzt der Abgott, dem wir dienten.

Der Tag nahm seinen Lauf. Über und unter dem Kragen wurde mir immer wärmer, als die Sonne durch den Wolkenschleier brach und vielgetippte, »kurz« stehende Sieger den Wettern einen tollen Tag bescherten, uns aber in die roten Zahlen drückten.

Ich musste meinen schweren Cutaway nicht unbedingt tragen, da sich unser Stand außerhalb der Royal Enclosure befand. Aber wir standen nah am Zaun, in hervorragender Position, und viele meiner Kunden trugen die begehrten Namensschilder derjenigen, die Zugang zum Allerheiligsten hatten. Außerdem war mein Großvater bei diesem Anlass immer festlich gekleidet gewesen, und seit ich achtzehn war, hatte er das auch von mir verlangt. Immerhin hatte er uns den Zylinder erlassen.

Um eine Zugangsberechtigung zur Royal Enclosure hatte ich mich nie bemüht, da es auf der anderen Seite des Zauns keine Buchmacherstände gab. Manchmal fragte ich mich allerdings, ob Buchmacher generell vom Zugang ausgeschlossen waren, wie ehedem Geschiedene.

Auch das fünfte Rennen gewann unter Riesenbeifall von den prall gefüllten Rängen ein Favorit. Ich seufzte vernehmlich.

»Halb so schlimm«, sagte mir Luca ins Ohr. »Das hab ich weitgehend gedeckt.«

[14] »Gut«, sagte ich über meine Schulter hinweg.

Die Serie siegreicher Favoriten hatte uns gezwungen, die Quoten auf unserer Anzeige nach unten anzupassen. Wetter schauten immer nach den höchsten Quoten, weil die bei einem Sieg des gewetteten Pferdes höhere Gewinne bedeuteten. Mit niedrigen Quoten machten wir also weniger Umsatz. Selbst unsere Stammkunden gingen woandershin, wenn dort minimal bessere Quoten geboten wurden – Loyalität war Zockern fremd.

Der Mann in dem Leinenanzug stand immer noch fünf Meter entfernt und sah zu uns herüber.

»Halt mal die Stellung«, sagte ich zu Betsy. »Ich muss kurz pinkeln.«

»Okay«, sagte sie.

Ich ging zu dem Mann.

»Was wollen Sie eigentlich?«, fragte ich.

»Nichts«, verteidigte er sich. »Ich hab nur zugesehen.«

»Warum?«, fragte ich noch einmal.

»Nur so.«

»Dann könnten Sie doch auch jemand anderem zusehen«, sagte ich nachdrücklich.

»Ich tu doch keinem was«, jammerte er.

»Mag sein, aber es gefällt mir nicht«, sagte ich. »Also verschwinden Sie. Los.«

Ich ging an ihm vorbei zu den Toiletten unter der Tribüne.

Als ich wiederkam, war er weg.

»Danke«, sagte ich zu Betsy, als ich sie auf dem Podest wieder ablöste.

»Herrschaften«, rief ich den paar Leuten vor mir zu. »Wer [15] wagt eine Wette?« Ich sah auf die Anzeige: »Elf zu vier das Feld.«

Einige bissen an, aber es tat sich wenig. Da jedes Rennen aus unserer Sicht schlecht lief, war es vermutlich besser so. Hätten wir mehr Wetten angenommen, hätten wir nur noch mehr Verlust gemacht.

Da war es dann doch ein kleiner Trost, dass das letzte Rennen des Tages ein Zwanzig-zu-eins-Außenseiter gewann, weil der Favorit zu lange an den Rails eingekeilt gewesen war.

»Das hat uns den Tag gerettet«, sagte Luca mit einem breiten Grinsen.

»Dir den Job, meinst du.« Ich erwiderte sein Grinsen.

»Träum weiter«, sagte er nur.

Lieber nicht, dachte ich.

»Was haben wir denn eingenommen?«, fragte ich ihn.

In der guten alten Zeit hatte sich unser Erfolg leicht am Umfang des Geldscheinbündels in meiner Tasche ablesen lassen, aber heutzutage wollte unser Kontostand bei den Internetbörsen mit berücksichtigt sein.

»Minus fünfzehnhundertzweiundsechzig«, sagte er mit Gewissheit nach einem Blick auf den Computer.

»Könnte schlimmer sein«, meinte ich, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, dass wir am ersten Tag in Royal Ascot jemals draufgezahlt hätten.

»Und ob!«, sagte er. »Wenn der Favorit im letzten Lauf gesiegt hätte, wären wir noch mal tausend losgewesen, aber mindestens.«

Ich zog die Brauen hoch, und er grinste. »Ich hab an den Börsen nicht so viel auf den Favoriten ablegen können, wie [16] ich wollte. Die verdammte Internetverbindung ist ausgefallen.«

»Nur bei uns oder bei allen?«, fragte ich ernst.

»Keine Ahnung«, antwortete er nachdenklich. »Ich hör mich mal um.«

Luca und ich fingen an, unsere Sachen zusammenzupacken, während Betsy noch den einen oder anderen Gewinn auszahlte. Die meisten Rennbahnbesucher strömten schon zu den Ausgängen, um nicht in den Stau zu kommen; zweifellos würden viele ihre Siegtickets vom letzten Rennen erst morgen einlösen.

Wir registrierten alle angenommenen Wetten per Computer, gewonnene wie verlorene, und ich wunderte mich immer wieder, wie viele Siegtickets nie eingelöst wurden. Einige gingen vielleicht verloren, und manchem angeheiterten Wetter war vielleicht nicht klar, dass er gewonnen hatte, jedenfalls gab es fast täglich zwei oder drei Siegwetten, die niemand zu Geld machte. Sie waren so etwas wie eine Zusatzprämie für uns. Auf die wir uns allerdings nie ganz verlassen konnten. Unsere Wettscheine verfielen nicht; gestern erst hatte ich einen solchen Schein vom letztjährigen Royal Ascot einlösen müssen. Vielleicht hatte er sich zwölf Monate tief in einer Cutawaytasche versteckt oder im Hutband eines Zylinders und still darauf gewartet, dass man ihn wiederfand und zu Bargeld machte.

