Joshilyn Jackson
Mittendrin ist auch daneben
Aus dem Amerikanischen von Birgit Schmitz
Fischer e-books
Joshilyn Jackson, in den Südstaaten der USA geboren, arbeitete einige Jahre als Schauspielerin am Theater, bevor sie in Chicago englische Literatur studierte. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten, Theaterstücke und Romane, die in den USA zu preisgekrönten Bestsellern wurden. Joshilyn Jackson lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Atlanta. Im Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar: ›Ein Wunder ist nichts dagegen‹ und ›Das Mädchen im Pool‹.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Alle Figuren in diesem Buch sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen
ist rein zufällig.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Between, Georgia‹ bei Grand Central Publishing, New York.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © 2006 by Joshilyn Jackson
Für die deutschprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401325-1
Für Bob vor mir und Sam danach
Der Krieg begann vor dreißig Jahren, neun Monaten und sieben Tagen, als ich, blind und taub, seelenruhig im Inneren von Hazel Crabtree schwamm. Ich war versteckt in Hazels blassem, mit Sommersprossen bedecktem Bauch, der wiederum von den schlabbrigen Jogginganzügen verhüllt wurde, die sie trug, um dick auszusehen statt schwanger. Was lächerlich war, denn wer hätte je von einem dicken Mitglied der Familie Crabtree gehört? Sie waren alle groß und spindeldürr und standen schief da wie welkende Stängel, aus denen oben rote Haare sprossen.
Hazel Crabtree war fünfzehn Jahre alt. Niemand dachte ernsthaft darüber nach, warum sie immer mehr in die Breite ging, während sie sich in Zimmerecken herumdrückte, ihrer Mutter dabei zusah, wie sie sie ignorierte, und ihrerseits mich ignorierte, die ich in ihr herumstrampelte und -trudelte und an meiner Lunge arbeitete.
Ich habe nie Hazels Version der Geschichte gehört. Sie brachte mich zwar zur Welt, war jedoch nie in irgendeiner Hinsicht meine Mutter. Tante Genny erzählte mir eine bereinigte Fassung; ihr zufolge purzelte ich fröhlich und unblutig in diese Welt, während mir singende Kaninchen ihre Aufwartung machten. Tante Bernese lieferte mir die nackten medizinischen Fakten und einen langweiligen Bericht der Ereignisse in der Reihenfolge ihres Eintretens.
Meine Mutter, Stacia Frett, erzählte mir das Ganze jedoch als eine Liebesgeschichte, ihre und meine. Für sie war es keine Kriegserklärung, sondern einfach nur die Schilderung dessen, wie wir zwei uns fanden. Die Version meiner Mutter beherrschte meine Phantasie –; mit all den Nuancen, die ihr ausdrucksvolles Gesicht und ihre fliegenden Hände mir lieferten. In ihre Geschichte wob ich mit den Jahren das hinein, was ich aus Genny und Bernese herausbekam, bis ich eine Interpretation hatte, die sich wie die Wahrheit anfühlte. Als ob meine Seele über dem Schauplatz des Geschehens geschwebt und alles beobachtet hätte, während sie darauf wartete, mit der Luft meines ersten Atemzuges in meinen Körper gesogen zu werden.
Ich weiß nicht, warum Hazel Crabtree in der Nacht meiner Geburt ausgerechnet bei Bernese Hilfe suchte, und Bernese fragte sie nicht danach. Das Warum interessierte Tante Bernese ohnehin nur selten, doch wenn es herauszufinden galt, wie etwas geschehen war, entwickelte sie meisterhafte Fähigkeiten. Bevor ihre Arbeit als Agentin für die Kunst meiner Mutter zu einem Ganztagsjob wurde, hatte Bernese drüben im Loganville General in der Entbindungsstation gearbeitet. Ich stelle mir gern vor, dass Hazel zu den Fretts kam, weil sie wusste, dass Bernese eine ehemalige Krankenschwester von pragmatischer Weisheit war und unter ihrer rauen Schale ein weiches Herz verbarg. Die Möglichkeit besteht durchaus, denn Between, Georgia hatte damals ungefähr neunzig Einwohner. Jeder wusste alles über jeden.
Wahrscheinlicher war aber, dass sie einfach praktisch dachte. Bernese, ihr Ehemann und ihre Söhne wohnten auf einem Grundstück am Ende der Grace Street, ihre Schwestern Stacia und Genny zusammen im Haus nebenan. Mehr Häuser gab es in diesem Block nicht, und von Bernese’ Garten aus blickte man meilenweit nur über einen der für Georgia typischen Kiefernwälder. Die einzige andere Krankenschwester des Ortes wohnte in einer belebteren Straße von Between; sie hatte direkte Nachbarn. Und der letzte (aber vielleicht wichtigste) Faktor war, dass Hazel gewusst haben musste, dass es ihre Familie todsicher auf die Palme bringen würde, wenn sie bei den Fretts Hilfe suchte.
Bernese wachte davon auf, dass jemand um kurz nach vier Uhr morgens gegen ihre Haustür hämmerte. Sie hastete die Treppe hinunter, warf sich ihren Bademantel über und blieb dabei mit der Pistole, die sie in der Hand hielt, im Ärmel stecken. Ihr Ehemann Lou fragte hinter ihr nervös: »Ist die gesichert? Ist die gesichert? Gib mir das Ding und zieh erst mal deinen Bademantel an, Bernese. Ist die gesichert?«
Bernese befreite sich und klemmte sich die Pistole mit dem Lauf nach unten unter den Arm, während sie den Gürtel zuband.
»Ist das die Achtunddreißiger?«, fragte Lou. »Himmel Herrgott, warum hast du nicht die kleine aus deiner Handtasche genommen?«
Bernese öffnete die Tür, und da stand Hazel Crabtree, hielt einen Teil ihres Schleimhautpfropfs in beiden Händen und sagte: »Das ist rausgekommen. Ist das ein Stück von dem Baby? Ich hab Schmerzen.«
»Ach, herrje! Du bist schwanger?«, rief Bernese. »Lou, ruf einen Krankenwagen.« Winzige Orte wie Between hatten 1976 noch keinen Notruf, also lief Lou los, um die Karte mit den Notfallnummern aus der Schublade zu holen. Doch Hazel drängte sich an Bernese vorbei, hielt ihn fest, fiel auf die Knie und jaulte: »Nein, nein, Sie dürfen niemand anrufen! Meine Mutter darf nichts erfahren.«
Dann ließ sie Lou los und sagte mit hoher, panischer Stimme: »Es kommt was. Was anderes. Was Schlimmes.« Hazel tastete hektisch an ihrem Bauch und in ihrem Schritt herum. Ihre Jogginghose war durchnässt, und sie schob sie bis zur Mitte ihrer Oberschenkel nach unten. Sie trug keinen Slip. Dann kippte sie zur Seite weg und wand sich auf dem Teppich in der Diele.
Bernese schaute hoch und sah, dass ihre drei kleinen Söhne oben an der Treppe kauerten. Sie hatten sich auf dem Absatz im ersten Stock aneinandergeklammert und starrten mit erschreckten, weit aufgerissenen Augen durch das Treppengeländer nach unten.
