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Haupttitel

Verlag Voland & Quist OHG, Dresden und Leipzig, 2015

© by Verlag Voland & Quist OHG

Korrektorat: Sabine Tuch

Umschlaggestaltung: Sarah Bosetti

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-130-0

www.voland-quist.de

Sarah Bosetti ist eine Erfindung ihrer Eltern. Seit 1984 ist sie anwesend, halb Mensch und halb Frau, studierte zunächst Filmregie in Brüssel und zog dann nach Berlin, wo sie sich seither zur Ersparnis eigener Heizkosten im Scheinwerferlicht der Slam-, Lese- und Kabarettbühnen wärmt und 2013 mit ihrem Team »Mikrokosmos« deutschsprachige Vizemeisterin im Poetry Slam wurde.

Neben Auftritten in der ARD, auf 3sat, ZDF.kultur und im WDR ist sie Kolumnistin bei radioeins (RBB) und Mitbegründerin der Berliner Lesebühne »Couchpoetos«. Ihre Bücher heißen »Wenn ich eine Frau wäre« und »Mein schönstes Ferienbegräbnis«. Würden die Bücher »Ernesto« und »Julia« heißen, wären sie wohl in der Schule weniger gehänselt worden.

Sarah Bosetti ist im gesamten deutschsprachigen Raum regelmäßig live auf der Bühne zu erleben.

Alle Live-Termine: www.sarahbosetti.com

Inhalt

  1. Anfang
  2. Was bisher geschah
    1. 1
      1. Annas Geschichte
      2. Die Geschichte meines Bruders
    2. 2
      1. Ulfs Geschichte
      2. Die Geschichte meines Hundes
    3. 3
      1. Annas und Pallaschs Geschichte
  3. Hier und Jetzt
    1. 1
      1. Pallaschs Geschichte
    2. 2
      1. Die Geschichte meines Vaters
      2. Die Geschichte des Hamsters
    3. 3
      1. Adolfs Geschichte
      2. Klaus’ Geschichte
  4. Danksagung
  5. Hörbuch

Anfang

Der Hamster ist tot.

Ich weiß gar nicht, wie ich das finden soll. Ich gucke meinen Hund an, aber der weiß es auch nicht. Ratlos sitzt er neben mir und guckt fragend zurück. Wahrscheinlich will er vor allem wissen, ob ich das gute Essen nun einfach wegzuschmeißen gedenke. Reglos liegt der Hamster in seinem Rad und sieht aus, als sei er bloß des Laufens müde geworden. Vielleicht stimmt das ja sogar. Oder er war es leid, dass mein Hund Tag und Nacht jaulend vor seinem Käfig saß.

»Sarah, hörst du mir überhaupt zu?«, fragt Ulf und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Klar«, sage ich und drehe mich zu ihm um. »Aber willst du wirklich Mau-Mau entscheiden lassen?«

»Wieso nicht?«, fragt er. »Wenn ich gewinne, gebärst du mir ein Kind, und wenn du gewinnst …«

»… gebärst du mir eins?«

»Nein, aber ich mache dir eins.«

Ich gucke Ulf zweifelnd an. Wir spielen schon seit zwei Stunden das einzige Kartenspiel, das wir beide kennen, und Ulf hat eindeutig mehr Spaß als ich. Inzwischen gehören ihm mein gesamtes Geld, mein Computer, mein Körper, mein Hund und mein Versprechen, die nächsten zwanzig Jahre den Abwasch zu machen. Und jetzt das.

Ich setze mich wieder an den Küchentisch, von dem ich aufgestanden bin, als das Hamsterrad aufgehört hat zu quietschen.

»Ich dachte nur, ein Kind wäre vielleicht nett«, sagt Ulf und sieht ein bisschen traurig aus. Nebenbei fängt er an, aus den Spielkarten ein sechsstöckiges Kartenhaus zu bauen. »Glaubst du nicht?«

Nein, glaube ich nicht. Die alte Frau von gegenüber nimmt immer unsere Päckchen von der Post an, wenn wir mal wieder zu faul sind, dem Postmann die Tür aufzumachen. Das ist nett. Kinder nehmen keine Päckchen von der Post an, also sind sie auch nicht nett. So einfach ist das.

