Oliver Wnuk
Wie im richtigen Film
Roman
Roman
Fischer e-books
Oliver Wnuk, Jahrgang 1976, stammt aus Konstanz, Schaupieldiplom in München, lebt in Berlin. Er hat ein kleines Stück Fernsehdeutschland mit geprägt durch seine Rolle als Ulf Steinke in ›Stromberg‹ und als Kommissar in der Reihe ›K3 – Kripo Hamburg‹, war auf großen Leinwänden zu sehen u.a. in ›Anatomie‹, ›Schuh des Manitu‹ und ›Soloalbum‹. Neben der Schauspielerei hat er bereits geschrieben für Theater, Kabarett und Hörfunk sowie mehrere Songtexte. ›Wie im richtigen Film‹ ist Oliver Wnuks erster Roman.
Der nicht mehr blutjunge Schauspieler Jan hat sich bei einer Gala schwer angetrunken schwer daneben benommen, und die Boulevard-Presse druckt am nächsten Tag ein peinliches Foto. Jans Alzheimer-kranker Vater erkennt ihn darauf, nur im wahren Leben nicht, seine Tochter malt es im Kindergarten mit Buntstiften nach, seine Exfrau hält ihn für ›ein Nichts‹, und seine Freundin – will reden. Jan, der Familienmensch, wäre gern für alle da und doch am liebsten einfach mal allein. Denn wer viele Rollen spielt im Leben, vergisst vielleicht irgendwann nicht nur seinen Text, sondern auch sich selbst. Und so geht Jan mitten im Leben auf die Suche nach dem Sinn des Liebens.
Als ehrlicher Romantiker erzählt Oliver Wnuk in seinem ersten Roman eine Liebeserklärungsgeschichte für und über unsere Zeit.
Covergestaltung und -abbildung: bürosüd°, München
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400793-9
Für Amélie
Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort
und dem beinahe richtigen
ist derselbe wie zwischen dem Blitz
und dem Glühwürmchen.
Mark Twain
Der Ruhm ist wie das Glühwürmchen: Er leuchtet hell von Ferne, aber aus der Nähe betrachtet spendet er weder Wärme noch Licht.
John Webster, Duchess of Malfi
»Papa?«
»Hm?«
»Schläfst du?«
»Hm.«
…
»Machst du noch mal Licht an?«
Knips.
Luca beugt sich über meinen Kopf hinweg zur Nachttischlampe und schaut direkt in die Glühbirne.
Ich liebe den Geruch, der in ihrem Pyjama nistet. So müffelig rosig.
»Und jetzt wieder ausmachen«, ordnet sie an und lässt sich zurückplumpsen.
Knips.
»Und? Wie viele Glühwürmchen siehst du?«, frage ich.
»Ganz viele.«
…
»Papa?«
»Hm?«
»Ich will ans Meer.«
»Aha … Na, vielleicht nächsten Sommer.«
»Au ja. Fahren wir nächsten Sommer ans Meer? Mit der Mama?«
»Vielleicht eher mit der Clara.«
»Ich will aber mit der Mama.«
»Ich glaube, das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil dann die Clara traurig ist … und der Steffen bestimmt auch.«
»Okay … dann mit dir alleine.«
»Okay … und warum nicht mit der Clara?«
»Weil dann die Mama traurig ist.«
»Das glaube ich nicht.«
»Das glaube ich schon.«
»Schlaf jetzt.«
…
»Papa?«
»Hm?«
»Wann ist Sommer?«
»Noch zweihundert Mal schlafen, ungefähr.«
…
»Papa?«
»Hm!?«
»Machst du noch mal Licht an?«
»Nein!«
»Ist das jetzt ein Heiratsantrag?«
Mir wird ganz heiß. Meine Halsschlagader pocht spürbar und eindeutig unrhythmisch.
»Tom, hast du mir da etwa gerade einen Antrag gemacht?« Erwartungsvoll sucht sie die Antwort in meinen Augen. Und findet sie nicht.
Ich schwitze und stottere ein undefiniertes, kaum hörbares:
»Ähm …?«
Ich lache etwas verlegen. Ich nehme mir Zeit. Jetzt nicht zu schnell werden. Trotz der angespannten Situation koste ich jeden einzelnen Moment aus. Immer wieder bin ich das hier durchgegangen. Jetzt, wo es drauf ankommt, darf ich es nicht vermasseln. Also, mach langsam, Junge.
»Ich weiß nicht … ja … ich denke, ja, das ist wohl ein … Antrag.«
»Liebling, wenn du mich heiraten willst, dann musst du mich aber auch richtig fragen.«
Ach du meine Güte, das gibt’s doch nicht.
Was macht sie denn da? Das kann doch nicht wahr sein.
Sie macht mir alles kaputt. Sie grimassiert in einer Art, als ob sie gleich ganz schrecklich pupsen müsste und es krampfhaft zu unterdrücken versucht. Anders kann ich mir das nicht erklären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so reagiert, wenn er einen Antrag bekommt. Ehrlich enttäuscht über ihre Entgleisung, versuche ich trotzdem Haltung zu bewahren.
»Ach so, ja … Mirjam, ich liebe dich … Das weißt du …«
Ich merke, wie mir die Schweißperlen den Rücken herunterkullern und ihren Weg in die Poritze finden. Unangenehm. Das hier muss klappen.
