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Titelseite

Prolog

MAN SIEHT NUR MIT DEM HERZEN GUT.
DAS WESENTLICHE IST FÜR DIE AUGEN UNSICHTBAR.

Hast du schon einmal vom kleinen Prinzen gehört? Er lebt auf einem winzig kleinen Planeten mitten im unendlich großen Universum. Wenn du in einer sternenreichen Nacht in den Himmel schaust, kann es sein, dass er dir von seinem Planeten aus zuwinkt und du ihn lachen hörst! Du kannst seinen Stern ganz leicht erkennen, denn er funkelt heller und fröhlicher als all die anderen …

Der Pilot

Es war einmal ein Pilot. Als der Pilot noch ein Kind war, etwa sechs Jahre alt, las er ein Buch über den Urwald. Darin stand, dass eine Riesenschlange ihre Beute im Ganzen herunterschluckt. Ohne sie zu kauen. Der Junge dachte lange darüber nach und malte dann sein allererstes Bild. Er malte eine Riesenschlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Dieses Bild zeigte er stolz einem Erwachsenen.

„Macht dir das Bild Angst?“, fragte der Junge.

„Angst? Wieso sollte ich denn vor einem Hut Angst haben?“, fragte der Erwachsene erstaunt.

„Tja, Erwachsene. Die verstehen einfach nie etwas von selbst“, dachte der Junge.

Also malte er noch ein Bild. Diesmal zeichnete er den Elefanten in den Bauch der Riesenschlange ein. Doch die Erwachsenen, denen er das Bild zeigte, hatten nur merkwürdige Ratschläge für den Jungen: „Du solltest dich besser mit Mathematik beschäftigen statt mit Riesenschlangen.“ – „Lerne etwas über Geschichte!“ – „Interessiere dich lieber für Geografie“, rieten sie.

Der Junge hörte auf die Erwachsenen und wurde selbst erwachsen. Er lernte viel über Mathematik und Geografie. Er wurde Pilot. Er flog mit seinem Flugzeug über die Erde und hatte vergessen, wie es war, ein Kind zu sein. Bis er eines Tages in der Wüste landete und etwas Wunderbares passierte …

Das kleine Mädchen

Unsere Geschichte beginnt mit einem kleinen Mädchen. Es war sehr schlau und lernte den ganzen Tag lang, denn es wollte unbedingt nach der Grundschule auf eine besonders gute weiterführende Schule kommen. In der Akademie, auf die sie gehen sollte, waren Dinge wichtig wie: Zahlen, Uniformen, Effizienz und Erfolg. Alles Sachen, die für Erwachsene wichtig waren. Und das kleine Mädchen wollte unbedingt erwachsen werden. Auch die Mutter wollte, dass aus ihrer Tochter eine wundervolle Erwachsene würde. Ernst sollte das Mädchen werden und erfolgreich. Das wollten alle Eltern. Sie wollten, dass ihre Kinder auf diese Schule kamen, denn es war die beste der ganzen Stadt. Auch die Mutter des kleinen Mädchens wollte, dass ihre Tochter auf diese Schule kam. Deswegen hatte die Mutter mit dem kleinen Mädchen viel gelernt. Aber um auf die Akademie zu kommen, musste man erst eine wichtige mündliche Prüfung bestehen. Für diese Prüfung hatten die Mutter und das kleine Mädchen sehr viel geübt. Die Mutter hatte herausgefunden, welche Fragen die Prüfer dort stellten, und das Mädchen kannte die Antworten auswendig. Die wichtigste Frage lautete: „Warum willst du auf diese Schule gehen?“

Doch am Tag der Prüfung war das kleine Mädchen so aufgeregt, dass es die Frage der Prüfer nicht richtig verstand. Und die Prüfer stellten plötzlich eine ganz andere Frage. Die Prüfer fragten das Mädchen: „Was willst du einmal werden?“ Das kleine Mädchen wusste nicht, was es antworten sollte. Es antwortete einfach das, was es auswendig gelernt hatte. Aber das war natürlich falsch und passte nicht zu der Frage. So kam es, dass das kleine Mädchen die Prüfung nicht bestand, obwohl es sehr schlau war und gute Noten hatte. Es durfte nicht auf die Akademie gehen. Darüber war das kleine Mädchen sehr traurig.

Auch seine Mutter war traurig, doch die Mutter hatte sofort einen neuen Plan. Denn wenn man in der Nähe der Akademie wohnte, durfte man automatisch auf diese Schule gehen. Weil die Mutter nicht so viel Geld hatte, verkaufte sie nun also ihr neues, schickes Auto und kaufte sich ein altes, günstiges Auto. Und sie kaufte ein Haus in der Nähe der Schule. Das Haus war zum Glück nicht so teuer wie die anderen Häuser in der Gegend. Das lag daran, dass niemand in dem Haus wohnen wollte, weil daneben ein altes, heruntergekommenes Haus stand. Weder die Mutter noch das kleine Mädchen ahnten, dass in diesem kunterbunten Haus etwas Wunderbares auf sie wartete …

Schon an dem Tag, an dem das kleine Mädchen mit der Mutter in das Haus einzog, geschah etwas Wunderbares. Als die Mutter und das kleine Mädchen aus dem Auto ausstiegen, bemerkten sie einen großen Drachen, der über dem Dach des alten Hauses nebenan schwebte. Der Drachen war an manchen Stellen eingerissen und viele Schleifen an seinem langen Band fehlten bereits. Dennoch fand das kleine Mädchen ihn wunderschön. Er flatterte fröhlich vor dem strahlend blauen Himmel hin und her. Es war, als ob der Drachen dem Mädchen zuwinkte und es herzlich willkommen hieß in seinem neuen Zuhause.

