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Titelseite

 

Für meine Agentin Maura –

die so viel mehr ist als nur eine Agentin

 

Wahre Liebe vergisst nie.
 

Sprichwort

1

Manchmal träume ich, dass ich falle.

Natürlich beginnen diese Träume damit, dass ich fliege. Weil es schließlich das ist, was ich tue. Was ich bin. Was ich liebe.

Vor ein paar Wochen noch hätte ich gesagt, dass es das ist, was ich auf der ganzen Welt am liebsten mache. Aber seitdem hat sich viel verändert. Um nicht zu sagen, alles.

In diesen Träumen rase ich über den Himmel und bin so frei, wie ich es eigentlich sein sollte. Aber dann passiert auf einmal irgendetwas und plötzlich stürze ich strudelnd in die Tiefe.

Ich greife ins Leere und meine Schreie werden von einem zornig aufheulenden Wind verschluckt. Wie ein Stein falle ich nach unten. Wie ein Mensch ohne Flügel. Wie ein ganz normales Mädchen – und nicht wie ein Draki. Machtlos. Verloren.

Genau so fühle ich mich jetzt: Ich falle und falle und kann nichts dagegen tun. Ich kann das Fallen nicht aufhalten. Ich bin wieder in demselben Albtraum gefangen.

Bevor ich auf dem Boden aufschlage, wache ich immer auf. Das war bisher stets meine Rettung.

Nur, dass ich heute Nacht nicht träume. Heute Nacht schlage ich wirklich auf dem Boden auf. Und es ist genauso schmerzhaft, wie ich es erwartet habe.

Während Cassian den Wagen durch die Nacht steuert, lehne ich meine Wange gegen das kühle Fensterglas und starre hinaus in die reglose Dunkelheit. Mein Blick streift Steingärten und Stuckhäuser, die an uns vorüberziehen, und ich suche nach einer Antwort, einem Grund für das, was passiert ist.

Die Welt scheint den Atem anzuhalten, während wir langsam an einem Stoppschild zum Stehen kommen. Meine Augen wandern zu dem dunklen Himmel über uns. Ein tiefes, sternenloses Meer, das auf mich wie ein Zuflucht verheißendes Zeichen wirkt.

Vom Rücksitz aus dringt Mums Stimme an mein Ohr. Sie spricht in einem sanften Flüsterton mit Tamra und versucht, ihr eine Antwort zu entlocken. Ich löse meine Wange von der Fensterscheibe und werfe einen Blick über die Schulter. Meine Schwester liegt zitternd in Mums Armen. Ihre Augen starren ins Leere, ihre Haut ist leichenblass. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«, frage ich, weil ich einfach etwas sagen muss. Ich muss Gewissheit haben. Habe ich ihr das angetan? Ist auch das meine Schuld? »Was ist los mit ihr?«

Mum runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, so als ob ich besser den Mund halten sollte. Ich habe sie beide enttäuscht. Ich habe die eiserne Regel gebrochen.

Ich habe Menschen – schlimmer noch: Jägern – gegenüber meine wahre Gestalt gezeigt und jetzt müssen wir alle für diesen Fehler büßen. Dieses Wissen lastet schwer auf mir, wie ein erdrückendes Gewicht, das mich tief in meinen Sitz presst. Ich sehe wieder nach vorn und plötzlich werde ich von einem unkontrollierbaren Zittern erfasst. Ich verschränke die Arme und presse die Hände seitlich an den Körper in der Hoffnung, dadurch das Zittern unterdrücken zu können.

Cassian hat mich gewarnt, dass das, was ich heute Abend getan habe, Folgen haben wird, und ich frage mich, ob ich die ersten Konsequenzen bereits zu spüren bekomme. Ich habe Will verloren. Tamra ist krank oder steht unter Schock oder vielleicht ist es sogar noch schlimmer. Mum bringt es kaum fertig, mir ins Gesicht zu sehen. Jeder meiner Atemzüge verrät, wie elend ich mich fühle, während die Ereignisse des heutigen Abends hinter meinen Augenlidern brennen. Ich sehe, wie ich meine menschliche Haut ablege und mich vor Wills Familie verwandle. Wie ich verzweifelt durch die knisternde Luft zu ihm fliege. Doch wenn ich Will nicht im Flug zu Hilfe gekommen wäre, dann wäre er jetzt tot und diesen Gedanken könnte ich nicht ertragen. Ich werde Will nie wiedersehen, auch wenn er mir versprochen hat, dass er mich finden wird. Aber zumindest ist er am Leben.

Cassian neben mir sagt kein Wort. Er hat alles gesagt, was nötig war, um Mum dazu zu bringen, mit uns ins Auto zu steigen und ihr begreiflich zu machen, dass eine gemeinsame Rückkehr die einzige realistische Option ist – eine Rückkehr an den Ort, vor dem wir geflohen sind. Seine Finger halten das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Ich bezweifle, dass er seinen Griff lockern wird, bevor wir nicht endgültig aus Chaparral heraus sind. Wahrscheinlich sogar erst, wenn wir wieder sicher zurück im Rudel sind. Sicher. Ich ersticke fast an einem Lachen – oder vielleicht ist es auch ein Schluchzen. Werde ich mich jemals wieder sicher fühlen?

Die Häuserreihen fliegen an uns vorbei und lichten sich, als wir uns dem Stadtrand nähern. Bald werden wir weg sein. Frei von dieser Wüste und den Jägern. Frei von Will. Dieser Gedanke frisst sich tief in die blutende Wunde, die bereits in meinem Herzen klafft, aber daran ist nichts zu ändern. Hätte das mit uns denn jemals wirklich eine Zukunft gehabt? Eine Draki und ein Drakijäger? Ein Drakijäger, in dessen Adern das Blut von meinesgleichen fließt.

Dieser Teil der ganzen Sache spukt mir noch immer durch den Kopf, wenngleich ich die Tragweite dieser Tatsache noch nicht gänzlich erfasst habe. Ich kann nicht meine Augen schließen, ohne sofort das Bild seines in der Nacht dunkelrot schimmernden Blutes aufblitzen zu sehen. Sein Blut, das genauso aussieht wie mein eigenes. Mein Kopf schmerzt und hat Mühe, diese schreckliche Wahrheit zu akzeptieren. Egal, wie verständlich Wills Erklärung war, und egal, dass ich ihn immer noch liebe – das alles ändert nichts an der Tatsache, dass gestohlenes Drakiblut in seinen Adern pulsiert.

Cassian atmet langsam aus, als wir das Stadtgebiet verlassen.

»Das war’s dann also«, murmelt Mum, als sich die Entfernung zwischen uns und Chaparral vergrößert.

Ich drehe mich um und sehe, wie sie durch die Heckscheibe zurückblickt. Sie nimmt Abschied von ihrer Hoffnung, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Chaparral. Dort hatten wir noch einmal von vorn angefangen, weitab vom Rudel. Und jetzt sind wir auf dem Weg zurück zu ihm, direkt in seine Mitte.