»Doch, doch, du hast schon recht«, sage ich, um ein wenig versöhnlich zu klingen. »Ein Kind mit meinen Augen und deinen Ohren wäre wirklich sehr hübsch. Aber was, wenn etwas schiefläuft und das Kind stattdessen deine Augen und meine Ohren bekommt?«

»Was stimmt denn nicht mit meinen Augen?«, fragt Ulf misstrauisch.

»Oder es bekommt von jedem ein Auge und von jedem ein Ohr«, sage ich schnell. »Vielleicht wachsen ihm auch Ohren, wo Augen sein sollen, und Augen, wo Ohren sein sollen. Oder es wird so ein IKEA-Kind, das immer ein bisschen schief steht und so sehr wackelt, wenn man dagegen stößt, dass alle Bücher runterfallen. Und dann müssten wir es Billy nennen. Wer will schon ein Kind, das Billy heißt?«

Ulf guckt mich an, als sei ich plötzlich verrückt geworden.

»Na ja, so schlimm finde ich den Namen jetzt auch wieder …«

»Ich aber!«, unterbreche ich ihn. »Und auch wenn wir es genau nach Anleitung aufgebaut hätten, blieben am Ende noch ein paar Finger übrig, von denen wir nicht wüssten, was wir mit ihnen anfangen sollen. Deshalb steckten wir sie dem Kind in die Ohren, die ja obendrein da wären, wo eigentlich die Augen hingehörten. Wie sähe es denn dann aus, unser Kind?«

»Sehr witzig«, sagt Ulf. »Aber jetzt mal im …«

»Genau«, sage ich. »Sehr witzig sähe es aus. Und gehänselt würde es, was es wegen der Finger in den Ohren natürlich nicht hören könnte, und sehen würde es auch nichts, weil die Augen ja rechts und links am Kopf säßen, wo immer die Haare drüberwüchsen, so dass es ständig gegen Wände liefe. Willst du wirklich ein Kind in die Welt setzen, das ständig gegen Wände läuft?«

Ulf sieht mich betreten an.

»Du willst kein Kind von mir, oder?«

Eigentlich ist es nicht so, dass ich kein Kind will. Mein Verhältnis zum Kinderkriegen ist in etwa so wie zum Ausdrücken eines besonders prallen Pickels: Ein kleiner Teil von mir kann sich kaum zurückhalten, aber der restliche und bedeutend größere Teil stellt die berechtigte Frage: Wohin mit dem, was da rauskommt? Doch sogar ich weiß, dass das kein schöner Vergleich ist und dass ihn auszusprechen den Zauber des Moments zerstören könnte.

Ulf baut noch immer an seinem Kartenhaus. Das Konstrukt ist längst ein Ding physikalischer Unmöglichkeit geworden. Als ihm die Karten für sein Hochhaus ausgehen, stapelt er mit Tassen und Gläsern weiter. Dann steht er auf und wuchtet drei Teller, den Salzstreuer und die Pfeffermühle auf die Karten. Schließlich greift er in den Poststapel und klemmt einen gelben Brief so zwischen die Gewürze, dass dieser zu einem runden Dach gebogen wird. Ich bin einigermaßen beeindruckt. Ulf schaut mich durch sein vollendetes Geschirr-Gewürz-Kartenhaus an und schnippt dann eine der unteren Karten weg, so dass sein architektonisches Meisterwerk scheppernd und klirrend einstürzt. Manchmal hat er eine sehr kindliche Art zu protestieren.

Ich halte mir die Arme vor das Gesicht, um die Trümmer abzuwehren.

»Was ist das überhaupt?«, frage ich dann und deute auf den gelben Brief, der zwischen den Scherben und Spielkarten zu Boden segelt.

»Ach ja, du hast Post«, sagt Ulf, hebt den Brief auf und legt ihn vor mir auf den Tisch. Der Umschlag ist ohne Absender. Darauf klebt eine Briefmarke mit der Abbildung eines entschlossen blickenden Mannes, den ich nicht kenne, und Worten in einer Schrift, die ich nicht lesen kann. Ich frage mich, wo man so schreibt. Irgendwo im Osten, glaube ich. Der Zettel knistert zwischen meinen Fingern, als ich ihn aus dem Kuvert hole. Dann starre ich auf die wenigen krakeligen Sätze darauf.

