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LITERATUR
KOMPAKT

Herausgegeben von Gunter E. Grimm

Tectum

Hartmut Kircher

HEINRICH HEINE

Dr. Hartmut Kircher, geb. 1940, Studium der Germanistik und Romanistik in Mainz, Kiel, Zürich und Köln. Promotion 1972 über Heinrich Heine und das Judentum. Bis 2005 Akademischer Oberrat am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Buchveröffentlichungen u.a. zu Heinrich Heine, Heinrich von Kleist, Robert Prutz, Max von der Grün; außerdem Deutsche Sonette, Dorfgeschichten aus dem Vormärz, Der Kriminalroman, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Literatur und Politik in der Heine-Zeit (hg. zus. mit Maria Kłańska), Avantgarden in Ost und West um 1900 (hg. zus. mit Maria Kłańska u. Erich Kleinschmidt). Aufsätze über Heinrich Heine, Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh, Georg Weerth, Ludwig Börne, Carl Arnold Schloenbach, Hermann Broch, Guillaume Apollinaire, Max von der Grün, Siegfried Lenz, Uwe Timm; außerdem Naturlyrik als politische Lyrik, Reflexe der Französischen Revolution im deutschen Vormärz, Sonettkunst um 1900, Alain Robbe-Grillet und Friedrich Dürrenmatt, Die Destruktion des Kriminalromans bei Peter Handke, Deutsche Lyrik nach der Wende.

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Der Autor

Hartmut Kircher

Heinrich Heine

Literatur Kompakt – Bd. 1

ISBN: 978-3-8288-2924-4

eISBN: 978-3-8288-5707-0

© Tectum Verlag Marburg, 2012

Reihenkonzept und Herausgeberschaft: Gunter E. Grimm

Projektleitung Verlag: Christina Sieg

Layout: Sabine Manke

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www.tectum-verlag.de

www.literatur-kompakt.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

INHALT

I. Einst geschmäht und verfolgt, heute ein Klassiker

II. Zeittafel

Grafik: Wichtige Punkte

III. Leben und Werk

IV. Tragödien

1. Almansor

2. William Ratcliff

V. Reisebilder

1. Die Harzreise

2. Ideen. Das Buch Le Grand

3. Reise von München nach Genua

4. Die Bäder von Lucca

VI. Erzählende Prosa

1. Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski

2. Florentinische Nächte

3. Der Rabbi von Bacherach

VII. Versepos: Deutschland. Ein Wintermärchen

VIII. Lyrik

1. Buch der Lieder

2. Neue Gedichte

3. Romanzero

4. Gedichte. 1853 und 1854

IX. Wirkung

Endnoten

Glossar

X. Literatur

Abbildungsverzeichnis

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I. Einst geschmäht und verfolgt, heute ein Klassiker

Geschichte eines Denkmals

Die österreichische Kaiserin Elisabeth (»Sissi«) war eine glühende Anhängerin Heinrich Heines. Sie ließ ihm zu Ehren 1891 an privilegierter Stelle im Park ihres Palastes auf der griechischen Insel Korfu ein von dem dänischen Bildhauer Louis Hasselriis gefertigtes Denkmal errichten, eine lebensgroße Sitzfigur aus weißem Marmor, der leidende Dichter als Lazarus. Nach ihrem Tode wurde das Anwesen verkauft und ging schließlich 1907 in den Besitz des deutschen Kaisers Wilhelm II. über. Der ordnete prompt eine Entfernung des Heine-Monuments an. Es wurde von einem Nachkommen des Heine-Verlegers Julius Campe erworben und der Stadt Hamburg als Schenkung angeboten. Der Senat der Hansestadt lehnte jedoch wegen eigener Denkmalspläne ab, sodass der marmorne Heine dann in einer Nische des hamburgischen Kontorgebäudes »Barkhof« in der Mönckebergstraße untergebracht wurde – immerhin für die Öffentlichkeit sichtbar. In der Folgezeit wurde er von Verehrern mit Blumen geschmückt, von Gegnern mit roter Farbe beschmiert, was letztlich dazu führte, dass das Denkmal hinter einem Bretterverschlag verborgen werden musste. Später erhielt es in einem Park in Altona einen neuen Platz, aber nach 1933 forcierte nationalsozialistischer Pöbel seine nicht nur verbalen Attacken, woraufhin Privatpersonen es erneut versteckten und schließlich 1939 als Dauerleihgabe in die südfranzösische Stadt Toulon verfrachteten. In den vierziger Jahren war dort an eine öffentliche Präsentation freilich nicht zu denken, das geschah erst 1956, zum hundertsten Todestag Heines. Seitab und zunächst ohne Namensschild zwischen den Büschen eines Parks aufgestellt, bekam es endlich 1983 eine Plakette, die darüber informiert, dass es sich um ein Denkmal für den »Poète Allemand« Heinrich Heine handelt (vgl. Schubert 1999, S. 115–144).

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Die Odyssee seines Denkmals kann in vielerlei Hinsicht als exemplarisch für das Schicksal des Autors gelten.

Zeitgenössische Urteile

Bereits die Urteile seiner Zeitgenossen gingen weit auseinander. Oft wurden Lob und Kritik zugleich geäußert, etwa wenn Karl Grün Heine »Unsere maliziöse Nachtigall« nennt oder Friedrich Gentz feststellt: »Frivolisierende Ironie kann man ihm allerdings oft vorwerfen, aber sein poetisches Genie muß man gebührend anerkennen.«1 Auch etliche Schriftstellerkollegen hielten sich mit abschätzigen Bemerkungen nicht zurück. Nikolaus Lenau: »Heine ist voll angeborner Bosheit.« Franz Grillparzer: »Innerlich ein lumpiger Patron.« Christian Dietrich Grabbe: »Heine ist ein magrer, kleiner, häßlicher Jude […]. Sein Schmerz, so unnatürlich er ist, mag wirklich seyn. Poesien sind seine Gedichte aber nicht. Abwichserei.« (Alle Belege zit. nach Hauschild/Werner 1997, S. 11–13.) Ludwig Börne, jüdischer Herkunft wie Heine und wie dieser im Pariser Exil lebend, schreibt in einem Privatbrief über den publizistischen Rivalen, er habe »satirischen Speichelfluß« und sei »ein verlorener Mensch. Ich kenne keinen, der verächtlicher wäre. […] Er hat den schlechten Judencharakter, ist ganz ohne Gemüt und liebt nichts und glaubt nichts« (Börne 1964–68, Bd. V, S. 61 und 172). Nicht ganz widerspruchsfrei behauptete er gleichzeitig, Heine habe nur Talent, aber keinen Charakter, und gab damit einen Slogan frei, den viele, allzu viele aufgriffen.