»Mirjam, nichts würde ich mir mehr wünschen … nach all dem, was wir gemeinsam erlebt haben, nach all dem, was du für mich getan hast …«
Meine Unterlippe beginnt plötzlich ungewollt zu zittern, und ich kann nichts dagegen tun. Es überkommt mich.
»Was ich … schluchz … ich«, ich benutze das Unterlippenzittern, »was ich eigentlich … schnief … sagen will …« Ich atme durch. Ich reiße mich zusammen. »Du bist ein so einzigartiger Mensch. Du hast so viel Liebe in dir, so viele Talente und Fähigkeiten. Du erfüllst mich mit einer so … unbändigen Freude …«
Wieder einmal bin ich überrascht, wie gut ich lügen kann, und setze zum Finale an: »Willst du mich heiraten?«
Irgendwas sagt mir, dass meine Freundin sich auch über so eine Art Antrag freuen würde. Und ich frage mich, ob ich das gut finden sollte und wie genau ich ihn machen müsste. Nicht, dass ich es unbedingt wollen würde oder sie … oder …
Aber jetzt nicht an Clara denken. Schön bei der Sache bleiben. Du liegst gerade in den Armen einer anderen Frau, und das hier ist jetzt wichtiger.
Ich bin ihr ganz nah und bin gebannt von ihrem bröckelnden Make-up, das eigentlich die Aufgabe hatte, die prall gefüllten Mitesser auf ihrer Nase zu verdecken, aber gerade, wie auch der Rest von ihr, jämmerlich zu versagen scheint.
Gleich bekomme ich Blitzherpes.
Zwischenzeitlich hat sie offensichtlich emotionales Atmen mit Hyperventilieren verwechselt und sich so sehr mit ihrer Befindlichkeit beschäftigt, dass sie puterrot geworden ist. Was das nur soll?
»Tom, ich liebe dich auch.«
Ich glaube ihr kein Wort. Und dann haucht sie noch ein weniger überzeugendes: »Ja, ich will für immer mit dir zusammen sein.«
Aber nun naht die Stelle, vor der mir graut. Der Kuss.
Ach, du Scheiße. Bah, sie küsst ja … offen. Mit offenem Mund. Ich werd’ nicht mehr. Sie lässt mir keine Chance. Ich kann ja nicht mit spitzen Lippen ihre Zähne küssen. Da muss ich jetzt durch.
Ahh, schööön! Ich schmecke Aschenbecher, Kaffee und Mettbrötchen. Das ist eine Unverschämtheit. Mach den Mund zu, du Schnalle. Und lass ja die Zunge drin.
»Danke!«, tönt es erlösend aus dem Off.
Ja, allerdings danke. Unsere Münder lösen sich langsam voneinander. Endlich. Nicht zu ruckartig, denn man will schließlich zeigen, dass man sich sympathisch ist und als Paar funktionieren könnte. In Wahrheit wünsche ich mir aber gerade nichts sehnlicher herbei als eine Zahn- und Zungenbürste. Für uns beide.
»Das war wirklich sehr süß. Schön. Jan, danke. Ganz toll, Paula.«
Was war denn daran toll? Aufgesetztes Schmierentheater war das.
Bestenfalls Pilcher. Selbst der Kameramann scheint froh zu sein, dass er nicht mehr so genau hinschauen muss, und gönnt sich augenblicklich die Zigarette danach.
»Habt ihr euch gut gefühlt?«
»Also, ich schon«, lüge ich. »Ich weiß ja nicht genau, wie ihr die Rolle seht. Ich kenne ja nur Auszüge aus dem Drehbuch. Deswegen hab ich es jetzt halt mal so angelegt, wie ich sie gelesen habe. Also eher weicher. Er ist ja jetzt kein Macho oder so. Oder?«
»Wir sehen die Rolle genauso, wie du sie uns gerade präsentiert hast, mein lieber Jan.«
Neben der Casterin sitzt Ute Wanger – eine der bedeutendsten Fernsehproduzentinnen Deutschlands. Mindestens genauso bedeutend wie dick.
»Jan, du hast es ganz toll gemacht so. Ehrlich.«
»Danke, Frau Wanger. Das freut mich sehr, wenn Sie das sagen.«
Das Mettbrötchen auf zwei Beinen fühlt sich, überflüssigerweise, auch zu einem Kommentar gezwungen. »Ja, find ich auch.«
Alle blicken sie fragend an, aber mehr scheint da wohl nicht zu kommen.
»Findest du auch, Paula, ja?«, hakt die dicke Wanger dennoch nach. »Könntest du dir denn vorstellen, unseren Jan hier zu heiraten? Also, im Film … mein’ ich.«
Die gewaltige Wanger prustet feucht los. Die Casterin steigt hysterisch mit ein. Wahrscheinlich ist sie im chinesischen Sternzeichen Ziege. Alle lachen. Hach, wie lustig. Nachdem Kollegin Paula ihr aufgesetztes Gekicher abgestellt hat, sagt sie gönnerhaft: »Ja, ich glaube schon. Ich finde ihn sehr süß.«
Ich finde dich auch süß. Du talentfreies Geschöpf.