»Von wem ist der Liebesbrief?«, fragt Ulf, während er die Spielkarten vom Boden aufsammelt.

»Mein Vater ist tot«, sage ich.

Ulf legt die Karten ab, die er gerade in der Hand hält, umrundet mit drei großen Schritten den Tisch und nimmt mich in den Arm.

Ich finde das sehr nett von ihm. Und sehr vorbildlich. Er tut, was von ihm erwartet wird. Also tue auch ich, was von mir erwartet wird, und weine ein bisschen. Ich kann das, einfach so weinen. Es funktioniert jedes Mal. Dabei bin ich mir gar sicher, ob ich wirklich traurig bin. Aber Weinen ist wie Niesen: Ab und zu muss es mal raus.

Ich lese noch einmal den Brief.

»Dead your father is«, steht da. Kurz stelle ich mir vor, wie Meister Yoda diesen Satz aussprechen würde, und muss unter den Tränen fast lachen. Ich weiß nicht, was in meiner Erziehung falsch gelaufen ist. Ich muss immer lachen, wenn jemand stirbt. Noch durch keine Beerdigung naher oder ferner Verwandter habe ich es geschafft, ohne irgendwann albern zu kichern.

Tot mein Vater ist. Ich weiß gar nicht, wie ich das finden soll. Tot war er noch nie. Sehr erkältet war er mal, weil er den Kopf aus dem fahrenden Auto gehalten hat, um seine Haare zu trocknen. Danach lag er ein paar Wochen im Krankenhaus, weil er nebenbei das Auto gegen die Leitplanke gesteuert und sich eine Rippe angeknackst hat. »Was hast du, meine Haare sind doch trocken!«, sagte er zu meiner Mutter, die sich damals noch genug für ihn interessierte, um ihn am Krankenbett zu besuchen. Womit er recht hatte. Jedenfalls noch zehn Sekunden lang. Dann leerte meine Mutter die Bierflasche, die sie für ihn ins Krankenhaus geschmuggelt hatte, über seinem Kopf aus. Und jetzt ist er also tot. Das ist neu. Und ich weiß nicht, wie ich es finden soll. Vorsichtshalber runzle ich die Stirn, um mir selbst das Grinsen auszutreiben.

Da Weinen nach einer Weile recht eintönig wird, beschließen Ulf und ich nebenbei weiterzuspielen. »Um die Zeit totzuschlagen«, sagt Ulf und beißt sich dann vor Schreck auf die Lippe. Ich gucke gebührend empört und teile die Karten aus. Dann verliere ich ein Spiel nach dem anderen, weil ich unter all den Tränen die Spielkarten nicht richtig erkennen kann. Ulf sitzt mir gegenüber und versucht seine kindliche Gewinnerfreude unter einer Maske mitfühlender Trauer zu verbergen. Was ihm nicht so recht gelingen will. Nach zwei weiteren Spielen gehören ihm auch noch die Filmrechte an meiner Lebensgeschichte und jedes einzelne meiner Familienmitglieder als Leibeigene.

»Jedes lebendige Familienmitglied«, sage ich, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, ich wolle meinen frisch verstorbenen Vater beim Kartenspiel setzen. Beim Gedanken daran muss ich schon wieder grinsen. Ulf guckt mich verstört an. Ich bin ein schlechter Mensch.

»Lass uns aufhören«, sage ich schließlich, um den morbiden Moment zu überspielen. »Ich hab eh nichts mehr, was ich noch setzen könnte.«

»Doch«, sagt Ulf und guckt nicht mehr verstört, sondern plötzlich sehr ernst. »Ich will wirklich ein Kind von dir.«

Ich lache, dann schniefe ich, dann lache ich wieder. Dann kriege ich Schluckauf. Er wünscht sich also einen Thronfolger. Ich frage mich, wie er sich das vorstellt. Bumm, zack, flutsch, Kind da? Wenn es ein Junge wird, baden wir ihn in Elefantenmilch, wenn es ein Mädchen wird, schenken wir es den Nachbarn? »Nee. Ach. Nur ein kleines Dankeschön für die Bohrmaschine, die Sie uns beim Einzug geliehen haben. Was? Ja, ja, die kriegense auch bald zurück!«