»Es tut mir leid, Mum«, sage ich nicht allein aus Pflichtgefühl, sondern weil ich es wirklich ernst meine.

Mum schüttelt den Kopf und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, bekommt aber kein Wort heraus.

»Sieht ganz so aus, als wären wir in Schwierigkeiten«, verkündet Cassian. Vor uns versperren mehrere Autos die Straße und zwingen uns abzubremsen.

»Sie sind es«, bekomme ich gerade so über die Lippen und fühle mich wie betäubt, während Cassian auf die Autos zufährt.

»Sie?«, will Mum wissen. »Jäger?«

Ich nicke heftig. Jäger. Wills Familie.

Gleißendes Scheinwerferlicht durchschneidet die Dunkelheit und erleuchtet Cassians Gesicht. Sein Blick zuckt zum Rückspiegel und ich kann genau erkennen, dass er überlegt, einfach umzudrehen und in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Aber dafür ist es jetzt zu spät – eines der Autos hat sich in Bewegung gesetzt, um uns den Fluchtweg abzuschneiden. Ein paar Gestalten bauen sich vor unserem Wagen auf. Cassian steigt auf die Bremse, während seine Hände das Lenkrad noch fester umklammern. Ich weiß, dass er versucht, dem Drang zu widerstehen, die Jäger einfach umzupflügen. Ich verrenke mir den Hals auf der Suche nach Will, weil ich spüre, dass er hier ist, irgendwo da draußen unter all den anderen.

Harte, bissige Stimmen rufen uns zu, dass wir aussteigen sollen. Ich verhalte mich still und meine heißen Finger brennen sich in meine nackten Beine, bohren sich in die Haut hinein, als würde ich versuchen, zu dem Draki durchzudringen, der darunter verborgen liegt.

Eine Faust schlägt auf unsere Motorhaube und plötzlich sehe ich es – den Umriss einer Waffe in der Dunkelheit.

Cassians Blick trifft auf meinen und teilt mir mit, was ich bereits weiß. Wir müssen überleben. Sogar wenn es bedeutet, dass wir das tun müssen, was nur Drakis können. Genau das, was ich bereits getan habe und was uns heute Abend überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hat. Warum auch nicht? Es ist ja nicht so, als ob wir unser Geheimnis noch offensichtlicher preisgeben könnten.

Ich nicke und klettere aus dem Auto, um unseren Feinden die Stirn zu bieten.

Wills Cousin Xander macht einen Schritt nach vorn, stellt sich vor die anderen und grinst mich spöttisch an. »Hast du wirklich geglaubt, dass du einfach so davonkommst?«

Ein erdrückender Schmerz legt sich auf meine Brust. Es ist die Wut darüber, welchen Preis mir diese Monster heute Abend abgerungen haben. Asche sammelt sich hinten in meiner Kehle. Ich lasse zu, dass sich ein beißendes Brennen aufbaut, und mache mich bereit für alles, was kommen mag.

Ein Jäger schlägt mit der Faust gegen das Seitenfenster der Rückbank und schreit Mum und Tamra an. »Raus aus dem Wagen!«

Mum steigt mit aller Würde, die sie aufbringen kann, aus und zieht Tamra hinter sich her. Meine Schwester ist seit Big Rock immer blasser geworden; ihr keuchender Atem scheint die Luft regelrecht zu durchkratzen. Als sie so ins Leere starrt, wirken ihre bernsteinfarbenen Augen, die dieselbe Farbe haben wie meine, benebelt, ja nahezu glasig. Ihre Lippen öffnen sich, aber sie bekommt kein Wort heraus. Ich helfe Mum, sie zu stützen. Tam fühlt sich eiskalt an und ihre Haut wirkt ganz und gar nicht wie Haut. Eher wie kühler Marmor.

Mit der königlich-würdevollen Haltung, die einem Prinzen wie ihm gebührt, baut Cassian sich vor Xander auf. Das Licht spielt mit den violetten und schwarzen Strähnen seines Haares und bringt sie zum Glitzern.

Ich befeuchte meine Lippen und frage mich, wie ich Xander am besten davon überzeugen kann, dass er nicht gesehen hat, wie ich mich verwandelt habe. »Was willst du?«

Wills Cousin bohrt mir seinen Finger in die Brust. »Wir fangen mit dir an – was immer zum Teufel du auch bist.«

»Lass sie in Ruhe«, befiehlt Cassian.

Xanders Aufmerksamkeit richtet sich nun auf Cassian. »Und dann kommen wir zu dir, Großer … und dazu, wie es sein kann, dass du zusammen mit Will diesen Abhang hinuntergefallen bist und nicht einen einzigen Kratzer abbekommen hast.«

»Wo ist Will?«, platze ich heraus. Ich muss es einfach wissen. Xander zeigt mit dem Daumen auf eines der Autos neben uns. »Ist auf dem Rücksitz eingeschlafen.«

Ich blinzele gegen die Düsterkeit an und bemerke eine in sich zusammengesunkene Gestalt auf dem Rücksitz eines Autos. Will. Er ist so nah und doch fühlt es sich an, als läge ein ganzer Ozean zwischen uns. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er versprochen, dass er mich wiederfinden wird. Er war verletzt, aber bei Bewusstsein. Bei dem Gedanken daran, was seine eigene Familie getan haben könnte, um das zu ändern, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.

»Er braucht einen Arzt«, sage ich.

»Später. Wenn ich mit euch beiden fertig bin.«

»Hör zu«, fängt Cassian an und stellt sich vor mich. »Ich weiß ja nicht, was du denkst –«

»Ich denke, dass du den Mund halten solltest. Jetzt rede ich!«

Xander packt ihn an der Schulter. Ein schwerer Fehler.

Cassian knurrt und seine glänzende kohlrabenschwarze Haut blitzt auf. Schnelle, wirre Bewegungen wechseln einander in rascher Folge ab und schon liegt Xander rücklings auf dem Boden. Er wirkt genauso sprachlos und überrumpelt wie die anderen sechs, die um uns herumstehen.

»Schnappt ihn euch!«, ruft Xander.

Sofort fallen die anderen über Cassian her. Ich schreie auf und sehe Cassians Gesicht in der Menge der Jäger immer wieder kurz aufblitzen. Die klatschenden Geräusche von Faustschlägen lassen mich zusammenzucken und ich marschiere auf die Gruppe zu, fest entschlossen, ihm zu helfen, werde aber von mehreren Händen zurückgehalten.

Plötzlich grollt lautes Tiergebrüll durch die Luft. Es kommt von Cassian. Mehrere Jäger halten ihn am Boden fest. Angus grinst und stellt ihm einen seiner Stiefel auf den Rücken. Cassians Wange wird gegen den Asphalt gedrückt und sein Blick trifft auf meinen. Seine dunklen Augen zittern und seine Pupillen verengen sich zu senkrechten Schlitzen.

