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Felix Francis

Glücksspiel

Roman

Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2011 bei

Michael Joseph, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Gamble‹

Copyright © Dick Francis Cooperation, 2011

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2013 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Christian Petit

Copyright © Christian Petit/

VANDYSTADT/Bildagentur Online

 

 

Für meine Enkeltochter

Sienna Rose

 

Mit Dank an meinen Cousin

Ned Francis

Finanzberater

 

an das Büro von

Calkin Pattinson and Company Limited

 

und wie immer

an Debbie

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24283 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60300 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Ich stand direkt neben Herb Kovak, als er ermordet wurde. Hingerichtet wäre das treffendere Wort. Drei Schüsse aus kurzer Distanz, zwei ins Herz und einer ins Gesicht. Er war sehr wahrscheinlich tot, bevor er am Boden aufschlug, bestimmt aber, bevor der Schütze sich umdrehte und im Gedränge der Grand-National-Zuschauer verschwand.

Alles war so schnell gegangen, dass weder Herb noch ich, noch sonst jemand es irgendwie hätten verhindern können. Ich hatte überhaupt erst begriffen, was vor sich ging, als es vorbei war und Herb tot zu meinen Füßen lag. Hatte er gemerkt, dass er in Gefahr war, ehe ihn die Kugeln trafen und seinem Leben ein Ende setzten?

Wahrscheinlich nicht, und der Gedanke war mir dann doch tröstlich.

Ich hatte Herb gemocht.

Jemand anders aber offensichtlich nicht.

Mit dem Mord an Herb Kovak war der Tag gelaufen. Die Polizei übernahm mit gewohnt schwerer Hand das Ruder, brach innerhalb von dreißig Minuten eine der weltgrößten Rennsportveranstaltungen ab und nahm [6] stundenlang die Personalien von mehr als sechzigtausend frustrierten, aber geduldig anstehenden Zuschauern auf.

»Na, Sie haben doch wohl sein Gesicht gesehen!«

Ein genervter Kriminalinspektor saß mir in einem der zu Krisenzentren umfunktionierten Rennbahnrestaurants gegenüber.

»Nein«, antwortete ich. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich dem Mann nicht ins Gesicht geschaut habe.«

Noch einmal dachte ich an die wenigen entscheidenden Sekunden zurück, und das Einzige, was ich deutlich vor mir sah, war die Pistole.

»Es war also ein Mann?«, fragte der Inspektor.

»Ich denke schon.«

»Schwarz oder weiß?«

»Die Pistole war schwarz«, sagte ich. »Mit Schalldämpfer.« Besonders hilfreich hörte sich das auch für mich nicht an.

»Mr.… äh…«, der Inspektor blickte auf seine Notizen, »…Foxton. Sonst können Sie uns nichts über den Mörder sagen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, es ging alles so schnell.«

Er begann, in eine andere Richtung zu fragen. »Nun, wie gut kannten Sie Mr. Kovak?«

»Ziemlich gut. Wir sind Kollegen. Seit fünf Jahren etwa. Befreundete Kollegen, würde ich sagen.« Ich schwieg. »Waren wir jedenfalls.«

Schwer zu glauben, dass er tot war.

[7] »Welche Branche?«

»Finanzberatung«, sagte ich. »Unabhängige Finanzberater.«

Man sah förmlich, wie er gelangweilt abschaltete.

»So aufregend wie ein Ritt im Grand National ist es zwar nicht«, sagte ich, »aber es lässt sich aushalten.«

Er sah mich an. »Sind Sie denn schon mal im Grand National geritten?« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören und sein Schmunzeln nicht zu übersehen.

»Ja, bin ich«, sagte ich. »Zwei Mal.«

Das Lächeln verschwand. »Oh«, machte er.

O ja, dachte ich. »Und beim zweiten Mal hab ich gesiegt.«

Von meinem früheren Leben zu reden oder gar damit anzugeben war nicht meine Art. Ich hätte mich nicht dazu hinreißen lassen sollen, aber die Einstellung des Kriminalbeamten zu mir und auch zu meinem toten Kollegen ärgerte mich ein wenig.

Er blickte wieder auf seine Notizen.

»Foxton«, las er. Er sah mich an. »Doch nicht etwa Foxy Foxton?«

»Doch«, sagte ich, auch wenn ich meinen richtigen Namen Nicholas dem Spitznamen »Foxy« längst vorzog, weil er sich in der Geschäftswelt doch seriöser ausnahm.

»So, so«, meinte er. »Sie haben mir so einiges an Wettgewinnen eingebracht.«

Ich lächelte ihn an. Ein paar Pfund Verluste sicher auch, aber das behielt ich für mich.

[8] »Heute reiten Sie nicht?«

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

Lag mein letztes Rennen wirklich acht Jahre zurück? Einerseits schien es erst gestern gewesen zu sein, andererseits vor einer Ewigkeit.

Der Kriminalbeamte machte sich eine neue Notiz.

»Und jetzt sind Sie Finanzberater?«

»Ja.«

»Schon ein Abstieg, was?«

Immer noch besser, als bei der Kripo zu sein, wollte ich antworten, hielt Schweigen dann aber doch für klüger. Irgendwie gab ich ihm sogar recht. Nach den Höhenflügen über die Hindernisse in Aintree mit zehn Zentner Pferd zwischen den Beinen glich mein ganzes Leben einem Abstieg.

»Wen beraten Sie?«, fragte er.

»Jeden, der mich bezahlt«, meinte ich etwas übermütig.

»Und Mr. Kovak?«

»Dito. Wir sind bei einer unabhängigen Finanzberatung in der City.«

»Hier in Liverpool?«

»Nein«, sagte ich. »In London.«

»Wie heißt die Firma?«

»Lyall & Black. Wir sitzen in der Lombard Street.«

Er notierte es.

»Können Sie sich vorstellen, warum jemand Mr. Kovak umgebracht hat?«

Das fragte ich mich seit zwei Stunden immer wieder.

»Nein«, sagte ich. »Überhaupt nicht. Er war allseits [9] beliebt. Immer fröhlich und guter Dinge. Er hat jede Party in Schwung gehalten.«

»Wie lange kannten Sie ihn noch mal?«

»Fünf Jahre. Wir haben zeitgleich bei der Firma angefangen.«

»Wie ich höre, war er Amerikaner.«

»Ja«, sagte ich. »Er kam aus Louisville in Kentucky. Jedes Jahr ist er ein paarmal in die Staaten geflogen.«

Auch das schrieb der Inspektor auf.

»War er verheiratet?«

»Nein.«

»Freundin?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Hatten Sie eine schwule Beziehung mit ihm?«, fragte der Inspektor ausdruckslos, die Nase noch im Notizbuch.

»Nein«, antwortete ich genauso ausdruckslos.

»Das finden wir nämlich heraus«, sagte er aufblickend.

»Da gibt es nichts herauszufinden. Mr. Kovak und ich waren Kollegen, aber ich lebe mit meiner Freundin zusammen.«

»Wo?«

»In Finchley, Nordlondon.«

Ich nannte ihm die vollständige Adresse, und er notierte sie.

»Hatte Mr. Kovak mit jemand anderem eine schwule Beziehung?«

»Wie kommen Sie darauf, dass er schwul war?«, fragte ich.

[10] »Keine Frau. Keine Freundin. Was soll ich da sonst denken?«

»Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass Herb schwul war. Ganz im Gegenteil.«

»Wieso?« Der Kriminalbeamte beugte sich gespannt vor.