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Karl Grün

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NIkolaus Lenau

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Franz Grillparzer

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Friedrich Gentz

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Christian Dietrich Grabbe

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Ludwig Börne

Der französische Romancier Alexandre Dumas spottete: »Wenn Deutschland ihn nicht liebt, nehmen wir ihn gerne auf, aber leider liebt Heine Deutschland über Gebühr.« Doch es gab auch genügend Stimmen, die ihre Wertschätzung für Heine zum Ausdruck brachten. Der Romantiker Adelbert von Chamisso: »Er ist wohl ein Dichter bis in die Fingerspitzen. Der erschafft Lebendiges […].« Der Vormärzautor Georg Weerth: »Einer der wenigen Poeten, welche alle Revolutionen der Welt überleben werden.« Der Jungdeutsche Heinrich Laube: »Vielleicht – um historisch zu sprechen – wären wir Alle nicht in der Literatur, hätte Heine nicht seine Zauberworte gefunden.« (Alle Belege zit. nach Hauschild/Werner, S. 12f.) Und Heine hatte ein großes Publikum: Zu seinen Lebzeiten erzielte beispielsweise seine erste Gedichtsammlung, Buch der Lieder, dreizehn Auflagen.

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Alexandre Dumas, d. Ältere

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Adelbert von Chamisso

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Georg Weerth

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Heinrich Laube

Wer Heines Lyrik nach den Kriterien der klassisch-romantischen Ästhetik beurteilte und speziell an seine Liebesgedichte den Maßstab der Goethe’schen Erlebnislyrik anlegte, bemängelte seine angeblich fehlende Tiefe und Aufrichtigkeit. Moralfromme Zeitgenossen empörten sich über Heines vermeintliche Sittenlosigkeit und seine respektlos-freigeistige Religionsauffassung. Nationalisten lehnten ihn wegen seiner ungeschönten Kritik an den rückständigen politischen und sozialen Verhältnissen im restaurativen Deutschland ab. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher werdenden Deutschtümler scheuten auch nicht vor offen rassistischer Argumentation zurück.

Antisemiten

Vor allem die antisemitischen Schmähungen verschärften sich in den Jahrzehnten vor und nach der Reichsgründung 1871. Richard Wagner, der sich von Heine zum Fliegenden Holländer hatte inspirieren lassen, beklagte später »die Verjudung der modernen Kunst« und meint: »In einer fremden Sprache wahrhaftig zu dichten« sei unmöglich, »unsere ganze europäische Zivilisation und Kunst ist […] dem Juden eine fremde Sprache geblieben«. Folglich erklärt er Heines Bekanntwerden als Phänomen einer Zeit, »wo das Dichten bei uns zur Lüge wurde« (Wagner 1975, S. 56, 58 und 76). Der Historiker Heinrich von Treitschke opponierte ebenfalls gegen die nach seiner Ansicht um sich greifende »Verjudung« und diffamierte Heines deutschlandkritische Zeitgedichte als »blödsinniges Wutgeheul jüdischen Hasses« (zit. nach Schubert 1999, S. 90). Der Antisemit befand ganz einfach, Heine sei »undeutsch von Grund aus« (zit. nach Galley 1967, S. 9). Obwohl Friedrich Nietzsche bekannte: »Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik« (Nietzsche 1955, Band 2, S. 1088f.), und sogar der Reichskanzler Otto von Bismarck die Auffassung vertrat, dass »Heine ein Liederdichter ist, neben dem nur noch Goethe genannt werden darf« (zit. nach Hauschild/Werner 1997, S. 14), nahmen die Verfehmungstendenzen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik noch deutlich zu.

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Richard Wagner

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Heinrich von Treitschke

Zum Denkmalsstreit anlässlich des fünfzigsten Todestages von Heine (1906) trug der Deutschnationale Adolf Bartels gar ein voluminöses Buch bei: Heinrich Heine. Auch ein Denkmal. Für Bartels hat »die Menschheit […] natürlich ein arisches Gesicht«, und er tituliert Heine als einen »nationalen Schädling« und eine »Kanaille«. Er stellt dezidiert fest: »Heine ist Jude, als Talent wie als Persönlichkeit; der Einfluß des Deutschtums auf den Kern seines Wesens ist gleich null […].« Da Juden »nun aber ihrem Grundwesen, ihrer Rasse nach verschieden von uns sind, so können sie sich unsere Kultur weder voll aneignen, noch bleibt sie unter ihren Händen das, was sie ist […]« (Bartels 1906, S. 360–363). Die Stimmen von Heine-Befürwortern wie Heinrich Mann, Detlev von Liliencron, Gerhart Hauptmann, Alfred Kerr und später auch Thomas Mann, um nur einige zu nennen, fanden weniger Gehör im Widerstreit der Meinungen.

NS-Zeit

Die nationalsozialistische Tonart gab Julius Streicher bereits 1926 in der berüchtigten Zeitschrift Stürmer vor: »Die Gräber der deutschen Helden des Weltkrieges verkommen und werden vergessen und für die Judensau auf dem Montmartre wirft man das Geld der deutschen Steuerzahler zum Fenster hinaus« (zit. nach Galley 1967, S. 10).