Privat ist sie erstaunlicherweise mindestens genauso unnatürlich wie im Spiel. Was ein Grund mehr wäre, sie jetzt aus ganz aufrichtigem Interesse zu fragen, wie viele Redakteursschwänze sie für diesen Job hat lutschen müssen. Aber stattdessen sage ich: »Danke.«
Denn sicherlich hat mindestens einer dieser Schwänze auch erheblichen Einfluss auf meine Karriere.
»Ja, und … ähm … jetzt?« Die Situation ist mir unangenehm. Ich will weg. Raus hier. So viel Falschheit ertrage ich nicht. Vor allem von mir nicht. »Also … sollen wir’s noch mal spielen? Oder irgendwie … anders?«
Mir graut vor der Antwort. Die Wanger drückt sich aus dem Stuhl auf ihre bemitleidenswerten Knie.
»Nein, das reicht mir. Ach, ihr Süßen, wisst ihr was …?« Bevor sie weiterreden kann, muss sie erst noch einmal verschnaufen. Zu viel Bewegung. »Ich glaube, wir haben unsere Turteltäubchen gefunden«, flötet sie neckisch in die Runde. Debil grinsend schäme ich mich eine Runde fremd, und die Casterin nickt wie ein Wackeldackel.
Zum Abschied drückt die Wanger mich an ihr Doppel-G und beschmatzt meine Wangen mit den Worten: »Also, wenn es nach mir geht, bist du’s. Aber du weißt ja, das habe ich nicht zu entscheiden. Das muss der Jürgen beim Sender machen.« Natürlich. Klar. »Aber wir wissen spätestens morgen Bescheid. Wenn nicht sogar noch heute. Wir stellen das Band gleich auf den Server, und dann kann er’s sich sofort angucken.«
Und ich sage noch: »Schön. Also … dann.«
Küsschen hier, Küsschen da. Grüß mal den und grüß mal die und natürlich soll ich Clara grüßen.
Natürlich. Klar.
»Mit euch zusammen müssten wir mal was machen, Jan, mit dir und Clara.«
Ja, dann mach halt.
Und tschüss. Raus an die Luft. Durchatmen.
Nachdem ich ein bisschen Frischluft geatmet habe, fange ich an, mich zu ärgern. Und zwar einzig und allein über mich selbst.
Die Kollegin Mettbrötchen war gar nicht so schlecht, und Mettbrötchen habe ich auch nicht rausgeschmeckt. Aber Kaffee. Kaffee ganz bestimmt. Aber ansonsten war die völlig okay. Und die Wanger ist zwar dick, aber kein Walross, und überhaupt wollten sicherlich alle nur, dass ich mich wohl fühle. Schließlich haben sie mich zum Casting eingeladen, weil sie an mich glauben und mir reelle Chancen einräumen. Punkt. Und all mein eigener Gram hat mich wieder mal vom Wesentlichen abgelenkt.
Die miese Laune war reiner Selbstschutz. Angst davor, nicht ausreichend ernst genommen zu werden. Angst vor Ablehnung. Angst. Angst. Angst.
Eigentlich liebe ich meinen Beruf.
Auf einer Mitnahmepostkarte im Toilettenvorraum lese ich: »Die Zukunft bringt dir das, was für dich am besten ist.«
Als ich wieder an einem der Tische auf dem Bürgersteig Platz nehme, hat Johnny mir schon ein Glas Rotwein samt kleinem Antipasti-Teller hingestellt.
»Dottore, bisse du heute schon so früh bei mir?«, grinst der ewig gut gelaunte Johnny. »Gehte dir gut?«
»Danke, Johnny. Es geht.«
»Musse du nich so viel denke. Musse du lebe.«
In seiner südländischen Art streicht er mir liebevoll über den Kopf. Er gehört zu dem Männer-Typ, bei dem einem so was nicht unangenehm zu sein braucht.
Im Gegenteil. Wahrscheinlich wegen dieser Ruhe und Aufrichtigkeit, die er ausstrahlt. Weil er authentisch und warmherzig ist. Mein Wirt Johnny wäre bei dem Casting eben zweifellos der Bessere von uns beiden gewesen.
Eine knappe Stunde später klingelt das Handy. Meine Agentin Annalena kommt direkt zur Sache: »Der Jürgen vom Sender hat Nein gesagt. Er will was Glatteres. Du bist ihm zu speziell. Außerdem sind sie sich noch nicht sicher, ob sie nicht doch einen bekannten Comedian für die Rolle verpflichten wollen.«
»Was soll das denn? Das ist ein ganz normaler Beziehungsfilm. Keine Comedy.«
»Ach, Jan. Darum geht’s doch nicht. Das weißt du doch.«
Weiß ich.
»Es tut mir leid. Du warst bestimmt sehr gut bei dem Casting.«
Ich war gut.
»Jan? Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Lass den Kopf nicht hängen. Kommt bestimmt bald wieder was rein.«
»Ja.«
»Okay, dann … ich weiß jetzt auch nicht mehr, was ich noch sagen soll. Mach’s gut, mein Lieber.«
»Ja.«
»Du bist einfach ein Nichts.«
Niemand findet so glasklare und schneidend ehrliche Worte wie Anne.
»Was meinst du denn damit? Was soll das denn bitte heißen, ein Nichts? «
»Eine Kugel Mango und eine Kugel Zitrone, bitte.«
Anne gibt ungerührt ihre Bestellung auf, während Luca glücklich und zufrieden mit ihrem bunt bestreuselten Schlumpf-Eis loszieht, um uns einen Tisch an der herbstlichen Restsonne zu suchen.