Ich dachte an Konferenzen und die wenigen anderen Gelegenheiten zurück, bei denen Herb und ich im selben Hotel übernachtet hatten. Er hatte mir nie Avancen gemacht, gelegentlich aber einen weiblichen Gast angebaggert und beim Frühstück dann mit seiner Eroberung geprahlt. Ich hatte ihn zwar nie in einer eindeutigen Situation mit einer Frau erlebt, mit einem Mann aber auch nicht.

»Ich weiß es einfach«, sagte ich lahm.

»Mhm«, meinte der Inspektor, offensichtlich nicht überzeugt, und machte sich eine weitere Notiz.

Wusste ich es denn wirklich? Und spielte das eine Rolle?

»Was tut das überhaupt zur Sache?«, fragte ich.

»Hinter Mord stecken oft sexuelle Motive«, antwortete der Inspektor. »Bis wir klarer sehen, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«

Es war schon fast dunkel, als ich endlich die Rennbahn verlassen durfte, und es hatte angefangen zu regnen. Der Bus zum weit entfernten Parkplatz fuhr längst nicht mehr, und ich kam nass, durchfroren und restlos bedient bei meinem Mercedes an. Statt gleich loszufahren, ließ ich mir aber erst noch einmal die Ereignisse des Tages durch den Kopf gehen.

[11] Früh um acht hatte ich Herb zu Hause am Seymour Way in Hendon abgeholt, und wir hatten uns gutgelaunt auf den Weg nach Liverpool gemacht. Für Herb war es der erste Grand-National-Besuch, und er war ungewöhnlich aufgeregt deswegen.

Er war im Schatten der berühmten Zwillingstürme der Rennbahn Churchill Downs aufgewachsen, Austragungsort des Kentucky Derby und Wiege des amerikanischen Galopprennsports, meinte dazu aber immer nur, dass Pferdewetten ihn um seine Kindheit gebracht hätten.

Ich hatte ihn schon öfter gefragt, ob er mit zum Pferderennen kommen wolle, und stets zu hören bekommen, er verbinde zu schmerzliche Erinnerungen damit. Auf der Fahrt heute war davon allerdings nichts zu spüren gewesen; wir hatten uns angeregt über die Arbeit, unser Leben und unsere Zukunftshoffnungen und -ängste unterhalten.

Wir ahnten ja nicht, wie wenig von Herbs Zukunft noch übrig war.

Er und ich waren in den vergangenen fünf Jahren immer gut miteinander ausgekommen, aber nur so von Kollege zu Kollege. Erst heute hatte es so ausgesehen, als könnte eine tiefere Freundschaft daraus entstehen. Und jetzt blieb es dabei.

Ich saß im Wagen und trauerte um meinen neugewonnenen, so schnell wieder verlorenen Freund. Dass ihn jemand umgebracht hatte, konnte ich mir noch immer nicht erklären.

Die Rückfahrt nach Finchley zog sich endlos hin. [12] Auf der M6 nördlich von Birmingham gab es acht Kilometer Stau infolge eines Unfalls. So hieß es im Radio zwischen den zahllosen Nachrichtenschnipseln zum Mord an Herb und dem Abbruch des Grand National. Wobei Herb natürlich nicht mit Namen genannt wurde. »Ein Mann«, sagten sie immer. Ich nahm an, die Polizei hielt den Namen zurück, bis seine nächsten Angehörigen verständigt waren. Aber wer waren seine Angehörigen? Und wie würde die Polizei sie finden? Zum Glück nicht mein Problem, dachte ich.

Direkt südlich von Stoke erreichte ich den Stau, eine Unmenge roter Bremslichter, die vor mir in der Dunkelheit leuchteten.

Normalerweise habe ich wenig Geduld hinter dem Steuer. »Einmal Rennsport, immer Rennsport«, das könnte auf mich zutreffen. Ob ich vier Beine oder vier Räder unter mir habe, ist ziemlich egal – wenn ich eine Lücke sehe, nutze ich sie. In den allzu kurzen vier Jahren meiner Jockeyzeit bin ich so geritten, und es hat sich ausgezahlt.

An diesem Abend jedoch fehlte mir die Energie, mich über die Kolonnen praktisch stehender Autos aufzuregen. Gefasst kroch ich auf der Außenspur an einem Wohnmobil vorbei, das sich überschlagen und was an Menschen und Hausrat darin gewesen war über die Fahrbahn verstreut hatte. Unfälle begaffen ist verpönt, aber natürlich gafften wir alle im Vorbeifahren und dankten dem Schicksal, dass nicht wir da auf dem kalten Asphalt lagen und medizinisch versorgt werden mussten.

[13] Ich hielt in einer Parkbucht und rief zu Hause an.

Claudia, meine Freundin, nahm beim zweiten Klingeln ab.

»Hallo, ich bin’s«, sagte ich. »Ich bin auf der Heimfahrt, aber es kann noch mindestens zwei Stunden dauern.«

»Sonst alles gut?«, fragte sie.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«

»Nein. Wieso?«

Natürlich nicht. Claudia war Künstlerin und hatte vorgehabt, den ganzen Tag in ihrem Atelier zu malen, dem Gästezimmer des Hauses, in dem wir zusammenwohnten. War erst einmal die Tür zu und ihr iPod an, brauchte es schon ein Erdbeben oder einen Atomschlag, um zu ihr durchzudringen.

»Das National ist abgebrochen worden«, sagte ich.

»Abgebrochen?«

»Na ja, es soll vielleicht am Montag nachgeholt werden, aber heute haben sie’s abgebrochen.«

»Und wieso?«, fragte sie.

»Es ist jemand ermordet worden.«

»Wie rücksichtslos von ihm.« Ein Lachen lag in ihrer Stimme.

»Es war Herb«, sagte ich.

»Bitte?«, fragte sie. Das Lachen war verschwunden.

»Herb ist ermordet worden.«

»O Gott«, rief sie. »Wie denn?«

»Sieh dir die Nachrichten an.«

»Aber Nick…« Sie klang besorgt. »Ja ist denn mit dir alles in Ordnung?«

[14] »Mir geht’s gut. Ich komme so schnell wie möglich nach Hause.«

Als Nächstes rief ich meinen Chef – Herbs Chef – an, um ihn auf die zweifellos zu erwartenden Turbulenzen im Geschäft vorzubereiten, aber er war nicht zu erreichen. Eine Nachricht wollte ich nicht hinterlassen; eine Mailbox schien mir als Überbringer schlechter Nachrichten eher ungeeignet.

Ich fuhr weiter, und dachte auch auf dem restlichen Weg an Herb und daran, dass ihn jemand umgebracht hatte. So viele Fragen das aufwarf, so wenige Antworten gab es darauf.

Woher hatte der Mörder gewusst, dass Herb heute in Aintree war?

War man uns von London aus gefolgt und auf der Rennbahn nachgeschlichen?

War Herb wirklich das Ziel gewesen, oder handelte es sich um eine Verwechslung?

Und wieso mordete jemand vor den Augen von sechzigtausend potentiellen Zeugen, statt das Opfer zur weniger riskanten Beseitigung in irgendeine dunkle Gasse zu locken?