»Lass gut sein«, sagte Bernese zu Lou. Ihr Mann zupfte sich am Ohrläppchen, während er zusah, wie Hazel sich schreiend auf dem Teppich hin- und herwarf. Dann legte er den Hörer zurück auf die Gabel. »Geh hoch zu den Jungs«, sagte Bernese. »Erzähl ihnen irgendwas. Ich kümmere mich um das hier.« Lou trabte gehorsam nach oben, nahm den Kleinsten auf den Arm und scheuchte die beiden größeren Jungs in ihr Schlafzimmer. Hazels Wehen ließen nach, und sie kam keuchend auf alle viere.
Durch Bernese’ Haustür gelangte man in eine Diele mit Teppichboden und von dort rechts durch einen großen Durchgang ins Wohnzimmer. Geradeaus schloss sich an die Diele ein langer Flur an, der zur Küche führte. Links erreichte man über die Treppe einen kleinen Absatz, von dem aus der Eingangsbereich zu überschauen war. Ein schwerer Tisch stand wie eine Art Sideboard an der Wand unter der Treppe. Das Telefon befand sich auf einer Ecke dieses Tisches nahe der Haustür, die ganze restliche Fläche nahm ein riesiges Glasterrarium ein, das Bernese’ geliebte Amerikanische Mondspinner beherbergte. Die ausgewachsenen Falter waren wach, und einige posierten mit ausgebreiteten Flügeln auf den Sitzstangen und Zweigen. Andere klebten mit dem Hinterleib zusammen, um sich auf diese verzweifelte Art zu lieben, die mit einer extrem kurzen Lebensspanne einhergeht.
Bernese versuchte an Hazel vorbeizugehen, um die Pistole auf den Tisch zu legen und den Hörer abzunehmen, doch Hazel bäumte sich auf und rief: »Nein, das dürfen Sie nicht! Keiner weiß, was mit mir ist. Keiner darf es wissen!«
Sie griff nach Bernese’ Arm, verfehlte ihn jedoch, riss stattdessen an ihrer Hand und drückte zu. Aus der Pistole löste sich ein Schuss. Die Kugel zischte an Hazels Kopf vorbei, krachte durch die Glasscheibe des Terrariums und bohrte sich in die Treppe. Glassplitter prasselten auf den Teppich und sprenkelten Hazels wilde rote Mähne.
Hazel und Bernese erstarrten, plötzlich herrschte Stille. Ihre Augen fixierten das rauchende Loch in der Treppe. Lou schrie von oben: »Bernese? Bernese?« Sie hörten seine Schritte oben im Flur, die kleinen Jungs trappelten wie eine aufgeschreckte Herde hinter ihm her.
»Halt!«, kreischte Bernese, und die Schrittgeräusche verhallten abrupt. »Es ist niemand getroffen, Lou. Bleib bei den Jungs.«
»Und ich hab noch gefragt, ob die gesichert ist!«, rief Lou gekränkt hinunter.
Bernese brüllte zurück: »Du solltest besser mal dein Mundwerk sichern!«
Der Schuss riss Bernese’ Schwester Genny im Nachbarhaus aus dem Schlaf. Genny setzte sich abrupt auf und drückte die Decke an ihren Busen. Von ihrem Schlafzimmerfenster konnte sie Bernese’ Vorgarten überblicken. Als Genny sah, dass das Erdgeschoss hell erleuchtet war und Bernese’ Haustür offen stand, stieg sie aus dem Bett und rannte auf Zehenspitzen durch den Flur zu Stacias Zimmer. Sie knipste das Licht an, setzte sich aufs Bett und rüttelte Stacia wach. Stacia fuhr hoch, riss ihre grauen Augen weit auf und war sofort da. Sie führte ihre Faust mit abgespreiztem Daumen und Zeigefinger ans Kinn und fragte so durch eine Gebärde und ihre lebhafte Mimik, was passiert sei.
Genny schüttelte den Kopf und gebärdete: »Ich habe einen Schuss gehört.« Und mit einem Blick nach links, zu Bernese’ Haus, fuhr sie fort: »Es ist Licht an, die Tür ist offen. Was sollen wir tun?«
Kaum dass sie ihre Finger nicht mehr zum Reden brauchte, zupfte sie mit der rechten Hand an den feinen dunklen Härchen auf ihrem linken Unterarm und zog so fest daran, dass die Haut sich punktuell hob. Eins der Härchen löste sich aus seinem Balg und wurde mitsamt Wurzel und Schaft herausgerupft.
»Nicht rupfen«, zeigte Stacia. Sie löste sanft Gennys Finger von ihrem Arm, tätschelte sie beruhigend und gebärdete: »Ich geh nachsehen.« Stacia stand auf und zog ihren Bademantel über. Sie knotete wild entschlossen den Gürtel zu, drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Haustür. Ihre langen, offenen schwarzen Haare entrollten sich hinter ihr wie ein Banner.
Genny starrte ihr einen Augenblick mit offenem Mund nach. Dann rief sie: »Ach, du liebe Güte!«, lief hinter ihr her und winkte frenetisch in dem vergeblichen Versuch, Stacias Blick zu erhaschen. »Warte! Warte! Ruf die Polizei! Hilfe! Warte!«, gebärdete sie in Stacias unerbittlichen Rücken.
So rannte sie Stacia den ganzen Weg über den Rasen zu Bernese’ Veranda hinterher. An den Stufen zur Veranda blieb sie stehen. Sie bückte sich, hob einen Tannenzapfen vom Rasen auf und riss dabei ein Grasbüschel mit aus. Beides schleuderte sie so fest sie konnte an Stacia vorbei in deren Blickfeld. Der Tannenzapfen krachte gegen die Außenverkleidung, aus der großflächig Staub aufwirbelte, und hinterließ einen schwarzen Fleck, der wie ein übergroßer Daumenabdruck auf dem Holz prangte. Stacia hielt kurz inne, warf Genny einen verärgerten Blick über die Schulter zu und verschwand dann durch Bernese’ Tür ins Haus.
Genny blieb ein paar Schritte außerhalb des Lichtkegels der Verandalampen stehen und zog an ihrem langen schwarzen Zopf. Ihre nervösen Finger glitten daran empor und folgten dem Flechtmuster des Zopfes nach oben zu den feinen Härchen im Nacken. Sie nahm zwei oder drei davon, riss sie aus und rieb die Finger aneinander, um die losen Haare abzustreifen, dann griff sie sofort nach den nächsten. Ein Mondspinner flatterte torkelnd aus der Tür, stieg hoch und verschwand in der Nacht. Genny beobachtete, wie er davonflog, dann lief sie auf die Veranda und spähte ins Haus.
Bernese und Stacia halfen Hazel gerade auf die andere Seite der Diele und suchten sich dazu einen Weg durch das zersprungene Glas des Terrariums. Hazel stöhnte und war von der Taille abwärts nackt. Ihr Sweatshirt war nach oben über ihren extrem aufgeblähten Bauch gerutscht. Der Rest ihres Körpers war so dünn, dass Genny ihre Rippen sehen konnte. Hazels Oberschenkel waren blutverschmiert. In ihren Haaren funkelten unpassend festlich wirkende Glassplitter. Drei oder vier Falter tanzten um das Licht und einer flatterte wie von ihren leuchtenden Haaren angezogen hinter Hazel her. Genny erblickte die Pistole neben dem Telefon auf dem Sideboard.