Kochend heiße Luft dringt aus meinen Lippen, aber ich kämpfe dagegen an und schüttle den Kopf, um Cassian zu bedeuten, dass er noch warten soll. Ich glaube noch immer, hoffe noch immer, dass wir uns mit Worten aus dieser Situation retten können. Dass er sich nicht auch als Draki zu erkennen geben muss. Vielleicht kann ich ihn noch beschützen. Vielleicht kann er es schaffen, zusammen mit Mum und Tamra von hier zu verschwinden.

Der kalte Lauf einer Waffe bohrt sich in meine Rippen und lässt mich erstarren.

Mum schreit auf und ich hebe eine Hand, um sie davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu tun, nur um mir zu helfen. »Bleib bei Tamra, Mum. Sie braucht dich!«

Xanders dunkler Blick mustert mich verächtlich. »Zum Teufel, ich weiß genau, was ich gesehen habe. Einen Freak mit Flügeln.«

Ich habe Mühe, die Angst, die mich erfasst hat, zu kontrollieren. Sie droht mich in einem einzigen hitzigen Schwall zu verschlingen – und es wäre fatal, sollte ich ausgerechnet jetzt meine Drakigestalt annehmen.

»Jacinda!« Cassian ruft meinen Namen und versucht erneut, sich loszureißen.

Xander spricht weiter. »Keine Sorge. Ich werde dich nicht umbringen. Es ist nur eine Schreckschusspistole. Wir werden dich am Leben lassen und herausfinden, was genau du verdammt noch mal bist.«

Jetzt schlagen sie auf Cassian ein, der versucht, sich freizukämpfen.

»Aufhören!« Ich schubse Xander zur Seite, doch Angus versperrt mir den Weg. Schmerzerfüllt sehe ich zu, wie sie weiter auf ihn eintreten. »Aufhören! Bitte hört endlich auf!« Mein Herz zieht sich qualvoll zusammen. Entweder sie oder wir.

Feuer entzündet sich in meinen enger werdenden Lungenflügeln und steigt meine Luftröhre hoch.

Ich kann nicht zulassen, dass sie uns gefangen nehmen.

Doch ehe ich Feuer speien kann, erfasst mich auf einmal ein kalter Windstoß. Ein Schwall unnatürlicher Kälte. Der plötzliche Temperaturunterschied treibt mir einen kalten Schauder über den Rücken.

Ich drehe mich um und meine Kehle zieht sich zusammen, als mein Blick auf Tamra fällt. Sie steht dort ganz allein. Mum befindet sich ein paar Schritte hinter ihr und beobachtet sie mit weit aufgerissenen Augen.

Das Gesicht meiner Schwester ist leichenblass und ihre Augen sehen nicht mehr wie meine aus, sondern so, als würden sie nicht mehr ihr gehören. Ihr eisiges Grau versetzt meinem Herzen einen kalten Stich. Dampf perlt von ihr ab. Aber er ist kalt. Der frostige Nebel schwillt an und bildet eine immer größere Wolke um uns herum.

Tamras Körper bäumt sich in einer geschmeidigen Welle auf, sie zerrt an ihrer Bluse und zerreißt sie schließlich mit einer einzigen ungestümen Bewegung ihrer Hände. Hände, die auf einmal perlenartig schimmern und funkeln.

Diese Farbe habe ich sonst nur bei einer einzigen Person gesehen. Bei einer anderen Draki: Nidia, der Wächterin unseres Rudels. Ich sehe zu, wie Tamras Haaransatz ein silbernes Weiß annimmt, das auch den Rest ihres Haares durchwirkt.

Der Dampf wird intensiver. Es ist ein frostiger Nebel, der mich an zu Hause erinnert, an die Nebelschwaden, die sich wie eine kühle Decke über die Siedlung legen. Sie schirmen uns vor Eindringlingen ab; vor jedem, der uns jagen oder uns etwas anhaben könnte. Sie vernebeln allen die Sinne, die über unseren Zufluchtsort stolpern.

»Tamra!« Ich strecke die Hand nach ihr aus, doch Cassian, der sich von seinen Angreifern losgerissen hat, hält mich mit seinen kräftigen Armen zurück.

»Lass sie«, sagt er.

Ich blicke ihm ins Gesicht und bemerke eine tiefe, instinktive Genugtuung in seinen Augen. Er ist … froh. Glücklich darüber, was da gerade passiert. Was nicht passieren darf. Tamra hat sich noch nie verwandelt. Wie kann es sein, dass sie es ausgerechnet jetzt tut?

Ich wende den Blick nur eine Sekunde lang ab und dann ist es auch schon geschehen. Als ich Tamra wieder ansehe, schwebt sie bereits ein paar Meter über dem Boden. Ihre hauchzarten Flügel flattern in schneller Folge auf ihrem Rücken und die kantigen Spitzen schauen hinter ihren silbernen Schultern hervor.

»Tamra.« Ich atme tief durch, lasse ihren Anblick auf mich wirken und ringe mit dieser neuen Tatsache, vor die man mich so plötzlich stellt. Meine Schwester ist eine Draki. Nach so langer Zeit. Nachdem ich schon dachte, dass wir das nie miteinander teilen würden. Sie ist sogar noch mehr – sie ist eine Wächterin.

Ihr geradezu unheimlich ruhiger Blick streift alle, die hier auf der Straße herumstehen. Als wüsste sie genau, was sie zu tun hat. Wahrscheinlich weiß sie das auch wirklich. Sie handelt instinktiv.

Ich bin nicht imstande, mich zu bewegen, während ich sie beobachte. Sie wirkt wunderschön und furchterregend zugleich mit ihrer schimmernden Haut und ihrem völlig pigmentfreien Haar. Sie hebt ihre schlanken Arme und Nebel ergießt sich über uns wie schnell verbrennender Rauch. Er ist so dicht, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen kann. Die Jäger sind jetzt komplett darin eingehüllt, doch ich kann sie rufen und brüllen hören. Ich höre, wie sie aneinanderstoßen, husten und zu Boden fallen wie Dominosteine. Einer nach dem anderen. Dann ist es auf einmal ganz still.

Angestrengt lausche ich auf ein Geräusch – irgendein Geräusch – in der plötzlichen Totenstille, während Tamras Nebel genau das tut, was seine Aufgabe ist: Er hüllt alles ein. Alles, alles, alles … alles, was ihm in die Quere kommt, jedes menschliche Wesen ringsum. Auch Will.

Ich reiße mich von Cassian los und kämpfe mich verzweifelt durch die kühlen Dunstschwaden, die sowohl die Luft als auch die Sinne vernebeln. Zu meinen Füßen verstreut liegen die Jäger, die Tamra niedergestreckt hat. Der Dampf ist überall, ich kann kaum etwas sehen; meine Arme rudern blind durch den kalten Kuss der Nebelschwaden und tasten suchend nach dem Auto, in dem Will sich befindet.