Darauf hatte ich auch den Inspektor angesprochen, aber der fand das gar nicht so ungewöhnlich. »Manchmal erleichtert es einem Täter die Flucht, wenn er in einer Menschenmenge untertauchen kann«, hatte er geantwortet. »Und womöglich sind sie noch stolz darauf, dass sie in aller Öffentlichkeit zugeschlagen haben.«

»Das erhöht aber doch die Wahrscheinlichkeit, dass [15] er erkannt wird oder zumindest jemand eine gute Beschreibung von ihm liefern kann.«

»Sie würden sich wundern«, meinte er. »Je mehr Zeugen, desto unklarer das Bild. Jeder sieht etwas anderes, und heraus kommt schließlich ein schwarzer Weißer mit glattem Kraushaar, vier Armen und doppeltem Kopf. Außerdem gilt die Aufmerksamkeit eher dem Opfer, das in einer Blutlache liegt, als dem Täter. Oft bekommen wir eine vorbildliche Beschreibung der Leiche, aber nichts über den Mörder.«

»Und die Videoüberwachung?«, hatte ich ihn gefragt.

»Offenbar wird genau die Stelle, wo Mr. Kovak erschossen wurde, von keiner Überwachungskamera der Rennbahn erfasst, und die Fernsehkameras hatten sie auch nicht im Bild.«

Der Mörder hatte gewusst, was er tat. Offensichtlich ein Profi.

Aber wieso?

Alle Überlegungen führten zu derselben Frage zurück. Welchen Grund hatte jemand, Herb Kovak umzubringen? Ich wusste zwar, dass manche unserer Kunden ziemlich sauer werden konnten, wenn eine ihnen empfohlene Anlage statt im Wert zu steigen in den Keller ging, aber deshalb gleich morden? Wohl kaum.

Killer und Auftragsmörder gehörten zu einer anderen Welt als der, in der Menschen wie Herb und ich lebten. Wir hatten lediglich mit Zahlen und Computern, Gewinnen und Erträgen, Zinsen und Renditen zu tun, nicht mit Schusswaffen, Blei und gewaltsamem Tod.

[16] Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass der Mörder, ob Profi oder nicht, den Falschen erschossen hatte.

Müde und hungrig stellte ich den Mercedes vor unserem Haus in der Lichfield Grove in Finchley ab. Es war zehn vor zwölf, knapp sechzehn Stunden seit ich hier weggefahren war. Mir schien es länger her – eher wie eine ganze Woche.

Claudia hatte auf mich gewartet und kam heraus zum Wagen.

»Jetzt hab ich die Nachrichten gesehen«, sagte sie. »Ich kann’s nicht glauben.«

So ging es mir auch. Als könnte es nicht wahr sein.

»Ich stand direkt neben ihm«, sagte ich. »Gerade hatte er noch gelacht und mich gefragt, auf welches Pferd wir setzen sollten, und im nächsten Moment war er tot.«

»Furchtbar.« Sie streichelte meinen Arm. »Weiß man schon, wer es war?«

»Wenn, dann hat man es mir nicht gesagt. Und in den Nachrichten?«

»Nichts weiter. Zwei sogenannte Experten konnten sich nicht einigen, ob Terrorismus oder das organisierte Verbrechen dahintersteckt.«

»Das war ein Auftragsmord«, sagte ich entschieden. »Ganz klar.«

»Aber mein Gott, wer hätte Herb Kovak denn umbringen lassen sollen?«, wandte Claudia ein. »Ich kannte ihn zwar nur flüchtig, aber er war doch ganz friedlich.«

[17] »Stimmt«, sagte ich, »und ich neige immer mehr zu der Ansicht, dass er einer Verwechslung zum Opfer gefallen ist. Deshalb hält die Polizei vielleicht auch seinen Namen zurück. Der Mörder soll nicht wissen, dass er den Falschen erschossen hat.«

Ich ging um den Wagen herum und machte den Kofferraum auf. Bei der Ankunft in Aintree hatten wir wegen des warmen Frühlingswetters unsere Jacken im Auto gelassen. Da lagen sie beide, Herbs dunkelblaue auf meiner braunen.

»O Gott«, rief ich, von neuem aufgewühlt, »was mach ich denn jetzt damit?«

»Lass sie liegen«, sagte Claudia und klappte den Kofferraum zu. »Komm, Nick. Zeit, dass du schlafen gehst.«

»Ich könnte erst mal was zu trinken gebrauchen.«

»Auch gut.« Sie lächelte. »Trinken wir was, und dann gehen wir schlafen.«

Wesentlich besser fühlte ich mich am Morgen nicht, aber das lag vielleicht auch daran, dass ich etwas mehr als geplant getrunken hatte, ehe ich gegen zwei schließlich ins Bett gegangen war.

Aus Alkohol hatte ich mir noch nie viel gemacht, schon weil ich in meiner Jockeyzeit immer aufs Gewicht hatte achten müssen. Ich hatte die Schule mit drei Bestnoten abgeschlossen und zur großen Bestürzung meiner Eltern und Lehrer den mir offenstehenden Platz an der Londoner Wirtschaftsuni LSE sausenlassen, weil mir ein Leben im Sattel vorschwebte. So war ich mit achtzehn, dem Alter, in dem viele Studierende ihre [18] neugewonnene Freiheit dazu nutzen, sich jede Menge Alkohol hinter die Binde zu kippen, im Trainingsanzug durch die Straßen von Lambourn getrabt oder hatte in der Sauna ein paar Pfunde heruntergeschwitzt.

Gestern Abend aber hatten mir die Ereignisse des Tages auf einmal so zugesetzt, dass ich die von Weihnachten übriggebliebene halbe Flasche Malt Whisky hervorgeholt und komplett ausgetrunken hatte. Aber natürlich konnte auch der Alkohol die Dämonen nicht aus meinem Kopf vertreiben, und ich hatte noch lange wach gelegen, ohne das Bild von Herb loszuwerden, wie er in einer Leichenhalle in Liverpool auf einer Marmorplatte auskühlte.

Am Sonntagmorgen war das Wetter so verdreht wie ich, ein kalter Nordwind mit heftigen Aprilschauern.

Gegen zehn, als der Regen gerade einmal aussetzte, lief ich schnell zum Kiosk an der Regent’s Park Road, um mir die Sonntagszeitung zu kaufen.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Mr. Foxton«, sagte der indische Inhaber.

»Morgen, Mr. Patel«, grüßte ich zurück. »Wenn ich ihn auch nicht gerade schön finde.«

Mr. Patel lächelte und schwieg. Wir wohnten zwar im selben Viertel, gehörten aber doch verschiedenen Kulturen an.

Sämtliche Blätter brachten die gleiche Story auf der Titelseite: TOD AUF DER RENNBAHN hier, MORD BEIM GRAND NATIONAL dort, TODESSCHÜSSE IN AINTREE und Ähnliches.

[19] Ich sah sie schnell alle durch. Nirgends wurde das Opfer mit Namen genannt, und mir schien, dass man für das Ungemach der Zuschauer viel mehr Verständnis und Mitgefühl aufbrachte als für das Schicksal des armen Herb. Dass die Berichterstatter Mutmaßungen anstellten, war angesichts der fehlenden Fakten zwar zu erwarten, aber dass sie so wenig Mitleid mit dem Opfer zeigten, erstaunte mich denn doch.

Eine Zeitung stellte sogar die Vermutung an, der Mord habe mit Drogen zu tun, und ließ durchblicken, dass man im Grunde froh sein könne.