Die Zuschauer waren größtenteils zu den Parkplätzen abgewandert, als wir unsere Ausrüstung endlich mehr oder weniger zusammengeräumt und auf den kleinen Handkarren verladen hatten, der uns während der Veranstaltungen als Computertisch diente. Der Buchmacherring war [17] verlassen bis auf die anderen Bookies, die wie wir zusammenpackten, ohne auf den Abfall ringsherum zu achten: weggeworfene Zeitungen, zerrissene Wettscheine, zerdrückte Kaffeebecher und halb gegessene Sandwiches.

»Lust auf ein Bier?«, fragte Luca, als ich einen Spanngurt über unsere Ausrüstung zog.

»Lust schon, aber ich kann nicht.« Ich sah zu ihm auf. »Ich muss zu Sophie.«

Er nickte verständnisvoll. »Dann ein andermal. Betsy und ich gönnen uns ein Glas, wenn’s dir nichts ausmacht. Wir nehmen dann den Zug in die Stadt, weil wir noch auf die Party im Park wollen.«

»Gut«, sagte ich. »Tut das. Den Rest packe ich allein zusammen.«

»Kommst du zurecht?«, fragte er.

Er kannte die Antwort. Ich packte oft genug allein. Aber so ließ er mich wissen, dass er das nicht für ganz und gar selbstverständlich hielt.

Ich lächelte ihn an. »Kein Problem«, sagte ich und entließ die beiden mit einer Handbewegung. »Geht schon. Bis morgen früh dann. Gleiche Zeit wie immer.«

»Okay«, sagte Luca. »Danke.«

Luca und Betsy gingen gemeinsam davon und ließen mich allein neben dem mit einer Plane abgedeckten Karren zurück. Ich schaute ihnen nach, Betsy Hand in Hand mit ihrem Freund. Einmal blieben sie stehen und umarmten sich, ehe sie im Tribünenhaus verschwanden. Ein glückliches Pärchen auf dem Weg zur Bar im Musikpavillon, nahm ich an, wo nach den Rennen immer fröhlich gezecht wurde.

Ich seufzte.

[18] Sicher war auch ich mal so glücklich gewesen. Aber das war lange her. Wo waren die schönen Zeiten nur geblieben? Hatte das Glück mich für immer verlassen?

Ich wischte mir mit dem Jackenärmel über die Stirn und dachte daran, wie herrlich jetzt ein kühles Bier wäre. Am liebsten hätte ich umdisponiert und mich den beiden angeschlossen, aber ich wusste, dass das mehr Ärger als sonst was nach sich gezogen hätte. So war es immer.

Ich seufzte noch einmal und lud die letzten Kartons mit unserer Ausrüstung auf den Karren, dann zurrte ich die restlichen Gurte über der grünen Plane fest. Ich packte den Griff und löste die Radbremse. Es stimmte zwar, dass ich den Karren alleine ziehen konnte, aber zu zweit war es einfacher, besonders die Betonrampe zur Tribünenpassage hinauf. Ich legte mich ins Zeug.

»Soll ich mit anfassen?«, rief eine Stimme von hinten.

Ich blieb stehen und drehte mich um. Es war der Mann im cremefarbenen Leinenanzug. Er lehnte etwa fünfzehn Meter entfernt an dem Metallzaun zwischen Buchmacherring und Royal Enclosure. Ich hatte ihn beim Zusammenpacken nicht bemerkt und fragte mich, wie lange er mich schon beobachtete.

»Wer sind Sie?«, rief ich ihm zu.

»Ich kannte Ihren Großvater«, meinte er nur wieder und kam auf mich zu.

»Das sagten Sie schon«, gab ich zurück.

Aber meinen Großvater hatten viele Leute gekannt, und kaum einer hatte ihn gemocht. Er war ein typisch streitlustiger Bookie gewesen, der Kunden und Kollegen mit fast der gleichen Geringschätzung behandelt hatte wie sie ihn. Viele [19] hätten ihn vielleicht als Original bezeichnet, schon weil er noch in einem Alter, wo andere in Rente gingen und die Füße hochlegten, bei jedem Wetter auf der Rennbahn stand und Wetten anbot. Ja, meinen Großvater kannten eine Menge Leute, aber er hatte herzlich wenig Freunde gehabt.

»Wann ist er gestorben?«, fragte der Mann und packte eine Seite des Wagengriffs.

Schweigend zogen wir den Karren die Rampe hinauf und blieben oben stehen. Ich wandte mich meinem Helfer zu und sah ihn an. Das Grau seiner Haare wurde durch die tiefe Bräune seines Gesichts noch hervorgehoben. Nach englischer Sonnenbräune sah mir das nicht aus.

»Vor sieben Jahren«, sagte ich.

»Und woran?«, fragte er. Ich hörte einen leichten Akzent in seiner Aussprache, konnte ihn aber nicht recht einordnen.

»An nichts Bestimmtem«, sagte ich. »Altersschwäche.« Und Dickköpfigkeit, dachte ich bei mir. Es war, als ginge er davon aus, dass die ihm zugemessenen Tage auf dieser Welt vorbei waren und es Zeit für den Eintritt in die nächste wurde. Er war an einem Freitag von der Rennbahn in Cheltenham nach Hause gekommen, hatte innerlich bereits offenbar abgeschaltet und war am Sonntagabend entschlafen. Der Pathologe, der ihn obduziert hatte, konnte nicht sagen, woran er gestorben war. Seine Organe hatten alle noch gut funktioniert, und er war bei klarem Verstand gewesen. Meiner Ansicht nach hatte er einfach tot sein wollen.

