Dorothea Weinberg

Psychotherapie mit
komplex traumatisierten
Kindern

Behandlung von Bindungs- und
Gewalttraumata der frühen Kindheit

Klett-Cotta

Impressum

Klett-Cotta

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© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89101-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10406-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Inhaltsverzeichnis

Ein Wort zum Anfang

I. Die Diagnose

1. Begriffsklärung

1.1 Developmental Trauma Disorder – DTD (Traumabedingte Entwicklungsstörung)

1.2 Komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung (KEF)

1.3 Anamneseerhebung

1.4 Verhaltensbeobachtung

1.5 Täuschung als vierte Stressreaktion

1.6 Die Symptomatik der Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung

1.6.1 Bindung

1.6.2 Biologie

1.6.3 Affektregulation

1.6.4 Dissoziation/kortikale Integration

1.6.5 Verhaltenskontrolle

1.6.6 Kognition

1.6.7 Selbstkonzept

1.6.8 Sexualität

1.7 Die Biologie der Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung

1.7.1 Ein verhaltensbiologisches Entwicklungsmodell der Frühtraumatisierung

1.7.2 Das rechte Hirn und seine frühe Entwicklung

1.7.3 Der Nervus vagus

1.7.4 Hypo- und Hyperarousal: Die Neurotransmitter

1.7.5 Hirnorganische Veränderungen

1.7.6 Immunbiologische und gesundheitliche Aspekte

1.7.7 Genetik und Epigenetik

1.8 Die gesellschaftlichen Kosten

II. Kindertherapie

1. Bindungstherapie

1.1 Dyadentherapie bei Kleinstkindern in Dom Duga (Bosnien)

1.2 Therapie von Bindungsschäden bei älteren Kindern

1.2.1 Dyadentherapie mit der »Baut-dem-Kind- Instruktion«

1.2.2 Auflösung einer traumatischen Bindung mithilfe der expliziten Arbeit mit Spaltungen

1.2.3 Klärung und Überwindung des Misstrauens

2. Konzept der Traumabezogenen Spieltherapie (tSt) in seiner Weiterentwicklung

2.1 Die Regeln

2.2 Trennung der ersten von der zweiten Realitätsebene

2.3 Die therapeutischen Funktionen innerhalb der tSt

2.4 Implizite Interventionen

2.4.1 Der Aufbau von Sicherheit im Therapiezimmer

2.4.2 Der Aufbau guter innerer Instanzen

2.4.3 Das implizite Arbeiten mit Spaltungen

2.4.4 Integration des Todesthemas

2.5 Sechs explizite Interventionen zur Traumaverarbeitung

2.5.1 Explizites Arbeiten mit Spaltungen

2.5.2 Explizite Abfuhr von Aggressionen

2.5.3 Rekonstruktion und Überwindung von Traumabildern

2.5.4 Das Traumspiel

2.5.5 Wunscherfüllende Spiele und Geschichten

2.5.6 Die Strukturierte Trauma-Intervention (STI)

2.6 Zusammenfassung: Systematik der Traumabezogenen Spieltherapie

3. Affektregulation bei Aggressionsdurchbrüchen und Opposition

4. Dissoziationspsychologische Implikationen

5. Körpertherapeutische Implikationen

III. Therapieverläufe

Felix, 10 Jahre

Karola, 13 Jahre

Rudi, 8 Jahre

IV. Einwirken auf das System

1. Erziehung in der fünften Dimension traumabedingter Projektion

1.1 Elterntraining

1.2 Eltern als Detektive

1.3 Konsequenzen setzen

2. Sicherheit geben

2.1 Sicherheit und Liebe geben – Perrys Mama P.

2.2 Sensorische Stimulation zu Hause

2.3 Anleitung statt Verunsicherung

2.4 »Ich bin ein Fehler auf dieser Welt«

3. Leibliche Familien

4. Jugendamt

5. Polizei und Gerichtsbarkeit

V. Anhang

1. Die »Bau-dir ...!«-Instruktion

2. Die »Baut-dem-Kind!«-Instruktion

3. Explizites Arbeiten mit Spaltungen

4. Rekonstruktion und Überwindung von Traumabildern

5. Diaphragmatisches Atmen zur Selbstberuhigung/Affektregulation

6. Das Spiel mit der heißen Kartoffel (Mobbingprophylaxe)

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Ein Wort zum Anfang

Dieses Buch basiert auf meinem früheren Buch »Traumatherapie mit Kindern« (2005). Vieles aus diesem Buch wird hier nicht mehr wiederholt, sondern vorausgesetzt. Dies bezieht sich insbesondere auf die allgemeine Trauma-Neurobiologie des Kindesalters und auf die Strukturierte TraumaIntervention.