Ich kaufte eine Sunday Times, weil ihre Schlagzeile – POLIZEI JAGT RENNBAHNMÖRDER – nicht ganz so reißerisch war und der Bericht selbst wenigstens nicht davon ausging, dass Herb den Tod wohl verdient hatte.

»Danke, Sir.« Mr. Patel gab mir mein Wechselgeld heraus.

Ich klemmte mir die dicke Zeitung unter den Arm und ging wieder nach Hause.

Die Lichfield Grove ist eine typische Londoner Vorstadtstraße mit Doppelhäusern aus den dreißiger Jahren mit Erkerfenstern und kleinen Vorgärten.

Obwohl ich dort nun schon acht Jahre wohnte, kannte ich meine Nachbarn nur vom Sehen und gelegentlichen Zuwinken, wenn wir einmal gleichzeitig wegfuhren oder nach Hause kamen. Mr. Patel vom Kiosk war mir sogar vertrauter als die Leute von nebenan. Verheiratet, Jane und Phil (oder John?), hatte ich zwar im Kopf, aber ich wusste weder, wie sie mit Nachnamen hießen, noch, was sie beruflich machten.

[20] Wie seltsam es doch war, dass Menschen Tür an Tür wohnen konnten, ohne irgendetwas miteinander zu tun zu haben. Ganz anders als das mir von früher bekannte Leben auf dem Dorf, wo jeder alles über alle wissen wollte und selten etwas ein Geheimnis blieb.

Ich fragte mich, ob ich mehr am Gemeinschaftsleben teilnehmen sollte. Das hing wohl davon ab, wie lange ich noch hierbleiben wollte.

Viele meiner Rennsportfreunde fanden Finchley eine sonderbare Wahl für mich, aber ich hatte einen Schlussstrich unter meine Vergangenheit ziehen wollen. Wollen ist gut! Ein Unfall hatte mich gezwungen, das Rennreiten aufzugeben, als ich gerade anfing, mir als Jockey einen Namen zu machen. Ein Bruch des zweiten Halswirbels, der Axis, auf welcher der Atlas sitzt, der das Drehen des Kopfes ermöglicht. Kurz, ich hatte mir den Hals gebrochen.

Und ich kann von Glück sagen, dass der Unfall weder tödlich war noch ich gelähmt, denn beides hätte leicht passieren können. Dass ich jetzt hier durch die Lichfield Grove lief, hatte ich allein dem schnellen Handeln und der Fürsorge der Sanitäter zu verdanken, die an jenem Schicksalstag in Cheltenham Dienst taten. Sie hatten darauf geachtet, Hals und Wirbelsäule zu fixieren, bevor sie mich abtransportierten.

Es war ein blöder Sturz gewesen, an dem ich zugegebenermaßen selbst nicht ganz unschuldig war.

Das letzte Rennen am Mittwoch des Hindernisfestivals in Cheltenham ist das sogenannte Bumper, ein Flachrennen für Hindernispferde. Keine Sprünge, keine [21] Hürden, nur dreitausendzweihundert Meter wogendes, frisches grünes Gras zwischen Start und Ziel. Es ist nicht gerade das spektakulärste Rennen der Woche, und viele Zuschauer waren bereits zu den Parkplätzen oder den Gaststätten abgewandert.

Aber die Konkurrenz im Bumper ist groß, und die Jockeys nehmen es sehr ernst. Nur selten bekommen Hindernisreiter Gelegenheit, Willie Shoemaker und Frankie Dettori nachzueifern. Das Tempo ohne die den Laufrhythmus gliedernden Sprünge einzuschätzen ist eine Kunst, und zu wissen, wo und wann man zum Schlussspurt ansetzt, kann alles entscheidend sein.

An dem fraglichen Mittwoch vor etwas mehr als acht Jahren hatte ich ein Pferd geritten, das die Racing Post wohlwollend als »Außenseiter« bezeichnet hatte. Das Pferd kannte nur ein Tempo – mittelschnell –, und hatte es in keinem seiner Hufe, irgendwen am Schlussberg niederzuringen. Meine einzige Chance war, vom Start weg das Tempo zu machen und den anderen vor dem Schlussspurt davonzulaufen.

Bis zu einem gewissen Punkt klappte das gut.

Auf halber Strecke lagen mein Pferd und ich rund fünfzehn Längen vorn und hatten auch noch Luft, als es nach links den Berg hinunterging. Aber die Verfolger waren immer lauter zu hören, und im Einlaufbogen rauschten sechs oder sieben an uns vorbei wie Ferraris an einer Dampfwalze. Das Rennen war gelaufen, und mich wunderte das ebenso wenig wie die letzten paar Zuschauer auf der Tribüne.

[22] Vielleicht spürte das Pferd, was da in mir vorging – wie Erregung und Vorfreude in Resignation und Enttäuschung umschlugen. Oder es konzentrierte sich nicht mehr auf seine Aufgabe, wie auch der Jockey in Gedanken schon bei den Rennen und Ritten der kommenden Tage war.

Aus welchem Grund auch immer, das Pferd, das gerade noch unverdrossen in mäßigem Tempo dahingaloppiert war, stolperte plötzlich und ging wie von einem Schuss gefällt zu Boden.

Ich hatte mir die Fernsehaufzeichnung angesehen. Ich hatte keine Chance gehabt.

Über den Hals des Pferdes hinweggeschleudert, landete ich mit dem Kopf voran. Zwei Tage später war ich mit einer »Halo-Fixateur« genannten, buchstäblich am Schädel festgeschraubten Stützvorrichtung aus Metall und mit höllischen Kopfschmerzen in der neurochirurgischen Abteilung des Frenchay Hospitals in Bristol aufgewacht.

Als mir drei leidige Monate später die Metallkrone abgenommen wurde, fing ich an, mich wieder in Form zu bringen, doch die Ärzte der Rennsportbehörde machten meine Hoffnung zunichte, indem sie mich für invalid erklärten. »Zu riskant«, meinten sie. »Der nächste Sturz auf den Kopf könnte tödlich sein.« Ich hielt ihnen entgegen, dass ich das Risiko in Kauf nähme und dass eine Kopflandung auch mit einem unbeschädigten Genick tödlich sein könne.

Vergebens führte ich ihnen vor Augen, dass Jockeys immer ihren Hals riskierten, wenn sie mit fünfzig [23] Stundenkilometern über anderthalb Meter hohe Hindernisse wischten, dass sie es gewohnt seien, Risiken auf sich zu nehmen und die Konsequenzen zu tragen, ohne die Behörden verantwortlich zu machen. »Bedaure«, hieß es. »Unser Beschluss ist endgültig.«

Und das war’s dann.

Der Anfänger, der jüngste Grand-National-Sieger seit Bruce Hobbs 1938, von vielen als kommender Champion gehandelt, stand plötzlich als einundzwanzig Jahre alter Exjockey mit leeren Händen da.

»Du brauchst eine Ausbildung, sonst hast du nichts, wenn deine Jockeyzeit vorbei ist«, hatte mein Vater in einem letzten Anlauf, mich zum Studium zu überreden, gesagt, als ich mit achtzehn auf die Rennbahn wollte.

»Studieren kann ich immer noch«, war meine Antwort, und so hatte ich mich mit Verspätung dann doch noch an der LSE für Wirtschaft und Politik eingeschrieben.