»So alt war er doch noch gar nicht«, sagte der Mann.

»Achtundsiebzig«, erwiderte ich. »Und zwei Tage.«

»Das ist kein Alter. Heutzutage nicht.«

»Ihm war es genug.«

[20] Der Mann sah mich fragend an.

»Mein Großvater fand, dass seine Zeit abgelaufen war, und hat sich sterben gelegt.«

»Machen Sie Witze?«, fragte er.

»Nein. Das ist mein voller Ernst.«

»So ein blöder Hund«, sagte er wie zu sich selbst.

»Wie gut kannten Sie denn meinen Großvater?«, fragte ich ihn.

»Ich bin sein Sohn«, erwiderte er.

Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

»Dann müssen Sie mein Onkel sein«, sagte ich.

»Nein.« Er starrte zurück. »Ich bin dein Vater.«

[21] 2

»Sie können nicht mein Vater sein!«, sagte ich verblüfft.

»Doch«, entgegnete er. »Genau der bin ich.«

»Mein Vater ist tot«, sagte ich.

»Und woher willst du das wissen? Hast du ihn sterben sehen?«

»Das nicht«, entgegnete ich. »Ich… ich weiß es eben. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Hat dein Großvater dir das erzählt?«

Meine Beine schienen mir nicht mehr zu gehorchen. Ich war siebenunddreißig und hatte mich, seit ich denken konnte, als vaterlos betrachtet. Und mutterlos. Als Waise. Ich war bei meinen Großeltern aufgewachsen, die mir gesagt hatten, meine Eltern seien ums Leben gekommen, als ich noch ein Baby war. Warum hätten sie lügen sollen?

»Aber ich habe ein Foto gesehen«, sagte ich.

»Wovon?«, fragte er.

»Von meinen Eltern.«

»Du erkennst mich also?«

»Nein«, sagte ich.

Aber das Foto war winzig und mindestens siebenunddreißig Jahre alt, wie hätte ich ihn da jetzt wiedererkennen sollen?

[22] »Hör mal«, sagte er, »können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?«

So kam ich doch noch zu meinem Bier.

In der Bar am Führring erzählte mir der Mann im cremefarbenen Leinenanzug, wer ich war.

Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Einerseits konnte ich mir nicht vorstellen, warum meine Großeltern mich hätten anlügen sollen, andererseits auch nicht, warum dieser plötzlich aufgetauchte Fremde mich anlügen sollte. Das ergab alles keinen Sinn.

»Deine Mutter und ich sind mit dem Auto verunglückt«, erzählte er mir. Er senkte den Blick. »Dabei ist sie gestorben.« Er machte eine lange Pause, als überlegte er, ob er weiterreden sollte.

Ich sah ihn schweigend an. Mehr als alles andere war ich verwirrt.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum was?«

»Warum sind Sie heute hierhergekommen und erzählen mir das?« Langsam ärgerte es mich doch, dass er einfach so mein Leben durcheinanderbrachte. »Warum sind Sie nicht geblieben, wo Sie waren?« Ich wurde laut. »Wieso kommen Sie nach siebenunddreißig Jahren plötzlich bei mir an?«

»Weil ich dich sehen wollte«, sagte er. »Du bist mein Sohn.«

»Bin ich nicht«, schrie ich ihn an.

Ein paar Leute, die vor der Heimfahrt in der Bar noch etwas tranken, sahen zu uns herüber.

»Doch«, sagte er leise. »Auch wenn es dir nicht gefällt.«

[23] »Woher wollen Sie das so genau wissen?« Ich klammerte mich an Strohhalme.

»Sei nicht albern, Edward«, sagte er und knibbelte an seinen Fingern. Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach, und es hörte sich komisch an. Ich war zwar auf den Namen Edward getauft, wurde aber von jeher Ned genannt. Nicht mal mein Großvater hatte Edward zu mir gesagt, außer, wenn er sauer auf mich war, oder früher, wenn ich als Kind etwas angestellt hatte.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich ihn.

»Peter«, sagte er. »Peter James Talbot.«

Mein Vater hieß tatsächlich Peter James Talbot. So stand es in grüner Tinte auf seiner und meiner Geburtsurkunde. Diese beiden Dokumente kannte ich in- und auswendig. In all den Jahren waren die handgeschriebenen Angaben darin für mich die einzige greifbare Verbindung zu meinen Eltern gewesen, sie und das verknitterte und verblasste kleine Foto, das ich immer bei mir trug.

Ich nahm meine Brieftasche heraus und zeigte es ihm.

»Blackpool«, sagte er mit Bestimmtheit, als er es sich ansah. »Das ist in Blackpool aufgenommen worden. Da waren wir im November wegen des Feuerwerks. Tricia, deine Mutter, war im dritten Monat schwanger. Mit dir.«

Ich nahm das Foto wieder an mich und betrachtete wie schon viele hundert Mal den jungen Mann, der da neben einem dunkelgrünen Ford Cortina stand. Mein Blick ging zu dem Mann mir gegenüber und kehrte zu dem Bild zurück. Ich konnte zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass sie ein und dieselbe Person waren, aber ausschließen konnte ich es ebenso wenig.

[24] »Glaub mir, das bin ich«, sagte er. »Der Ford war mein erster Wagen. Auf dem Foto bin ich neunzehn.«

»Und wie alt war meine Mutter?«, fragte ich.

»Siebzehn, glaube ich. Ja, sie war gerade siebzehn geworden. Auf der Tour wollte ich ihr das Fahren beibringen.«

»Ihr habt früh angefangen.«

»Na ja.« Er wirkte verlegen. »Du warst nicht so direkt geplant. Eher eine Überraschung.«

»Oh, danke«, meinte ich ironisch. »Wart ihr verheiratet?«

»Als die Aufnahme entstand, noch nicht.«

»Und bei meiner Geburt?« Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.