Dann sehe ich ihn zusammengesunken auf dem Rücksitz des Autos liegen. Die Fahrertür springt weit auf und Nebel dringt ins Innere des Wagens. Die rauchigen Schwaden legen sich fast zärtlich über den schlafenden Will. Einen Augenblick lang bin ich unfähig, mich zu bewegen. Ich kann ihn nur anstarren und ersticke fast an meinem eigenen Atem. Sogar verprügelt und mit blauen Flecken übersät ist er noch wunderschön.

Dann lodert Tatkraft wie Feuer in meinen Gliedern auf. Ich reiße die Tür zum Rücksitz auf und greife nach ihm. Mit zitternden Fingern berühre ich sein Gesicht und streiche ihm die honigblonden Haarsträhnen aus der Stirn. Sie fühlen sich auf meiner Haut wie Seide an.

Mein Kopf schnellt herum, als Cassian meinen Namen brüllt. »Jacinda! Wir müssen hier weg! Jetzt sofort!«

Und dann hat er mich auch schon gefunden und zerrt mich in Richtung unseres Autos davon. Mit der anderen Hand packt er Tamra und zieht sie mit zu Mum. Ihr funkelnder neuer Körper erleuchtet die Wüstennacht und bahnt uns einen Weg durch die wabernden Nebelschwaden.

Bald werden sie verschwinden und sich in Luft auflösen. Wenn Tamra weg ist. Wenn wir entkommen sind. Dann wird sich der Nebel lichten. Und mit ihm werden die Erinnerungen der Jäger an diesen Abend verschwinden.

Ich habe einmal zu Tamra gesagt, dass ihre Gabe sicher einfach noch nicht ausgereift sei. Dass sie bestimmt nur ein Spätzünder sei. Obwohl ich selbst nicht wirklich daran geglaubt habe. Obwohl ich tief im Inneren genau wie alle anderen im Rudel dachte, dass der Draki in ihr gestorben war. Stattdessen ist sie eines der seltensten und höchst geschätzten Wesen unserer Art. Genau wie ich.

Cassian setzt sich hinter das Steuer des Wagens, jagt den Motor hoch und schon rasen wir die Autobahn entlang. Ich blicke durch die Heckscheibe zurück auf die große weiße Wolke. Will ist dort drin. Meine Finger graben sich immer tiefer in das Polster des Sitzes hinein, bis ich spüre, wie der abgenutzte Stoff unter ihrem Druck nachgibt und zerreißt. Nein, ich darf jetzt nicht an ihn denken – es tut viel zu weh.

Mein Blick schweift ab, streift die blasse Version meiner Schwester und ich muss wegsehen. Der Anblick meiner Zwillingsschwester wirkt alarmierend auf mich und sie ist mir jetzt ebenso fremd wie diese Wüste hier.

Zittrig atme ich tief ein. Wir sind auf dem Weg nach Hause, in die Berge, in unsere vertraute Umgebung. Zu dem einzigen Ort, an dem ich gefahrlos ich selbst sein kann. Ich kehre zurück in das Rudel.

2

Die Siedlung unseres Rudels erhebt sich fast magisch in der dunstigen Abendluft. Der schmale Feldweg unter den hoch aufragenden, von Nebel umhüllten Bäumen verbreitert sich und da liegt sie. Cassian neben mir seufzt und die Enge in meiner Brust lässt etwas nach. Zu Hause.

Auf den ersten Blick wirkt es wie ein imposantes Gewirr aus Wein- und Brombeerranken, doch bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass es sich eigentlich um eine Mauer handelt. Dahinter versteckt sich meine Welt. Der einzige Ort, an dem zu leben ich mir je vorstellen konnte. Zumindest, bis ich Will kennengelernt habe.

Ein Wachposten verrichtet seinen Dienst an dem bogenförmigen Eingang. Nidias Nebel umgibt ihn in dichten Schwaden. Ich erkenne Ludo sofort. Einer von Severins Lakaien, ein Onyxdraki, der gerne seine Muskeln zur Schau stellt. Seine Augen weiten sich, als er uns bemerkt. Wortlos macht er sich auf den Weg in die Siedlung.

Es ist eigenartig, hier einen Wachposten zu sehen. Schließlich steht Nidias Haus aus gutem Grund gleich in der Nähe des Eingangs – damit sie jedermanns Kommen und Gehen im Auge behalten kann. Wir haben sie und die Wachtürme. Ein Wachposten bedeutet eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung und ich frage mich, was wohl der Grund dafür ist. Haben wir das uns zuzuschreiben? Hat unsere nicht genehmigte Abreise zu diesen übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen geführt?

Cassian parkt vor Nidias Häuschen. Sie steht bereits vor der Tür und wartet auf uns, als hätte sie gespürt, dass wir im Anmarsch sind. Wahrscheinlich hat sie das auch. Das ist schließlich ihr Job.

Sie steht vollkommen gelassen da, die Hände in die Hüften gestützt. Ihr dichtes silbernes Haar hat sie zu einem langen Zopf gebunden, der ihr über die Schulter hängt. Ihre Haare sehen fast genauso aus wie Tamras. Unwillkürlich schweift mein Blick zu meiner Schwester auf dem Rücksitz, die jetzt ebenfalls eine Wächterin ist. Mum berührt eine Strähne ihres Haares, als wolle sie prüfen, ob sie auch wirklich echt ist. Ich habe gesehen, dass sie das jetzt schon ein paar Mal gemacht hat.

»Du bist zu uns zurückgekehrt, nach Hause«, murmelt Nidia, als ich aus dem Auto steige. Das Lächeln auf ihren Lippen passt nicht zu dem Blick in ihren Augen und ich muss an die Nacht denken, in der wir das Rudel verlassen haben – an ihren Schatten am Fenster und meine Überzeugung, dass sie uns hat ziehen, uns hat entkommen lassen. »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich wusste, dass wir dich erst einmal gehen lassen mussten, damit dir klar wird, dass du hierhergehörst.«

Ich nehme die Umgebung in mich auf und spüre die wohltuende, nasse Luft auf meiner Haut – vermutlich hat Nidia recht. Die Erde unter meinen Füßen fühlt sich gut an und mein Körper vibriert regelrecht, als ich die Energie in mich aufsauge. Hier fühle ich mich zu Hause. Begierig suche ich die Straße mit den Augen nach meiner Freundin Az ab. Aber weit und breit ist niemand zu sehen.

Mum legt schützend einen Arm um Tamra, als beide aus dem Auto aussteigen. Nidia eilt ihnen zu Hilfe. Meine Schwester kann kaum laufen und schleift ihre Füße eher über den Boden.