In den Jahren nach der Erstveröffentlichung hat sich das Konzept der traumabezogenen Spieltherapie so enorm weiterentwickelt und präzisiert, dass es hier in einer wesentlich ausgereifteren Form dargestellt werden kann. Diese dynamische Entwicklung liegt im Wesentlichen an dem permanenten fachlichen Diskurs mit Hunderten von erfahrenen KindertherapeutInnen in meinen Kursen und an meiner langjährigen ehrenamtlichen Arbeit in Dom Duga, dem bosnischen Säuglings- und Kleinkinderheim von »Schutzengel-gesucht e.V.«. Die Bindungsinterventionen, die ich für Dom Duga entwickelt und vielfach erfolgreich angewendet habe, flossen in meinen Blick auf meine misshandelten und missbrauchten, zum Teil schwer deprivierten Therapiekinder in Nürnberg ein: Wie könnte ich ihnen helfen, traumatische Bindungen zu lösen und stattdessen Bindungssicherheit aufzubauen? Die Ideen dazu habe ich in meiner Praxis erprobt, überprüft und weiterentwickelt. Dadurch kamen sie allmählich auch in die Fortgeschrittenen-Kurse und wurden dort präzisiert.

Der Theorieteil des vorliegenden Buches befasst sich mit der Störungsgenese in den ersten Lebensjahren durch passive (Deprivation und Unterlassung) und aktive Schädigung (wie Misshandlungen, sexueller Missbrauch) und deren Auswirkungen in späteren Krankheitsbildern der Seele, des Geistes, des Verhaltens und der körperlichen Entwicklung. Dieser erste Teil des Buches ist zuweilen anstrengend, sodass ich Laien empfehle, mit dem therapiepraktischen zweiten Teil zu beginnen und sich erst allmählich durch den ersten Teil durchzuarbeiten.

Angesichts unserer aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung, die es mittels vorgeschobener Gründe – nämlich der angeblichen Förderung des Sozialverhaltens und der kognitiven Entwicklung von Kleinstkindern – propagiert, die Jüngsten unter uns zu institutionalisieren und damit ihr biologisches Bedürfnis nach Bindung zu vernachlässigen und zu frustrieren, ist es fast zu befürchten, dass wir zukünftig Bindungsschäden in der jüngsten Generation innerhalb ganz normaler Familien vorfinden werden. Ein Zyniker würde jetzt sagen: »Ist doch prima! Geht uns trotz sinkender Geburtenzahl nicht die Arbeit aus!« Mich macht es aber wütend!

Ganz herzlich danken möchte ich Thomas Hensel für seine langjährige und unermüdliche Unterstützung – auch und gerade in kritischen Momenten meines Weges als Therapiepionierin!

Er und meine Kollegin und Mitarbeiterin Heidi Zorzi sowie meine Schwester Gunhild Vestner haben viel von ihrer knappen Zeit investiert, um mein Manuskript zu studieren und mir Anregungen und kritische Rückmeldungen zu geben.

Danken möchte ich auch meiner Tochter Hannah, die mir ihr Bild »Licht der Welt« für das Buchcover überließ! Ihnen allen meinen herzlichen Dank!!

I. Die Diagnose

1. Begriffsklärung

Komplexe Traumatisierung; Persönlichkeitsentwicklungsstörung; Minimale Cerebrale Dysfunktion; Frühe Störung, Bindungsstörung etc.; Developmental Trauma Disorder (DTD) (übersetzt in etwa: Traumabedingte Entwicklungsstörung); Komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung (KEF).

Wovon reden wir in diesem Kapitel? Zunächst wird der Diagnose-Vorschlag von van der Kolk et al. für das DSM-V vorgestellt werden, denn obwohl er mittlerweile abgelehnt worden ist, bleibt er fachlich und gesundheitspolitisch von größter Bedeutung: Developmental Trauma Disorder1. Der Hauptteil dieses Kapitels aber wird sich auf eine frühere Veröffentlichung des NCTSN (Cook et al., 2003) beziehen, die die psychisch und gesellschaftlich verheerenden Konsequenzen von Verwahrlosung und Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit nachweist. Während »Developmental Trauma Disorder« ohne Alterseingrenzung der Störungsgenese arbeitet, ist die NCTSN-Veröffentlichung überwiegend auf eine Störungsgenese in den ersten Lebensjahren bezogen. Dies ist so wichtig, weil durch die frühe Pathogenese ein spezifisches Störungsbild über sieben Entwicklungsbereiche hinweg unter Einbeziehung von Bindungsstörungen und neurologischen Defiziten entsteht. Im deutschen Sprachraum haben wir immer mal wieder wechselnde Begriffe für diese Problematik benutzt, die jeweils bestimmte Aspekte des komplexen Störungsbildes benannten, wie z. B. die Minimale Cerebrale Dysfunktion, Bindungsstörung, Persönlichkeitsentwicklungsstörung, Frühe Störung, Komplextrauma etc. Leider haben die Kollegen des NCTSN für das von ihnen präzise beschriebene Störungsbild keinen eigenen Begriff geprägt, sondern behalfen sich ebenfalls mit »Komplexe Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen«. Da wir aber komplexe Traumafolgeerkrankungen auch bei Kindern und Jugendlichen vorfinden, bei denen die Traumagenese erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrzehntes einsetzt, werde ich in diesem Buch mit einem eigenen Begriff arbeiten, der zunächst nichts anderes als ein vorläufiger Arbeitsbegriff ist:

Komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung (KEF).

Den von van der Kolk geprägten Begriff »Developmental Trauma Disorder« übersetze ich mit:

Traumabedingte Entwicklungsstörung, behalte aber als Kürzel »DTD« bei.