»Für mich einen Eiskaffee ohne Sahne, danke.«
Ich wende mich wieder Anne zu.
»Anne, hallo? Wie meinst du denn das? Du kannst doch nicht einfach so ein Ding raushauen und das dann da so unkommentiert stehen lassen.«
Normalerweise könnte sie das, aber heute ist sie gnädig.
»Du bist halt kein Typ. Das warst du noch nie. Nicht schön, nicht hässlich. Du bist nicht dünn, nicht dick, nicht männlich, nicht androgyn, nicht groß, nicht klein – du bist noch nicht mal mittel. Selbst dazu fehlt dir das Format. Du bist der Freund von Clara Brehmer. Stimmt. Das bist du! Der Freund von der Brehmer. Aber ansonsten passt du in keine Schublade. Luca, pass auf, es tropft! Leck mal am Rand entlang!«
Ich bin einerseits geplättet und entsetzt, andererseits wieder einmal fasziniert von ihrer kompromisslosen Ehrlichkeit. Keiner auf der Welt kennt mich so gut wie Anne, und keiner dürfte so mit mir reden. Sie war immer schon mein Auf-den-Boden-der-Tatsachen-zurückhol-Weiblein. Ein Geschenk. Bei unserem gemeinsamen Geschenk Luca hat das Eis getropft. Mehrfach. Auf das Kleidchen.
»Oh, Papa, kannst du das bitte wegmachen oder sauber oder so … ähhh … irgendwie?«
Mach ich. Versuche ich zumindest – mit ablecken, rubbeln und Serviette. »So. Okay, also, ich passe in keine Schublade. Ja, ist doch eigentlich super, oder nicht?«
»Papa, was willst du denn in einer Schublade?«, möchte Luca wissen.
»Luca, lass mal den Papa kurz was Wichtiges mit der Mama sprechen, ja? Achtung, tropft! Also, das heißt ja dann, dass ich was Besonderes bin, oder?«
»Das Besondere scheint bei euch im Job aber selten gefragt zu sein. Außerdem bist du für das Besondere … wie soll ich sagen … Ich finde, für das Besondere bist du nicht besonders genug.«
»Nicht bes … – Mhmm. Also bin ich ein … Nichts?«
»Ja.«
Anne muss über meinen Anflug von Selbsterkenntnis lachen, und unser Kind steigt mit ein, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es kapiert hat, worum es gerade geht. Ich hoffe nicht. Aber selbst wenn, die beiden meinen es nicht böse. Ich weiß das. Sie sind »meine Lieben«. So nenne ich sie neuerdings. Ich hatte kein Problem damit, Anne und Luca »meine Familie« zu nennen, aber Anne will das nicht mehr. Weil es für sie einfach nicht mehr stimmt. Wir sind getrennt und jeder hat einen neuen Partner, und deswegen sind wir keine Familie mehr. Sagt Anne. Ich habe kein Anrecht mehr auf diese Bezeichnung und wir sind offiziell familienlos.
Als Anne und ich uns kennenlernten, schien alles möglich zu sein. Sie war gerade mit der Schule fertig und voller Träume, und ich war mitten in meiner Zivildienstzeit und voller konkreter Pläne. Anne gab die meisten ihrer Träume auf und unterstützte mich bei meinem Ziel. Ich wollte ein erfolgreicher Schauspieler werden. Wir waren ein klasse Paar.
Ich zog für einen Studienplatz an einer der deutschen Schauspielschulen in eine andere Stadt und sie zog mit.
Ich reiste von Drehort zu Drehort und sie reiste mit.
Ich nahm die Sprossen der Karriereleiter nur deshalb so leicht, weil ich wusste, dass sie mich von unten sichern würde.
Nachdem wir fast ein Jahrzehnt solider Beziehung hinter uns gebracht hatten, bekamen wir Luca. Und damit neue Probleme zusätzlich zu denen, die wir schon vor Lucas Geburt erfolgreich verdrängt hatten.
Das Paarsein bekam nach und nach einen anderen Charakter. Vieles nahmen wir schweigend hin, statt uns dem Unübersehbaren zu stellen. Wir zogen lieber weiter am gleichen Strang und in die nächste Stadt, denn die Alternative war unvorstellbar.
Mit der Zeit wurde ich tatsächlich so was wie ein erfolgreicher Schauspieler. Mein Traum. Anne kümmerte sich fortan hingebungsvoll um Luca. Und um mich. Mein Netz und doppelter Boden.
Doch plötzlich fand ich mich bei einer anderen Frau wieder.
Anne und Luca waren nicht mehr da.
Und seitdem sind wir keine Familie mehr.
Annes Schmerz ging ins Unmessbare und ich weiß, dass auch Luca vieles miterlebt hat und immer noch dabei ist, die Realität zu verstehen. Anne nahm in wenigen Wochen zwölf Kilo ab. Ein Kilo für jedes gemeinsame Lebensjahr.
Nur ihrer bewundernswerten emotionalen Intelligenz, ihrer Selbstlosigkeit und ihrer Liebe zu Luca ist es zu verdanken, dass sie ein letztes Mal mit mir in eine andere Stadt zog. So kann Luca weiter in der Nähe ihres Vaters aufwachsen und ich an dem Wohnort meiner neuen Freundin leben.