»Was ist los?«, kreischte sie und riss sich ein weiteres Büschel Nackenhaare aus. »Hat jemand auf sie geschossen? Hat ihr einer in die Hose geschossen?«
»Nein, es wurde auf niemanden geschossen«, antwortete Bernese. »Sie bekommt ein Baby, und zwar jetzt gleich, sehr schnell. Hilf mir mal.«
Bernese und Stacia legten Hazel auf dem Teppich im Durchgang zum Wohnzimmer ab. Sie wollten sie dazu bringen, in die Hocke zu gehen, doch Hazel fiel zurück auf ihren Rücken und wälzte sich hin und her, als erneut die Wehen einsetzten. Stacias Hände flogen durch die Luft, und Genny sagte: »Stacia möchte wissen, was du brauchst.«
»Abgekochte Kordel. Schere. Saubere Handtücher«, sagte Bernese, während Genny ihre Worte in Gebärdensprache wiederholte. »Heißes Wasser. Einen Arzt, aber das wird nichts. Ich glaube, das Baby lässt nicht mehr lange auf sich warten.«
Stacia nickte kurz und rannte durch den Flur in die Küche. Bernese kniete sich neben Hazel, bis die Wehen nachließen und sie wieder ruhig wurde. Auf dem Boden liegend schluchzte sie leise: »Das muss aufhören. Machen Sie, dass es aufhört.«
»Es wird aufhören«, erwiderte Bernese. »Wir müssen das Baby nur rausholen. Genny, komm und setz dich neben ihren Kopf.«
»Ich?«, kreischte Genny.
»Es sei denn, du bevorzugst das nackte Ende«, gab Bernese zurück, die weiter an Hazels Seite blieb. »Atme«, sagte sie zu ihr.
»Oh, oh, oh, oh«, machte Genny. Sie blieb an der Tür stehen und wiegte sich vor und zurück. Ihr Blick flatterte durch den Raum, glitt über die Falter und Bernese und das Blut und die Pistole auf dem Tisch, blieb aber nirgendwo hängen. Ihre Finger suchten nach Haaren zum Ausreißen, während sie immer schneller hin- und herschaukelte.
»Es geht wieder los!«, rief Hazel. »Machen Sie, dass es weggeht!«
»Du kannst nur wollen, dass die Wehen wieder einsetzen«, sagte Bernese. »Sie sorgen dafür, dass das Baby rauskommt, und dann hört das alles auf. Also lass sie kommen.«
»Nein, nein, nein! Ich will nicht, dass sie kommen«, stöhnte Hazel, aber sie setzten trotzdem ein, unerbittlich, und sie ließ es hilflos geschehen, während Bernese auf sie einbrüllte, sie solle pressen.
Genny wiegte sich immer stärker und riss an ihren Haaren. Bernese sah sie wütend an. »Hör auf, an dir rumzurupfen und geh endlich zum Kopf von dem Mädchen! Jetzt sofort! Und hör auf so zu hecheln. Ich hab keine Zeit, deinen fetten Hintern aus dem Weg zu räumen, wenn du ohnmächtig wirst.«
Hazel warf ihren Kopf unkontrolliert hin und her und wand sich im Kampf mit ihren Wehen. Genny grub ihre Fingernägel, während sie sie beobachtete, so fest in ihren Unterarm, dass Blut kam. Dann lenkte sie ihren Blick ganz kurz auf den Arm. Der Schmerz machte ihren Kopf frei. Sie ließ von ihrem Arm ab und kniete sich eilig neben Hazels Kopf.
»Na also. Ihr beide atmet jetzt gemeinsam«, wies Bernese sie an. Sobald Genny ihren Platz eingenommen hatte, stützte Bernese sich am Türrahmen ab und legte ihren Handballen oben auf Hazels Bauch. Sie beugte sich darüber, drückte nach unten und sagte: »Und jetzt du, Mädchen. Du musst von hier aus ganz doll pressen.«
Hazel drückte weinend gegen Berneses Hand. Sie sackte wieder in sich zusammen, als die Wehen aufhörten, und Bernese befahl: »Und nächstes Mal presst du von Anfang an so.«
»Ich will aber kein nächstes Mal«, jammerte Hazel.
Genny tätschelte halbherzig Hazels Schulter. Hazel packte Gennys Handgelenk und sah sie flehentlich an. »Bitte sagen Sie ihr, dass sie aufhören soll.«
»Ach, Kindchen«, erwiderte Genny, deren Angst von ihrem Mitleid in Schach gehalten wurde. »Bernese bringt niemand so leicht von irgendwas ab.«
»Ich hasse Sie«, sagte Hazel zu Bernese. »Ich hasse Sie, Sie dumme Hure.«
»Aber das ist ja die Kleine von Ona Crabtree!«, rief Genny. »Das ist die kleine Hazel Crabtree!«
»Klar ist sie das«, erwiderte Bernese, und ihre Stimme war erfüllt von einer Welt beißender Frett’scher Verachtung. Die beiden Familien hatten nichts miteinander gemein und standen einander schon lange feindselig gegenüber. Die Fretts waren stolz auf ihre große Emotionalität und Erregbarkeit. Keine Frett-Lippen waren jemals mit Alkohol in Berührung gekommen (sogar bei der Kommunion nippten sie an Traubensaft), aber ihre Stimmungen waren heftig und wechselten schnell. Sie trafen ihre Entscheidungen aus dem Bauch heraus und scherten sich nicht darum, was andere über sie dachten.
Die Crabtrees dagegen waren unerschütterlich und abgebrüht, und die Bandbreite ihrer Gefühle reichte lediglich von missmutig bis sauer. Argwöhnisch und gerissen, spürten sie nichts so heftig wie den Blick der sie missbilligenden Welt, einer Welt, die es auf sie abgesehen hatte. Und auf das Gefühl, von anderen beurteilt zu werden, reagierten sie mit Achselzucken und höhnischem Grinsen, gefolgt von Ausbrüchen heftiger, kaltschnäuziger Gewalt.
Die Fretts waren akribisch, die fleischgewordene Ordnung. Die Crabtrees lebten in unvorstellbarem Dreck. Die Fretts achteten Konvention und Tradition, während die Crabtrees sich ausbreiteten wie Kudzu und Chaos und immer mehr Crabtrees zeugten, gewöhnlich ohne die Vorzüge der Ehe. Die Fretts hatten Geld und genossen den Respekt der anderen Bewohner von Between. Sie waren der Königsfisch in diesem kleinsten aller Teiche, während die Crabtrees sich vom Bodensatz ernährten.
Das verstieß nach dem Empfinden der Crabtrees jedoch gegen die natürliche Ordnung der Dinge, weil die Crabtrees, wie alle anderen in Between, weiß waren. Sie waren weiß wie Papier, von irischer Abstammung, jedenfalls die meisten von ihnen, und vielleicht floss in den Nebenzweigen auch ein wenig französisches, englisches oder deutsches Blut. Es war schon ärgerlich genug, wenn moralisch solvente weiße Leute auf sie herabschauten, aber solche Blicke von den Fretts zu ernten, den Kindern eines weißen Vaters und einer Mutter, die, wie Ona es ausdrückte, »zur Hälfte eine verdammte indianische Squaw« war, war ihnen unerträglich.