Und so war ich auch nach Finchley gekommen und hatte mit dem Geld aus meiner letzten erfolgreichen Rennsaison eine Anzahlung auf das Haus geleistet.

Die U-Bahn-Station Finchley Mitte war nur zehn Haltestellen von der Wirtschaftsuniversität entfernt.

Aber leichtgefallen war mir der Neuanfang nicht.

Ich hatte mich an die adrenalingesättigte Erregung des Hindernisreitens, an den Wettkampf gewöhnt. Siegen, siegen, siegen – nichts anderes zählte. Immer wollte ich siegen. Es ging mir über alles. Dafür lebte ich. Es war eine Droge, und ich war süchtig.

[24] Plötzlich auf Entzug, litt ich fürchterlich. Delirium tremens konnte nicht schlimmer sein.

Damals, in den ersten Monaten, machte ich gute Miene zum bösen Spiel, kaufte das Haus, bereitete mich aufs Studium vor, haderte zwar mit meinem Schicksal, behauptete jedoch, ich sei über den Berg, aber innerlich war ich krank, verzweifelt und dem Selbstmord nah.

Am dunklen Himmel kündigte sich ein weiterer Regenguss an, als ich mit der Zeitung unterm Arm zu unserem Haus kam. Wie viele meiner Nachbarn hatte ich den kleinen Vorgarten betoniert und in einen Parkplatz umgewandelt, auf dem jetzt mein altes Mercedes Sportcoupé stand. Voller Stolz hatte ich mir den Wagen von meiner Prämie für den Grand-National-Sieg gekauft. Das war jetzt zehn Jahre und fast dreihunderttausend Kilometer her, und langsam wurde es wirklich Zeit für einen neuen.

Ich öffnete den Kofferraum und schaute auf die beiden Jacken. Am Abend war der Anblick von Herbs blauem Kaschmirjackett für mich kaum zu ertragen gewesen, aber jetzt sah ich nur ein herrenloses Kleidungsstück darin.

Ich nahm beide heraus, machte die Klappe zu und eilte ins Haus, als mich die ersten dicken Tropfen trafen.

Meine Jacke hängte ich in die Garderobe; was ich mit der von Herb machen sollte, wusste ich nicht. Sie gehörte wohl jetzt seiner Familie, und die würde sie irgendwann auch bekommen.

[25] Fürs Erste hängte ich sie neben meine in den Flur.

Weshalb ich die Taschen durchgegangen bin, weiß ich selbst nicht genau. Vielleicht dachte ich, sein Wohnungsschlüssel sei darin, weil er die Jacke trug, als ich ihn abgeholt hatte.

Einen Schlüssel fand ich nicht, aber einen zusammengeknüllten Zettel in der linken Tasche. Ich strich ihn an der Wand glatt.

Ungläubig las ich, was da klipp und klar in schwarzem Kugelschreiber geschrieben stand:

SIE HÄTTEN TUN SOLLEN, WAS MAN IHNEN GESAGT HAT. JETZT SAGEN SIE ZWAR, ES TUT IHNEN LEID, ABER ES WIRD IHNEN NICHT LANGE LEIDTUN.

War Herb demnach wirklich das Ziel gewesen? Hatte der Mörder den Richtigen erschossen? Und wenn ja, warum?

[26] 2

Am Sonntagmorgen las ich immer wieder die Sätze auf dem Zettel und überlegte, ob da wirklich ein Mord angekündigt wurde oder ob es sich um eine harmlose Nachricht handelte, die nichts mit den Ereignissen beim Grand National am vergangenen Nachmittag zu tun hatte.

SIE HÄTTEN TUN SOLLEN, WAS MAN IHNEN GESAGT HAT. JETZT SAGEN SIE ZWAR, ES TUT IHNEN LEID, ABER ES WIRD IHNEN NICHT LANGE LEIDTUN.

Ich kramte die Visitenkarte hervor, die mir der Kriminalbeamte in Aintree gegeben hatte: Inspektor Paul Matthews, Polizei Merseyside. Unter der angegebenen Telefonnummer erreichte ich ihn nicht. Ich bat ihn auf dem Anrufbeantworter, mich zurückzurufen.

Wer hatte Herb was gesagt? Und wem hatte er gesagt, »es« tue ihm leid?

Da es zwecklos war, das austüfteln zu wollen, gab ich auf und las die Beiträge zum Mord in der Sunday Times. Wieder dachte ich daran, meinen Chef anzurufen, aber er las natürlich auch Zeitung und würde noch früh genug erfahren, dass sein persönlicher Assistent [27] ermordet worden war. Wozu ihm den Sonntagsbraten verderben?

Aus meinen Jockeytagen wusste ich nur zu gut, dass man nicht glauben sollte, was in der Zeitung steht, aber diesmal war ich doch erstaunt über die genaue Wiedergabe der Tatsachen. Die Korrespondenten der Sunday Times hatten offenbar einen guten Draht zur Polizei Merseyside, wenn auch nicht so gut, dass sie dem Opfer einen Namen hätten geben können. Und über das Mordmotiv wussten sie wenig bis gar nichts, was sie aber nicht davon abhielt, Mutmaßungen anzustellen.

»Die kalte Präzision, mit der hier vorgegangen wurde, deutet ganz auf einen vom organisierten Verbrechen in Auftrag gegebenen Mord hin.« Weshalb sie auch annahmen, der Name des Opfers werde zurückgehalten, weil es sich um einen bekannten Kriminellen handelte und man potentielle Zeugen nicht abschrecken wollte.

»So ein Quatsch«, sagte ich laut.

»Was denn?«, fragte Claudia.

Ich saß vor der auf dem Tisch ausgebreiteten Zeitung in unserer kleinen Küche, während Claudia, die langen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, einen Geburtstagskuchen für ihre Schwester buk.

»Was die hier schreiben«, antwortete ich. »Die meinen offenbar auch, Herb sei ein Krimineller gewesen und habe den Tod verdient.«

»War er denn einer?« Claudia drehte sich zu mir um.

»Natürlich nicht«, sagte ich entschieden.

[28] »Woher willst du das wissen?«, fragte sie, genau wie der Inspektor.

»Ich weiß es eben. Ich habe fünf Jahre lang am Tisch neben ihm gearbeitet. Da hätte ich ja wohl gemerkt, ob er krumme Sachen macht.«

»Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Haben die Mitarbeiter von Bernie Madoff vielleicht gemerkt, dass er ein Betrüger war? Oder denk an den Arzt, Harold Shipman. Er hat im Lauf von zwanzig Jahren über zweihundert seiner Patienten ermordet, ehe jemand Verdacht schöpfte.«

Sie hatte recht. Wie meistens.

Ich hatte Claudia in meinem zweiten Jahr an der LSE kennengelernt, genau gesagt in der U-Bahn, der Londoner U-Bahn, die nicht gerade fürs Kontakteknüpfen bekannt ist. An dem betreffenden Abend vor knapp sechs Jahren war ich auf dem Weg zu einer Spätveranstaltung an der Uni und saß neben Claudia, als der Zug in einem Tunnel zum Stehen kam. Zwanzig Minuten später kam der Fahrer nach hinten durch und erklärte, in Euston gebe es wegen einem Kurzschluss ein Problem mit den Signalen. Wieder zwanzig Minuten später fuhren wir langsam in Kentish Town ein, wo alle den Zug verlassen mussten.