Es ließen sich zahllose weitere infame und absurde Anti-Heine-Kommentare aus der NS-Zeit aufführen, doch soll hier lediglich noch daran erinnert werden, dass bei der Bücherverbrennung im Mai 1933, der sogenannten »Aktion wider den undeutschen Geist«, auch Heines Werke den Flammen übergeben wurden. In seiner Tragödie Almansor hatte er schon 1823 prognostiziert: »[…] dort, wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«2

Karl Kraus

Erstaunlich aber ist, dass auch namhafte Autoren, die wie Heine jüdischer Herkunft waren, ihn wegen seines Umgangs mit der deutschen Sprache kritisierten. Dabei zeigt sich, dass antisemitische Klischees ins Ästhetische umgedeutet und so weitertransportiert werden. Der Wiener Karl Kraus lieferte bereits 1910 mit seinem fatalen Essay Heine und die Folgen weit über das Dritte Reich hinaus wirksame polemische Stichworte. Zunächst geht es um die Prosa:

[…] selbst im Stil der modernsten Impressionsjournalistik verleugnet sich das Heinesche Modell nicht. Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. Wie leicht wird mankrank in Paris! Wie lockert sich die Moral des deutschen Sprachgefühls! […]« Heine habe »der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert […], daß heute alle Kommis an ihren Brüsten herumfingern können. […] Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen […]. (zit. nach Kleinknecht 1976, S. 126–129)

Heines Lyrik wird ebenso wenig geschont – sie könne an die Goethes nicht heranreichen, es fehle ihr Ursprünglichkeit und tief bewegende Unmittelbarkeit. »Heines Lyrik: das ist Stimmung oder Meinung mit dem Hört, hört! klingender Schellen. Diese Lyrik ist Melodie, so sehr, daß sie es notwendig hat, in Musik gesetzt zu werden.«3 Man könne, so Kraus, Heine lediglich »als lust- und leidgeübten Techniker, als prompten Bekleider vorhandener Stimmungen […] schätzen« (zit. nach Kleinknecht 1976, S. 132).

Theodor W. Adorno

Nach ganz ähnlichem Muster fällt noch 1956 Theodor W. Adorno, ebenfalls Jude, sein abfälliges Urteil über die Sprache des Außenseiters Heine:

Denn seine von der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. Wäre es ganz die seine, er trüge die Dialektik zwischen dem eigenen Wort und dem bereits vorgegebenen aus, und das glatte sprachliche Gefüge verginge ihm. Dem Subjekt aber, das die Sprache wie ein vergriffenes Ding gebraucht, ist sie selber fremd. (Adorno 1956, S. 149)

Nach 1954

Der kanadische Germanist Paul Peters, der die Geschichte der »Schmähung« des »Dichterjude[n]« Heine von den Anfängen bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts detailliert nachgezeichnet hat, kam nicht umhin zu konstatieren, dass nach dem Ende der NS-Zeit »im westlichen Teil Deutschlands der antisemitische Bannstrahl gegen den Dichter effektiv noch zwei Dezennien in Kraft« geblieben ist. Und das betrifft nicht nur die von Adorno beibehaltene pejorative Einschätzung des Lyrikers Heine, sondern überhaupt seine völlig untergeordnete Rolle in der bundesrepublikanischen Rezeption der literarischen Tradition. Für Peters kommt das einer »zweiten Ächtung Heines« gleich (Peters 1990, S. 126f.). Entsprechend bilanziert Eva D. Becker noch 1966 in ihrem Forschungsbericht: »Wer nach 1945 in einer westdeutschen Schule seine Kenntnis deutscher Literatur erworben hat, dem ist Heinrich Heine kaum mehr als ein Name […], der Literaturkanon unsrer Schulen und Universitäten zeigt noch immer die Folgen der jahrzehntelangen Verketzung [!] des Dichters […]« (Becker 1966, S. 3). Das hat sicherlich unter anderem auch damit zu tun, dass ein großer Teil der Lehrenden seinerseits die Ausbildung vor 1945 erhalten hat.

DDR

In Ostdeutschland allerdings dominierte gleich nach der NS-Zeit im Zuge der allgemeinen politischen und kulturellen Neuorientierung ein sehr positives Bild des Autors. Entsprechend betont Eva D. Becker im selben Forschungsbericht: »Heine gilt dort wieder als einer der ‚Klassiker‘ der deutschen Literatur, seine Werke werden viel gelesen, und einige gehören zur Pflichtlektüre in den Schulen« (Becker 1966, S. 3). Die Rezeption in der DDR ist freilich auch gekennzeichnet durch oft zu einseitige Vereinnahmung im Sinne des Marxismus; nicht in diese Richtung passende Aspekte wurden gerne heruntergespielt oder ausgelassen. Es gab wesentliche Bereicherungen der Heine-Forschung, aber eben auch recht ideologiebefangene Beiträge (vgl. dazu Hermand 1975, S. 15–42).

Ausland

Im Ausland – und man kann durchaus sagen weltweit – war Heine nicht annähernd so umstritten wie in Deutschland, weder in den USA noch in Russland noch in Japan noch bei den europäischen Nachbarn. Speziell viele Franzosen schätzten den seit 1831 in ihrer Hauptstadt lebenden Dichter von Anfang an, vor allem wegen seines Stils und wegen seiner Bemühungen, zwischen den beiden Ländern diesseits und jenseits des Rheins zu vermitteln. »Er repräsentiert in Paris den Geist und die Poesie Deutschlands, wie er in Deutschland die lebendige und geistreiche französische Kritik verkörpert«, schrieb Honoré de Balzac 1844, und Adolphe Thiers äußerte 1850: »Der Mann, der zur Stunde das beste Französisch schreibt, ist ein Deutscher, und dieser Deutsche heißt Heinrich Heine« (beide Quellen zit. nach Hauschild/Werner 1997, S. 13). Als 1966 in Tel Aviv die Sammlung Salman Schocken mit einer beträchtlichen Zahl von Heine-Manuskripten zum Kauf angeboten wurde, sorgte Staatspräsident Charles de Gaulle persönlich dafür, dass die Pariser Bibliothèque nationale sie erwerben konnte. Jost Hermand erklärt in seinem Forschungsbericht zum Streitobjekt Heine, dass dieser schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der einzige deutsche Dichter war, der international mit dem Ruhm Goethes konkurrieren konnte (vgl. Hermand 1975, S. 167).

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Honoré de Balzac

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Adolphe Thiers

Bundesrepublik

Bezeichnend für die lange Zeit gespaltene Rezeptionslage in Deutschland ist die Tatsache, dass seit den sechziger Jahren nebeneinander zwei historisch-kritische Editionen entstanden: die Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) und (in Zusammenarbeit mit dem Pariser Centre national de la recherche scientifique) die Weimarer Säkularausgabe (HSA); beide liegen inzwischen vollständig vor. Etwa seit Mitte der sechziger Jahre ‚normalisierte‘ sich dann auch in der Bundesrepublik das Ansehen Heines in der Forschung, im Schulunterricht und in der Öffentlichkeit. (In seiner Geburtsstadt Düsseldorf hat man indes noch bis 1988 gebraucht, bis man sich nach diversen Querelen dazu durchringen konnte, die Universität nach Heinrich Heine zu benennen.)