Hazel hatte für einen Moment die Augen geschlossen und ruhte sich aus. Genny schaute auf Hazels blasse Augenlider herab, die ganz glatt und frisch aussahen, und sagte: »Du liebe Güte, Kindchen, wie alt bist du eigentlich? Bernese, sei gut zu ihr. Sie ist ja selbst noch ein Baby!«
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, erwiderte Bernese trocken. »Sie ist fast sechzehn, und ich glaube, ihre Mutter ist so alt wie ich.«
»Ich hasse Sie«, sagte Hazel zu Bernese und riss die Augen weit auf. »O nein, es geht wieder los.«
»Und diesmal presst du«, sagte Bernese.
»Ich weiß nicht, wie das geht«, erwiderte Hazel und sah Genny verzweifelt an. »O nein, bitte, tun Sie doch was. Irgendwas.«
»Drück, als müsstest du mal groß«, erwiderte Bernese, und Genny sagte: »Bernese! Also wirklich!«
»Wie viele Kinder hast du bekommen?«, blaffte Bernese, und Genny senkte den Blick. »Also halt den Mund und hilf dem Mädchen.«
»Machen Sie doch was«, sagte Hazel zu Genny. »Reden Sie mit mir. Sagen Sie irgendwas. Singen Sie.«
Genny schüttelte den Kopf, aber sie machte den Mund auf und begann in ihrem zitternden Sopran zu singen: »›There’s not a friend like the lowly Jesus –; Welch ein Freund ist unser Jesus …‹«
Hazel trat mit ihrem Fuß nach Bernese und kreischte: »O scheiße, doch nichts von Jesus.« Bernese packte das Bein, mit dem sie um sich trat, und bog es zurück an Hazels Bauch. »Mach dich bereit«, sagte Bernese und legte den Ballen ihrer anderen Hand auf Hazels aufgeblähten Bauch.
»Ich will nicht. Helfen Sie mir«, jammerte Hazel in Gennys Richtung und wand sich auf dem Boden, während Bernese mit ihrem Bein kämpfte. »Helfen Sie mir. Singen Sie was. Aber nichts von Jesus.«
Genny tätschelte Hazel wie wild mit ihrer freien Hand und sang das Erstbeste, was ihr in den Sinn kam: »›Sigh no more, ladies, sigh no more, / Men were deceivers ever … –; Klagt, klagt nicht Mädchen, Ach und Weh! / Kein Mann bewahrt die Treue …‹«
Hazel warf sich hin und her und krümmte sich. »Da! Es geht wieder los!«
Bernese drückte auf ihren Bauch und sagte: »Und jetzt press! Hörst du? Du musst pressen!«
Genny sang weiter: »›One foot in sea and one on shore, / To one thing constant never … –; Am Ufer halb, halb schon zur See,/ Reizt, lockt sie nur das Neue …‹«
Hazel schüttelte den Kopf, presste aber trotzdem. Genny sah, wie mein Köpfchen herauskam, voller Blut und Schleim. Sie erblasste und spürte, wie ihr schwindlig wurde. Hazels eiserner Griff um ihren Arm war das Einzige, was sie noch aufrecht hielt. Sie schloss die Augen, wiegte sich vor und zurück und sang: »›Then sigh not so, / But let them go, / And be you blithe and bonny; / Converting all your sounds of woe / Into hey nonny, nonny. –; Weint keine Trän’ und lasst sie gehn! / Seid froh und guter Dinge! / Dass statt der Klag und dem Gestöhn / Juchheissassa erklinge!‹«
»Es kommt. Wo ist Stacia?«, sagte Bernese. »Genny, kriech zwischen ihre Beine und fang das Baby auf.«
Aber Genny war am Ende. »›Hey nonny, nonny‹«, sang sie mit zugekniffenen Augen.
Stacia kam mit einem Topf heißen Wassers und sauberen Geschirrtüchern, einer Schere und Faden herein. Sie stellte alles ab und kniete sich zwischen Hazels Beine, als die nächste Wehe einsetzte.
Hazel presste, während Bernese von oben auf ihren Bauch drückte, und mein Kopf kam ganz zum Vorschein. Ich kam mit dem Gesicht nach oben zur Welt und starrte mit offenen Augen wütend ins Licht. Für Stacia war es so, als würde ich zu ihr hochschauen. Meine Augen waren fast zugeschwollen, nur zwei kleine Schlitze, doch sie glaubte, dass ich sie direkt ansah. Ich sah wissend aus, fand sie, so wütend und lebendig. Mein Gesicht wurde von der Dunkelheit eingerahmt, die schon dabei war, ihr das Augenlicht zu nehmen, und in diesem Moment gab es nur uns zwei. Nicht einmal Hazel existierte.
Stacia steckte mir einen Finger in den Mund, um ihn zu säubern. Und während sie das tat, zog ich die Augenbrauen zusammen, und meine Lippen öffneten sich ein weiteres Stückchen. Ich sah aus, als würde ich schreien, tat es aber ganz still und ohne Luft, da mein Körper noch immer in Hazels Innerem zusammengepresst war. Während Stacia mich ansah, drehte ich mich langsam im Geburtskanal um die eigene Achse, so dass mein Gesicht nach unten zeigte. Stacia hielt sanft meine Stirn in ihren rauen Handflächen, als die nächste Wehe kam. Ich schlüpfte, glitschig wie ein Fisch, heraus in ihre wartenden Arme.
»Ist es vorbei? Ist es vorbei?«, fragte Hazel.
»Ich glaube schon, Kindchen«, sagte Genny blinzelnd. Die Haut um ihre Augen und ihren Mund war ganz grün geworden. »Oh, bitte, bitte, ich glaub, es ist vorbei.« Stacia ließ ihren Blick über Hazels hingestreckten Körper zu Genny wandern. Genny gebärdete einhändig: »Junge? Mädchen?«
Stacia hob ihre rechte Faust und zog den ausgestreckten Daumen über ihrer Wange nach unten.
»Ein Mädchen«, übersetzte Genny. Sie nickte und wiegte sich weiter vor und zurück. »Das ist gut. Davor musst du keine Angst haben. Sieh mal, du hast ein süßes kleines Mädchen.«
»Meine Möse tut weh«, sagte Hazel.
Stacia blieb, wo sie war, und hielt mich fest, während die Nabelschnur von mir nach unten zu Hazel führte.
»Ist es draußen?«, fragte Hazel. »Warum geht’s denn dann schon wieder los?«
»Schon wieder?«, kreischte Genny.
»Diesmal wird es nicht halb so schlimm«, sagte Bernese zu den beiden, dann beugte sie sich vor, griff nach der Nabelschnur und hob die Nachgeburt heraus, während Hazels Bauch sich wieder zusammenzog. Genny schloss die Augen und fing erneut an zu singen. »›Hey nonny, nonny, so weep no more, my ladies.‹« Hazel entspannte sich und zog die Nase hoch, und Stacia machte sich daran, mich zu waschen und die Nabelschnur abzubinden.