Das alles ist jetzt über zwei Jahre her, und wir sind zwischenzeitlich alle zur Ruhe gekommen. Wir fühlen uns sicher und geborgen in den Armen eines anderen Menschen.
Und auch Anne und ich sind mit unserer neu gefundenen Gemeinschaft glücklich. Wir sind beste Freunde. Oder vielleicht trifft es das Wort »Gefährten« besser.
Ich würde für beide mein Leben lassen.
Würde ich? Ja. Ich würde. Ich liebe sie.
Wir sind kein Paar mehr und wir wollen es nie wieder werden. Es gibt keinerlei sexuelle Anziehung zwischen Anne und mir. Wobei das nichts wirklich Neues ist, denn die gab’s auch schon während der letzten Jahre unserer Beziehung nicht mehr. Zumindest von ihrer Seite aus. Für sie war Sex mit mir, nach eigenen Angaben, »in etwa so spannend wie Sandmännchen gucken.«
Anne und Luca sind meine Familie. Ich darf es nur nicht mehr sagen.
Wir sind fertig mit unserem Eis, und Luca hat ihr Kleid kreativ zum Schlumpf-Streusel-Kleidchen umdesigned. Wir gehen weiter Richtung Zoo.
Wahrscheinlich ist es einer der letzten sonnigen Herbsttage, an denen der Sommer sich noch einmal aufbäumt, um sich in den späten Nachmittagstunden der kalten Abendluft und der frühen Dunkelheit geschlagen zu geben.
Nach knapp zwei Stunden Spaziergang im Zoo fangen Luca und Anne an, Laubblätter für den Kindergarten zu sammeln, damit sie dort Herbstbilder kleben kann. Seltsam zu sehen, dass meine Tochter sich nicht mehr für die exotischen Tiere in ihren Gehegen interessiert, sondern besinnt sich instinktiv auf das, was sie kennt. Was nicht aufregend aussieht, sondern schön, und was ihr, im wahrsten Sinne des Wortes, naheliegt: das Laub zu ihren Füßen.
Warum interessiert man sich denn immer nur für das Neue? Was reizt einen an dem, was man nicht erlebt hat? Denn am Ende sehnt man sich doch immer nach dem Altbekannten. Wenn es dunkel wird, freut man sich am meisten auf das eigene Bett. Dann ist es beruhigend, wenn man weiß, wo die Dinge ihren Platz haben. Dann ist das Schönste wieder, der Familie beim Blättersammeln zuzuschauen. Falls man dann noch eine hat und sie so nennen darf.
So bleiben der Serval, die Omankatze, das Bison und die Berberaffen unbestaunt, was die Tiere aber nicht weiter zu kümmern scheint.
Beim Anblick der zahllosen nicht auseinanderzuhaltenden Flamingos mit ihren mächtigen Schnäbeln und ihrem glänzend strahlenden Federkleid auf dünnen, zarten Beinchen fällt mir die Veranstaltung ein, die ich heute Abend noch besuchen muss. Ein Event voller Eitelkeiten: die Verleihung des Deutschen Filmpreises. Ich sollte bald nach Hause, ein heißes Bad nehmen und auch mir mein Federkleid umstülpen. Clara steht sicher schon schminkenderweise vor dem Spiegel und fragt sich, wann ich endlich komme, um zu entscheiden, was sie anzieht. Ein Ritual, das Zeit und Geduld erfordert.
Wir legen einen Zahn zu, und ich fahre Luca und Anne nach Hause.
Immer wenn dort vor der Haustür Luca mich zum Abschied mit einem Kuss und einem »Bis zum nächsten Mal!« wegschickt, wird Anne und mir unser Scheitern als Paar bildlich vor Augen geführt. Auch zwei Jahre nach unserer Trennung reden wir viel darüber. Manchmal weinen wir. Da ist ein Resthass auf mich, der will sie nicht loslassen.
Der ist absolut berechtigt.
Resthass ist okay.
Monolog in der Badewanne 1
»… geht an : Jan Beckmann«
(Jubel, Kreisch, Schrei, Applaus)
Danke … Danke … Mann … puh, das ist ja, das ist ja echt eine Überraschung. Wow … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
Also, zuallererst möchte ich meinem treuen Publikum danken. Ihr standet immer hinter mir. In jeder Lebenslage. Auch in Zeiten, in denen es nicht ganz sooo gut bei mir lief …
Ja, die gab’s auch mal bei mir …
(kurze Pause)
aber nicht lange.
(schallendes Gelächter im Saal, Applaus)
Ja, danke, danke …
Dann möchte ich mich natürlich auch bei der Jury bedanken …
Nein! (plötzlich ernst) Ich möchte mich nicht bedanken.
(Pause)
Ich möchte mich demutsvoll verbeugen.
(bisschen Pathos)
Danke.
Ich kann mir vorstellen, dass es sicher nicht leicht gefallen ist, den wirklich besten Schauspieler in der KATEGORIE BESTER SCHAUSPIELER ÜBERHAUPT 2010 zu küren.
Sorry, Heiner. Heino … he, und wo isser … ja, hier, Jürgen und … Dings, wie heißt er? … Matthias … ja, natürlich … Matthias! Beim nächsten Mal dann halt wieder, ne?!
Danke auch an mein Management und den großen Stab um mich rum. Ihr seid alle ganz arg hier drin gesaved (deutet auf sein Herz).