Der Lebens-Plan

Doch die Mutter hatte keinen Blick für den fröhlichen Drachen in der Luft. Ebenso gefielen ihr die vielen Vögel nicht, die überall um das Nachbarhaus herumflogen. Sie verscheuchte sogar die Vögel, die sich auf das Dach ihres Hauses setzten. Die Mutter fand Drachen und Vögel nicht wichtig. Für sie zählten nur Schule und Arbeit. Die Mutter befolgte immer einen strengen Zeitplan. Und jetzt mussten alle Kisten und Möbel ins Haus getragen werden. Dafür hatte die Mutter ein Umzugsunternehmen bestellt.

Das kleine Mädchen stand mit seiner Mutter in der Küche, als die Möbelpacker eine riesige Tafel an der Wand befestigten.

Als die beiden Männer die Küche verlassen hatten, zeigte die Mutter auf die Tafel. „Ich nenne das deinen Lebens-Plan“, erklärte sie.

„Lebens-Plan?“, fragte das kleine Mädchen erstaunt.

Die Mutter machte ein geheimnisvolles Gesicht und öffnete schwungvoll die beiden Seitenflügel der Tafel.

„Ja. Lebens-Plan“, bestätigte die Mutter. „Du weißt doch, ich habe immer einen Plan für alles. Und dein Leben ist mir sehr wichtig. Also habe ich dir einen Lebens-Plan gemacht.“

Mit offenem Mund starrte das Mädchen auf die Tafel. An ihr hingen Kalender und Uhren, daneben waren Karten mit Tabellen und Stundenplänen angeheftet. Überall klebten Magnete, auf denen Aufgaben standen.

Die Mutter nahm einen langen Zeigestock, tippte damit auf den Lebens-Plan und erklärte dazu: „Hier ist alles von oben nach unten sortiert und von links nach rechts. Lass uns mal genauer hinschauen. Jede Minute einer Stunde, jede Stunde eines Tages, jeder Tag einer Woche, jede Woche eines Monats, jeder Monat eines Jahres und jedes Jahr deines Lebens sind verplant. Alles verstanden?“

Das Mädchen hatte eigentlich gar nichts verstanden. Aber es nickte stumm.

Die Mutter öffnete ein paar Ordner und Mappen, in denen noch mehr Tabellen und Stundenpläne abgeheftet waren.

„Es gibt sogar eine Tabelle mit all deinen Geburtstagsgeschenken. Hier schau: Zu deinem neunten Geburtstag bekommst du ein Mikroskop. Perfekt für das Fach Biologie an der Akademie. Und es ist sogar schon eingepackt“, verkündete die Mutter.

„Aha“, meinte das Mädchen und betrachtete still den Lebens-Plan.

„Ja, beeindruckend, nicht wahr?“, fragte die Mutter stolz. „Aber jetzt sollte all deine Aufmerksamkeit diesem Punkt hier gelten: der erste Tag an deiner neuen Schule! Wir haben die ganzen Sommerferien Zeit, dich auf deinen ersten Schultag vorzubereiten. Das sind 53 Tage“, erklärte sie. „Für jeden Tag gibt es ein Feld mit Aufgaben. 53 Tage klingt nicht viel, aber wenn man es in Stunden rechnet, sind es schon mehr, nämlich 1.272 Stunden, das sind 76.320 Minuten. Nur damit dir klar ist, wie viel wir in der Zeit schaffen können. Wir werden jede einzelne Sekunde, Minute, Stunde und jeden einzelnen Tag nutzen.“

„Ja“, sagte das kleine Mädchen leise.

Die Mutter sah ihre Tochter ernst an. „Du wirst eine wundervolle Erwachsene werden.“

„Danke, Mama“, sagte das Mädchen, obwohl es nicht viel verstanden hatte. Es hatte nur verstanden, dass es die ganzen Sommerferien über lernen musste. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Aber das kleine Mädchen war damit einverstanden. Denn es wollte ja selbst unbedingt auf die Akademie gehen, es wollte gute Noten schreiben und es wollte erwachsen werden. Dafür musste es eben viel, viel lernen.

Ein Loch im Zaun

Wenig später startete die Mutter den schwachen Motor ihres Autos. Das Mädchen stand neben der Fahrertür.

Hektisch blickte die Mutter auf die Uhr und begann, schnell zu erklären: „Ich wünschte, ich könnte bleiben, Liebling. Aber wir haben heute einen sehr wichtigen Termin. Unsere Zahlen sehen nicht gut aus, bloß hat diesmal Fines davon Wind bekommen. Jetzt ist Logan in Panik und Fischer will nichts damit zu tun haben …“

„Aha“, sagte das Mädchen, obwohl es mal wieder nicht viel verstanden hatte.

Die Mutter lächelte. „Ich muss los und …“

„… alles wieder in Ordnung bringen“, ergänzte das Mädchen. „Fahr ruhig, Mama. Ich habe ja den Lebens-Plan.“

„Du bist die Beste“, meinte die Mutter und fuhr hupend davon.