Anfang der neunziger Jahre konnte Gerhard Höhn ein positives Fazit ziehen: »Die erstaunliche Heine-Renaissance, die mit der Studentenbewegung einsetzte und ein hohes wissenschaftliches Niveau erreichte, ist in den 80er Jahren abgeschlossen. […] dieser Vorläufer der Moderne wird heute als Klassiker gefeiert.« Der bedeutende Forscher spricht sogar von einer »Art endgültiger Kanonisierung« (Höhn 1991, S. 7). Bester Beweis ist sein zum unverzichtbaren Standardwerk gewordenes Heine-Handbuch (Höhn 1987,32004).

II. Zeittafel

1797

13. Dezember: Harry Heine in Düsseldorf als Sohn des jüdischen Kaufmanns Samson Heine und seiner Frau Betty (Peire), geb. van Geldern, geboren

1800

Aufnahme in die Kinderschule der Frau Hindermanns

1803

Aufnahme in die israelitische Privatschule Rintelsohns

1804

Normalschule (Volksschule)

1807

Vorbereitungsklasse des Lyzeums (Rektor Schallmayer)

1809

Privater Französischunterricht

1810

Eintritt ins Düsseldorfer Lyzeum

1811

Heine ist Augenzeuge bei Napoleons Ritt durch den Düsseldorfer Hofgarten

1814

Schulabgang ohne Reifezeugnis; Besuch der Handelsschule Vahrenkampf

1815

Zweimonatiger Aufenthalt in Frankfurt am Main: Praktikum im Bankhaus Rindskopf und bei einer Kolonialwarenhandlung

 

Besuch des Frankfurter Ghettos

1816

Lehrling im Bankhaus seines Onkels Salomon Heine in Hamburg; Heine verliebt sich in seine Kusine Amalie

1817

Erste Gedichtveröffentlichungen in der Zeitschrift Hamburgs Wächter (unter dem Pseudonym »Sy Freudhold Riesenharf« – Anagramm aus Harry Heine Düsseldorf)

1818

Eröffnung des vom Onkel eingerichteten Kommissionsgeschäfts »Harry Heine & Comp.« (für im Düsseldorfer Geschäft des Vaters nicht abgesetzte Ware). Es muss nach einigen Monaten wegen drohenden Bankrotts liquidiert werden

1819

Beginn des von Salomon Heine finanzierten Jurastudiums in Bonn; Bekanntschaft mit August Wilhelm Schlegel
Heine wird Mitglied in der Burschenschaft »Allgemeinheit«
Begegnung mit Wolfgang Menzel

1820

Fortsetzung des Studiums an der Universität Göttingen
Heine wird Mitglied in der dortigen Burschenschaft, aber nach kurzer Zeit wegen »Unkeuschheit« wieder ausgeschlossen

1821

Januar: Consilium abeundi – Das Universitätsgericht verhängt ein einsemestriges Studierverbot wegen einer Duell-Affäre Ab April: Weiterführung des Studiums an der Universität Berlin (für vier Semester)
Bekanntschaft mit dem Ehepaar Rahel und August Varnhagen von Ense, mit Chamisso, Fouqué, Grabbe, Alexander von Humboldt
Dezember: Gedichte (1822, bei Maurer in Berlin)

1822

Briefe aus Berlin im Rheinisch-Westfälischen Anzeiger

Aufnahme in den »Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden«

Reise ins preußisch besetzte Polen (Posen, Gnesen)

1823

Über Polen im Gesellschafter
Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo
bei Dümmler in Berlin Aufenthalte in Lüneburg (bei den Eltern), Hamburg und Cuxhaven

1824

Wiederaufnahme des Studiums in Göttingen
Fußwanderung durch den Harz; Besuch bei Goethe in Weimar

1825

Juni: Nach kurzem Religionsunterricht Übertritt zum Protestantismus; Taufname Christian Johann Heinrich

 

Juli: Promotion zum Dr. Juris
Aufenthalte auf Norderney, in Lüneburg und Hamburg

1826

Bekanntschaft mit dem Verleger Julius Campe Die Harzreise im Gesellschafter
Reisebilder, I. Teil (Die Harzreise, 1. Abt. von Die Nordsee) bei Hoffmann & Campe in Hamburg

1827

Reisebilder, II. Teil (2. und 3. Abt. Die Nordsee, Ideen. Das Buch Le Grand)
Reise nach England (London, Brighton), Rückkehr über Holland (Tilburg, Rotterdam, Leiden, Amsterdam)
Buch der Lieder
Aufbruch nach München; Zwischenstationen u. a. Kassel (Heine wird von Ludwig Emil Grimm, dem Bruder von Jakob und Wilhelm Grimm, gezeichnet), Frankfurt am Main (dort Zusammentreffen mit Ludwig Börne), Heidelberg, Stuttgart
Mitredakteur der Neuen allgemeinen politischen Annalen des Münchner Verlags Cotta

1828

Versuch, eine außerordentliche Professur an der Universität München zu erhalten (von konservativen Kreisen verhindert)
Italienreise (Innsbruck, Bozen, Trient, Verona, Mailand, Genua, Lucca, Florenz, Venedig)
2. Dezember: Tod des Vaters in Hamburg, Heine erhält die Nachricht erst auf der Rückreise am 27.12. in Würzburg

1829

Von Hamburg aus Reisen nach Berlin, Potsdam und Helgoland
Reisebilder, III. Teil (Reise von München nach Genua, Die Bäder von Lucca)

1830

Übersiedlung nach Wandsbek
Heine wohnt in Hamburg einem Gastspiel Paganinis bei

 

Im August erreicht ihn während eines Aufenthalts auf Helgoland die Nachricht von der Julirevolution in Paris

1831

Heines Bewerbung um eine Stelle als Ratssyndikus wird abgelehnt
Nachträge zu den Reisebildern (Die Stadt Lucca, Englische Fragmente)
Mai: Nach Zwischenaufenthalt in Frankfurt am Main Übersiedlung nach Paris. Dort in der Folgezeit zahlreiche neue Bekanntschaften, u. a. mit den Musikschaffenden Hector Berlioz, Frédéric Chopin, Franz Liszt, Giacomo Meyerbeer, Gioachino Rossini, mit den Autoren Honoré de Balzac, Jean de Béranger, Victor Hugo, Alfred de Musset, Gérard de Nerval, George Sand, mit den Politikern François Guizot, Adolphe Thiers, Edgar Quinet
Aufenthalt im Badeort Boulogne-sur-mer
Zunächst freundschaftlicher Kontakt mit Ludwig Börne
Beginn der Korrespondententätigkeit für Cottas Allgemeine Zeitung mit den Berichten über die jüngste Gemäldeausstellung in Paris (Französische Maler)