Aber vor allem möchte ich mich bei einer Person bedanken.
(Pause … lange Pause, gefüllt durch einen gefühlvollen, intensiven Blick direkt in die Kamera)
Bei Clara. Meiner Frau. Leider ist sie nicht im Saal, weil eines unserer Kinder an einem Infekt erkrankt ist und zu Hause gepflegt werden möchte.
Clara, du standest und stehst immer hinter mir. Du hast dich entschlossen, für die Familie, das heißt für mich und unsere vier tollen Kinder, kürzer zu treten.
Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen: Eines Tages bist du aufgewacht, hast mich ganz aufgeregt und atemlos aus dem Schlaf gerissen und zu mir gesagt: »Jan, ich hab’ genug. Ich sehne mich nach einer Familie. Ich brauche dich. Jetzt ist es an dir. Verwirkliche du dich. Ich will dir nichts nehmen, sondern fortan bin ich zum Geben bereit.«
(Unruhe und einzelnes Gelächter im Publikum)
Ja, zuerst haben wir geschmunzelt über deine »Erleuchtung«. Anschließend bin ich aber doch für uns losgezogen, durch diesen wirren Mediendschungel, und habe mir meinen Weg gebahnt mit der Machete Talent und einem Rucksack voller Beharrlichkeit und – dem eisernen Willen, dich auf mich stolz zu machen.
Dank deiner Unterstützung habe ich mich durchgeschlagen. Dank unserer gemeinsamen Kraft habe ich es geschafft, und jetzt stehe ich hier.
(Applaus. Vereinzelte »Yeah«-Rufe)
Dank dir.
(Kampf mit den Tränen)
Ich werde weiterhin alles dafür tun, dass du Grund hast, stolz auf mich zu sein, und dass du niemals deine Entscheidung bereust.
(Jetzt ein Tom Hanks-Oscar-Dankesreden-Zitat:)
Jeden Morgen, wenn ich aufwache, zeigst du mir, was Liebe ist.
(Vielleicht doch auf Englisch?)
Every morning you show me what love means.
(Nee, zu dick. Auf jeden Fall auf Deutsch:)
Jeden Morgen, wenn ich aufwache, zeigst du mir, was Liebe ist.
(Tränen und Applaus)
Ich liebe dich, Clara. Danke!
(Das Telefon klingelt)
Danke! Danke, Deutschland! Danke euch hier im Saal! Einen schönen Abend noch! Tschüss!
(Kopf unter Wasser. Haare schnell ausspülen. Raus aus der Wanne. Im Rausgehen das Handtuch gegriffen. Telefon klingelt wieder. Es wird Ärger geben, wenn ich die Wanne nicht ausspüle und die kleinen Wasserpfützen nicht vom Parkett wische. Wegen der Wasserflecken, die Clara immer so sauer machen. Telefon erreichen. Hörer abnehmen.)
»Jan Beckmann?«
»Wo bleibst du denn?«
Clara klingt irgendwie gehetzt, aufgeregt und unruhig. Urplötzlich treibt es mir den Schweiß in die Achselhöhle, denn ich habe den leisen Verdacht, irgendetwas Wichtiges versäumt zu haben.
»Ähm, wie, wo ich bleibe? Ich bin … ich bin … zu Hause?!«
Falsche Antwort.
»Na suuuper. Ich stehe am roten Teppich und warte auf dich.«
» Wie, roter Teppich? Jetzt schon?«
»Liebling, halb sechs! Hab ich dir doch gesagt! Sag jetzt nicht, dass du noch in der Wanne bist!?«
»Quatsch! Ich … ich bin gleich da, okay? Gib mir eine halbe Stunde. Fahr noch mal um den Block. Ich bin … sofort bei dir. Ich trockne mich nur kurz ab und … ähm, ja?! Bis gleich. Tschüss!«
Genau achtundzwanzig Minuten später führe ich meine Freundin über den roten Teppich, geblendet vom Blitzlichtgewitter. Wobei die Lichter natürlich nicht wegen mir blitzen. Und wenn, dann nur ein ganz kleines bisschen. Bei solchen Anlässen geht es eigentlich nur um den Star in unserer Beziehung. Ich wundere mich, auch nach zwei Jahren eheähnlichem Verhältnis, immer wieder darüber, wie prominent die Frau an meiner Seite eigentlich ist. Sie ist Schauspielerin. Eine sehr, sehr bekannte Schauspielerin.
Clara ging einen ganz anderen Weg als ich. Sie wurde, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, für eine Fernsehserie entdeckt, die vor allem durch Claras Mitwirkung extrem beliebt wurde und viele Jahre zum Erfolgreichsten zählte, was Fernsehdeutschland zu bieten hatte. Die Verantwortlichen bedankten sich bei Clara mit tollen Rollenangeboten. So kam es, dass sie in kürzester Zeit ganz oben mitschwimmen durfte, im luxuriösesten Aquarium. Da, wo es ganz viel Platz und das beste Futter und kaum andere Fische gibt, wo die Haie rosa sind, ihre Zähnchen verdecken und ganz freundlich gucken. Sie sorgen dafür, dass es einem gutgeht und dass man sich wohlfühlt. Zumindest eine Zeitlang. Dort, wo ich meine Runden schwimme, im öffentlichen Teich voller Algen, gibt’s nur sonntags was zu futtern, die Haie sind wie bei Spielberg und die Stimmung eher mittel.