Seit der Studie von Ackerman et al. von 1997 wissen wir, dass die häufigste Diagnose nach sexuellem Missbrauch und körperlichen Misshandlungen an Kindern keineswegs die Posttraumatische Belastungsstörung ist. In dieser Studie an 204 kindlichen Opfern von gerichtlich überführten Tätern folgte die PTBS erst an vierter Stelle (nämlich mit 34% der Betroffenen) nach Trennungsangst und Überängstlichkeit (59%), oppositionell-trotziger Verhaltensstörung (36%, aber 46% bei den Jungen!) und Phobien (36%)! (Ackerman et al., 1997)

Genauso selten, wie diese Diagnosen als Traumafolgeerkrankungen erkannt werden – es gibt sie schließlich auch ohne den Traumahintergrund –, werden die Kinder, um die es in diesem Buch geht, erkannt als Betroffene einer Traumafolgeerkrankung. Dies liegt meines Erachtens an der extremen Vielgestaltigkeit, Weitläufigkeit und zugleich Verstecktheit der Symptomatik, die uns dazu verführt, nur das zu sehen, womit wir rechnen. Typisch für diesen Vorgang ist die massenweise Diagnostizierung der Betroffenen als ADHS-Patienten, wobei dann ihre tiefe Bindungsproblematik, ihr negatives Selbstkonzept, ihre Verweigerung gegenüber Anstrengung und ihre mangelhafte Verhaltenskontrolle lediglich als Folge der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung verstanden werden – wenn diese Bereiche überhaupt gesehen werden. Die defizitäre Affektkontrolle fällt zwar meistens auf, wird aber in ihrer besonderen Dynamik verkannt. Was aber grundsätzlich ignoriert wird, sind die dissoziativen Phänomene und die Symptome des Wiedererlebens, ohne deren Behandlung keine wirkliche Besserung möglich ist, denn in diesen Phänomenen spielen sich ganz klar die traumabedingten Reinszenierungen, intrusiven Erinnerungen und traumabedingten Projektionen ab und entziehen sich komplett der willentlichen Kontrolle.

1.1 Developmental Trauma Disorder – DTD (Traumabedingte Entwicklungsstörung)

Dieser Begriff erfasst die tief greifende Schädigung der Gesamtentwicklung durch Kindesvernachlässigung, das heißt durch Deprivation, Bindungsabbrüche, Verwahrlosung, Misshandlung, Missbrauch und generell Schutzlosigkeit in Vereinsamung, Ablehnung und in schwerer Beängstigung.

Diese Diagnose würde darauf verzichten, dass die auslösenden Situationen objektiv lebensbedrohlich gewesen sein müssen, so wie es in DSM-IV für die PTSD gefordert wird. Die »Traumabedingte Entwicklungsstörung« setzt schwere Frustrationen natürlicher kindlicher Bedürfnisse voraus, die sich bis hin zu lebensbedrohlicher Stärke steigern können, aber nicht müssen. Die Auswirkungen dieser Störung sind noch viel komplexer als ihre Ursachen.

Im Folgenden übersetze ich die Beschreibung von van der Kolk aus einem früheren Artikel2:

»Traumabedingte Entwicklungsstörung

  1. Exposition:
    Das Kind ist oder wurde vielfältigen oder anhaltenden Formen von entwicklungsschädigenden zwischenmenschlichen Traumaereignissen ausgesetzt (z. B. verlassen werden, Verrat [betrayal], körperliche Angriffe, sexuelle Angriffe; Drohungen gegen die körperliche Integrität, erzwungene Handlungen, emotionaler Missbrauch, Gewalt und Tod miterleben müssen).
  2. Getriggerte Dysregulationen:
    Die Erregungsregulation entgleist nach oben oder unten in Reaktion auf sensorische Auslöser. Diese Veränderungen bleiben erhalten und schwingen nicht auf eine Grundlinie zurück. Auch bei Bewusstwerdung des ungewöhnlichen Verhaltens reduziert sich die Intensität des Verhaltens nicht.
    Die Dysregulationen betreffen:
  3. Einstellungen und Erwartungen:
    Dauerhaft erhalten bleiben:
  4. Geschwächte Funktionen:

1.2 Komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung (KEF)

Obwohl man die Konzeptionalisierung von DTD durchaus als erschlagend komplex empfinden mag, ist sie – verglichen mit der ganzen Palette an Symptomen, mit denen bei einer Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung zu rechnen ist, wie sie vom eingangs erwähnten National Child Traumatic Stress Network zusammen gestellt worden ist – noch sehr griffig. In die Symptomtabelle des NCTSN3 habe ich einen weiteren Entwicklungsbereich kursiv eingefügt, den der Sexualität, der im Original gar nicht vorkommt, aber gerade in diesem Störungsbild von enormer Bedeutung ist.

An diesem siebenteiligen Symptomkatalog plus dem Entwicklungsbereich der Sexualität werde ich mich entlangarbeiten und jedem Entwicklungsbereich einen eigenen Abschnitt widmen.