1832

Kontaktaufnahme mit den Saint-Simonisten Reise in die Normandie (Le Havre, Dieppe, Rouen)
Französische Zustände

1833

Gedichtzyklus Verschiedene in Der Freimüthige, Berlin
Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland, 1. und
2. Teil
De la France (Renduel, Paris)
Aufenthalt in Boulogne-sur-mer
Der Salon, Band 1 (Vorrede, Französische Maler, Verschiedene, Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski)

1834

De l’Allemagne depuis Luther in Revue des deux mondes, Paris
Aufenthalte in Boulogne-sur-mer, Versailles und St. Cloud
Beginn der engeren Beziehung mit Augustine Crescence Mirat (die Heine »Mathilde« nennt)

1835

Der Salon, Band 2 (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland)
Aufenthalt im Schloss der Fürstin Belgiojoso in La Jonchère

 

Die romantische Schule bei Hoffmann & Campe (Erweiterung der Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland)
10. Dezember: Beschluss der Deutschen Bundesversammlung gegen das Junge Deutschland (Publikationsverbot für Gutzkow, Heine, Laube, Mundt und Wienbarg)
11. Dezember: Verbot sämtlicher Schriften Heines in Preußen

1836

Heines offener Protestbrief An die hohe Bundesversammlung
Florentinische Nächte in Morgenblatt für gebildete Stände; Les nuits florentines in Revue des deux mondes
Reise nach Südfrankreich (Marseille, Aix-en-Provence, Avignon, Lyon)

1837

Reise mit Mathilde nach Granville (Bretagne)
Der Salon, Band 3 (Florentinische Nächte, Elementargeister)
Über den Denunzianten (Wolfgang Menzel)
Einleitung zu Cervantes’ Don Quixote (Verlag der Klassiker, Stuttgart)
Ueber die französische Bühne (Allgemeine Theaterrevue) Beginn von Heines Augenleiden

1838

Aufenthalt in Granville
Shakespeares Mädchen und Frauen (Delloye, Paris)
Der Schwabenspiegel (Jahrbuch der Literatur, Hamburg)

1839

Beginn der Jahresrente (4000 Francs) vom Onkel Salomon Mit Mathilde in Granville

1840

Beginn einer neuen Serie von Korrespondentenberichten für die Allgemeine Zeitung
Beginn einer Jahrespension (4.800 Francs) aus einem Geheimfonds des französischen Außenministeriums (bis 1848)
Ludwig Börne. Eine Denkschrift (Hoffmann & Campe)
Erneuter Aufenthalt in der Bretagne
Der Salon, Band 4 (Der Rabbi von Bacherach, Über die französische Bühne, Gedichte)

1841

Reise nach Cauterets in den Pyrenäen

 

31. August: katholische Trauung mit Mathilde (zu deren rechtlicher Absicherung) in der Pariser Kirche St. Sulpice
Duell mit Salomon Strauß, dem Ehemann von Börnes Freundin Jeanette Wohl (Heine durch Streifschuss an der Hüfte verletzt)

1842

Brand in Hamburg (auch die Wohnung der Mutter betroffen)
Gründung der Pariser Filiale des Kölner Dombauvereins, Heine zum Vizepräsidenten gewählt
Aufenthalt in Boulogne-sur-mer

1843

Atta Troll (in Heinrich Laubes Zeitung für die elegante Welt, Leipzig)
Bekanntschaft mit Arnold Ruge und Friedrich Hebbel
Deutschlandreise über Lille, Brüssel, Münster, Osnabrück, Bremen nach Hamburg, dort Vertrag mit Campe über eine Gesamtausgabe; Rückreise nach Paris über Celle, Hannover, Bückeburg, Minden, Unna, Hagen, Köln, Aachen, Brüssel
In Paris Bekanntschaft mit Karl Marx

1844

Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern und am Vorwärts! (Veröffentlichung von Zeitgedichten)
Zweite Reise nach Hamburg per Dampfschiff von Le Havre aus, die ersten beiden Wochen begleitet von Mathilde; Rückfahrt über Amsterdam und Den Haag
Neue Gedichte und Deutschland. Ein Wintermärchen (Hoffmann & Campe)
Bekanntschaft mit Ferdinand Lassalle
Tod Salomon Heines, Beginn des Erbschaftsstreits mit dessen Sohn Carl; Verschlechterung von Heines Gesundheitszustand

1845/1846

Aufenthalte in Montmorency; Verschärfung der Gesundheitsprobleme

1847

Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (Hoffmann & Campe)
Besuch von Carl Heine, der ihm nun die Fortsetzung der von Salomon versprochenen Rente zusagt (und sie später erhöht)

1848

Bekanntschaft mit Friedrich Engels

 

Zeitweilige Behandlung in einer Klinik; nach einem Besuch in seiner Wohnung wird Heine Augenzeuge der Straßenkämpfe während der Pariser Februarrevolution
Im Mai: Zusammenbruch im Louvre und Beginn der Bettlägerigkeit (Lähmungen, Krämpfe) in der »Matratzengruft« in der rue d’Amsterdam

1849

Bekanntschaft mit Georg Weerth

1850

Erfolglose Versuche von Heinrich Laube in Wien, Heines Faust-Ballett und seine Tragödie William Ratcliff aufzuführen

1851

Besuch von Julius Campe
Romanzero und Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem (Hoffmann & Campe); drei weitere Auflagen des Romanzero im selben Jahr
Rechtsgültiges Testament

1852

Besuch des Bruders Maximilian

1853

Les Dieux en Exil (Revue des deux mondes) Erteilung der Bankvollmacht für Mathilde

1854

Beginn der Arbeit an den Memoiren
Les Aveux d’un poète (Revue des deux mondes)
Vermischte Schriften, Band 1: Geständnisse, Gedichte 1853/54, Die Götter im Exil, Die Göttin Diana, Denkworte für Ludwig Marcus, Band 2 und 3: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben
Beginn der Arbeit an einer französischen Gesamtausgabe