»Du hast es dir also endlich anders überlegt, was?« Nidia streicht Tamra eine silberne Haarlocke hinters Ohr. »Ich dachte mir schon, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Zwillinge gibt es so selten unter uns – ich wusste einfach, dass es nicht sein konnte, dass Jacinda eine Gabe besitzt und du nicht.«

Cassian wirft meiner Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu. Einem Mädchen, das er – das das ganze Rudel – aufgrund seiner Wertlosigkeit verachtet hatte. Ich kann nur raten, was er jetzt denkt. Mit einer der mächtigsten, begehrtesten Gaben unserer Art steht sie jetzt für die künftige Sicherheit unseres Rudels.

Als würde er meinen starrenden Blick spüren, schaut Cassian plötzlich zu mir. Ich wende meine Aufmerksamkeit den anderen zu und folge ihnen ins Haus.

In Nidias Häuschen umhüllt mich ein vertrauter Geruch. Das Aroma von gebratenem Fisch vermischt sich mit dem beruhigenden Geruch von Kräutern, die in der Nähe des Küchenfensters zum Trocknen ausliegen. Eine wohltuende Wärme durchströmt mich, doch ich schüttle das Gefühl ab und rufe mir in Erinnerung, dass das hier alles andere als eine unbeschwerte Heimkehr ist. Ich muss mich noch Severin und den Älteren stellen. Als ich gegangen bin, waren sie kurz davor, mir die Flügel stutzen zu lassen. Das wird mir immer im Gedächtnis bleiben.

»So, da wären wir. Ist dir nicht schrecklich kalt? Ich erinnere mich noch genau an die ersten paar Tage nach meiner ersten Verwandlung. Ich habe geglaubt, mir würde nie wieder warm werden.« Nidia legt Tamra ihre von zarten Venen durchzogene Hand auf die Stirn. »Ich mache dir einen Wurzeltee. Mit viel Flüssigkeit bist du bald wieder die Alte. Und du musst dich ausruhen.« Sie geht in die Küche und gießt dampfende Brühe aus einem Teekessel in eine Tasse.

»Bald wieder die Alte? So wie ich früher war?«, krächzt Tamra von der Couch her und ihre Stimme klingt eingerostet, weil sie sie so lange nicht benutzt hat. Seit wir Chaparral verlassen haben, hat sie nicht mehr so viel an einem Stück gesagt.

Ich atme stoßartig aus und bin erleichtert, sie wieder sprechen zu hören. Vielleicht ist das dumm von mir, aber mir fällt ein Stein vom Herzen und ich bin froh darüber, dass wenigstens dieser Teil von ihr unverändert geblieben ist.

Nidia hält Tamra die dampfende Tasse an die Lippen. »Willst du das denn?«

Tamras Blick schießt erst zu mir, dann zu Cassian und schließlich zu Mum. In ihren Augen liegt eine Mischung aus Vorsicht und Misstrauen. »Ich weiß nicht«, flüstert sie, nimmt einen Schluck aus der Tasse und verzieht schmerzerfüllt das Gesicht.

»Zu heiß?« Nidia wedelt mit der Hand über der Tasse herum und legt einen kühlenden Nebel über den heißen Tee.

Mum setzt sich zu Tamra aufs Sofa, ganz dicht neben sie, fast so, als wollte sie sie beschützen. Ihr Blick richtet sich auf Cassian. »Und was jetzt?« Ihre Stimme klingt kampfbereit, als wäre er der Grund dafür, dass wir wieder hier sind, und nicht ich. »Sie werden jeden Moment hier sein. Was wird dann passieren? Wirst du dafür sorgen, dass wir bestraft werden?«

Als Sohn des Rudelanführers hat Cassian beträchtlichen Einfluss. Er kommt in der Rangfolge gleich nach seinem Vater und wird darauf vorbereitet, eines Tages dem Rudel vorzustehen.

Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und beobachte sein Gesicht. Irgendetwas zuckt unruhig in seinen flüssigen dunklen Augen. »Ich habe Jacinda versprochen, dass ich sie beschützen werde. Dasselbe werde ich für Tamra tun. Und für dich.«

Das entlockt Mum ein Lachen. Das Geräusch klingt trocken und hohl. »Danke, dass du mich mit einschließt, aber ich glaube nicht eine Sekunde, dass du auch nur einen Gedanken an mich verschwendest.«

»Mum –«, setze ich an, doch sie unterbricht mich.

»Und das ist auch in Ordnung. Solange du mir dein Wort gibst, dafür zu sorgen, dass Jacinda und Tamra nichts zustößt. Mir geht es ausschließlich um sie.«

»Du hast mein Wort. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um deine Töchter zu beschützen.«

Sie nickt. »Ich hoffe, dein Wort genügt.« Sie blickt wieder zu Tamra hinunter; ihre Miene wirkt reuevoll und ich bemerke ihre Trauer darüber, ihre einzige menschliche Tochter verloren zu haben.

Ich verlagere das Gewicht und schiebe eine Hand unter meinen Oberschenkel, weil mir plötzlich auf unangenehme Art klar wird, dass sie auch um mich trauert. Dass sie das schon seit Jahren tut.

Es ist nicht leicht für mich, meiner Mutter dabei zuzuhören, wie sie um unsere Sicherheit feilscht und fleht – um meine Sicherheit. Weil ich Mist gebaut habe. Die Erinnerung an meine letzte Nacht mit Will läuft wieder und wieder wie ein Film in meinem Kopf ab. Es ist das gute Recht des Rudels, sauer auf mich zu sein. Ich habe uns fast umgebracht, uns alle, jedes einzelne Mitglied des Rudels – und das alles um eines Jungen willen, den ich erst seit ein paar Wochen kenne. Wäre Tamra nicht in der Lage gewesen, ihre Kräfte als Wächterin einzusetzen, dann wüssten unsere Feinde jetzt von unserem Geheimnis – unsere beste Verteidigung wäre dahin.

Es läuft mir kalt den Rücken hinunter, als mir eine neue Erkenntnis das Herz schwer macht. Will wird sich nicht erinnern. Sogar, als er bewusstlos im Auto lag, befand er sich in nächster Nähe zu dem Nebel. Sein Gedächtnis wurde garantiert gelöscht.

Verzweifelt klammere ich mich an die Hoffnung, dass er sich dennoch an irgendetwas von unserem letzten gemeinsamen Abend erinnern kann. Und dass er weiß, dass ich nicht einfach so aus seinem Leben verschwunden bin. Er muss sich daran erinnern, warum ich gegangen bin. Das muss er einfach.

Ich zittere noch immer und ringe mit der Vorstellung, dass Will keine Ahnung hat, was mit mir passiert ist, als die Älteren auch schon da sind und, ohne anzuklopfen, Nidias Häuschen betreten. Ihre hoch aufragenden Gestalten füllen das enge Wohnzimmer komplett aus.

»Du bist zurückgekommen«, verkündet Severin und beim Klang seiner tiefen Stimme schrecke ich auf, obwohl ich eigentlich darauf gefasst gewesen bin.