Symptomliste der Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung

I. Bindung

Unsicherheit bzgl. Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit

Probleme mit Grenzen

Misstrauen und Argwohn

Soziale Isolation

Interpersonelle Schwierigkeiten

Schwierigkeiten, sich in emotionale Zustände anderer Menschen hineinzuversetzen

Schwierigkeiten, die Perspektiven anderer einzunehmen

Schwierigkeiten, sich Verbündete zu machen

II. Biologie

Sensomotorische Entwicklungsstörung

Empfindlich gegenüber Körperkontakt

Schmerzunempfindlichkeit

Schwierigkeiten mit Koordination, Gleichgewicht und Muskeltonus

Somatisierung

Ein großes Spektrum medizinischer Probleme, z. B. Magenschmerzen, Asthma, Hautprobleme, Autoimmunstörungen, Pseudo-Krampfanfälle

III. Affektregulation

Schwierigkeiten bei der Affektregulation

Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen und inneren Erfahrungen

Probleme beim Erkennen und Beschreiben innerer Zustände

Schwierigkeiten, Wünsche und Sehnsüchte zu kommunizieren

IV. Dissoziation

Unterscheidbar unterschiedliche Bewusstseinszustände

Amnesie

Depersonalisation und Derealisation

Zwei oder mehr unterschiedliche Bewusstseinszustände mit Gedächtnisstörung für zustandsbezogene Ereignisse

V. Verhaltenskontrolle

Geringe Impulssteuerung

Selbstschädigendes Verhalten

Fremdaggressives Verhalten

Pathologisches Selbstberuhigungsverhalten

Schlafstörungen

Essstörungen

Substanzmissbrauch

Überanpassung

Oppositionelles Verhalten

Schwierigkeiten, Regeln zu verstehen und zu befolgen

Kommunikation der traumatischen Vergangenheit durch Reinszenierung im Alltag oder Spiel (sexualisiert, aggressiv etc.)

VI. Kognition

Probleme der Aufmerksamkeitsregulation und ausführender Funktionen

Weniger lange andauernde Neugier

Probleme bei der Aufnahme neuer Information

Probleme bei der Konzentration und Beendigung von Aufgaben

Objektkonstanzschwierigkeiten

Schwierigkeiten, vorauszusehen und zu planen

Probleme, den eigenen Beitrag zu den äußeren Umständen zu erkennen

Lernschwierigkeiten

Sprachentwicklungsstörungen

Probleme bei der Zeit- und Raumorientierung

Akustische und visuelle Wahrnehmungsstörungen

Eingeschränkte Aufnahmefähigkeit für komplexe räumlich-visuelle Muster

VII. Selbstkonzept

Eingeschränkt kontinuierliches und vorhersagbares Selbstkonzept

Eingeschränktes Empfinden, eine eigene Person zu sein

Körperbildstörung

Niedriges Selbstbewusstsein

Scham- und Schuldgefühle

Tabelle nach Cook et al., 20034

VIII. Sexualität

Sexuell übergriffiges Verhalten

Promiske Kontaktaufnahme

Masturbation dient Autoregulation

Sexuelle Stimulation erforderlich

Fühllosigkeit

Opferverhalten

1.3 Anamneseerhebung

Solche Vorgeschichten oder gegenwärtigen Lebensbedingungen, die diese Symptome bewirken, im Anamnesegespräch mit den leiblichen Eltern zu erheben, stellt ein riesiges Problem dar. Nicht nur, dass sie es nicht oder nur kaum zugeben mögen bzw. können. Das Problem setzt früher an:

»... social taboos prevent obtaining information about childhood trauma, abuse, neglect, and other exposures to violence.« (v. d. Kolk, S. 401) Diesen Tabus unterliegen auch wir als Profis, wir spüren selbst die Scheu, nach diesen Dingen zu fragen.

Ein Beispiel aus einer Supervisionsgruppe: Ein Mann meldet sich zur Behandlung an und berichtet von großen Selbstzweifeln: Ist er ein geborener Päderast? Er erklärt, dass er seine ersten sexuellen Erfahrungen mit seiner jüngeren Schwester gemacht hat, als er zwölf Jahre war. Er wird nicht nach dem Altersunterschied zur Schwester gefragt und nach dem Hergang. Die beschriebene »gute Beziehung zur Schwester« wird mit Erleichterung zur Kenntnis genommen: Dann muss man da ja auch »keinen Kochtopf öffnen«, an dem sich womöglich alle verbrennen.

Wenn wir schon bei einem Bruder so reagieren, der mit genau diesem Tabu- und Unrechtsthema kommt, wie viel mehr sperrt sich unser psychisches System, Väter oder Mütter zu befragen, ob sie ihr Kind schlagen oder sonstwie misshandeln, sexuell missbrauchen, ablehnen, zum Zeugen von Gewalttaten werden lassen ...

Natürlich gibt es viele objektive Gründe, solche Befragungen zuweilen zu unterlassen – aber darüber dürfen wir unseren eigenen Anteil am Schweigen nicht weiterhin ignorieren!