Das Besondere an Clara ist aber, dass sie ein ganz einfaches, liebes Mädchen geblieben ist, die den Begriff Bescheidenheit definitiv mit erfunden haben muss. Und sicherlich macht diese erschlagende echte Freundlichkeit, die Clara ausstrahlt, einen großen Teil ihres immensen Erfolges und ihrer nationalen Beliebtheit aus.
Das muss auch der Grund dafür sein, dass uns die Fotografen unsere Namen entgegenbrüllen.
»CLARAAAAA , JAAAAANN, hier unten!!!!!!«
Ist ja gut jetzt!
Ich mag das nicht, wenn man mir meinen Namen so ins Gesicht schreit. Ich bekomme dann immer das Gefühl, ich hätte was angestellt und würde jetzt, im Auftrag meiner Eltern, dafür geschimpft bekommen.
Clara mag das alles auch nicht, und ich genieße das Gefühl, wie sie verunsichert meine Nähe sucht und am liebsten in meinen Körperkuhlen versinken würde. Sie glaubt, dass ich im Zweifelsfall zurückbrülle. Dass ich sie, wie ein Löwe sein Junges, beschütze. Das denkt sie. Und das ist irgendwie cool.
Eine sehr gestresst wirkende, aber um einen Hauch Freundlichkeit bemühte junge Dame, deren Lächeln schon vor Stunden eingefroren sein muss, bewaffnet mit Clipboard und Headset, bittet uns vor die Fernsehkameras am Ende des Teppichs. Wir versuchen locker zu wirken, wünschen allen Nominierten Glück, halten uns bei Spekulationen über die Gewinner routiniert diplomatisch zurück, Blabla hier und Blabla da, »Euch auch einen schönen Abend!« und »Tschüss!« und ab durch die Mitte.
Puh. Jetzt erst mal irgendwas mit Alkohol.
»Alles okay bei dir?«, fragt mich Clara.
»Klar, wieso?« Ich exe mein erstes Glas Puffbrause.
»War’s schön mit Anne und Luca?«
Clara fragt nie einfach nur so. Da kann noch so viel um uns herum los sein. Auch in solchen Momenten kann sie sich ausschließlich auf mich und mein Wohlbefinden fokussieren. Das ist echt cool.
»War schön«, sage ich und könnte sie knutschen.
Mache ich aber nicht, weil so viele Menschen drumrum stehen. Hundertprozentig würde dann ein Fotograf, mit seiner Kamera im Anschlag wie eine Maschinenpistole, hinter dem nächsten Pfeiler hervorspringen und uns abschießen. Deswegen bleibt der Austausch von Körperflüssigkeiten bei solchen Anlässen tabu.
»Freut mich, dass es schön war. Und dein Casting?«
Urplötzlich dürstet es mich nach einem zweiten Glas Prickelwasser.
»Gut«, lüge ich kurz und will nicht von meiner Niederlage berichten.
Ich habe jetzt keinen Bock auf mitleidige Blicke und aufmunternde Worte. Auch dann nicht, wenn sie, wie in ihrem Fall, ehrlich gemeint wären. Lieber mehr Alkohol.
»Wie gut?«
Ma-hann, sie lässt nicht locker. »Na, gut eben, also … ich glaube, ja … keine Ahnung. Ich kriege die Tage Bescheid … also, war schooon gut.«
»Toll, Schatz. Ich bin stolz auf dich.«
Scheiße, meine Freundin ist stolz auf mich.
In meiner Jugend war ich ganz fasziniert von einer bestimmten Lügentechnik, die ich bis in kleinste Detail perfektioniert hatte.
In einer Zeit, in der es für mich von immenser Bedeutung war, mich wichtiger zu machen, als ich war, also eigentlich fast immer, habe ich mir ein Erlebnis oder eine biographische Begebenheit ausgedacht, die ich überall erzählt habe. Zum Beispiel, dass ich im zarten Alter von acht Jahren eine sehr, sehr, seeehr lange Zeit in einem dunklen und streng geführten Kinderheim in Wyk auf Föhr verbringen musste. Dass es eine seeehr harte Zeit für mich war und ich, von Verzweiflung und Heimweh getrieben, mit einem kleinen Fischerboot von der Insel flüchten wollte, und dass ich kenterte und nur im allerletzten Moment gerettet werden konnte. In Wahrheit war ich nur wenige Wochen da. Und auch nur zur Kur, wegen Heuschnupfen, und eigentlich war da alles dufte. Aber das hinderte mich nicht daran, diese abgeänderte Version so lange zu erzählen, bis die Lüge für mich ganz eindeutig zur Wirklichkeit wurde. Und ein schlechtes Gewissen hatte ich natürlich auch nie.
Leider beherrsche ich diese Technik nicht mehr. Auch wenn ich sie jetzt gerade sehr gut gebrauchen könnte.
Aber vor allem brauche ich was zu trinken.
Und als könne er Gedanken lesen, wanzt sich Pimmel-Edi mit zwei Champagnergläsern an Clara und mich heran.