Seit wir aus Chaparral geflohen sind, habe ich sie in meinem Kopf dröhnen hören und mir vorgestellt, wie er mich für meine Verbrechen dazu verurteilt, dass mir die Flügel gestutzt werden. Wie benommen trete ich ihm entgegen, bereit, mich in mein Schicksal zu fügen.

Einige der Älteren haben sich hinter Severin aufgebaut, alle mit derselben steifen Haltung. Sie tragen keine besondere Kleidung, um ihre Position hervorzuheben. Man kann sie bereits an ihrer Körperhaltung und den ausdruckslosen Gesichtern erkennen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir je schwergefallen wäre, einen Älteren vom Rest des Rudels zu unterscheiden.

Severins Blick schweift einmal kurz über uns hinweg und bleibt dann auf Tamra liegen. Seine Augen zucken unruhig. Es ist eine kaum merkliche Bewegung und das einzige äußere Anzeichen dafür, dass ihre veränderte Erscheinung ihn überrascht. Er nimmt sie von oben bis unten unter die Lupe und lässt nichts aus. Weder ihre silbergrauen Augen noch ihr perlmuttartiges Haar. Es ist derselbe Blick, mit dem er auch mich eine ganze Zeit lang angesehen hat. Ein irrer Drang überkommt mich, mich zwischen die beiden zu stellen und meine Schwester vor seinen bohrenden Blicken zu schützen.

»Tamra.« Er sagt ihren Namen so, als würde er ihn zum ersten Mal laut aussprechen. Er stellt sich neben sie und legt ihr die Hand auf die Schulter. Ich starre seine Hand an und bei dem Anblick, wie er meine Schwester berührt, dreht sich mir der Magen um. »Du hast dich verwandelt. Das ist wundervoll.«

»Jetzt ist sie dir also auf einmal wichtig.« Es ist zu spät, um diese trotzigen Worte zurückzunehmen. Wie aus der Pistole geschossen verlassen sie meine Lippen.

Severin starrt mich durchdringend an. Seine Augen wirken wie dunkle, nachtkalte Seen. »Alles – jeder – in diesem Rudel ist mir wichtig, Jacinda.« Während er das sagt, liegt seine besitzergreifende Hand noch immer auf Tamra und ich will sie von ihr wegstoßen. Doch ich reiße mich zusammen und versuche, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Jeder in diesem Rudel ist ihm also wichtig – klar. Nur dass einige von uns einfach wichtiger sind als andere.

»Es ist wirklich unfair von dir, das Gegenteil zu behaupten«, fügt er hinzu.

Ich widerstehe dem Drang, mich dicht an Cassian zu drücken, als sein Vater meinen Blick niederzwingt. Ich hasse es, eingeschüchtert zu wirken. Also behaupte ich meine Position und halte meine Augen auf Severin gerichtet.

Mein Herz tut mir weh, es fühlt sich an wie ein verkrampfter Klumpen in meiner Brust. Ich habe meine Artgenossen hintergangen. Ich habe Will verloren. Sie können mir nichts mehr anhaben.

Einer von Severins Mundwinkeln zieht sich in einer langsamen Drohgebärde nach oben. »Schön, dass du wieder da bist, Jacinda.«

3

Wie eine Gefangene werde ich zu meinem alten Haus gebracht. Ein paar Ältere gehen voraus und ein paar andere folgen mir. Dass ich freiwillig zurückgekehrt bin, scheint keinen Unterschied zu machen. Cassian hat sie ausdrücklich darauf hingewiesen. Er hat es mehr als einmal gesagt. Aber es interessiert sie nur, dass ich überhaupt weggegangen bin, dass ich die Frechheit besessen habe, mich ihrer Kontrolle zu entziehen. Sie sehen in mir nicht mehr als das kostbare Gut, das es gewagt hat, dem Rudel zu entfliehen, und damit ihre Pläne, die sie mit mir hatten, zu durchkreuzen.

Es ist ein seltsames Gefühl, das Haus, in dem ich meine ganze Kindheit verbracht habe, wieder zu betreten. Der Raum wirkt kleiner, irgendwie beengender, und dieser Gedanke macht mich wütend auf mich selbst. Früher ist dieses Haus genug für mich gewesen. Ich atme die abgestandene Luft tief ein. Wahrscheinlich ist niemand hier gewesen, seit wir uns im Schutz der Dunkelheit davongestohlen haben.

Ich starre auf die Couch, auf das mittlere Polster mit der Kuhle. Das ist Tamras Platz, ihr Zufluchtsort. Weil sie vom Rudel für eine nicht funktionierende Draki gehalten und gemieden wurde, hat sie sich immer stundenlang hinter dem Fernseher verschanzt. Es fühlt sich irgendwie verkehrt an, ohne sie hier zu sein, aber ich habe begriffen, dass es jetzt erst einmal so sein muss. Severin hat Tamra befohlen, bei Nidia zu bleiben. Mum hat nicht dagegen protestiert, weil sie sicherlich glaubt, dass es am besten ist, wenn sich eine andere Wächterin um Tamra kümmert, während sie lernt, mit ihrer Gabe umzugehen.

»Wollt ihr uns etwa auch noch ins Bett bringen?«, schnauzt Mum die Älteren an, die noch immer in unserem Haus herumstehen. Die Gesichter, die mir während meiner Kindheit so vertraut waren und so harmlos wirkten, blicken mich jetzt vernichtend an.

Langsam drehen die Älteren sich um und verlassen schließlich unser Haus.

»Hast du gesehen, dass Cassian mit Severin zusammen gegangen ist?«, fragt Mum und eilt zum Fenster. Ich nicke, als sie den Vorhang ein Stück beiseiteschiebt und nach draußen schaut.

»Hoffentlich kann er ihn davon überzeugen, uns nicht … zu hart dafür zu bestrafen, dass wir einfach von hier weggegangen sind.«

»Ja, hoffentlich.« Ich erinnere mich daran, wie begeistert Severin plötzlich von Tamra war, und glaube, dass die Chancen nicht schlecht stehen, dass er nachsichtig mit uns sein wird.

Mit einem verächtlichen Schnauben lässt Mum den Vorhang los, der in seine Ausgangsposition zurückfällt. »Zwei von ihnen stehen noch immer da draußen herum.«

Ich blicke durch das Fenster auf unsere Veranda hinaus und sehe dort die beiden Älteren. »Sieht nicht so aus, als würden sie in nächster Zeit verschwinden. Wahrscheinlich wollen sie sichergehen, dass wir nicht wieder abhauen.«

»Tamra ist bei Nidia.« Mum sagt das so, als wäre das bereits Grund genug, uns nicht von der Stelle zu rühren. Und das stimmt auch. Sogar wenn ich das Rudel verlassen wollte, würde ich nie ohne meine Schwester gehen. Ganz besonders jetzt nicht. Meine Brust zieht sich plötzlich zusammen bei dem Gedanken daran, was sie wohl gerade durchmacht. Sie muss so verwirrt sein, so … verloren.