»Aber ja«, sagte er entschieden. »Da schon.«

Seltsamerweise war ich erleichtert darüber, nicht unehelich geboren zu sein. Spielte das wirklich eine Rolle? Für mich schon. Es bedeutete, dass meine Eltern zueinander gestanden und sich vielleicht sogar geliebt hatten. Sie waren sich nicht gleichgültig gewesen, zumindest damals nicht.

»Warum bist du weggegangen?«, wollte ich wissen. Das war die große Frage.

»Aus Scham, nehme ich an«, sagte er schließlich. »Nach dem Tod deiner Mutter, allein mit dem Baby und ohne Frau – damit kam ich nicht zurecht. Also bin ich davongelaufen.«

»Wohin?«, fragte ich.

»Nach Australien«, sagte er. »Auf Umwegen. Zuerst habe ich in Liverpool auf einem Frachter unter liberianischer Flagge angeheuert. Bin eine Zeitlang um die Welt gefahren. Irgendwann bin ich dann in Melbourne an Land gegangen und dageblieben.«

[25] »Und wieso bist du jetzt wiedergekommen?«

»Ich dachte, es wäre eine gute Idee.«

Das war es nicht!

»Was hast du denn erwartet?«, fragte ich. »Dass ich dich nach all der Zeit mit offenen Armen empfange? Ich dachte, du wärst tot.« Ich sah ihm ins Gesicht. »Vielleicht wäre das sogar besser für mich.«

Traurig erwiderte er meinen Blick. Vielleicht war ich etwas zu hart gewesen.

»Na ja«, sagte ich, »jedenfalls wärst du besser nicht wiedergekommen.«

»Ich wollte dich aber sehen«, erwiderte er.

»Wieso?«, herrschte ich ihn an. »Siebenunddreißig Jahre lang hattest du kein Verlangen danach.«

»Sechsunddreißig«, meinte er.

Ich warf frustriert die Hände in die Luft. »Umso schlimmer«, sagte ich. »Dann hast du mich im Stich gelassen, als ich ein Jahr alt war. Wie bringt ein Vater so was fertig?« Wieder packte mich der Zorn. Bisher hatte ich selbst zwar keine Kinder, aber das lag nicht daran, dass ich keine gewollt hätte.

»Tut mir leid«, sagte er.

Als wäre es damit getan.

»Weshalb wolltest du mich jetzt also sehen?«, fragte ich. »Das war doch sicher kein spontaner Entschluss nach so langer Zeit.« Er schwieg mich an. »Du wusstest ja noch nicht mal, dass dein Vater tot ist. Und deine Mutter, was ist mit ihr? Nach der hast du gar nicht gefragt.«

»Ich wollte nur dich sehen«, sagte er.

»Aber wieso gerade jetzt?«

[26] »Ich habe schon länger daran gedacht.«

»Sag bloß, du hast Gewissensbisse bekommen nach all den Jahren«, meinte ich spöttisch und lachte ironisch.

»Edward«, sagte er streng, »den Sarkasmus solltest du dir sparen.«

Das Lachen blieb mir im Hals stecken. »Du hast mir nicht zu sagen, was sich gehört«, gab ich ebenso streng zurück. »Das Recht dazu hast du verwirkt, als du fortgegangen bist.« Er senkte den Blick wie eine gescholtene Katze. »Was willst du also?«, fragte ich ihn. »Ich hab kein Geld.«

Sofort hob er den Kopf wieder. »Ich will kein Geld von dir«, sagte er.

»Sondern? Erwarte bloß keine Liebe von mir.«

»Bist du glücklich?«, fragte er unvermittelt.

»Irrsinnig glücklich«, log ich. »Jeden Morgen erwache ich mit Freude im Herzen und genieße das Wunder des neuen Tags.«

»Bist du verheiratet?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich, ohne das näher auszuführen. »Du auch?«

»Nein«, antwortete er. »Jetzt nicht mehr. Aber ich war es. Zweimal – dreimal, wenn man deine Mutter mitzählt.«

Für mich zählte sie irgendwie schon.

»Zweimal verwitwet, einmal geschieden«, sagte er und lächelte schief. »In dieser Reihenfolge.«

»Kinder?«, fragte ich. »Außer mir?«

»Zwei. Zwei Mädchen.«

Ich hatte Schwestern. Halbschwestern jedenfalls.

»Wie alt sind sie?«

»Beide Mitte zwanzig – Ende zwanzig vielmehr. Ich habe sie, ach Gott, schon fünfzehn Jahre nicht gesehen.«

[27] »Anscheinend hast du es dir angewöhnt, deine Kinder im Stich zu lassen.«

»Ja«, meinte er ernst. »Sieht so aus.«

»Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen und dich auf die Suche nach ihnen gemacht?«

»Ich weiß, wo sie leben«, antwortete er. »Sie wollen keinen Kontakt mit mir, nicht umgekehrt. Sie lasten mir den Tod ihrer Mutter an.«

»Ist sie auch tödlich verunglückt?«, fragte ich mit einer gewissen Brutalität.

»Nein«, erwiderte er ruhig. »Maureen hat sich das Leben genommen.« Er schwieg, und ich beobachtete ihn. »Nachdem ich bankrottgegangen war, nahm sie Tabletten in einer Dosis, die ein Pferd umgebracht hätte. Ich kam vom Gericht nach Hause, da warteten die Gerichtsvollzieher schon in der Einfahrt, und meine Frau lag tot im Haus.«

Ein Leben wie eine Seifenoper, dachte ich. Kummer und Unglück waren seine ständigen Begleiter gewesen.