»Hör auf mit dem Gejaule, Genny«, sagte Bernese.
»›Hey, nonny‹«, sang Genny und verstummte dann. »Bitte, ist es jetzt vorbei?« Hazel ließ sie los, und als Genny die Augen aufschlug und herabblickte, sah sie, dass sich rund um ihr Handgelenk ein genauer Abdruck von Hazels Händen abzeichnete.
»Wer ist Nonny?«, fragte Hazel mit schwacher Stimme.
»Was?«, sagte Bernese.
»Sie hat doch ›Hey, Nonny‹ gesungen. Wer ist Nonny? Ist das das Baby?«
Stacia stand auf und hielt mich in ein Handtuch gehüllt hoch. Ich war hellwach und schaute ernst und interessiert in ihre wolkengrauen Augen. Bernese kniete jetzt zwischen Hazels Beinen.
»Sieht gut aus. Nichts gerissen. Möchtest du jetzt dein Baby halten?«, sagte sie zu Hazel.
»Nein«, antwortete Hazel und wandte das Gesicht ab, so dass ihr Blick auf das zerschmetterte Terrarium fiel. Eine Raupe hatte sich einen Weg durch das Glas und die Trümmer gebahnt und kroch das Sideboard hinunter.
»Es ist ein hübsches kleines Mädchen, und sie sieht jetzt viel sauberer aus«, sagte Genny. Sie saß in sich zusammengesunken neben Hazels Kopf auf ihrem Po und wiegte sich sacht hin und her.
Als Stacia schließlich ihren Blick von mir losriss, gebärdete Genny, dass sie mich an Hazel weiterreichen solle, doch Stacia rührte sich nicht von der Stelle. Sie sah zu Hazel hin, die »Ich will es nicht« sagte und widerwillig den Kopf schüttelte. Stacia schürzte die Lippen und drückte mich an sich.
»Vielleicht später«, sagte Bernese.
Stacia stampfte mit dem Fuß auf, um Gennys Aufmerksamkeit zu erlangen, und gebärdete einhändig, während sie mich im anderen Arm wiegte.
»Stacia sagt, es ist ihr Baby«, übersetzte Genny.
»Ja, offensichtlich«, sagte Bernese. »Gib dem Mädchen einen Augenblick Zeit. Sie wird es schon nehmen.«
Genny schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, Stacia sagt: ›Das ist mein Baby. Ich will sie behalten.‹ Stacia will das Baby haben.«
Es entstand eine lange Pause, während alle diese Nachricht verdauten. Bernese sah von Stacia zu Genny und wieder zurück und schnaubte dann. »Sei nicht albern.« Dann legte sie den Kopf in den Nacken und rief die Treppe hoch: »Lou, lass die Jungs mal eine Sekunde allein und wirf mir ein paar Bettlaken runter. Die ältesten, die wir haben. Und alle Handtücher, die du im Wäscheschrank finden kannst.«
»Stacia sagt: ›Das ist nicht albern. Sie ist zu mir gekommen. Sie gehört mir.‹ Ich glaube, sie will das Baby wirklich, Bernese.«
»Oh, gut«, sagte Hazel zu Genny. »Dann nehmen Sie es. Meinetwegen kann das Ihre Nonny sein.«
»Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus«, sagte Bernese.
Aber Hazel erwiderte prompt: »Kein Krankenhaus. Die werden Mama anrufen, und dann gibt’s für mich kein Entkommen mehr. Sie wird mich nie mehr weglassen. Und sie wird mich zwingen, das Baby zu behalten.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, mir geht’s gut. Lassen Sie mich nur ein bisschen schlafen, dann geh ich wieder. Sie alle können Nonny behalten.«
»Du musst dich untersuchen lassen«, beharrte Bernese. »Vielleicht gibt es irgendwelche Komplikationen, und dann verblutest du auf meinem Fußboden.«
»Nein, werd ich nicht. Versprochen«, erwiderte Hazel, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Sie haben selbst gesagt, dass alles gut aussieht. Und wenn Sie mich zwingen, ins Krankenhaus zu gehen, werfe ich mich vor einen LKW. Ganz ehrlich. Und Nonny gleich mit.«
Stacia stampfte erneut mit dem Fuß auf und gebärdete, und Genny sagte: »Stacia besteht darauf. Sie sagt: ›Das ist mein Baby. Ich weiß es. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen muss, dass ich sie behalten kann, aber Bernese weiß, wie es geht. Bernese, du weißt es.‹«
Genny stand auf und kam zu uns hin. Sie schlug das Handtuch zurück, um mich anzusehen. »Ach, du liebe Zeit, sieh dir all die roten Haare an. Und diese winzigen Füßchen!«
»Das ist kein Hamster, Genny«, giftete Bernese sie an. »Das ist ein Mensch. Ein kleiner Crabtree.«
Lous blasses Gesicht erschien oben an der Treppe. Seine schütteren, gelblich braunen Haare waren zerzaust, und die Strähne, die er quer über den Schädel gekämmt trug, um seine kahlen Stellen zu kaschieren, hing ihm an der falschen Seite übers Ohr herunter. Er hatte die Laken und Handtücher zu einem Bündel zusammengewickelt und warf es Bernese über das Geländer hinweg zu.
»Geh zurück zu den Jungs«, befahl Bernese, und er verschwand wieder. Bernese schob die Handtücher vorsichtig unter Hazels Po, um die Flüssigkeiten aufzufangen, die aus ihr herausrannen und den Teppich durchnässten.
Stacia gebärdete erneut, schnell und wütend, ihre freie Hand flog nur so durch die Luft. Genny dolmetschte für sie und setzte währenddessen diese völlig entgeisterte Miene auf, die sie immer machte, wenn sie in Stacias Namen Dinge aussprechen musste, die sie aus eigenem Antrieb nicht für eine Million Dollar laut gesagt hätte. Sie riss ihre Augen so weit auf, dass das Weiße rund herum sichtbar wurde.
»Sie sagt: ›Hört gefälligst auf, mich zu belehren, und wagt es ja nicht, mich zu bevormunden. Ich habe euch wirklich etwas zu sagen, wenn ihr nicht zu blöd seid, es zu hören. Also haltet den Mund und helft mir.‹«
Bernese ignorierte Stacia; sie war noch immer damit beschäftigt, vorsichtig die alten Laken auf dem Boden auszulegen, und fragte Hazel: »Liegst du bequem? Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Bitte, sagen Sie es keinem«, bettelte Hazel.
»Deine Mama ist Ona Crabtree?«, fragte Bernese.
»Nein«, antwortete Hazel.
Aber Genny entgegnete: »Doch, es ist ihre Mama.« Sie schaute Bernese über Hazels Kopf hinweg an und formte mit den Lippen: »Die trinkt«, und nickte dann weise dazu.