Bei mir selbst liegt die Schwelle, die sich emotionale Abwehr nennt, zwar deutlich niedriger – aber es gibt sie auch. Als ich z. B. in einem Elterngespräch von ritueller Gewalt und Geheimbünden hörte, ging ich innerlich auf Distanz: Das Leben ist doch kein billiger Thriller! Tatsächlich gibt es gelegentlich KollegInnen, die die biografischen Hintergründe gezielt in diese Richtung aufplustern – aber es gibt eben auch die Fälle von tatsächlicher ritueller oder organisierter Gewalt. Das Einzige, was uns hilft, sind Offenheit und Aufmerksamkeit und viel Geduld, weil sich vage biografische Ausgangssituationen manchmal erst sehr langsam und zuweilen gar nicht klären lassen.

Dies ist auf dem Gebiet der Traumapsychotherapie ein besonderes Problem, weil wir wesentlich effektiver arbeiten können, wenn wir detaillierte biografische Fakten vorliegen haben. Das Aktenstudium der Vorgeschichte macht tatsächlich Sinn, weil es uns hilft, ansonsten unverständliches Symptomverhalten des Kindes/Jugendlichen biografisch und funktionell zuordnen zu können. Da das Zuordnen in der Therapie mit diesen Kindern ein gemeinsamer heilsamer Suchprozess ist, brauchen wir Fakten.

Fakten im Kopf brauchen wir ebenso im Gespräch mit möglichen TäterInnen, denn diese Menschen sind nicht selten hoch manipulativ, sie wickeln uns ein, ziehen uns emotional auf ihre Seite. Wenn wir nicht wissen, was passiert ist, wenn wir die Fakten nicht parat haben, sind wir verloren. Entscheidend für die Einschätzung der pathogenetischen Faktoren sind weiterhin die spontanen Darstellungen des Kindes (Rollenspiele, Zeichnungen) im Zweiersetting mit dem Therapeuten, seine verbalen Äußerungen und Wünsche, seine Vorstellungen von Sicherheit.

Nach wie vor gilt meine Empfehlung, den Kontakt mit dem »offending parent« vom Kindertherapeuten fernzuhalten (Weinberg 2005), wenn sich abzeichnet, dass er/sie absichtsvoll, verheimlichend oder fortgesetzt das Kind manipuliert oder gar bedroht. Der Kontakt zum Kind muss dann nach Möglichkeit unterbunden und die darauf erfolgende Entwicklung des Kindes von uns genau beobachtet werden. Daraus ergibt sich, dass wir als Kinderbehandler ein Netzwerk mit Jugendamt, Beratungsstellen und Kollegen aufbauen müssen, innerhalb dessen wir unsere Ressourcen auf die Entwicklung des Kindes, die allein unser Ziel ist, konzentrieren können.

In der Anamneseerhebung ist es wichtig, über die üblichen prä-, peri- und postnatalen (die frühkindliche Entwicklung, familiäre Einflussfaktoren und Situation und gegenwärtiges Symptomverhalten und Probleme) Angaben hinaus aktiv nach folgenden Umständen zu fragen:

Mit diesen Informationen kann man schon ziemlich gut abschätzen, ob das angemeldete Kind unter einer Traumafolgestörung mit oder ohne Bindungsverunsicherung, unter einer traumabedingten Entwicklungsstörung (DTD) oder unter KEF leidet. Oder ob es tatsächlich »nur« wegen AD(H)S, Phobie, sozialer Unsicherheit etc. ohne Traumahintergrund kommt.

1.4 Verhaltensbeobachtung

Der Moment der ersten Kontaktaufnahme des Kindes zu Ihnen ist von instruktiver Bedeutung:

Das Kind – gleich welchen Alters – wird sich in dieser unwägbaren Situation der ersten Begegnung immer so verhalten, dass es sich möglichst sicher fühlt. Dadurch geben Ihnen diese ersten Momente viele Hinweise auf die Bindungssituation, die inneren Sicherheitskonzepte und Bewältigungsmuster des Kindes in sozialen Stresssituationen und können schon gleich bindungstherapeutisch genutzt werden. Dem einen Kind können Sie sagen: »Oh, warte einmal, du läufst so allein los, aber du bist ja hier fremd und ich bin dir auch fremd. Ich möchte gerne, dass jemand aufpasst, dass es dir hier bei mir gut geht. Wer könnte das denn sein?«

Dem anderen Kind können Sie sagen: »Du bist ja hier fremd und kennst mich noch gar nicht. Darum brauchst du vielleicht jemanden, dass du nicht so allein bei mir bist. Wollen wir die Mama/den Papa mitnehmen?«

Häufig werden Sie allein dadurch eine merkliche Entspannung von Hyperaktivität, Grenzenlosigkeit oder Verängstigung erleben. Wenn nicht, bekommen Sie zumindest einen relevanten diagnostischen Einblick in Beziehungsstrukturen und Problematik.

Insgesamt ist es wichtig zu akzeptieren, dass bei traumabedingten Entwicklungsstörungen die Eingangsdiagnostik nie abschließend ist, sondern nur der erste Schritt der therapiebegleitenden Langzeitdiagnostik. Sie umfasst bei mir freie Spielbeobachtung, Bau-dir-Instruktion oder Baut-dem-Kind-Instruktion5, Zeichenverfahren (MZT, Baum und Haus, FiT und evtl. Rosenbusch), im späteren Verlauf Dissoziationsfragebogen, wenn sinnvoll. Ansonsten gehe ich mit Fragebögen sparsam um. Intelligenz-, Teilleistungs- und Entwicklungsdiagnostik überweise ich an spezialisierte Beratungsstellen oder Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie.