»Wieso hast du Bankrott gemacht?«

»Wegen Spielschulden.«

»Spielschulden! Als Buchmachersohn!«

»Von der Buchmacherei kam ja der ganze Ärger«, sagte er. »Offensichtlich hatte ich an der Seite meines Vaters nicht genug gelernt. Ich war ein schlechter Buchmacher.«

»Ich dachte, Spielschulden können nicht gerichtlich eingeklagt werden.«

»Vielleicht nicht direkt, aber ich hatte Kredite aufgenommen und konnte sie nicht bedienen. Hab alles verloren. Wirklich alles, auch die Mädchen, die sind dann bei ihrer Tante aufgewachsen. Ich hab sie nie mehr gesehen.«

[28] »Bist du immer noch bankrott?«, fragte ich.

»Aber nein. Das liegt Jahre zurück. Inzwischen läuft es wieder gut.«

»Was denn?«

»Geschäfte eben«, sagte er wenig entgegenkommend. »Meine Geschäfte.«

Eine Bedienung in weißem Hemd und schwarzer Hose kam zu uns herüber.

»Entschuldigen Sie, wir schließen«, sagte er. »Wenn Sie bitte austrinken könnten.«

Ich sah auf meine Uhr. Nach sechs schon. Ich stand auf und leerte mein Glas.

»Können wir uns noch irgendwo weiter unterhalten?«, fragte mein Vater.

Ich dachte an Sophie. Ich hatte versprochen, nach den Rennen gleich zu ihr zu kommen.

»Ich muss zu meiner Frau«, sagte ich.

»Hat das nicht Zeit?«, fragte er. »Ruf sie an. Vielleicht kann ich ja auch mitkommen.«

»Nein«, sagte ich etwas zu schnell.

»Wieso nicht?«, fasste er nach. »Sie ist doch meine Schwiegertochter.«

»Nein«, sagte ich entschieden. »Ich muss mich an das Ganze erst gewöhnen.«

»Okay«, meinte er. »Aber ruf sie an und sag ihr, dass du aufgehalten worden bist und später nach Hause kommst.«

Ich dachte wieder an meine Frau Sophie. Sie war nicht zu Hause. Wahrscheinlich saß sie jetzt in ihrem Zimmer vor dem Fernseher und schaute wie jeden Tag um sechs die Nachrichten. Dass sie da war, wusste ich, denn sie durfte nicht weg.

[29] Sophies Zimmer war von außen abgesperrt.

Sophie Talbot war gemäß dem Gesetz über Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten von 1983 in eine Klinik eingewiesen worden und dort seit fünf Monaten auf einer geschlossenen Station untergebracht. Kein Gefängnis zwar, sondern ein Haus für nicht sonderlich gefährdete Patienten, und doch saß sie dort gefangen. Es war nicht das erste Mal. Insgesamt hatte meine Frau über die Hälfte der vergangenen zehn Jahre in psychiatrischen Einrichtungen zugebracht. Und trotz Pflege und Therapie hatte ihr Zustand sich stetig verschlechtert. Die Zukunft war völlig ungewiss.

»Gehen wir ins Pub?«, unterbrach mein Vater mich in meinen Gedanken.

Spätestens um neun musste ich in der Klinik sein. Ich sah auf die Uhr.

»Höchstens eine Stunde«, sagte ich. »Dann muss ich los.«

»In Ordnung.«

»Hast du einen Wagen?«

»Nein«, sagte er. »Bin von Waterloo mit dem Zug gekommen.«

»Wo wohnst du denn?«, fragte ich.

»In einem schäbigen kleinen Hotel in Sussex Gardens. Einer Pension eigentlich. Nähe Paddington Station.«

»Gut.« Ich kam zu einem Entschluss. »Wir fahren irgendwohin, was trinken, dann setz ich dich in Maidenhead am Bahnhof ab und du fährst mit dem Zug zurück nach London.«

»Prima«, meinte er lächelnd.

»Dann komm.«

[30] Gemeinsam zogen wir den Karren zum Hauptausgang der Rennbahn hinaus und über die belebte Straße.

»Was machst du denn jetzt beruflich?«, fragte ich ihn, als wir unsere Fracht über den Kiesbelag der Parkplatzeinfahrt bugsierten.

»Dies und das«, sagte er.

»Pferdewetten?«, hakte ich nach.

»Manchmal. Aber meistens nicht.«

Offenbar wollte er nicht näher darauf eingehen.

»Ist es legal?«, fragte ich.

»Manchmal«, sagte er wieder.

»Aber meistens nicht?«, griff ich seine vorherige Antwort auf.

Er lächelte mich nur an und zog fester am Karren.

»Gehst du nach Australien zurück?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

»Wahrscheinlich. Aber erst will ich mich mal eine Weile versteckt halten.«

»Warum?«

Wieder lächelte er nur. Vielleicht ist es besser, wenn ich nichts darüber weiß, dachte ich.

Ich hatte meinen treuen zwölf Jahre alten Volvo 940 Kombi hinten auf Parkplatz 2 abgestellt, hinter dem Bereich für Trainer und Besitzer. Wie immer hatte ich fürs Parken bezahlen müssen. Die Rennvereine schenken den Buchmachern keinen Penny.

Früher wurden Buchmacherstandplätze nach dem Senioritätsprinzip vergeben, wie es in Irland noch heute der Fall ist. In England werden sie inzwischen zum Kauf angeboten, und ein Standplatz bleibt im Besitz des Buchmachers, der [31] ihn erwirbt, oder kann von ihm weiterverkauft werden. Der Inhaber von Standnummer eins darf seinen Platz im Buchmacherring frei wählen, danach dann Nummer zwei und so weiter. Ich besaß die Nummer acht, die meinen Großvater vor zwanzig Jahren enorm viel Geld gekostet hatte. Ich stand zwar nicht am besten Platz, aber immer noch recht gut.