»Ich würde niemals ohne Tamra von hier fortgehen«, sagt Mum und spricht damit meine Gedanken laut aus. Ihr hitziger Blick schießt blitzschnell zu mir, als hätte ich angedeutet, wir sollten meine Schwester zurücklassen.

Ich wende den Blick ab und sehe hinunter auf meine Hände, wieder aus dem Fenster, einfach irgendwohin, nur nicht in ihre Richtung. Ich will nicht, dass sie sieht, dass ich auch das mitbekommen habe, was sie nicht laut ausgesprochen hat. Dass ich sehr wohl verstehe, was sie mir mit ihrem wütenden Blick sagen will. Aber ohne dich würde ich sehr wohl gehen.

Vielleicht ist das unfair von mir. Vielleicht sind es einfach nur meine Schuldgefühle, die aus mir sprechen, und sie denkt in Wirklichkeit gar nicht so.

Mum seufzt und ich blicke sie wieder an und sehe zu, wie sie sich mit den Händen durchs Haar fährt. In der lockigen Mähne entdecke ich ein paar graue Strähnen. Die waren vorher noch nicht da. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir wieder hier sind«, murmelt sie leise. »Genau dort, wo wir angefangen haben. Nur, dass es uns jetzt schlechter geht als vorher.«

Ich zucke unter ihren Worten zusammen, die wie eine Anklage gegen mich klingen. Weil es meine Schuld ist, dass wir wieder zu Hause sind. All das ist meine Schuld. Das weiß ich. Und sie weiß es auch.

»Ich bin müde«, sage ich. Das ist noch nicht einmal gelogen. Ich habe seit Chaparral nicht mehr geschlafen, weil meine Gedanken unaufhörlich um das kreisen, was passiert ist. Um all meine ungeheuerlichen Fehler. Und um Will. Ich frage mich andauernd, wo er ist, was er macht. Ich denke ständig an ihn, erinnere mich an ihn. Oder versuche vergeblich, mich an ihn zu erinnern.

Ich mache mich auf den Weg in mein Zimmer und fühle mich älter als je zuvor. »Jacinda.« Beim Klang meines Namens bleibe ich stehen und werfe einen Blick über die Schulter. Mums Gesicht wird von Schatten verdeckt, sodass ich nichts davon ablesen kann. »Bist du …« Ich höre, wie sie tief einatmet, bevor sie fortfährt. »Dieser Junge. Will –«

»Was ist mit ihm?« Will ist zwar das Letzte, worüber ich jetzt sprechen will, aber ich bin ihr eine Antwort schuldig. Sogar, wenn das bedeutet, den Finger in die Wunde zu legen.

»Wirst du ihn vergessen können?« Die Hoffnung, die in ihrer Stimme liegt, ist unverkennbar.

Meine Gedanken kehren zurück nach Big Rock. Ich denke daran, wie Will den Abhang hinuntergeschlittert ist, geradewegs in die Nacht hinein, die ihn mit weit ausgebreiteten Armen empfangen hat. Ich musste mich verwandeln. Ich musste ihn retten. Auch wenn mir Jäger dabei zugesehen haben.

In diesem Augenblick hatte ich keine Wahl. Und jetzt habe ich auch keine. »Ich werde ihn vergessen müssen«, antworte ich.

Mums bernsteinfarbener Blick flackert wissend auf. »Aber kannst du das denn?«

Diesmal antworte ich nicht. Worte haben in diesem Fall kein Gewicht. Ich werde es ihr zeigen müssen, ihr beweisen müssen, dass sie mir wieder vertrauen kann. Das werde ich allen beweisen müssen.

Ich drehe mich um und gehe wieder in Richtung meines Zimmers, vorbei an den Fotos der Familie, die wir einmal waren. Mit einem gut aussehenden Vater, einer lächelnden Mutter und zwei glücklichen Schwestern, die damals noch nicht ahnten, wie anders sie einmal sein würden.

Ich streife meine Schuhe ab und suche in meiner Kommode nach einem alten T-Shirt und ein paar Shorts. Als ich mich ins Bett lege, nehme ich gerade noch die glitzernden Sterne an der Decke wahr, da fallen mir auch schon die Augen zu.

Nur wenige Minuten später, so scheint es mir, werde ich durchgerüttelt und jemand reißt mich aus der wohltuenden Umarmung des Schlafs.

»Jacinda! Wach auf!«

Ich schiebe mir ein Kissen vom Kopf und sehe schläfrig hoch zu Az. Ich freue mich ja wirklich wahnsinnig, sie zu sehen, aber eigentlich würde ich lieber wieder meinen Kopf in den Kissen vergraben und im Tiefschlaf versinken, wo Schuldgefühle und Liebeskummer mir nichts anhaben können.

»Az.« Ich reibe mir verschlafen die Augen. »Wie bist du hier reingekommen?«

»Mein Onkel Kel ist gerade an der Reihe, auf deiner Veranda Wache zu schieben. Er hat mich reingelassen.«

Ach ja, richtig. Az’ Onkel war einer der Älteren, die mich angestarrt haben, als wäre ich eine Verbrecherin oder so was. Vermutlich bin ich das auch. De facto. Immerhin stehe ich unter Hausarrest.

»Schön, dich zu sehen«, murmle ich schläfrig.

»Schön, dich zu sehen?« Sie schlägt mir ein Kissen um die Ohren. »Ist das alles, was du zu sagen hast, nachdem du dich heimlich aus dem Staub gemacht und mich allein hier zurückgelassen hast, nur um sonst wohin abzuhauen?«

»Mum hat darauf bestanden.« Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr zu erklären, warum wir gegangen sind – was das Rudel damals mit mir vorhatte. Oder vielleicht noch immer vorhat.

Dann fällt mir wieder ein, dass Az an dem Morgen dabei war, als mich Will und seine Familie fast gefangen genommen hätten. Wir haben beide eine eiserne Regel gebrochen, indem wir uns am helllichten Tag rausgeschlichen haben, um zu fliegen. Ich setze mich auf und mustere sie besorgt von oben bis unten. »Du hast doch nicht etwa Ärger bekommen, oder? Weil du dich mit mir rausgeschlichen hast?«

Az verdreht die Augen. »Sie haben kaum einen Gedanken an mich verschwendet, als sie bemerkt haben, dass du weg warst. Außer um mich mit Fragen zu löchern, natürlich.«

Erleichtert atme ich auf und lasse mich zurück aufs Bett fallen. Zumindest habe ich mir nicht auch noch das zuzuschreiben. Az wirft sich eine lange Strähne ihrer blau durchwirkten schwarzen Haare über die Schulter und beugt sich mit vor Aufregung leuchtenden Augen über mich. »Du hast ja keine Ahnung, wie es hier zugegangen ist, seit du verschwunden warst. Weil du verschwunden warst!«

Ich drehe mich auf die Seite und schlinge die Arme um ein Kissen. »Es tut mir leid, Az.« Anscheinend komme ich doch nicht ohne schlechtes Gewissen davon. Zugegeben, ich habe nicht wirklich viel an Az gedacht, während ich weg war. Ich hatte in Chaparral genug damit zu tun, irgendwie durch den Tag zu kommen. Ein müder Seufzer steigt in mir hoch. In letzter Zeit entschuldige ich mich nur noch.