Bernese wickelte die Nachgeburt in das hässlichste Handtuch. Als sie bemerkte, dass Gennys Hand wieder ihren Zopf hinaufglitt, sagte sie: »Genny, lass doch um Himmels willen mal die Finger von dir! Fang doch jetzt, wo bis auf die Teppichreinigung alles vorbei ist, nicht wieder an, an dir rumzurupfen. Brauchst du eine Tablette?«
Genny schüttelte den Kopf, rieb kurz über ihren Unterarm und übersetzte dann das, was Bernese gesagt hatte, für Stacia. »Gut, dann mach dich nützlich«, fuhr Bernese fort. »Sieh mal, ob sie ihr Baby nicht doch in den Arm nehmen will. Sie sollte es tun, solange es wach ist. Ich gehe ein paar Müllsäcke holen und rufe von der Küche aus einen Krankenwagen.«
Bernese ging, die Arme voller schmutziger Handtücher, durch den langen Flur davon. Hazel sah ihr nach und schnappte nach Luft, dann rollte sie sich unter Schmerzen auf den Bauch und kam auf alle viere.
»Du bleibst besser liegen, Kindchen«, sagte Genny. Stacia, die mich noch immer im Arm hielt, zögerte. Sie versuchte, mich an Genny weiterzureichen, doch die war noch wacklig auf den Beinen und leicht grün im Gesicht und nahm mich nicht. Stacia ging mit mir auf dem Arm zu Hazel. Genny folgte ihr und sagte: »Du musst da liegen bleiben, du bist … O Gott. Da tropft was aus dir raus.«
Hazel krabbelte kläglich durch die Diele. Sie ließ die Tür zum Wohnzimmer hinter sich und kroch zurück in die Glassplitter. Sie schnitten ihr in die Knie, während sie sich auf den langen Tisch zu bewegte. Stacia folgte ihr, während Genny hinterher schlich und dabei laut ihre Missbilligung kundtat. Plötzlich richtete Hazel sich auf ihren blutenden Knien auf und zog die Pistole vom Sideboard. Stacia erstarrte, und Genny prallte fast mit ihr zusammen.
Bernese war gerade am Ende des Flurs angekommen, als Hazel rief: »Wenn Sie noch einen Schritt weitergehen, erschieße ich Sie.«
Bernese blieb stehen und drehte sich um. Hazel war so schwach, dass sie wie eine Betrunkene hin- und herschwankte, während sie die schwere Pistole hochzuhalten versuchte, damit sie zielen konnte. »Ich erschieße Sie, wenn Sie meiner Mama was sagen.«
»Leg das Ding weg, du Idiotin. Ich brauche nicht noch mehr Löcher in meinem Holz«, sagte Bernese.
»Ich mein’s ernst«, beharrte Hazel.
»Verschon mich mit dem Mist«, kam es verächtlich von Bernese. Blut sickerte aus Hazel heraus und lief in Rinnsalen ihre Oberschenkel hinab. »Du kannst ja kaum aufrecht stehen. Du würdest mich nicht mal treffen, wenn ich mich nicht von der Stelle rühren und dir sechs Versuche geben würde.«
»Okay«, sagte Hazel. Sie drehte ihren Oberkörper und schwang die Pistole herum. Stacia stand dicht hinter ihr, und Hazel drückte ihr, etwas unterhalb von mir, den Lauf in den Bauch.
»Ich wette, die treffe ich«, sagte Hazel.
Bernese wurde ganz still, und einen langen, hässlichen Moment lang war es ruhig.
»Jesus, hilf uns«, flüsterte Genny kaum hörbar.
»Hören Sie jetzt endlich mal mit diesem Jesus auf? Das hab ich Ihnen doch schon mal gesagt!«, stieß Hazel schrill hervor.
Stacia führte ihre freie Hand ganz langsam nach oben, um zu gebärden, vermied aber jede plötzliche Bewegung. Genny schaffte es, ihren Blick von der Waffe loszureißen und sich auf den vertrauten Anblick der mit ihr kommunizierenden Stacia zu konzentrieren. »Hazel, Stacia möchte wissen, wo dein Freund ist«, sagte Genny mit dünner, hoher Stimme.
Hazel blickte verwirrt von Stacias Hand zu ihrem Gesicht und fragte: »Mein Freund?«
Genny hatte so große Angst, dass sie nichts anderes tun konnte, als Stacias Hand anzustarren und zu dolmetschen, ohne den Blick abzuwenden. »Du hast ein Baby. Also musst du auch einen Freund haben.«
Hazel sog laut Luft durch ihre Nase ein. »Ich hatte eine Menge Freunde«, sagte sie und zuckte die Achseln. Bernese kniete sich lautlos hin und legte die Handtücher auf dem Boden ab.
»Ich hatte einen Freund«, sagte Genny für Stacia, während ihre Augen auf Stacias Fingern ruhten. »Nur diesen einen.« Stacia vollführte mit langsamen, ruhigen Bewegungen ihre Gebärden, während ein Mondspinner um die Lampe und um den Lauf der Waffe herumflatterte, die sich in ihren weichen Bauch drückte. »Er hieß Frank. Er ist nicht mehr mein Freund. Er hat etwas Dummes getan, und ich bin fertig mit ihm. Ich dachte eigentlich, ich würde ihn heiraten und wir würden mit Genny zusammenwohnen, ich und Frank und meine Schwester, und ich würde meine eigenen Babys bekommen. Aber dazu wird es jetzt nicht kommen.« Stacia gebärdete weiter, doch sie hob den Blick, ließ ihn über Hazel gleiten und traf dann Bernese’, als diese sich wieder aufrichtete und Schritt für Schritt langsam durch den Flur auf sie zugeschlichen kam. Stacia sah wieder Hazel an und deren zitternde Hand auf der Pistole und schaute dann zurück zu Bernese. »Weißt du, was das Usher-Syndrom ist?«, sagte Genny für sie.
»Nein«, antwortete Hazel. Ihre dünnen Arme zitterten vor Anstrengung, und Genny bekam Angst, dass sie versehentlich abdrücken würde. Genny ließ ihren Blick auf Stacias Hand ruhen und dolmetschte, ohne wirklich darauf zu achten, was sie sagte. Die Pistole, die sich in Stacias Bauch drückte, war eine schwarze Bestie am Rand ihres Gesichtsfeldes.
»Es bedeutet, dass ich taub bin«, übersetzte Genny. »Ich bin taub geboren. Und es bedeutet, dass ich mein Augenlicht verliere. Ich werde in zehn oder, wenn ich Glück habe, fünfzehn Jahren blind sein. Die Ränder meines Gesichtsfeldes trüben sich schon ein. Neben mir ist es dunkel, so als wären die Fensterläden zugezogen. Irgendwann werde ich meine Tiefenwahrnehmung verlieren, dann kann ich nicht mehr arbeiten. Ich bin Bildhauerin; ich erschaffe Skulpturen und gieße Puppen aus Porzellan. Das ist meine Arbeit. Ich habe also meinen Freund verloren. Und ich verliere meine Arbeit. Und hier ist dieses Baby.