Ulf sitzt mit großen Augen vor mir und guckt mich an. Gucken kann er gut. Ich gucke zurück und frage mich, wer wohl länger durchhält. Und wer von uns gespannter auf meine Antwort ist. Vor allem aber frage ich mich, wie merkwürdig dieser Tag wohl noch werden wird. Seit heute früh Annas Wehen eingesetzt haben, ist nichts mehr normal. Plötzlich hat sie ein Baby, ich einen toten Vater und Ulf das unerklärliche Gefühl, dies sei ein günstiger Moment für Familienplanung.

»Ein Kind ist ja schon ganz süß«, sage ich. »Aber es wird irgendwann zu einem Menschen. Und Menschen sind nicht süß, sondern die Parasiten dieses Planeten. Nazis sind Menschen. Und Diktatoren. Und deine Mutter. Wieso sollte man mehr Menschen in diese Welt setzen?«

»Ähm«, sagt Ulf. Das sagt er immer, wenn ihn meine Argumente in einen Zustand tiefer Bewunderung versetzen.

»Glaubst du wirklich, dass unser Kind so schlimm würde?« Er sieht ehrlich besorgt aus.

»Du meinst, unser Kind würde niemals ein Diktator werden?«

»Doch, doch«, sagt Ulf. »Das vielleicht schon. Vielleicht sogar Nazi. Aber glaubst du wirklich, es könnte so werden wie meine Mutter?«

Ich zucke mit den Schultern. Ulf guckt mich noch einen Moment lang an, dann seufzt er und geht aufs Klo. Ich weiß, dass ich unfair bin. Das Kind hätte unter seinen Genen weit weniger zu leiden als unter meinen.

Nachdenklich nehme ich den Brief wieder zur Hand und versuche mich zu erinnern, in welchem Land mein Vater zuletzt gelebt hat. Es lag bestimmt irgendwo im Osten.

Wenn jemand stirbt, sagen Hinterbliebene oft, sie erwarteten jeden Moment, dass der Verstorbene wieder zur Tür hereinkäme. Ich erwarte nicht, dass mein Vater zur Tür hereinkommt. Allerdings habe ich das auch letzte Woche nicht erwartet, als er noch nicht tot war. Und: Ich habe recht behalten. Er wusste ja auch gar nicht, wo ich wohne. Das macht es natürlich wahrscheinlicher, dass er jetzt zur Tür hereinkommt. Wahrscheinlicher jedenfalls als letzte Woche, wo er doch inzwischen sicher eine Art Google-Earth-Sicht auf die Welt hat und mich irgendwie orten könnte. Aber warum sollte er?

Tot mein Vater ist. So richtig gut finde ich das nicht. Gestern war er einfach nur nicht da. Heute ist er plötzlich tot und damit doch irgendwie wieder zur Tür hereingekommen. Dabei habe ich ihn gar nicht eingeladen. Es ist, als säße er mit mir am Küchentisch und sähe mich ebenso fragend an wie gerade noch Ulf. Aber wäre mein Vater wirklich hier, würde er mich nicht fragend ansehen. Er würde Ulf fragend ansehen. Wahrscheinlich würde er ihm sogar einen Kübel Eiswasser über den Kopf schütten, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Niemand mit klarem Verstand will ein Kind von mir. Mein Vater wusste das. Ulf weiß es nicht.

Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

»Ich geb dir eine Pinkelpause Nachdenkzeit«, ruft Ulf durch die sich schließende Klotür.

Träge hebe ich den Kopf und beneide Ulf ein bisschen um seine Begeisterungsfähigkeit. Dann fällt mein Blick wieder auf den toten Hamster. Er hauste in einem alten Gipsarmgips, den Ulf in einen großen Käfig gelegt hat. Eine ganze Woche hat er überlebt. Ich finde das sehr lang.

Schließlich wende ich meinen Blick von dem traurigen Schauspiel ab und fasse einen Entschluss. Ich drehe den Zettel um, schreibe auf die Rückseite: »Bin kurz Zigaretten holen«, lege ihn auf den Küchentisch und verlasse unsere Wohnung.