Az rümpft die Nase. »Na ja, wenigstens bist du jetzt wieder zu Hause. Vielleicht kehrt nun wieder ein wenig Normalität hier ein.«

Ich denke an Will und daran, wie ich um seinetwillen meine eigenen Artgenossen hintergangen habe. Ich denke an meine Schwester und wie verloren sie sich jetzt fühlen muss, und an die Älteren, die auf unserer Veranda Wache schieben. Ich bezweifle, dass irgendetwas je wieder normal werden wird. Und trotz allem bin ich erleichtert darüber, an einem Ort zu sein, an dem mein innerer Draki aufblühen kann.

»Hier war es echt beschissen. Severin hat eine Ausgangssperre verhängt. Und er hat unsere ganze Freizeit zusammengestrichen! Kannst du dir das vorstellen? Wir dürfen zum Beispiel nur einmal in der Woche Luftball spielen. Ein einziges Mal! Jetzt heißt es immer nur noch Schule und Arbeit, Schule und Arbeit. Er ist echt ein Diktator!«

Und das alles nur meinetwegen? Weil Mum sich mit uns aus dem Staub gemacht hat? Haben sie etwa befürchtet, dass sich andere ein Beispiel an uns nehmen könnten?

»Wenigstens dürfen wir noch fliegen«, murmelt sie. »Keine Ahnung, was ich sonst machen würde. In der Gruppe und zu den vorgegebenen Zeiten, natürlich. Daran hat sich nichts geändert. Aber er hat unsere Flugzeit verkürzt.«

»Hast du Cassian gesehen?«, frage ich.

Az zieht eine ihrer eleganten Augenbrauen hoch. »Seit wann hast du ihn denn auf dem Radar?«

»Seit er derjenige war, der uns gefunden und hierher zurückgebracht hat.«

»Cassian hat euch aufgespürt? Dort hat er also die ganze Zeit gesteckt? Hier ging das Gerücht rum, er wäre zu seiner Reise aufgebrochen.« Sie lacht leise in sich hinein. »Mannomann, er ist immer noch total in dich verschossen.«

»Nicht in mich«, verbessere ich schnell. »Er ist nicht in mich verschossen. Falls er jemals was von mir wollte –«

»Falls?«

Ich starre sie durchdringend an und spreche weiter. »Falls er wirklich was von mir will, dann nur, weil ich der Feuerspeier unseres Rudels bin.« Ein wertvolles Gut, die beste Waffe des Rudels.

Andererseits bin ich das jetzt gar nicht mehr. Das hat sich mittlerweile geändert. Jetzt gibt es Tamra. Tamra, die schon immer ein Auge auf Cassian geworfen hatte. Vielleicht wird er ihre Gefühle nun endlich erwidern. Bei diesem Gedanken keimt Hoffnung in mir auf. Und noch ein anderes Gefühl. Eines, das ich nicht identifizieren kann. Etwas, das ich noch nie zuvor gespürt habe.

»Was auch immer der Grund ist, jedes andere Mädchen in diesem Rudel würde jedenfalls dafür töten, dass Cassian sie so ansieht, wie er es bei dir tut.« Sie zieht ein Gesicht und lässt sich rücklings auf mein Bett fallen. »Vielleicht sogar ich.«

»Du?« Ich blinzle.

»Ja. Keine Sorge, ich will dir kein schlechtes Gewissen einreden. Ich habe nie geglaubt, dass ich bei ihm eine Chance habe. Keiner hat das geglaubt.« Sie zwinkert mir zu. »Nicht, solange du da warst.«

Ich stöhne. Sie hört sich schon genauso wie Tam an. Die alte Tamra. Die unbedingt Cassians Aufmerksamkeit haben und vom Rudel akzeptiert werden wollte. Die vom Spielfeldrand aus zusehen musste, wie mir beides einfach zuflog. Bis wir nach Chaparral gezogen sind und sie dort ein neues Leben angefangen hat. Das ich ihr in der Nacht genommen habe, in der ich mich hinter einem Drakijäger her einen Abhang hinuntergestürzt habe.

Als könnte sie Gedanken lesen, sieht Az sich um. »Wo ist denn Tamra überhaupt?«

»Soll das heißen, du hast es noch nicht gehört?«

»Was gehört?«

»Sie ist bei Nidia.« Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, obwohl mir flau wird bei dem Gedanken an den Aufruhr, den es jetzt ganz sicher geben wird, da meine Schwester auf dem Weg ist, die nächste Wächterin des Rudels zu werden. »Sie erholt sich.«

»Erholt sich wovon?«

»Tamra hat sich verwandelt. Sie ist eine Wächterin.«

Az’ Augen weiten sich. »Krass!« Sie pfeift durch die Zähne und saugt dann an ihrer Lippe. »Dann bist du jetzt wohl nicht mehr der einzige Hauptgewinn hier.«

»Wohl nicht«, murmle ich und bin mir auf einmal nicht mehr sicher, ob das gut oder schlecht ist. Ich wollte immer ein ganz normaler Draki sein. Nichts Besonderes. Nicht der große Feuerspeier des Rudels, der unter ständiger Beobachtung und ständigem Druck steht. Jetzt erst wird mir klar, dass mein Sonderstatus vielleicht das Einzige ist, was mir Schutz bietet. Aber ich weiß auch, dass Tamras neu entdeckte Gabe bedeutet, dass das Rudel uns beide nur umso stärker an der kurzen Leine halten wird.

Az spricht weiter. »Ich frage mich, ob ihr Cassian jetzt doch endlich Beachtung schenkt.«

Der Boden knarzt und mir wird schlagartig bewusst, dass sich noch jemand außer uns im Raum befindet.

Ich sehe auf und mein Gesicht wird ganz heiß bei dem Gedanken, dass Mum unsere Unterhaltung mitgehört haben könnte.

Aber es ist gar nicht Mum. Es ist viel schlimmer.

Die Hitze breitet sich immer weiter aus und überzieht jetzt auch meinen Hals. »Wie bist du hier reingekommen?«, will ich wissen, weil Mum ihn garantiert nicht einfach in mein Zimmer hätte hereinspazieren lassen. Zumindest nicht ohne Vorwarnung.

Cassian sieht mich unverwandt an und seine Augen sind jetzt eher schwarz als violett. Violett sind sie nur, wenn er aufgeregt ist. Was anscheinend selten vorkommt.

Prinz