Dieses Baby gehört mir. Du hast es in dieses Haus gebracht, und es ist in meine Arme geglitten. Niemand wird deine Mama anrufen, weil mir niemand dieses Baby wegnehmen wird. Frank ist weg, meine Arbeit verschwindet. Also habe ich Gott gefragt: ›Warum schlägt mein Herz noch weiter?‹ Und du hast mir die Antwort gebracht. Mach dir keine Sorgen wegen Bernese. Sie wird mir dieses Baby nicht wegnehmen. Sie wird mir helfen, mich um dieses Baby zu kümmern. Sobald sie meinen Standpunkt einsieht –; und das tut sie jetzt –;, wird ihr egal sein, was zweckmäßig oder legal ist oder gar richtig. Sie wird dafür sorgen, dass es klappt. Ich werde das Baby nehmen, und du kannst nach Hause gehen. Nach Hause oder wo auch immer du hin willst.«
Stacia sah Hazel fest in die Augen, und Genny dolmetschte weiter: »Aber wenn du mich erschießt, wird Bernese deine Mama anrufen müssen.«
Nach einem langen Augenblick der Stille ließ Hazel ihren Arm sinken, so dass der Lauf der Pistole nach unten zeigte. Sie sackte zusammen, und Bernese rannte die letzten Meter durch den Flur und fing sie auf, bevor sie in die Glassplitter fiel. Bernese zog die Pistole aus ihrer kraftlosen Hand, sicherte sie und legte sie dann vorsichtig zurück auf den Tisch.
»Hilf mir«, sagte Bernese, und Genny sprang keuchend nach vorn. Zusammen hoben sie Hazel aus den Splittern und trugen sie halb zurück zu der Unterlage aus alten Laken und Handtüchern.
»Also gut«, sagte Bernese. »Wir werden uns jetzt vergewissern, dass du keine inneren Verletzungen hast. Was für ein Chaos.«
Hazel schloss die Augen. Die Sonne ging auf und verströmte ihr blasses Licht über den Rasen. Stacia drehte sich um und schloss die Haustür. Nach ein paar Minuten erhob Bernese sich von ihrer Position zwischen Hazels Beinen.
»Sieht so aus, als wäre alles in Ordnung«, sagte sie. Ihre Gartenschuhe standen neben der Haustür; sie schlüpfte hinein und stapfte in die Glassplitter. Sie nahm den Hörer ab.
»Bernese!«, mahnte Genny. Hazels Augen flogen auf, und sie fing erneut an zu weinen, produzierte tief in ihrer Kehle herzzerreißende wimmernde Laute. Doch Stacia schüttelte lächelnd den Kopf und erwiderte Bernese’ Blick kühl und fest.
»Mach dir nicht ins Hemd, Genny«, sagte Bernese. »Ich rufe Isaac an.« An Hazel gewandt fügte sie hinzu. »Das ist mein Anwalt, also krieg dich wieder ein. Du klingst wie eine gequälte Katze.«
Bernese wählte auswendig die Nummer und wartete, bis sie Isaac Davids geweckt hatte.
»Ich bin’s«, sagte sie, als er abnahm. »Ja, ich weiß, wie spät es ist, aber das ist ein Notfall. Du musst herkommen, so schnell du kannst … Ich weiß, aber zieh dir eine Hose über, und komm schnell her. Stacia will Ona Crabtrees Enkelin stehlen und braucht dabei unsere Hilfe.«
Es ist wohl kaum verwunderlich, dass ich nach einem so lauten Anfang zu einem Menschen heranwuchs, der die Stille studiert. Die Fretts und die Crabtrees verbrachten den überwiegenden Teil meiner Kindheit damit, sich an der Stelle, an der sie miteinander verbunden waren, gegenseitig wund zu scheuern, und ich war mir dessen schmerzhaft bewusst, da ich diese Stelle war. Ich war kaum aus den Windeln heraus, als Ona Crabtree erfuhr, dass ich ihre Enkeltochter war, betrunken auf dem Rasen unseres Vorgartens erschien und laut nach mir schrie. Bernese rannte hinaus, um es ihr an Eifer und Lautstärke gleichzutun. Ich war damals erst drei, aber ihre Feindseligkeit war nicht zu überhören, und ich bekam schon genug mit, um zu begreifen, dass ich irgendwie im Mittelpunkt des Ganzen stand. Das laute Gezänk in unserem Vorgarten schulte mich darin, die subtileren Zeichen zu erkennen und zu verstehen, die mir sagten, wie sehr meine Adoptionsfamilie meine leibliche Familie verachtete und umgekehrt.
Ich wuchs in dem ruhigen, wohlgeordneten Haus meiner Mutter und Gennys am Ende der Grace Street auf, in dem ich mit meinen Cousins spielte und später auch mit der kleinen Nachzüglerin, die Bernese zur Welt brachte, als ich neun war. Die Crabtrees, und besonders Ona, schritten währenddessen an der Peripherie meines Lebens auf und ab und warfen mir gierige Blicke zu.
Ona Crabtree war halb verrückt, ganz bösartig und permanent betrunken. Wenn es um Schädigungen ihrer Person ging, hatte sie allerdings das scharfe Gedächtnis eines Kettenhundes. Schon seit ihrer Kindheit hasste sie alles, was mit den Fretts zu tun hatte: Ona und Bernese waren zum ersten Mal auf dem Klettergerüst hinter der First Baptist Church von Between mit den Köpfen zusammengeschlagen. Genny war frisch aus einem baptistischen Sommercamp zurückgekehrt und konnte es gar nicht erwarten, ihren Missionsauftrag zu erfüllen. Daher lud sie Ona ein, mit ihnen in die Sonntagsschule zu kommen. Ona nahm die Einladung an, doch Bernese beäugte erst Onas schmutziges Sommerkleid und sagte dann: »Lauf erst mal nach Hause und zieh dich um. Wir tragen immer unsere besten Sachen, wenn wir in Gottes Haus eintreten.«
Ich bin sicher, es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, dass dieses Sommerkleid Onas Bestes sein könnte. Ona führte diese Geschichte mir gegenüber bestimmt tausend Mal als Beweis dafür an, dass die Fretts »Schickimicki-Pseudo-Christen« seien. Sie hat nie aufgehört, sie zu hassen, und nachdem sie erfahren hatte, dass zwischen uns eine genetische Verbindung bestand, hörte sie nie mehr auf, mich zu belästigen. Niemand hatte je eine Ahnung, wer mein Vater war. Nicht einmal Hazel, und die hatte die Stadt verlassen. Ohne Ona wäre ich einfach eine Frett gewesen, ohne Wenn und Aber. Aber so wie die Dinge standen, wachten meine Mutter und ihre Schwestern wie Bärinnen über mich, die auf ein gemeinsames Junges aufpassten, immer auf der Hut und voller Argwohn.
Der Krieg, der eines Tages unsere kleine Stadt verwüsten sollte, schwelte meistens unter der Oberfläche und trat nur gelegentlich in kleineren Scharmützeln zu Tage. Bernese schnitt Ona routinemäßig auf dem Markt, und als ich größer wurde, bewarfen die Crabtree-Jungs die Frett-Häuser jedes Jahr an Halloween mit Eiern. (Zumindest bis zu dem Jahr, in dem Bernese die ganze Nacht mit einer geladenen Schrotflinte hinter den Büschen in ihrem Vorgarten auf sie lauerte. Die Jungs kamen um drei Uhr morgens die Straße hinuntergeschlendert, und Bernese wartete, bis sie das Weiße in ihren Augen sehen konnte. Dann feuerte sie in die Luft und vertrieb sie so.)