Wahrscheinlich sollte ich dableiben und Ulf erklären, warum er kein Kind von mir will. Aber da müsste ich ziemlich weit ausholen. Was den Menschen fehlt, ist ein »Was bisher geschah«-Knopf. Den könnte man einmal drücken und wüsste alles, was war. Nicht selten würde es einen davor bewahren, wissen zu wollen, was noch kommen wird.

Was bisher geschah

1

Ich war ein hässliches Kind.

Aus blutunterlaufenen Augen stierte ich in die Welt, und aus grauenerfüllten Augen stierte die Welt zurück. Das gefrorene Lächeln der in meinen Kinderwagen lugenden Köpfe hielt ich für den einzig existenten Gesichtsausdruck. Immer wieder hob meine Mutter mich im Stadtpark aus dem Wagen, streckte mich arglosen Rentnern entgegen und fragte: »Wollnsema halten?«

Doch niemand wollte.

Die Rentner entschuldigten sich wortreich und flohen in die Arme hübscherer Kinder, die ihnen ihrer Liebkosung würdiger erschienen. Meine Mutter und ich jedoch blieben zurück, kicherten albern und zählten Punkte: einen für jede vor Ekel gerümpfte Nase, zehn, wenn wir jemanden zum Weinen brachten. Manchmal machte meine Mutter von den versteinerten Gesichtern sogar Fotos, die sie sorgfältig aufbewahrte und zu jedem Weihnachtsfest aus der Schublade holte.

Schon nach kurzer Zeit begleitete uns auf unseren Spaziergängen ein ängstliches Raunen und Flüstern. Wir waren Billy the Kid, und der Park war unser Saloon. Wenn wir ihn betraten, erstarb das Quaken der Enten, die Rentner flohen ins Unterholz, und ein eisiger Wind fegte durch die verlassene Stätte.

Mein Vater war in dieser Zeit noch überwiegend anwesend, scheute sich aber aus verständlichen Gründen, mit mir aus dem Haus zu gehen. Stattdessen betrachteten wir in seinem düsteren Arbeitszimmer gemeinsam die Ergebnisse einer beeindruckenden Zahl an Vaterschaftstests. Und waren beide gleichermaßen erstaunt darüber, dass ein stattlicher Herr wie mein Vater für die Produktion eines unstattlichen Kindes wie mir mitverantwortlich sein sollte. Mein Vater war Professor an der örtlichen Hochschule, brauchte also mehr als ein Testergebnis, um unsere Blutsverwandtschaft als unumstößliche Wahrheit zu akzeptieren. Meiner Mutter erzählten wir von den Tests natürlich nichts. Mein Vater hatte Angst vor ihrer Reaktion, ich hingegen mochte die Vertrautheit, die unser gemeinsames Geheimnis zwischen uns schuf. Und Geheimnisse hatte mein Vater viele. Je älter ich wurde, desto mehr entdeckte ich. Irgendwann kannte ich sie alle. Dass er mich manchmal nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß vom Kindergarten abholte, weil er seinen Führerschein erst in zwei Monaten wiederbekam. Dass er auf dem Heimweg immer einen kurzen Abstecher in die Dorfkneipe machte, während ich draußen Schmiere stand. Und dass er ab und zu gar nicht kam, weil er sich die Wochentage so schwer merken konnte. Ich hätte auch ohne Vaterschaftstest gewusst, dass ich seine Tochter war. Die Wochentage konnte ich mir auch nicht gut merken.

So verbrachte ich die ersten Jahre meines Lebens also zwischen den Schreckensschreien ältlicher Parkbesucher und den Ausdünstungen einer heruntergekommenen Kneipe. Beides nahm ich dankbar an, denn in beiden Fällen war ich als essentieller Faktor daran beteiligt, meine Eltern glücklich zu machen. Andere Kinder schafften das durch ihre bloße Anwesenheit, ich erschreckte eben Rentner und hütete Geheimnisse. Meine Eltern dankten es mir mit dem Gefühl, dass sie mich zwar nicht rundum gelungen, aber immerhin nützlich und unterhaltsam fanden.

Kurz: Ich hatte eine glückliche Kindheit.