1.5 Täuschung als vierte Stressreaktion

Das instinktive Täuschungsverhalten stellt eines der größten Probleme in der Verhaltensbeobachtung und Diagnostik von traumatisierten und bindungsgestörten Kindern dar. Das Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen stellt nicht nur für den Täter oder später für potenzielle Täter eine überzeugende Fassade her, sondern auch für die Außenwelt. Ohne über diese Stressreaktion Bescheid zu wissen, können sehr viele Verhaltensweisen nicht richtig zugeordnet werden und führen geradewegs dazu, dass Kinder ihren Tätern von gesellschaftlichen Instanzen (Jugendämter, Familienrichtern, Erziehungsberatungsstellen) ausgeliefert werden.

Wenn man sich klarmacht, welche Funktionen die Täuschungsreaktion im Tierreich umfasst, erkennt man deutlich eine enorme Spannbreite, die hier an einigen Beispielen verdeutlicht werden soll:

Im menschlichen Zusammenhang sehen die Täuschungsreaktionen natürlich anders aus, was schon deswegen sein muss, weil sich beim Menschen zusätzliche Selbsttäuschungsmechanismen einklinken. Dadurch ist die Täuschungsreaktion niemals eine Schauspielerei oder gar Lüge, sondern eine Stressreaktion, die nicht willentlich kontrolliert wird. Emotionen werden oft sehr überzeugend gezeigt, sogar wenn es keine entsprechenden Gefühle dazu gibt6. Insbesondere im Zusammenhang einer traumatischen Bindung (s. Abschnitt 1.6.1 zur Bindung) vollzieht sich ein grundlegender Umwälzungsprozess innerer Werte: Nicht mehr das dringende Bedürfnis nach körperlicher Integrität und organismischer Aktualisierung bestimmt die affektiven Tönungen von Lebenssituationen im Kleinkindalter, sondern die verzweifelten Bemühungen um Bindung. So übernimmt das Kleinkind die affektiven Wertungen der TäterIn, erklärt sich selbst und seine leiblich-seelischen Bedürfnisse für böse – oder zumindest als unmaßgeblich –, dagegen den Starken, von dem es mit seiner physischen und psychischen Existenz abhängt, für gut – oder zumindest für einzig maßgeblich –, gibt seine anfänglichen Aggressionen gegen die Übergriffe auf und wird innerlich und äußerlich zum Resonanzboden der elterlichen Affekte und Verhaltensanforderungen. Ein solchermaßen bindender Elternteil bekommt nicht selten den Status der Gottgleichheit für ein Kind. Und dies ist der Kitt, mit dem die stärksten Bindungen gemacht sind, die wir kennen: die unlösbaren Verwicklungen und Verquickungen zwischen den Generationen.

Daniel S. Schechter stellte 2003 eine Studie über sozial schlechter gestellte Mütter mit erlittenen Gewalttraumata und ihre Kleinkinder vor. Er zog das Resümee, dass die Kleinkinder aktiv versuchen, der dysregulierten Mutter Ruhe und der verzweifelten Mutter Sinn zu geben (2003, S. 224). »Kinder von traumatisierten Pflegepersonen reagieren manchmal pseudopositiv auf deren ausgeprägt unfeinfühlige Verhaltensweisen, um den affektiven Kontakt mit ihren Pflegepersonen auf jeden Fall aufrechtzuerhalten.« (ebd. S. 226) Andere Kleinkinder, auf die negative Projektionen vom »bösen Kind« fallen, seien »sogar bereit, sich den negativen Verhaltenszuschreibungen ihrer Pflegepersonen anzupassen und sich entsprechend diesen Zuschreibungen zu verhalten.« (ebd.) Dies würde bedeuten, dass sich manch ein aggressives oder ungesteuertes Kleinkind so verhält, um den unbewussten Beziehungserwartungen seiner Mutter zu entsprechen und ihr damit zu helfen, sich zurechtzufinden. Aus meiner Praxis kann ich dazu beisteuern, dass die bodenlosen Verlassenheitsgefühle von bindungstraumatisierten Kindern für diese Kinder und ihre leiblichen Mütter so extrem belastend und unaushaltbar sind, dass sie wirklich gerne gegen Aggression »umgetauscht«7 werden.

Innerhalb der Täuschungsreaktion wird eine enorme Spannweite an unterschiedlichsten Verhaltensweisen produziert, was zunächst ein diagnostisches Problem darstellt. Verkompliziert wird die Diagnose auch dadurch, dass die Bindung an einen non-offending-parent, der von den traumatischen Übergriffen auf sein Kind nichts weiß (das gibt es auch!), durch traumatisierende Handlungen des anderen Elternteiles zerstört wird. Die Beziehung eines traumatisierten Kindes zu seinem non-offending-parent wird in den meisten Fällen als dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehung für den Beobachter offensichtlich. Die Zerstörung der Bindung zum non-offending-parent liegt zum einen an den Abwertungen und Beschuldigungen des offending-parent gegen den abwesenden Elternteil, die sich dem Kind einprägen. Zum anderen liegt es aber an dem authentischen Erleben des Kindes:

Der Mangel an Vertrauen, Achtung und Liebe, der aus diesem Konglomerat entsteht, ist sowohl für den betroffenen Elternteil als auch für den Beobachter offensichtlich und führt leicht zu einer Abwertung des non-offending-parent und zu einer Aufwertung des offending-parent bezüglich seiner positiven Bedeutung für das Kind.