Pimmel-Edi ist Boulevard-Redakteur bei einer Tageszeitung, wie er klischeehafter nicht im Buche stehen könnte. Gieriger Blick, immer auf der Pirsch nach einer Story und nicht zu unterschätzen, da er durch die hohe Auflage seines populistischen Arbeitgebers großen und meinungsbildenden Einfluss genießt. Und zwar voller Freude und sichtbar stolz. Pimmel-Edi ist von kleiner, dicklicher Statur, wurde dafür aber vom Schöpfer mit einem langen, faltigen Hals und einer Glatze bedacht. Und deswegen heißt er branchenintern Pimmel-Edi.
»Na, ihr Hübschen, wie geht’s?«
»Hallo, Eduard.« begrüßt Clara ihn herzlich.
Also, manchmal geht mir ihre uneingeschränkte Freundlichkeit zu weit.
»Sag mal, Schätzchen …« Er kommt Clara schmierig nahe, reicht uns die Champagner-Gläser, um pfeilschnell mit der eben frei gewordenen Hand fachkundig Claras Bauch abzutasten. »Versteckt sich da was Kleines unter dem Kleidchen?« Pimmel-Edi hat Witterung aufgenommen. »Strahlt mir da ein kleines Baby-Bäuchlein entgegen, nu’? Nu’?«
Pimmel-Edi, ich haue dir gleich eins in die Glocken.
»Das ist aber nicht die feine englische Art, Herr Zamper.« Ich versuche die Ruhe zu bewahren.
»War ja nur Spaß, entspannen Sie sich, Herr Beckmann.«
Ich entspanne dich auch gleich, du Pimmel. »Oh, da hat es, glaube ich, schon gegongt. Da sollten wir jetzt aber reingehen. Schönen Abend, und ein paar schöne Geschichten wünsche ich Ihnen.«
»Danke, ihr beiden. Die wird es bestimmt geben.«
An diesem Abend gewinnen meist die üblichen Verdächtigen. Brav beklatscht man sich gegenseitig. Es wird gedankt, gedankt und gedankt. Eine Handvoll Preisträger der Kategorie »frech Schrägstrich mutig« wünschen sich bessere Drehbücher und bessere Arbeitsbedingungen und werden dafür von denen enthusiastisch beklatscht, die für die schlechten Drehbücher nebst Arbeitsbedingungen verantwortlich sind. Alles läuft wie immer, und nach knapp drei Stunden Filmpreis sehnen sich alle nach einem kühlen Getränk. Jetzt nur noch zwei Kategorien.
»Boah, ich kann nicht mehr.«
»Jetzt hast du’s ja gleich geschafft, Schatz.«
»Mein Arsch ist platt wie ’ne Briefmarke.«
Clara muss grinsen.
»Schau mal da drüben, die Kellermann. Die hat sich doch wieder die Dinger machen lassen, oder?«
»Psst.«
»Boah, ist das tragisch. In dem Alter. Und dass nur, damit sie mal wieder aufs Traumschiff darf. Gruselig.«
»Jan«, kichert sie, »nicht so laut.«
»Okay.«
Aha, jetzt geht es noch um eine Sonderkategorie. Die Heike-Dröste-Gedächtnismünze am goldenen Band. Das ist so ein extra Preis für Nachwuchsdarsteller, erklärt der sichtlich erschöpfte Moderator des Abends. Nun denn. Der Laudator ist ein Stand-up-Comedian, und der Überraschungspreisträger soll durch ein lustiges Ausschlussspiel zu seinem Glück gebracht werden.
Alle werden gebeten aufzustehen. Ja, wie einfallsreich, du Komiker.
Aber gut, ich habe sowieso einen Krampf in der linken Pobacke. Jetzt sollen sich gleich alle wieder hinsetzen, die nicht Schauspieler sind. Ich erblicke den einen oder anderen, der für meinen Geschmack zu Unrecht stehen geblieben ist. Nun sollen sich alle setzen, die über 35 Jahre alt sind, also nicht mehr zum Nachwuchs gehören. Auch hier haben einige Kolleginnen die Aufforderung inhaltlich nicht ganz verstanden. Dann sollen nacheinander diejenigen Platz nehmen, die blond sind, die über 1,75 m groß sind, die blaue Augen haben, die aus dem Osten kommen, die mit einem Nicht-Schauspieler liiert sind, die heute Abend ohne ihren Partner da sind, die dieses Jahr keinen Krimi gedreht haben, und so weiter, und so weiter.
Irgendwann merken wir, wie schnell sich alle um uns herum hingesetzt haben. Mit einem Mal sind Clara und ich die Einzigen in unserer Sitzreihe, die noch stehen.
Das kann doch jetzt nicht wahr sein, oder?
Mir wird leicht flau in der Magengegend, und mein Puls steigt spürbar. Blitzschnell gehe ich im Kopf meine Filme der letzten Zeit durch. War was dabei, das so eine Gedächtnis-Dings wert gewesen wäre? Klar war da was. Einiges sogar!
Scheiße! Die meinen mich. Die meinen tatsächlich mich! Alles trifft auf mich zu. Ich gewinne meinen ersten Preis. Yippieh!
Verwirrt suche ich Claras Blick. Nein, sie kann nicht gemeint sein. Clara meinen die nicht. Die ist kein Nachwuchs mehr! Sie ist zwar ein paar Jahre jünger als ich, aber viel, viel erfolgreicher. Die hat so einen Preis gar nicht nötig.
Nee! Die meinen mich. Scheiße! Hoffentlich fällt mir meine Rede ein. Liebe Ju … – Clara greift nach meiner Hand.