Die Buchmachergebühr, die ich der Rennbahn zahlte, um mich an Renntagen aufstellen zu dürfen, betrug das Fünffache des normalen Eintrittspreises. Zahlten die Rennbahnbesucher also wie in Ascot £40 pro Tag, um zu den Buchmachern zu gelangen, musste ich £200 hinblättern. Und natürlich den normalen Eintritt für Betsy und Luca. In Royal Ascot war ich jeden Tag Hunderte im Minus, bevor ich überhaupt die erste Wette annahm.

Es gab umstrittene Pläne, das alte System über Bord zu werfen und ab 2012 die Standplätze auf Englands Rennbahnen gegen Höchstgebot zu versteigern. Die Buchmacher sahen das als Diebstahl ihres angestammten Eigentums an und hielten die Rennvereine für geldgierig, alle anderen sahen es genau umgekehrt.

Der mit Füßen getretene Bookie, der so gern gehasst wird. »Es gibt keine armen Buchmacher«, sagen die Leute immer etwas abschätzig. Das liegt aber daran, dass arme Buchmacher schnell aus dem Rennen sind. Einen armen Anwalt findet man ebenso wenig. Und auch die Anwälte sind allseits verhasst.

»Wie lange bleibst du?«, fragte ich meinen Vater.

»Eine Weile«, meinte er nur.

Wenn er so weitermachte, hatte es wenig Sinn, mit ihm ins [32] Pub zu gehen. Dann nahm ich mir lieber mehr Zeit für Sophie.

»Hör mal«, sagte ich. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gleich zurück nach London fährst. Es hat keinen Zweck, etwas trinken zu gehen, wenn du dauernd meinen Fragen ausweichst.«

»Ich möchte über die Vergangenheit reden, nicht über die Zukunft«, sagte er.

»Ich aber nicht.«

Wir zogen den Karren gerade durch eine Lücke in der Hecke am Parkplatz 2, als wir plötzlich schnelle Schritte hinter uns hörten. Ich drehte mich um und sah jemanden direkt auf mich zurennen. Ohne abzubremsen, sprang er auf den mit einer Plane abgedeckten Karren und trat mir voll ins Gesicht.

Mist, dachte ich, als ich zu Boden ging, jetzt werde ich ausgeraubt.

Wusste dieser Schwachkopf nicht, was für ein mieser Tag es für die Buchmacherzunft gewesen war? Es gab herzlich wenig zu stehlen. Da hätte er mich besser heute Morgen abgepasst, als ich ein paar Tausender in bar mit zur Rennbahn gebracht hatte.

Ich war zu Boden gegangen, stützte mich auf Hände und Knie und ließ den Kopf hängen. Ich spürte warmes, frisches Blut im Gesicht und sah es in einem knallroten Rinnsal vom Kinn auf die Erde laufen, wo es im Gras versickerte.

Halb rechnete ich mit einem weiteren Tritt vor den Kopf oder in den Magen. Meine Arme wollten mir nicht ganz gehorchen, aber ich schaffte es, mit der rechten Hand in meiner Hosentasche nach dem Umschlag mit dem mir verbliebenen kleinen Bündel Banknoten zu tasten. Aus Erfahrung [33] wusste ich, dass es am besten war, sich schnell von seinem Geld zu trennen, denn wer sich erst zusammenschlagen ließ, bekam es am Ende doch abgenommen.

Ich zog den Umschlag aus der Tasche und warf ihn ins Gras.

»Mehr hab ich nicht.« Beim Sprechen schmeckte ich das Blut im Mund.

Ich wälzte mich auf die Seite. Ich wollte nicht unbedingt das Gesicht meines Angreifers sehen, denn aus Erfahrung wusste ich auch, dass eine mögliche Identifizierung weitere Prügel nach sich ziehen konnte. Darüber hätte ich mir aber keine Gedanken zu machen brauchen. Der junge Mann – und bei seiner Kraft und Wendigkeit war er mit Sicherheit jung – trug einen Schal ums Gesicht und hatte sich die Kapuze seines dunkelgrauen Sweatshirts über den Kopf gezogen. Selbst wenn ich ihm direkt gegenübergestanden hätte, wäre er nicht zu erkennen gewesen. Ich sah ihn aber nur im Halbprofil vor meinem Vater stehen.

»Hier«, rief ich ihm zu. »Stecken Sie’s ein und lassen Sie uns in Ruhe.«

Er blickte kurz zu mir herüber und wandte sich dann wieder meinem Vater zu.

»Wo ist das Geld?«, zischte er ihn an.

»Da.« Ich zeigte auf den Umschlag.

Der Mann beachtete mich nicht.

»Geh zum Teufel«, sagte mein Vater, holte mit dem Fuß aus und trat ihn in den Unterleib.

»Du Drecksau«, zischte der Mann wütend.

Es sah aus, als ob er meinen Vater zweimal schnell hintereinander in den Magen boxte.

[34] »Wo ist das Scheißgeld?«, fauchte unser Angreifer noch einmal.

Diesmal antwortete mein Vater nicht. Er ließ sich lediglich schwer zu Boden gleiten, den Rücken an die Hecke gelehnt.

»Lassen Sie ihn«, rief ich dem Kapuzenmann zu, »hier ist es doch.« Noch einmal zeigte ich auf den weißen Umschlag im Gras. Da mich der Mann immer noch nicht beachtete und wieder auf meinen Vater losging, schrie ich aus Leibeskräften: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Parkplatz 2 war weitgehend verlassen, aber im Trainer- und Besitzerbereich wurden vereinzelt noch Rennergebnisse gefeiert. Man drehte sich nach uns um, und drei oder vier Unerschrockene kamen ein paar Schritte auf uns zu. Bestimmt würden sie mit Hand anlegen, wenn sie wüssten, dass da ein Buchmacher Prügel bekam, dachte ich ironisch.

Der Mann warf einen Blick auf die Herankommenden und lief zwischen den verbliebenen Autos davon, um mit einem Satz über den Holzzaun auf der anderen Seite des Parkplatzes zu verschwinden. Ich saß im Gras und schaute ihm nach. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um.