1855

Beginn der (platonischen) Beziehung Heines mit Elise Krinitz, die er »Mouche« (Fliege) nennt
Besuch der Geschwister Charlotte und Gustav Dreizehnte Auflage des Buchs der Lieder

1856

17. Februar: Heines Tod in der letzten Wohnung 3, avenue Matignon 20. Februar: Beerdigung auf dem Friedhof Montmartre

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Gottlieb Gassen: Heinrich Heine, München 1828

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Rheinbund 1806

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III. Leben und Werk

Ich habe es, wie die Leute sagen,
auf dieser schönen Erde zu nichts gebracht.
Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.
Geständnisse – 6/I,498

Düsseldorf

In den Bädern von Lucca lässt Heine seinen mit autobiografischen Zügen ausgestatteten Ich-Erzähler behaupten, er sei »in der Neujahrsnacht Achtzehnhundert geboren« – nur, um sich daraufhin als »einer der ersten Männer unseres Jahrhunderts« (2,417) titulieren zu lassen. Ein Scherz, den Heine gelegentlich auch gerne auf sich selbst angewandt wissen wollte – seine eigenen voneinander abweichenden Angaben lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. (Vielleicht machte er sich manchmal jünger, um dem preußischen Militärdienst zu entgehen.) In der neueren Forschung gilt der 13. Dezember 1797 als sein Geburtsdatum. Unumstritten ist der Ort: Düsseldorf, Bolkerstraße, in dem Haus mit der heutigen Nummer 53.

Die Stadt am Rhein hatte um 1800 (ohne die Randgebiete) ungefähr 12.000 Einwohner, sie stand seit 1795 unter französischer Besatzung, fiel 1801 vorübergehend an das Kurfürstentum Bayern zurück und wurde ab 1806 als Großherzogtum Berg von Napoleons Schwager Murat regiert. Dadurch kamen die etwa 300 Juden, zu denen die Familie Heine gehörte, in den Genuss der bürgerlichen Gleichstellung, die allerdings bereits 1814 nach der Niederlage Napoleons wieder rückgängig gemacht wurde. Auf dem Wiener Kongress wurden die Rheinlande dann 1815 dem restaurativen Preußen zugeschlagen. Hier liegt eine der Wurzeln für Heines späteren Preußenhass und für seine große Napoleon-Begeisterung. 1811 hat er den triumphalen Einzug des Imperators in Düsseldorf als Augenzeuge miterlebt und darüber 1827 in Ideen. Das Buch Le Grand emphatisch berichtet. Auch die Ballade Die Grenadiere ist ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Verehrung. Mit dem französischen Tambourmajor, der eine Zeit lang bei Heines einquartiert war, freundete er sich an.

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Johann Petersen: Einzug Napoleons in Düsseldorf im November 1811

Eltern

Über seine Eltern sowie über seine Kindheit und Jugend hat Heine vor allem in seinen Memoiren ausführlich berichtet. Von dem Vater Samson, einem aus Norddeutschland zugereisten Textilkaufmann, heißt es dort: »Er war von allen Menschen derjenige, den ich am meisten auf dieser Erde geliebt« (6/I,586). Der Sohn schildert ihn aus der Rückschau als einen schönen, höflichen, herzensguten Mann, mit einer Schwäche für Pferde, Hunde und friedvollen militärischen Pomp, gar nicht geschäftstüchtig, dafür umso freigiebiger in der Ausübung seines Ehrenamtes als Armenpfleger, liebenswürdig und beliebt, »genußsüchtig, frohsinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüte war beständig Kirmes« (6/I,583). Aus gegebenem Anlass schärfte er seinem Sohn ein, dass öffentlich geäußerte »irreligiöse Spöttereien« (6/I,610) geschäftsschädigend seien. Ansonsten gewährte er ihm viel Freiraum.

Die Mutter, die der alteingesessenen Arztfamilie van Geldern entstammte und ihren typisch jüdischen Vornamen Peire gegen Betty austauschte, erzog ihren Erstgeborenen Harry4 (der sich erst 1825 bei seiner Konversion zum Protestantismus den Vornamen Heinrich zulegte) eher aufgeklärt-liberal als orthodox, denn die gebildete Frau hatte »hochfliegende […] Erziehungspläne« (6/I,559) mit ihm. Besonders gern hätte sie ihn als erfolgreichen Bankier gesehen, als so einen wie der steinreiche Hamburger Onkel Salomon, der Bruder seines Vaters. Sie war in einem gewissen Rahmen assimilationsbereit und offenbar realistischer und pragmatischer als Samson:

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Betty Heine

Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen […] und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und für die Romantik. Sie hatte […] Angst vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaubte mir keinen Besuch des Schauspiels […] (6/I,562f.).

Ihre Tatkraft stellte sie unter Beweis, als sie gegen den Widerstand von Familie, Rabbinat und jüdischen Gemeindevorstehern die Liebesheirat mit dem mittellosen Samson durchsetzte. Dieser hatte Betty mit seinem Charme und ansteckender Heiterkeit über eine schwere seelische Krise nach dem Tod von Vater und Bruder hinweggeholfen (vgl. Hädecke 1989, S. 34), danach konnte er sich bald allgemeine Anerkennung verschaffen und dann mithilfe ihres Geldes als Tuchhändler in Düsseldorf selbstständig machen.

Jüdisches Ritual

Das jüdische Lebensritual wurde im Elternhaus Heines im Großen und Ganzen eingehalten; er besuchte die jüdische Privatschule Hindermann, bevor er in die Volksschule und ins Lyzeum kam, das in einem ehemaligen Franziskanerkloster untergebracht war und in dem Mönche, Jesuiten und französische Emigranten unterrichteten. Die grundlegende Prägung in seiner Schulzeit (vor allem durch den Rektor Schallmayer) charakterisiert Heine in den Memoiren folgendermaßen:

Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen. Es ist gewiß bedeutsam, daß mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahr alle Systeme der freien Denker vorgetragen wurden, und zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen, der seine sazerdotalen Amtspflichten nicht im geringsten vernachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie ohne Heuchelei Religion und Zweifel ruhig nebeneinandergingen, woraus nicht bloß in mir der Unglauben, sondern auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.

Ort und Zeit sind auch wichtige Momente: ich bin geboren zu Ende des skeptischen achtzehnten Jahrhunderts und in einer Stadt, wo zur Zeit meiner Kindheit nicht bloß die Franzosen, sondern auch der französische Geist herrschte (6/I,57).