Zu der Univeranstaltung kam ich dann nicht mehr.

Claudia und ich gingen lieber zum Abendessen in einen Pub. Es war durchaus kein romantisches Essen, sondern rein geschäftlich. Ich hatte festgestellt, dass das Studentenleben viel teurer war als gedacht, und Claudia brauchte als Kunststudentin eine Wohnung in der Nähe der Byam Shaw School of Art.

[29] Im Lauf des Abends einigten wir uns. Sie würde zur Untermiete in mein Gästezimmer einziehen und sich an der Hypothek beteiligen.

Noch im selben Monat wurde sie meine Freundin und tauschte das Gästebett gegen meines, mietete aber weiterhin das Gästezimmer als ihr Atelier.

Das Arrangement bestand immer noch, nur war ihre Miete seit der Studentenzeit auf null gesunken, da mein Einkommen stetig gestiegen war und sie nach wie vor keins hatte.

»Auf die Verkaufszahlen kommt es in der Kunst nicht an«, verteidigte sie sich jedes Mal, wenn ich sie deswegen aufzog. »Da zählt nur die Kreativität.«

Und kreativ war sie zweifellos. Ich wünschte mir nur manchmal, andere würden ihre Werke so weit schätzen, dass sie Geld dafür hinblätterten. Stattdessen stapelten sich im dritten Schlafzimmer des Hauses so viele fertige Gemälde, dass kein Bett mehr hineinpasste.

»Eines Tages«, sagte sie immer, »bringen die zigtausend ein, dann bin ich reich.« Aber das Hauptproblem war, dass sie sich eigentlich nicht davon trennen wollte und sie deshalb gar nicht zum Verkauf anbot. Es war, als malte sie nur für sich allein. Und sie hatten definitiv eine eigene Note – düster und unheimlich, verstörende surreale Bilder voller Schmerz und Unglück.

Abgesehen von einer Naturstudie in Blei aus ihrer Studienzeit hing keins ihrer Werke bei uns an den Wänden, weil ich sie einfach nicht um mich haben konnte.

Mit der Künstlerin war ich erstaunlicherweise trotzdem glücklich.

[30] Eine ganze Zeit lang hatte ich mir Sorgen um ihren Geisteszustand gemacht, aber anscheinend steckte sie ihre düsteren Gedanken samt und sonders in ihre Gemälde, so dass sie außerhalb ihrer Malerei ein Leben in Licht und Farbe führen konnte.

Sie selbst hatte keine schlüssige Erklärung für ihre dunkle Bilderwelt und bestritt, dass sie etwas mit dem frühen und plötzlichen Tod der Eltern zu tun haben könnte. Es werde einfach so, wenn sie vor der Leinwand stehe, sagte sie.

Ich hatte oft daran gedacht, eine Auswahl ihrer merkwürdigsten Gemälde einem Psychiater zu zeigen, um herauszufinden, ob irgendeine Störung vorlag, wollte das aber nicht ohne ihr Einverständnis tun und hatte mich nicht getraut, sie zu fragen.

Also hatte ich es bleibenlassen. Direkte Konfrontation war mir schon immer unangenehm gewesen, nicht zuletzt, weil ich sie bei meinen Eltern im Übermaß erlebt hatte, ein mehr als dreißig Jahre währender Kampf mit Zähnen und Klauen, bis sie sich mit beinah sechzig endlich scheiden ließen.

»Hier steht aber«, ich wies auf die Zeitung, »dass der Mord aussehe wie eine bestellte Tötung bei einem Bandenkrieg. Und wenn Herb in so etwas verwickelt gewesen wäre, hätte ich das schon mitbekommen.«

»Meine Freunde haben bestimmt alle möglichen Leichen im Keller, von denen wir nie was erfahren werden.«

»Wie zynisch du bist«, sagte ich, aber ein paar komische Freunde hatte sie wirklich.

[31] »Realistisch«, erwiderte sie. »Dann wird man nicht so schnell enttäuscht.«

»Enttäuscht?«

»Ja. Ich erwarte das Schlimmste von den Leuten, und wenn es sich dann bewahrheitet, nehme ich es nicht so schwer.«

»Erwartest du von mir auch das Schlimmste?«

»Sei nicht albern«, sagte sie, kam zu mir und fuhr mir mit ihren mehlbestäubten Händen durch die Haare. »Deine schlimmsten Seiten kenne ich doch.«

»Und bist du enttäuscht?«

»Na, und wie!«, meinte sie lachend.

Aber ich fragte mich, ob es stimmte.

Als ich am Montagmorgen um Viertel nach acht zum Büro von Lyall & Black im vierten Stock der Lombard Street 64 kam, blockierte ein stämmiger, noch recht junger Polizist in Uniform samt Helm und kugelsicherer Weste die Tür.

»Tut mir leid, Sir«, sagte er ordnungshüterisch, statt mich durchzulassen, »ohne die Erlaubnis meines Vorgesetzten hat hier niemand Zutritt.«

»Aber ich arbeite hier.«

»Name, Sir?«

»Nicholas Foxton.«

Er zog eine Liste aus der Hosentasche.

»Mr. N. Foxton«, las er ab. »In Ordnung, Sir, Sie können rein.« Er trat ein wenig zur Seite, um mich vorbeizulassen, baute sich dann aber sofort wieder auf, als erwarte er einen Ansturm von Nichtaufgelisteten.

[32] Noch nie war bei Lyall & Black so früh am Morgen so viel los gewesen.

Die beiden Firmenchefs Patrick Lyall & Gregory Black lehnten im Wartebereich an der brusthohen Empfangstheke.

»O hallo, Nicholas«, sagte Patrick, als ich hereinkam. »Die Polizei ist da.«

»Das sehe ich. Ist es wegen Herb?«

Beide nickten.

»Wir sind seit sieben Uhr da«, sagte Patrick. »Man lässt uns aber nicht in unsere Büros. Wir müssen hier warten.«

»Haben sie denn gesagt, wonach sie suchen?«

»Nein«, erwiderte Gregory verärgert. »Vermutlich hoffen sie, einen Hinweis auf den Täter zu finden. Aber mir gefällt das nicht. Womöglich liegen sensible Kundenunterlagen auf dem Tisch, die sollten sie nicht sehen. Das ist streng vertraulich.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Polizei irgendetwas als vertraulich gelten ließ, wenn sie annahm, es könnte auf die Spur eines Mörders führen.

»Wann haben Sie von seinem Tod erfahren?«, fragte ich. Ich wusste, dass in den Sonntagabendnachrichten endlich auch Herbs Name genannt worden war.

»Gestern Nachmittag«, sagte Patrick. »Die Polizei rief bei mir an, dass sie uns heute Morgen hier sprechen wollte. Und Sie?«

»Ich wollte Sie am Samstag anrufen, konnte Sie aber nicht erreichen«, antwortete ich. »Ich war mit Herb zusammen, als er erschossen wurde.«

[33] »Mein Gott«, sagte Patrick. »Stimmt, ja. Sie wollten zusammen zum Pferderennen.«

»Und ich stand direkt neben ihm, als die Schüsse fielen.«

»Wie furchtbar«, meinte Patrick. »Haben Sie gesehen, wer ihn erschossen hat?«

»Irgendwie schon. Aber ich hab vor allem auf die Waffe geachtet.«

»Ich versteh das einfach nicht.« Patrick schüttelte den Kopf. »Weshalb bringt jemand Herb Kovak um?«

»Schreckliche Geschichte«, sagte Gregory, ebenfalls kopfschüttelnd. »Nicht gut fürs Geschäft. Überhaupt nicht.«

Für Herb war es auch nicht besonders, dachte ich bei mir, behielt das aber für mich. Die kleine Firma Lyall & Black hatte sich einzig durch die Entschlossenheit von Patrick Lyall & Gregory Black zu einer bedeutenden Größe im Finanzdienstleistungssektor entwickelt. Die Richtung, die Lyall & Black einschlug, nahmen andere meist auch. Wir gingen kreativ mit den Anlagen unserer Kunden um und empfahlen oft Möglichkeiten, die konservativere Berater vielleicht als zu riskant betrachtet hätten.