Doch dann kam ich in die Schule. Die Pubertät eröffnete mir nicht nur neue Dimensionen grotesken Aussehens, sie nahm mir auch jeglichen Spaß daran. In meinem Inneren vollzog sich eine schockierende Wandlung: Ich wollte keine Rentner mehr erschrecken. Ich wollte plötzlich gemocht werden. Allerdings wurde natürlich nicht ich gemocht, sondern Julia. Und zwar jede der sechs Julias in meiner Klasse. Sie alle hatten Locken aus reinem Gold und Seelen aus reinem Stahl. Jeden Morgen begrüßten sie mich mit einem kumpelhaften Hieb auf den Rücken, der mich den ganzen Tag einen »Ich stinke«-Zettel spazieren tragen ließ. Natürlich durchschaute ich das Manöver schon beim ersten Mal, doch die freundschaftliche Begrüßung war es mir wert. Meine Mutter zupfte mir Tag für Tag die Zettel vom Rücken und legte sie stolz zu den Rentnerfotos in die Schublade. Manchmal beschlich mich der Verdacht, dass auch meine Mutter mal ein hässliches Kind gewesen war.

Mein Äußeres wandelte sich auf ähnlich schockierende Weise wie mein Inneres. Mit dem Eiter aus meinen Pickeln hätte man Schwimmbäder füllen können. Im Sportunterricht musste ich mich immer bei den Jungs umziehen, weil mir weder Lehrer noch Schüler glauben wollten, dass ich ein Mädchen war. Und selbst meine einzige Freundin Anna verbrachte die meiste Zeit damit, Papierkügelchen in die Lücke zwischen meinen Schneidezähnen zu schnippsen. Ich ließ sie gewähren und grinste sogar breit, damit sie besser zielen konnte, denn eigentlich war ich dankbar dafür, dass sich überhaupt jemand mit mir beschäftigte. Als ich dann mit dreizehn eine Zahnspange bekam, zerknickte auch der letzte Strohhalm, durch den ich mühsam soziale Luft geatmet hatte. Nicht nur katapultierte die Spange mich auf die nächste Ebene infantiler Unansehnlichkeit, sie schloss auch langsam, aber sicher die Lücke zwischen meinen Schneidezähnen und beraubte mich somit der einzigen Eigenschaft, die überhaupt jemand an mir schätzte. Ja, ich fristete ein trauriges und einsames Dasein. Es wäre das traurigste und einsamste Dasein an unserer Schule gewesen, hätte mich nicht ein Mensch selbst in dieser Disziplin geschlagen: Anna.

Annas Geschichte

Anna war ein hübsches Kind. Wo sie auch hinkam, kniffen ihr entzückte Rentner in die rosigen Wangen und schenkten ihr Süßigkeiten. Wenn sie lachte, lachten alle. Wenn sie weinte, lachten trotzdem alle, denn auch weinend war sie sehr hübsch. Und sie hatte eine reiche Mutter. Irgendwas mit Aktien oder mit berühmten Leuten machte ihre Mutter. Anna wusste es nicht. Es war ihr auch egal. Ihre Kindheit verbrachte sie in schönen und großen Häusern, durfte aber in keinem davon lange bleiben, weil ihre Mutter so gerne umzog. Vor allem in schöne und große Häuser zog ihre Mutter gerne, deshalb war jedes Haus, in das sie einzogen, schöner und größer als das vorherige. In jedem Haus wohnte ein anderer Mann, den sie »Papa« nennen musste, solange sie dort wohnten, und nicht mehr erwähnen durfte, sobald sie umzogen. Auch die Männer wurden von Haus zu Haus größer. Das Prinzip hatte Anna schnell verstanden und nannte fortan jeden Mann »Papa«, der sich in einem Haus befand, das sie zufällig gerade betrat. Vor allem, wenn es ein sehr großer Mann war. Ob Bäcker oder Schulleiter, Bankdirektor oder Hausarzt: Männer in Häusern hießen »Papa«. Ihre Mutter war von dieser Entwicklung nicht allzu begeistert und bat Anna, von nun an niemanden mehr »Papa« zu nennen. Anna fragte, wie sie denn dann bitte ihren richtigen Papa nennen solle, falls sie ihm eines Tages mal begegne. Ihre Mutter lächelte traurig. Keine Sorge, sagte sie dann und strich Anna durchs Haar, das passiere schon nicht. Aber wo sie gerade über Papas sprächen: Es sei mal wieder an der Zeit umzuziehen. Ihr letzter Papa sei nämlich nicht nur ein größerer Mann, sondern auch ein größeres Arschloch als alle vorangegangenen Papas gewesen. Ob Anna verstehe? Anna verstand. Eigentlich verstand sie natürlich nicht, aber sie nickte trotzdem.