Die Düsseldorfer Juden waren nicht gezwungen, in einem ihnen speziell zugewiesenen Bereich oder gar in einem geschlossenen Ghetto zu leben, sie waren wesentlich freier als andere Glaubensgenossen in dieser Zeit. Dennoch sah sich Heine schon als Schüler etlichen judenfeindlichen Kränkungen ausgesetzt und fühlte sich früh in eine Außenseiterposition gedrängt.

Das »rote Sefchen«

Eine Episode aus den Memoiren, die gewiss in der Rückschau ein wenig ‚aufbereitet‘ ist, mag als repräsentativ gelten für die damalige Selbsteinschätzung seines sozialen Standorts: Erste amouröse Erfahrungen machte der ungefähr Sechzehnjährige mit der gleichaltrigen Scharfrichterstochter Josepha, genannt das rote Sefchen. Er fand sie schöner als jede »marmorne Statue«. Ihr blutrotes Haar »hing in langen Locken bis über ihre Schultern hinab, so daß sie dasselbe unter dem Kinn zusammenbinden konnte. Das gab ihr aber das Aussehen, als habe man ihr den Hals abgeschnitten und in roten Strömen quölle daraus hervor das Blut.« Aufgrund der »Unehrlichkeit ihrer Geburt« war sie stigmatisiert, lebte »von allem gesellschaftlichen Umgang abgeschieden« (6/I,603). Eine Außenseiterin wie er selbst. Er empfand Solidarität und erotische Faszination zugleich. Zudem beeindruckte sie ihn mit den vielen alten Volksliedern, die sie ihm vorsang und auch aufschrieb, womit sie vielleicht bei ihm »den Sinn für diese Gattung geweckt, wie sie gewiß den größten Einfluß auf den erwachenden Poeten übte […]« (6/I,601). Heines Resümee dieser Liaison dient ihm als Interpretation seines beginnenden Werdegangs:

Ich küsste sie nicht bloß aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle ihre dunklen Vorurteile, und in diesem Augenblicke loderten in mir auf die ersten Flammen jener zwei Passionen, welchen mein späteres Leben gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revolution, […] wovon auch ich ergriffen ward im Kampf mit den Landsknechten des Mittelalters (6/I,608).

Kaufmännische Erfahrungen

Auf dem Weg zu seiner eigentlichen literarischen Bestimmung hatte Heine noch einige Stationen zu durchlaufen: 1815 begleitete er seinen Vater auf einer Geschäftsreise nach Frankfurt am Main. Anschließend blieb er dort zu einem etwa dreiwöchigen Volontariat in einem Bankhaus und zu einem vierwöchigen Praktikum in einer Kolonialwarenhandlung. Seinem Desinteresse entsprechend attestierten ihm seine Lehrherren mangelnde Eignung. Da hatte auch der zuvor noch in Düsseldorf erfolgte Kurzbesuch der Vahrenkampf’schen Handelsanstalt nichts genützt. Wichtiger aber waren für Heine die Eindrücke vom Gang durch die berühmte Judengasse, die in dem Romanfragment Der Rabbi von Bacherach ihren Niederschlag finden sollten. Auch begegnete er in Frankfurt zum ersten Mal Ludwig Börne, der 1786 (als Juda Löw Baruch) in der Judengasse geboren worden war.

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Frankfurter Judengasse, 1868 (im Abriss begriffen)

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Deutscher Bund 1815–1866

Mit der Rückkehr an den Rhein war allerdings die kaufmännische Laufbahn noch nicht beendet. Auf Betreiben der Mutter richtete ihm der begüterte Onkel Salomon 1818 in Hamburg als Filiale der Düsseldorfer Firma die Manufakturwarenhandlung »Harry Heine & Comp.« ein, doch ein Jahr später gingen aufgrund einer allgemeinen Wirtschaftskrise sowie einer schweren Erkrankung des Vaters beide Geschäfte bankrott. Harry Heine traf dabei keine persönliche Schuld.

Weitaus bedeutsamer jedoch war für ihn die Hansestadt in ganz anderer Hinsicht: Er verliebte sich in seine Kusine Amalie, die Tochter des Hamburger Millionärs, die er bereits 1816 in Düsseldorf kennengelernt hatte; er dichtete sie an und erhielt letztlich eine schmerzvolle Abfuhr – sie heiratete 1821 den ostpreußischen Gutsbesitzer Friedländer. Die Leidenschaft des Abgewiesenen wurde deshalb nicht geringer: »Ich bin ein wahnsinniger SchachSpieler«, schrieb er einem Freund. »Schon beym ersten Stein habe ich die Königinn verloren, und doch spiel ich noch, und spiele – um die Königinn« (Briefe, Band 1, 1. Teil, S. 6). Halb im Ernst kokettierte er mit einer (leicht erotisch gefärbten) Hinwendung zum katholischen Marienkult und zur Mystik, in die er seinen Kummer »hinabwälzen« wollte; das funktionierte natürlich nicht. Es gab für Heine nur eine Chance zur seelischen Verarbeitung: die Poesie. Nach frühen Düsseldorfer Versuchen entstanden nun immer mehr und allmählich immer ausgefeiltere Gedichte, Minnelieder, die er 1817 in Hamburgs Wächter veröffentlichen konnte – anonym unter dem aus »Harry Heine Düsseldorf« gebildeten Anagramm »Sy Freudhold Riesenharf«, nicht zuletzt weil er mutmaßte, dass »Christliche Liebe die Liebeslieder eines Juden nicht ungehudelt lassen wird« (ebenda, S. 8). Amalie und die übrige Verwandtschaft waren wenig beeindruckt von seiner Kunst. Er verließ Hamburg, die »Schöne Wiege meiner Leiden« (1,39).

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Amalie

Bonn

Zum Wintersemester 1819/20 immatrikulierte er sich an der Universität Bonn für ein Jura-Studium, das wiederum Salomon Heine finanzierte. Ziel nach dem Examen sollte eine Advokatur oder eine Stelle im Staatsdienst sein. Neben den Fachveranstaltungen besuchte er auch Vorlesungen von Ernst Moritz Arndt über die Germania des Tacitus oder von August Wilhelm Schlegel über Die Geschichte der deutschen Sprache und Poesie. Schlegel wurde vorübergehend zu seinem Mentor, wies ihm Wege, sein metrisches Gespür zu verfeinern, und animierte ihn u. a. zur Sonettproduktion (vgl. Kircher 2008, S. 327f.). Weil es damals für Studenten nahezu unabdingbar war, schloss er sich einer Burschenschaft an; dort begegnete er erstmals seinem späteren Gegner Wolfgang Menzel. Die deutschtümelnden Tendenzen der meisten Burschenschafter stießen ihn ab; eine ihrer national getönten Feiern schildert er in dem Sonett Die Nacht auf dem Drachenfels (1,224f.), wo er am Schluss ironisch mitteilt, dass er als Wichtigstes Husten und Schnupfen mit nach Hause gebracht habe.