Der Umschlag mit dem Geld lag noch neben mir im Gras. Komischer Dieb, dachte ich bei mir. Ich beugte mich vor, hob den Umschlag auf und steckte ihn wieder tief in meine Tasche. Dann rappelte ich mich auf und schimpfte über die grünen Grasflecke, die sich auf den Knien meiner Hose abzeichneten.

Zwei der feiernden Westenträger, das Champagnerglas noch in der Hand, standen vor mir.

[35] »Alles in Ordnung?«, fragte der eine. »Ihr Gesicht hat ganz schön was abbekommen.«

Ich spürte noch das Blut, es lief mir jetzt am Hals runter.

»Es geht schon«, sagte ich. »Vielen Dank. Wir sind überfallen worden, aber er hat nichts mitgenommen.« Ich ging ein paar Schritte auf meinen Vater zu. »Alles klar… Dad?« Die Anrede klang in meinen Ohren seltsam.

Er sah mich aus erschrockenen Augen an.

»Was ist denn?«, fragte ich rasch und ging näher zu ihm hin.

Er hielt sich den Bauch, und jetzt nahm er die Hand weg. Das cremefarbene Leinenjackett darunter war knallrot verfärbt. Der junge Mann hatte meinen Vater nicht in den Magen geboxt, sondern auf ihn eingestochen.

Es dauerte ewig, bis der Krankenwagen kam. Ich versuchte auf meinem Handy die 999 zu wählen, aber vor Panik gehorchten mir die Finger nicht, und ich vertippte mich dauernd. Schließlich nahm einer der Champagnertrinker mir das Telefon aus der Hand und machte den Notruf, während ich mich neben meinem Vater ins Gras kniete.

Sein ganzer Bauch war jetzt blutüberströmt, das Gesicht aschfahl.

»Legen Sie ihn hin«, sagte jemand. »Der Kopf muss tiefer liegen als das Herz.«

Von den diversen Parkplatzpartys waren ziemlich viele Leute herbeigeströmt. Irgendwie absurd, wie sie da herumstanden und Champagner tranken, während mein Vater nach Atem rang.

»Du schaffst das«, redete ich ihm zu. »Bald kommt Hilfe.«

[36] Er nickte kaum merklich und wollte dann etwas sagen.

»Nicht sprechen«, wies ich ihn an. »Spar dir deine Kräfte.« Aber er versuchte es trotzdem.

»Nimm dich in Acht«, sagte er leise, aber deutlich.

»Vor wem denn?«, fragte ich.

»Vor allen«, flüsterte er.

Er hustete, und Blut trat ihm auf die Lippen.

»Wo bleibt der verdammte Krankenwagen?«, rief ich an niemand Bestimmten gewandt.

Aber die Polizei traf zuerst ein. Zwei Beamte zu Fuß. Sie kannten sich wahrscheinlich eher mit dem Verkehr an Renntagen aus als mit Messerattacken am helllichten Tag, und einer von ihnen forderte sofort über Funk Verstärkung an. Der andere kniete sich neben mich und kümmerte sich um meinen Vater, indem er ihm die große verkehrsregelnde Hand auf die Wunde legte und zudrückte.

Mein Vater stöhnte.

»Tut mir leid, Mann«, sagte der Polizist. »Druck ist in diesem Fall das Beste.«

Schließlich kam dann auch der Krankenwagen, dessen Fahrer sich für die Verspätung entschuldigte. »Rennbahnverkehr«, erklärte er. »Ein Stau nach dem anderen, und jede zweite Straße war für den Verkehr in unserer Richtung gesperrt.«

Rasch wurde mein Vater untersucht und mit einer Sauerstoffmaske und einer intravenösen Infusion versorgt. Vorsichtig legten sie ihn auf eine Trage und hoben ihn in den Wagen, ohne den Druck auf seinen Bauch zu verringern.

Ich wollte mitfahren, aber einer der Polizisten hielt mich auf.

[37] »Sie bleiben bitte hier, Sir«, sagte er.

»Aber er ist doch mein Vater«, gab ich zurück.

»Wir bringen Sie gleich ins Krankenhaus«, sagte er. »Die Wunde an Ihrem Kopf sieht sowieso aus, als müsste sie genäht werden.«

Die Rettungssanitäter schlossen die Tür des Krankenwagens und fuhren mit meinem Vater davon, gerade als in zwei Wagen mit Blaulicht die Polizeiverstärkung eintraf.

Ich verbrachte den Abend weitgehend im Krankenhaus, aber nicht dort, wo ich eigentlich sein wollte.

Mein Vater war noch am Leben gewesen, als sie ihn von der Rennbahn abtransportierten, ich hatte ihn husten hören, und einer Krankenschwester zufolge hatte er auch bei der Ankunft in der Klinik noch gelebt. Aber bis zum OP hatte er es nicht mehr geschafft. Er war im Empfangsbereich der Notaufnahme an schwerem Schock und inneren Blutungen gestorben. Man habe leider nichts mehr für ihn tun können, hieß es.

Ich saß auf einem Stahlrohrstuhl mit grauem Plastiksitz in einer durch einen Vorhang abgetrennten Kabine neben meinem toten Vater, einem Vater, von dessen Existenz ich erst drei Stunden zuvor erfahren hatte, und fragte mich, wie das Leben so grausam sein konnte.

Ich war wie betäubt. Als ich acht war und alt genug, um zu begreifen, was mir ohne ihn entging, hatte ich um meinen Vater getrauert. Daran erinnerte ich mich noch genau. Ich hatte meine Schulkameraden mit ihren jungen Müttern und Vätern gesehen und so überhaupt erst gemerkt, dass meine Großeltern anders waren. Ich erinnerte mich, wie [38] sehr ich mir gewünscht hatte, meine Eltern wären am Leben und könnten bei mir sein.