Während nun all dies verwirrend und frustrierend wirken mag, ist es doch in der Praxis so, dass man, sowie man bei seiner Verhaltensbeobachtung an die Möglichkeit einer Täuschungsreaktion denkt, wesentlich klarer sieht. Allerdings darf man nicht erwarten, dass sich innerhalb von ein oder zwei isolierten Interaktionsbeobachtungen dazu diagnostische Aussagen treffen lassen. Erst durch eine Verlaufs- und Umfeldbeobachtung werden die Mechanismen identifizierbar:

Aus diesen Umfeldbeobachtungen lassen sich relevante Hinweise ziehen, ob die Interaktionsbeobachtung selbst mit dem Leben des Kindes stimmig ist oder ob es zu Diskrepanzen kommt. Wenn es zu Diskrepanzen kommt, gibt es bisher im deutschsprachigen Bereich eine einhellige Überzeugung: Der sorgende Elternteil oder die Pflegepersonen machen etwas falsch! Sie manipulieren oder verunsichern das Kind gegen den anderen Elternteil. Oder sie übertreiben maßlos die auftretenden Probleme. Oder sie sind schlicht unfähig, für das Kind zu sorgen.

Jeder Einwand kann stimmen – trifft aber eher selten zu. Sehr häufig trifft dagegen zu, dass das Kind die Begegnungen nicht verkraftet, weil es den TäterInnen-Kontakt nicht verkraftet und dringend davor geschützt werden muss.

Haben wir es mit Kindern in Ersatzfamilien zu tun, sind die vielfältigen Täuschungsmechanismen ebenfalls unbedingt zu beachten, z. B.

Wir sollten immer im Auge behalten, dass wir vermutlich bei Kindern mit früher Deprivation und Gewalterfahrung nichts anderes als ihre Überlebensstrategien präsentiert bekommen.

1.6 Die Symptomatik der Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung

Einführung

Diesem Kapitel liegt die von Cook et al. (2003) veröffentlichte Tabelle der sieben gestörten Entwicklungsbereiche nach anhaltender Deprivation und Gewalttraumatisierung zugrunde. Auch wenn es von den Autoren nicht ausdrücklich so eingegrenzt wird, beginnen diese Probleme üblicherweise schon in der frühen Kindheit. Ein weiterer Entwicklungsbereich, der im Zusammenhang mit KEF thematisiert werden muss, ist die Sexualität.

Die unterschiedlichen Entwicklungsbereiche werden im Folgenden sehr ungleichmäßig ausführlich dargestellt. Dies liegt zum einen daran, dass ohne ein fundiertes Verständnis der Störungen und der Bedeutung der Bindung keine Therapie mit diesen Kindern möglich ist. Darum ist der Abschnitt zur Bindung sehr ausführlich. Zum anderen sind Entwicklungsbereiche wie Verhaltenskontrolle und Kognition und auch Selbstkonzept innerhalb der Kinderpsychopathologie traditionell gut beschrieben und therapeutisch beantwortet worden. Diese Bereiche brauchen hier also nicht im Fokus der Darstellung zu stehen. Andererseits ist der traditionell gut beschriebene Entwicklungsbereich der Affektregulation im Rahmen unseres Themas so verdreht und zugleich so basal für den Therapieerfolg, dass er hier doch viel Raum in Anspruch nimmt. Weiterhin ist der Entwicklungsbereich »Biologie« eine Schnittstelle mit anderen therapeutischen Professionen (Ärzte, Frühförderung, Ergotherapeuten, Heilpraktiker, Osteopathen, Krankengymnasten, Körpertherapeuten ...), wobei wir das meiste therapeutisch delegieren müssen, wie z. B. sensomotorische Integration, Reflexintegration, Feldenkrais, homöopathische Tic-Behandlung oder Konstitutionstherapie ...). Dementsprechend haben andere Professionen außerhalb dessen, was ich im Kapitel I.1.7 »Die Biologie der komplexen Entwicklungsstörung« und im hier folgenden Abschnitt darlege, wesentlich mehr dazu zu sagen. Schließlich kann ich zum Entwicklungsbereich Sexualität nur auf meine eigene klinische Beobachtung zurückgreifen, die ich hier kurz darstelle, und hoffe, dass ich damit einen fachlichen Dialog anstoße.

1.6.1 Bindung

Die vorrangige Stellung der Bindung in der NCTSN-Tabelle halte ich für absolut angemessen.

Die Ergebnisse der Bindungsforschung und ihre Methoden der »Fremden Situation« werden hier als bekannt vorausgesetzt8. Sie werden, verbunden mit unserem traumapsychologischen Wissen, in mancher Hinsicht von mir anders akzentuiert.