Also zogen sie wieder um. Ihr neues Haus war sehr schön und sehr groß, fast schon eine Villa. Doch diesmal wartete kein Mann darin. Anna fand das nicht schlimm. Ihr war es ohnehin ein bisschen lästig gewesen, ständig neue Papas kennenzulernen. Besonders jetzt, wo die ersten Vorboten der Pubertät bei ihr anklopften. Sie wunderte sich nur ein wenig. Aber wahrscheinlich war ihre Mutter inzwischen einfach zu alt geworden für einen neuen Mann, dachte sie. Als sie den Gedanken ihrer Mutter mitteilte, brach diese in Tränen aus.

So landete Anna in meiner Stadt.

Sie war nicht nur meine einzige Freundin, sie war auch die Einzige, die es noch schwerer hatte als ich. Jeden Tag nach der Schule trafen wir uns, um uns ineinanders Selbstmitleid zu suhlen. Meist hockten wir in einem unserer Zimmer und spielten Tetris. Oder blätterten mit spitzen Fingern durch eine Bravo, die wir am Kiosk geklaut hatten, und dachten uns alternative und allesamt sehr blutige Enden für die Foto-Lovestorys aus.

An einem Dienstagnachmittag saßen wir in Annas Zimmer und husteten. Rauchschwaden waberten unter der schrägen Decke umher, der Boden war übersät mit Tabak- und Grasresten. »Einmal nur«, sagte Anna. »Einmal und nie wieder.« Ich sah sie an und musste lachen. Alle mussten lachen, wenn sie Anna ansahen. Weil sie riesige Brüste hatte. Mit dreizehn. Sie hatte sie mir gezeigt: Sie waren so groß, dass sie nicht mal mehr in ihre Hände passten. Ich fragte mich, wie sie das aushielt, so große Brüste mit sich herumzutragen. Im Sportunterricht musste sie beim Rennen immer die Arme verschränken, weil ihre Mutter ihr noch nicht erlaubte, einen BH zu tragen. Das gehöre sich nicht für ein Kind, sagte sie. Vor jedem Handstand steckte Anna umständlich ihr T-Shirt in die Sporthose, damit es ihr nicht über den Kopf rutschen konnte. Was alle Jungs in der Klasse sehr schade fanden. Und Herr Pallasch sowieso. Pädo-Pallasch, die Sau.

»Aus großen Brüsten folgt große Verantwortung«, sagte er einmal vor der ganzen Klasse zu ihr, als jeder seine Lieblingssportart nennen sollte. Alle lachten. Jedenfalls alle außer Annas Brüsten. Anna sagte, sie fände zum Beispiel Bodenturnen ganz gut. Herr Pallasch projizierte ein Bild von drei dürren Turnerinnen an die Wand und stellte Anna als Vierte daneben. »Findet den Fehler«, sagte er zur Klasse. Wieder lachten alle. Sogar Annas Brüste grinsten verlegen.

Ich hatte mich längst an ihre Brüste gewöhnt. »Hallo, ihr drei«, sagte ich immer, wenn wir uns trafen. Was sie nicht lustig fand, aber hinnahm, weil ich ihre einzige Freundin war. Nur zu Anfang machten mir ihre Brüste ein bisschen Angst, weil sie einfach nicht aufhören wollten, größer zu werden. Einmal träumte ich, dass sie immer weiter wachsen und Anna schließlich wie zwei Ballons in die Lüfte heben würden. Dann bekam ich selbst welche. Kleiner zwar und noch gut versteckt unter ausgebeulten Kapuzenpullovern, aber eindeutig vorhanden.