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August Wilhelm Schlegel

Almansor

Im Nachhall der Amalien-Episode freilich war unglückliche Liebe das dominante Thema seiner weiterhin entstehenden Lyrik, und sie spielt auch eine bedeutende Rolle in seiner ersten Tragödie, Almansor, mit deren Niederschrift er 1820 nach intensivem Quellenstudium in der Abgeschiedenheit des Dorfes Beuel am gegenüberliegenden Rheinufer begann. Die Handlung ist angesiedelt im von den Spaniern 1492 zurückeroberten Granada, es geht um die Vertreibung der Mauren bzw. um Zwangstaufen, woran die Liebe der Protagonisten zerbricht. Das Stück ist eine vehemente Anklage religiöser Intoleranz, der Verfasser stellt sich auf die Seite der Unterlegenen. Trotz der räumlichen und zeitlichen Verlagerung scheint Heines Kritik an der bedrängten Lage der Juden in einer feindlichen christlichen Umwelt in Deutschland um 1820 durch.

Göttingen

Zum Wintersemester 1821/22 wechselte Heine an die Universität Göttingen, von der er aber schon nach wenigen Wochen wegen einer Duell-Affäre verwiesen wurde. Ähnlich abrupt endete auch seine Mitgliedschaft in der dortigen Burschenschaft wegen eines Verstoßes gegen das Keuschheitsgebot.

Berlin

Ab dem Sommersemester setzte er dann sein Studium in Berlin fort, der ersten wirklichen Großstadt, die er kennen lernte. Der folgende etwa zweijährige Aufenthalt brachte für ihn grundlegende Erfahrungen und entscheidende neue Erkenntnisse. Er veröffentlichte Almansor zusammen mit einer zweiten, in Berlin geschriebenen Tragödie, William Ratcliff, die nicht im sonnigen Süden, sondern im nebligen Schottland spielt, ebenfalls autobiografische Motive aufweist und von einer unerfüllten, tödlich endenden Liebe handelt. Der junge Dramatiker orientierte sich dabei an dem damaligen Modegenre der romantischen Schicksalstragödie. Bemerkenswert ist die sozialkritische Darstellung der Spannung zwischen Arm und Reich. Eine Aufführung erlebte Heine nicht. 1822 erschien bei Maurer ein Band Gedichte, die größtenteils schon vor der Übersiedlung nach Berlin entstanden waren.

Briefe aus Berlin

Hinzu kommen zwei Prosapublikationen: Im selben Jahr druckte der Rheinisch-Wesfälische Anzeiger in Hamm Heines Briefe aus Berlin in Fortsetzungen. In lockerem Erzähl- und Plauderton zeichnet der Autor in seinen Korrespondentenberichten ein farbiges Porträt der preußischen Haupt- und Residenzstadt mit ihren damals circa 200.000 Einwohnern. Der angehende Journalist mit seinem neuen Prosastil zeigt sich nicht nur fasziniert von der kulturellen Vielfalt (so hat er beispielsweise den triumphalen Erfolg Carl Maria von Webers mit dem Freischütz miterlebt), sondern spart auch nicht mit gesellschaftlichen Tabubrüchen und pikanten Namensnennungen, verschont selbst Mitglieder des Hofes nicht und streut kritische Kommentare zu den rückständigen politischen Verhältnissen im konservativen Preußen ein. Das brachte dem Verfasser erste Eingriffe der Zensur ein.

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Franz Krüger: Parade auf dem Berliner Opernplatz, 1824–1830

Zensur

Kapitel XII

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Aus: Ideen. Das Buch Le Grand (2,283)

Die Zensur war eine der restriktiven Maßnahmen der sogenannten Karlsbader Beschlüsse, die auf Betreiben Metternichs 1819 von der Deutschen Bundesversammlung erlassen wurden, nachdem der national gesinnte Burschenschafter Karl Ludwig Sand den als russischer Agent verdächtigten Autor August von Kotzebue ermordet hatte. Schriften mit weniger als zwanzig Bögen (1 Bogen = sechzehn Seiten, also insgesamt dreihundertzwanzig Seiten) mussten vor der Drucklegung eingereicht werden, Bücher mit größerem Umfang unterlagen der Nachzensur. (Das führte dazu, dass bei erwartbarem Verbot oft mehrere Texte zusammengebunden und die Bücher in kleinerem Format aufgelegt wurden, um die Vorzensur zu umgehen.) Weitere Maßnahmen waren die strenge Überwachung der Universitäten und das Verbot der Burschenschaften sowie die Einrichtung einer Zentraluntersuchungskommission in Mainz zur Abwehr demagogischer oder revolutionärer Tendenzen. Die Karlsbader Beschlüsse wurden in der Folgezeit durch weitere repressive Bestimmungen mehrfach ergänzt.

Über Polen

In der zweiten Prosaarbeit berichtet Heine Über Polen, das bekanntlich auf dem Wiener Kongress 1815 Russland und Preußen unter sich aufgeteilt hatten. Er besuchte im Spätsommer 1822 einen befreundeten adeligen Ex-Kommilitonen auf dessen Landgütern bei Gnesen. In systematischer Gliederung analysiert Heine die miserable Lage der polnischen Bauern, den elenden Zustand der dortigen Juden und die egoistisch-verantwortungslose Haltung der herrschenden Aristokratie, wobei es ihm gelingt, »auf dem Umweg über die polnische Frage die deutsche zu erhellen und zu kritisieren.« So entsteht nebenbei auch »ein eindringliches Bild von der sozialen und politischen Wirklichkeit in Preußen« (Krzywon 1972, S. 79). Gedruckt wurde der Aufsatz – zu Heines Empörung von der Zensur gekürzt und verändert – in der Berliner Zeitschrift Der Gesellschafter.

Berliner Salons