Alle unabhängigen Finanzberater müssen sich ein Bild von der Risikobereitschaft ihrer Kunden machen. Anlagen mit geringem Risiko wie etwa Sparkonten oder mit AAA bewertete Staatsanleihen werfen eher wenig Gewinn ab, doch das Kapital ist sicher. Mittelriskant wären Anteile an großen Unternehmen oder Investmentgesellschaften, die mehr Gewinn abwerfen, bei fallenden [34] Kursen aber auch zu Kapitalverlusten führen können. Bei hochriskanten Anlagen wie etwa Wagniskapitalfonds und Devisengeschäften sind zwar hohe Gewinne möglich, hohe Verluste aber auch nicht auszuschließen.

Lyall & Black ging jedoch weiter und empfahl auch Anlagen, die mit geradezu extremen Risiken verbunden waren: die Finanzierung von Filmen und Theaterstücken, Anteile an Weinfonds, an ausländischen Grundstücksportefeuilles oder an Kunstwerken. Die Erträge konnten enorm sein, aber ebenso groß war die Gefahr, dabei alles zu verlieren.

Gerade diese Unerschrockenheit hatte mich auf die Firma aufmerksam gemacht.

Ein galoppierendes Pferd in die Seiten zu kicken, damit es weiter ausgriff, damit der Absprung passte, war eine ebenso riskante Strategie, die leicht zu einem bösen Sturz führen konnte. Eine sicherere Alternative wäre, das Pferd zurückzunehmen, damit es verkürzte und einen Zwischentritt einschob. Sicherer, aber auch langsamer, viel langsamer. Ich für mein Teil legte mich lieber bei dem Versuch zu siegen ins Gras, als dass ich mich mit Platz zwei zufriedengab.

»Wie lange wollen die uns hier noch warten lassen?«, fragte Gregory Black aufgebracht. »Ist denen nicht klar, dass wir zu arbeiten haben?«

Er bekam keine Antwort.

Nach und nach trafen auch die anderen Mitarbeiter ein, so dass es im Vorzimmer ziemlich voll wurde. Die meisten hatten erst bei ihrer Ankunft von Herbs Tod erfahren und waren überhaupt nicht mehr auf Arbeit [35] eingestellt. Den beiden Frauen, die als Empfangsdamen und Chefassistentinnen fungierten, liefen die Tränen. Herb war auch bei ihnen beliebt gewesen, nicht zuletzt, weil er so anders war als der normale zugeknöpfte Londoner Finanzmensch in Nadelstreifen.

Herb hatte gern den Amerikaner im Ausland gegeben, der am vierten Juli mit Zuckerstangen und Apfelkuchen im Büro erschien, die Belegschaft im November zu einem Truthahnessen mit allem Drum und Dran einlud und jeden neugewonnenen Kunden mit einem langgezogenen, lauten »Jippie!« feierte. Herb war immer für einen Lacher gut gewesen, und ohne ihn würde es im Büro längst nicht mehr so fröhlich zugehen.

Gegen halb zehn schließlich betrat ein Mann mittleren Alters in einem schlechtsitzenden grauen Anzug das Vorzimmer und wandte sich an die Wartenden.

»Meine Damen und Herren«, begann er steif. »Ich bin Chefinspektor Tomlinson von der Polizei Merseyside. Verzeihen Sie bitte die Umstände, aber wie Sie wissen, untersuchen meine Kollegen und ich den Mord an Herbert Kovak auf der Rennbahn in Aintree am Samstagnachmittag. Da wir noch einige Zeit brauchen werden, bitte ich Sie um Geduld. Allerdings muss ich Sie auch bitten hierzubleiben, denn ich möchte mit jedem Einzelnen von Ihnen sprechen.«

Gregory Black schien darüber nicht gerade erbaut. »Können wir denn nicht in unseren Büros arbeiten, während wir warten?«

»Das wird leider nicht gehen«, antwortete der Inspektor.

[36] »Und wieso nicht?«, fragte Gregory.

»Weil ich nicht möchte, dass irgendjemand von Ihnen«, er blickte in die Runde, »Zugang zu den Computern hat.«

»Das ist doch wohl die Höhe«, empörte sich Gregory. »Wollen Sie hier irgendjemandem vorwerfen, er habe etwas mit Mr. Kovaks Tod zu tun?«

»Ich werfe niemandem etwas vor«, lenkte Chefinspektor Tomlinson ein. »Ich muss nun mal an alle Eventualitäten denken. Für den Fall, dass Mr. Kovaks Computer Beweismaterial enthält, muss gewährleistet sein, dass es nicht durch Zugriff vom Firmenserver kontaminiert wird, das verstehen Sie doch sicher.«

Gregory war alles andere als beschwichtigt. »Unsere sämtlichen Dateien werden extern gesichert und sind in allen gesicherten Versionen abrufbar. Das ist doch einfach lächerlich.«

»Mr. Black.« Der Kriminalbeamte wandte sich ihm zu und sah ihm ins Gesicht. »Sie vergeuden meine Zeit. Je eher ich wieder an die Arbeit gehen kann, desto früher kommen Sie auch wieder in Ihr Büro.«

Ich sah Gregory Black an. So hatte vermutlich seit der Schulzeit keiner mehr mit ihm geredet, wenn überhaupt jemals. In völliger Stille warteten alle im Raum auf die Explosion, die jedoch ausblieb. Er brummte nur irgendetwas und wandte sich ab.

Aber in einem Punkt hatte Gregory ganz recht: Uns nicht an unsere Computer zu lassen war lächerlich. Einige Mitarbeiter konnten von ihren Laptops aus auf die Firmendateien zugreifen, wenn sie nicht im Büro [37] waren. Hätte also nach Herbs Tod jemand von uns die Dateien »kontaminieren« wollen, hätten wir übers Wochenende jede Gelegenheit dazu gehabt.

»Können wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen?«, fragte Jessica Winter, die Richtlinienbeauftragte der Firma. Der Kopierraum, der uns auch als Kaffeeküche diente, lag hinter den Büros und war deshalb im Moment für uns tabu.

»Ja«, antwortete der Chefinspektor, »aber nicht alle gleichzeitig. Ich möchte bald mit der Befragung anfangen. Und wenn Sie gehen, seien Sie bitte um zehn zurück.«

Jessica stand rasch auf und strebte zur Tür. Ein halbes Dutzend andere folgten ihr, darunter auch ich. Offensichtlich war keiner von uns scharf darauf, die nächste halbe Stunde auf engstem Raum mit Gregory Black zusammengepfercht zu sein.

Auf meine Befragung musste ich bis nach elf warten, und zu Gregory Blacks großem Ärger nahm mich der Ermittler gleich nach Patrick Lyall als Zweiten dran.