Mit achtzehn zog ich eine Autostunde weit weg, um an der Universität von Georgia in Athens Anthropologie zu studieren, doch meine Abwesenheit besänftigte die Gemüter der Fretts und der Crabtrees keineswegs. Ich kam jedes zweite Wochenende nach Hause, und nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, wurden meine Aufenthalte länger und häufiger, so dass die Wunde immer frisch und offen blieb.
Selbst in meiner Abwesenheit beruhigte und erneuerte sich die Fehde auf tausenderlei Arten, verebbte und lebte wieder auf, bis sie eine kritische Masse erreichte und sich entlud. Die Fretts machten die Crabtrees für die Eskalation verantwortlich, und die Crabtrees die Fretts. Und ich, die Einzige, die sie vielleicht hätte aufhalten können, war noch in einen anderen Krieg verwickelt, der in der in Athens angesiedelten Hälfte meines Lebens tobte.
Später, als ich in den Ruinen von Between kniete und die Aschehäufchen, die verbogenen Metallteile und das geschwärzte Glas durchsuchte, beharrte die verkappte Archäologin in mir darauf, dass die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu verhindern, darin bestanden hätte, mich noch vor dem ersten Atemzug mit meiner eigenen Nabelschnur zu strangulieren. Ich bin nie Archäologin geworden. Mein Bachelor-Abschluss ebnete mir zwar den Weg für eine akademische Laufbahn, doch ich beschritt ihn nicht, und deshalb machen meine Funde auch nicht besonders viel her. Ich wurde schließlich Gebärdensprachdolmetscherin, aber immerhin eine gute. Und so mag ich zwar nicht befähigt sein, in die Vergangenheit einzutauchen und die Verluste meiner Familie zu rekonstruieren, aber ich kann die Zeichen um mich herum deuten und sie zu einer einheitlichen Geschichte verschmelzen. Einer Geschichte, die der eineiige Zwilling der Wahrheit ist.
Ich weiß nicht mehr, ob es Jonno oder das Telefon war, was mich am Morgen des Tages, an dem alles den Bach runterging, aufweckte. Jonno hatte die Angewohnheit, sich durch Stöhnen und Vor-sich-hin-Murmeln selbst zu wecken, und legte damit ungefähr zur selben Zeit los, als es zu klingeln begann. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr drehte ich mich zu ihm um, um ihm den Mund zuzuhalten. Er schlug die Augen auf, und ich spürte, wie sich sein Mund unter meiner Handfläche zu einem Lächeln verzog. Wir hatten in der Nacht davor unseren wirklich allerletzten Abschiedssex gehabt. Und das ungefähr zum zweiundzwanzigsten Mal.
»Morgen, Nonny«, sagte er fröhlich, aber seine Worte klangen wegen meiner Hand gedämpft.
»Sag nichts und gib keinen Ton von dir«, befahl ich. Kein vernünftiger Mensch rief so früh an, also musste es Tante Bernese sein. »Sie darf nicht wissen, dass du hier bist. Kapiert?«
Er nickte mir zu, und ich fügte, während ich meine Hand wegnahm, hinzu: »Und grins mich nicht an.«
Er sorgte gehorsam dafür, dass sein Mund wieder eine gerade Linie bildete, und senkte die Augenbrauen, als würde er mich ernst nehmen. Seine dunkelblonden Haare waren zerzaust und fielen in Locken über seine breite Stirn. Er sah gut aus, und er wusste es. Ich rollte von ihm weg auf meine Seite, nahm den Hörer ab und sagte: »Ich komme heute nicht, Bernese.«
»Wer hat dich denn auch darum gebeten?«, erwiderte sie. »Du klingst, als würdest du noch schlafen.« Hinter mir spürte ich, wie Jonno sich streckte wie eine große Katze und sich dann zu mir hin drehte, um sich nackt an meinen Rücken zu drücken. Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an, doch er ignorierte ihn und schmiegte sich noch enger an mich. Sein Körper fühlte sich warm und biegsam an, und seine morgendliche Erektion stieß gegen meinen Oberschenkel.
»Hab ein bisschen verschlafen«, sagte ich in den Hörer. »Aber heute stehen drei Aufträge auf meinem Programm, und ich muss auch gleich los. Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen und nach Between kommen.«
»Das hast du gestern schon gesagt. Aber ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass Stacia schon vor Sonnenaufgang aufgestanden ist und seitdem nebenan auf und ab geht. Ich kann sie durchs Fenster sehen, sie läuft aufgeregt immer hin und her und hin und her. Deiner Mama geht es hundeelend.«
Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Wenn Mama mich heute zu Hause bräuchte, hätte sie es gesagt. Ich bin die ganze Woche total ausgebucht und habe am Freitag meinen Gerichtstermin. Ich komme am Samstag, und das weiß Mama auch.«
Bernese fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt: »Sie hat gestern den ganzen Tag in ihrer Werkstatt verbracht und in ihren Kisten mit den Puppenköpfen herumgekramt. Sie ist damit rumgelaufen und hat sie ausgepackt, nur um ihre Gesichter zu befühlen und sie dann wieder in die Schachtel zu packen und alle in den Wahnsinn zu treiben. Und Genny! Auf die überträgt sich die schlechte Stimmung deiner Mutter wie eine Magengrippe. Ich musste sie gestern fünfzigmal davon abhalten, an sich herumzurupfen. Wenn das so weitergeht, wird sie für vier Tage ins Bett müssen, wenn nicht gar ins Krankenhaus.«
»Gib Genny eine von ihren Beruhigungspillen«, sagte ich und schob mit den Füßen Jonnos Beine von mir weg. Er rutschte etwas zurück, aber nicht weit. Ich spürte immer noch, wie sein Körper hinter mir Hitze verströmte.
»Sie will nichts einnehmen für den Fall, dass deine Mama einen Puppenkopf aussucht und sie anfangen kann, einen Körper und Kleider dafür zu nähen. Außerdem ist sie schon völlig paranoid. Sie weigert sich, das Apfelmus zu essen, das ich ihr gebracht habe, weil sie meint, ich hätte da bestimmt eine Tablette reingeschmuggelt.«
»Was du ja sicher auch getan hast«, sagte ich.
Es entstand eine winzige Pause, dann erwiderte Bernese: »Trotzdem ist es paranoid von ihr, so zu denken.«
»Nein, Bernese, das ist nicht paranoid. Das ist klug. Wenn du nicht willst, dass Mama so unglücklich ist und Genny so aufgebracht, dann könntest du ja aufhören, ihre Puppenköpfe zu verkaufen.« Jonno tat so, als befände sich eine klitzekleine Spinne in dem Zwischenraum zwischen ihm und mir und krabbelte mit den Fingern einer Hand meinen Rücken hinunter.
»Wenn du herkämst und ihr beim Aussuchen helfen würdest …«, sagte Bernese.
Ich ließ mich auf die Spinne fallen und setzte sie auf diese Weise unter meinem Rücken fest. Dann warf ich Jonno einen Blick zu, der einen ganzen Regenwald hätte verdorren lassen können, doch er grinste mich an, und die zeltförmige Erhebung in der Bettdecke sagte mir, dass er alles andere als verdorrt war.
»Das wird aber nicht passieren«, entgegnete ich Bernese. »Es gibt ohnehin nur eine beschränkte Anzahl von diesen Köpfen. Hör auf sie zu verkaufen.«