Ja, ich wollte einen Vater, der immer dabei war, einen Vater, wie die anderen ihn hatten, der uns bei den Spielen der Schulmannschaft von der Seitenlinie aus anfeuerte, mich auf den Schultern trug, wenn wir siegten, und mich tröstete und mir die Tränen aus dem Gesicht wischte, wenn wir verloren.

Ich hatte meine Mannschaftskameraden mit Phantasiegeschichten darüber unterhalten, wie mein mutiger Vater mich vor dem Ertrinken, vor Feinden oder vor Ungeheuern rettete und dabei selbst ums Leben kam. Jetzt musste ich feststellen, dass sogar die Geschichte, die man mir erzählt und die ich unbesehen geglaubt hatte, erlogen war.

Ich betrachtete die auf dem Rücken liegende stumme Gestalt vor mir und schlug das frische weiße Tuch, das sie bedeckte, auf die Brust zurück. Sein Gesicht sah aus, als ob er schliefe, friedlich, die Augen geschlossen, als könnte er von meiner Berührung erwachen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Körper kühlte bereits ab, ein Erwachen würde es nicht mehr geben. Zum ersten und letzten Mal in meinem Leben strich ich ihm über die sonnengebräunte Stirn und dachte daran, was hätte sein können.

Ich sollte ihm böse sein, dachte ich. Ihm übelnehmen, dass er mich damals im Stich gelassen hatte. Dass er erst nach so langer Zeit wiedergekommen war. Dass ich seit fast dreißig Jahren Schwestern hatte, die ich noch gar nicht kannte. Und auch, dass er mit seiner Rückkehr dann mein ohnehin nicht einfaches Leben noch komplizierter gemacht hatte.

Aber ich fand schon immer, dass Zorn dazu da ist, zum Ausdruck gebracht zu werden – dass man ihn in gebotener [39] Schärfe herauslassen muss, damit andere darauf reagieren oder sich verletzt fühlen können. Dem Leichnam meines toten Vaters böse zu sein erschien mir irgendwie sinnlos, reine Energieverschwendung.

Ich nahm mir vor, meinen Zorn für den jungen Mann aufzusparen, der mich so abrupt um die Möglichkeit gebracht hatte, etwas von dem, was mir früher entgangen war, nachzuholen. Ich trauerte weniger um meinen Vater als um die verpasste Gelegenheit, die so zum Greifen nah gewesen war.

Ich stand auf und deckte sein Gesicht wieder zu.

Ein Mann in einem hellbraunen Anzug trat hinter mir in die abgeteilte Kabine.

»Mr. Talbot?«, fragte er.

»Ja.« Ich drehte mich um.

»Ich bin Detektivsergeant Murray«, sagte er und zeigte mir seinen Dienstausweis. »Thames Valley Police.« Stumm blickte er auf die leblose Gestalt unter dem weißen Tuch. »Das mit Ihrem Vater tut mir leid, aber wir müssen Ihnen trotz allem ein paar Fragen stellen.«

»Ja, natürlich«, sagte ich. »Sollen wir dazu woanders hingehen?«

Er wirkte erleichtert. »Ja, gern.«

Eine Krankenschwester führte uns in einen kleinen Raum für Angehörige – für Hinterbliebene wohl eher –, und ein zweiter Kriminalbeamter stieß zu uns. Wir setzten uns auf die Stahlrohrstühle mit den grauen Plastiksitzen.

»Kommissar Walton«, stellte Sergeant Murray seinen Kollegen vor. »Also, was können Sie uns denn nun über den Zwischenfall auf dem Parkplatz in Ascot sagen?«

[40] »Einen Zwischenfall würde ich das nicht nennen«, erwiderte ich. »Ich wurde angegriffen, und mein Vater ist erstochen worden.«

»Zur Bestimmung der Todesursache müssen wir die Obduktion abwarten, Sir«, meinte der Sergeant steif.

»Ich habe aber doch gesehen, wie auf ihn eingestochen wurde«, beharrte ich.

»Dann haben Sie also auch den Angreifer gesehen?«, fragte er.

»Ja. Allerdings weiß ich nicht, ob ich ihn wiedererkennen würde. Er war vermummt. Ich konnte nur seine Augen sehen, und auch die nur für den Bruchteil einer Sekunde.«

»Aber es war ganz sicher ein Mann?«

»Bestimmt. Er hatte die Statur eines Mannes.«

»Und das heißt?«

»Dünn, geschmeidig und agil«, sagte ich. »Er lief direkt auf mich zu, sprang auf meinen Karren und trat mir ins Gesicht.« Unwillkürlich fasste ich an die inzwischen genähte Wunde an meiner linken Augenbraue.

»Ein Weißer?«, fragte er.

»Ich glaube schon.« In Gedanken ging ich die Szene noch einmal durch. »Ja, er war weiß«, sagte ich mit einiger Sicherheit. »Er hatte weiße Hände.«

»Könnte er auch helle Handschuhe getragen haben?«, fragte der Sergeant.

An Handschuhe hatte ich nicht gedacht. »Möglich«, sagte ich. »Ich glaube trotzdem, dass er weiß war. Er hatte die Augen eines Weißen.« Ich entsann mich, dass die Augen für mich etwas Fieses, Verschlagenes gehabt hatten, weil sie zu eng zusammenstanden.

[41] »Können Sie seine Kleidung beschreiben?«, fragte der Sergeant.

»Blaue Jeans und ein dunkelgraues Kapuzenshirt, schwarzer Schal um die untere Gesichtshälfte«, antwortete ich. »Und schwarze Stiefel, wie Springerstiefel mit schweren Profilsohlen, mit einem davon hab ich nähere Bekanntschaft geschlossen.« Der Kommissar schrieb alles in sein Notizbuch.

»Groß oder klein?«, fragte der Sergeant.

»Mittel eigentlich. Etwa so groß wie mein Vater.«