Ich weiß nicht, ob die Absicht dahintersteckte, Gregory noch etwas mehr vor den Kopf zu stoßen, aber die Befragungen wurden in seinem Büro und an seinem Schreibtisch vorgenommen, wobei Chefinspektor Tomlinson in dem ledernen Drehsessel saß, den sonst Gregorys stattliche Gestalt ausfüllte. Das kam sicher nicht gut an, dachte ich, schon gar nicht bei der Befragung eines gewissen Gregory Black.

»Also, Mr. Foxton«, begann der Chefinspektor und [38] schaute in seine Unterlagen. »Wie ich sehe, waren Sie am Samstagnachmittag auf der Rennbahn in Aintree und wurden dort bereits von einem meiner Kollegen befragt.«

»Ja«, sagte ich. »Von Inspektor Matthews.«

Er nickte. »Möchten Sie Ihrer Aussage vom Samstag noch irgendetwas hinzufügen?«

»Ja«, antwortete ich. »Ich habe gestern schon versucht, Inspektor Matthews zu erreichen, und ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er mich zurückrufen solle, was er aber nicht getan hat. Es ging um Folgendes.«

Ich nahm den Zettel aus der Tasche, den ich in Herbs Jacke gefunden hatte, faltete ihn auseinander und legte ihn so auf den Schreibtisch, dass der Chefinspektor den Text lesen konnte. Ich kannte ihn inzwischen auswendig:

SIE HÄTTEN TUN SOLLEN, WAS MAN IHNEN GESAGT HAT. JETZT SAGEN SIE ZWAR, ES TUT IHNEN LEID, ABER ES WIRD IHNEN NICHT LANGE LEIDTUN.

Erst nach einigen Sekunden sah Tomlinson mich wieder an. »Wo haben Sie das her?«

»Der Zettel steckte in Mr. Kovaks Jackentasche. Er hatte die Jacke bei mir im Wagen gelassen, als wir auf der Rennbahn ankamen. Ich habe ihn gestern erst gefunden.«

Der Chefinspektor las den Zettel noch einmal, ohne ihn anzufassen.

»Kennen Sie die Handschrift?«, fragte er.

[39] »Nein.« Aber die Sätze waren auch sorgfältig in Blockschrift geschrieben, Buchstabe für Buchstabe.

»Und Sie haben den Zettel angefasst?« Eine rhetorische Frage, nahm ich an, denn er hatte ja gesehen, wie ich ihn herausgenommen und auf dem Tisch glattgestrichen hatte. Ich schwieg.

»War Ihnen nicht klar, dass es sich um Beweismaterial handeln könnte? Wenn man so etwas anfasst, kann man wichtige Spuren zerstören.«

»Der Zettel lag zusammengeknüllt in seiner Jackentasche«, verteidigte ich mich. »Erst als ich ihn auseinandergefaltet hatte, sah ich, was draufstand, und da war es zu spät.«

Er las ihn noch einmal.

»Und was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. »Aber es könnte eine Warnung gewesen sein.«

»Warnung? Wieso das denn?«

»Ich habe die halbe Nacht darüber nachgedacht«, sagte ich. »Es ist offensichtlich keine Drohung, sonst stünde da ›Tun Sie, was man Ihnen gesagt hat, sonst passiert was‹ und nicht ›Sie hätten tun sollen‹.«

»Na schön«, räumte der Chefinspektor ein, »deshalb ist es aber noch keine Warnung.«

»Ich weiß. Aber überlegen Sie mal. Wenn man jemanden umbringen will, ruft man doch wohl kaum vorher an und sagt Bescheid. Damit würde man sich das Ganze nur erschweren, weil der andere auf der Hut wäre. Er könnte ja sogar Polizeischutz anfordern. Man [40] hätte nichts davon und könnte nur verlieren. Nein, so was macht man einfach – unangekündigt.«

»Sie haben wirklich darüber nachgedacht«, meinte er.

»Ja, allerdings. Und ich war bei Herb, als er ermordet wurde. Der Mörder hat nicht zuerst ›Sie hätten auf uns hören sollen‹ gesagt, bevor er geschossen hat. Ganz im Gegenteil. Die Schüsse fielen so plötzlich und so schnell, dass Herb wahrscheinlich tot war, bevor er wusste, was geschah. Und das verträgt sich nicht mit diesem Zettel.« Ich hielt inne. »Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass es eine Warnung von jemand anderem war, nicht vom Mörder. Im Grunde halte ich es noch nicht mal für eine Warnung, sondern fast für eine Entschuldigung.«

Der Chefinspektor sah mich ein paar Sekunden an. »Mr. Foxton«, sagte er schließlich, »wir sind hier nicht in einer Fernsehserie. Im richtigen Leben entschuldigen sich die Menschen nicht im Voraus dafür, dass sie jemanden umbringen.«

»Sie meinen also, ich liege falsch?«

»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete er zögernd. »Aber ich sage auch nicht, dass Sie recht haben. Darüber bilde ich mir noch kein Urteil.«

Ich hatte aber doch den Eindruck, dass er mir nicht glaubte. Er stand auf und trat zur Tür, und kurz darauf kam ein anderer Beamter herein, nahm vorsichtig mit einer Pinzette den Zettel vom Tisch und steckte ihn in eine Plastiktüte.

»Also«, sagte Tomlinson, als sich die Tür wieder schloss. »Gibt es Ihres Wissens irgendetwas an Mr. [41] Kovaks Arbeit, das mir helfen könnte zu verstehen, wieso er ermordet wurde?«

»Rein gar nichts«, antwortete ich.

»Mr. Lyall sagte mir, Sie und Mr. Kovak hätten eng zusammengearbeitet.« Ich nickte. »Was genau hat er denn gemacht?«

»Das Gleiche wie ich. In erster Linie war er Assistent von Patrick Lyall, aber er hatte auch eigene Kunden. Er –«

»Pardon«, unterbrach der Chefinspektor, »jetzt bin ich ein wenig verwirrt. Mr. Lyall hat nicht erwähnt, dass Mr. Kovak sein persönlicher Assistent war.«

»Er war ja auch nicht so was wie ein Sekretär«, sagte ich. »Er hat die Anlagen der Kunden von Mr. Lyall mitüberwacht.«

»Mhm«, machte er, als wäre er jetzt auch nicht klüger. »Könnten Sie mir einmal erläutern, was Sie hier so tun und was die Firma macht?«

»Gut, ich versuch’s«, sagte ich.

Ich holte tief Luft und überlegte, wie ich Chefinspektor Tomlinson unsere Arbeit schlüssig erklären könnte. »Einfach ausgedrückt verwalten wir das Geld anderer Leute. Das Geld unserer Kunden. Wir raten ihnen, wo und wann sie ihr Kapital anlegen sollten, und wenn sie einverstanden sind, investieren wir es für sie, beobachten, wie sich die Anlage entwickelt, und steigen eventuell auch um, wenn wir annehmen, dass woanders mehr herauszuholen ist.«

»Verstehe.« Er machte sich Notizen. »Und wie viele Kunden hat die Firma?«

[42] »Ganz so einfach ist das nicht«, sagte ich. »Wir sind zwar eine Firma, aber als Berater arbeiten wir eigenständig, und jeder hat eigene Kunden. Es gibt sechs eingetragene UFB