Die Verhaltenskriterien in der bindungspsychologischen Beobachtungssituation führten dazu, dass jahrelang tatsächlich misshandelte Kleinkinder als sicher gebunden eingestuft worden sind, was dann erst durch Mary Main und Salomon infrage gestellt worden ist und mit der Beschreibung eines vierten Bindungsstils beantwortet wurde: D – für desorganisierten und desorientierten Bindungsstil des Kleinkindes. Ich selbst schließe mich der Sichtweise an, nach der D nicht für einen abgeschlossenen Bindungsstil steht, sondern für eine Risikokomponente, die im Rahmen der anderen drei Bindungsstile auftauchen kann und dort mehr oder weniger dominant ist.

Ab wann aber wird aus einem Bindungsstil eine Bindungsstörung?

Abbildung

Je höher platziert, desto besser ist der Schutzfaktor. D. h., unter low-risk-Bedingungen werden sich auch A- und C-Bindungs-Kinder unauffällig entwickeln, weil der geringere Schutzfaktor noch reicht.

Brisch führt aus, dass es auch innerhalb des A- und C-Stils möglich sein muss, für die Sicherheit des Kindes zu sorgen, allerdings erst bei bedrohlicheren Situationen, in denen zum Beispiel die körperliche Unbeschadetheit zur Disposition steht. Solange also die Mutter eines Agebundenen Kindes die Situation des Kindes für unproblematisch hält, z. B. Schrecken bei kleineren Verletzungen, Ängsten vor ungefährlichen Tieren oder Fernsehbildern, Schmerzen bei banalen Infekten etc., wird sie sich nicht in seine Affekte einschwingen, um es von dort aus zu beruhigen und zu trösten, sondern kühl und eher zurückweisend behandeln nach dem Motto: »Was stellst du dich nur so an!« Wenn das Kind aber gravierend verletzt oder erkrankt ist oder sich in Gefahr befindet, wird genau diese Mutter zupackend eingreifen und dadurch, dass sie das Leid des Kindes ernst nimmt, ihm signalisieren, dass sie ihr Kind ernst und wichtig nimmt und für es verlässlich ist.

Die Mutter eines C-gebundenen Kindes wird ebenfalls in der ernsten Situation zum Wohle ihres Kindes reagieren, auch wenn sie sich im Beziehungsalltag in ihren affektiven Ambivalenzen verstrickt.

Taucht nun im Bindungsverhalten von Kleinkindern zusätzlich die D-Komponente auf, geschieht dies, weil das Kind in einer einmaligen Situation, oder in wiederholten oder gar ständigen Situationen, nicht den Schutz der Mutter erleben konnte. Das Vertrauen in die Mutter ist beschädigt oder gar verloren gegangen, auch wenn diese dem Kind nichts Böses getan hat, u. U. noch nicht einmal etwas ahnt von den Übergriffen auf das Kind. Das Drama von heimlich misshandelten oder missbrauchten Kindern sind neben der Gewalttraumatisierung das zerbrochene Vertrauen in den non-offending-parent und die traumatische Bindung an den offending-parent.

Damit sind wir nun schon mitten im Bereich der Bindungsstörung, wobei es hilfreich ist, die Kennzeichen einer solchermaßen gestörten Bindung unter verschiedenen Aspekten zu betrachten.

Die Kennzeichen der D-Komponente in der Fremden Situation sind:

Ich möchte aus meiner Praxis hinzufügen:

In unseren Diagnosemanualen haben wir die reaktive Bindungsstörung mit Hemmung (ICD-F94.1) und mit Enthemmung (F94.2) sozialer Funktionen kodifiziert. Hierbei handelt es sich um wenig differenzierte Sammelbegriffe. Die Langzeitstudie von Sir Michael Rutter ab 1993 (Rutter, 2005) bis in die Gegenwart an rumänischen Adoptivkindern in England ergab, dass diese Kinder, die mit höchstens dreieinhalb Jahren adoptiert worden waren, zunächst häufig mit einem schwer gehemmten Beziehungsverhalten in Form von autistischem Verhalten aufgenommen wurden. Danach entwickelte sich als Durchgangssyndrom eine Bindungsstörung mit Enthemmung, und schließlich verloren fast alle Kinder die Diagnose einer Bindungsstörung. Die Studie konnte eine deutliche Abhängigkeit der Beziehungsfähigkeit dieser Kinder von der Dauer der Deprivation in rumänischen Kinderheimen nachweisen:

Leider beobachtet diese Studie nicht die Bindungsqualität und deren Entwicklung, denn ich vermute, dass kaum ein einziges dieser Kinder, das die Diagnose Bindungsstörung verloren hat, bei einer sicheren Bindung angekommen ist. Vielleicht eher bei einer der folgenden Bindungsstörungen.

Nach Brisch können wir außerhalb der schweren Bindungsstörungen (die er mit Typ I und Typ IIa kennzeichnet) weitere relevante, aber nicht so augenfällige Bindungsstörungen abgrenzen:

Ich selbst halte diese Ausweitung des Begriffs der Bindungsstörung für unumgänglich.

Das verbindende Gemeinsame dieser Störungen ist, dass die Kinder kein »Urvertrauen« in ihre Pflegepersonen und das Gute in der Welt spüren. Sie können die Zuwendung, Wegweisung und Zuneigung ihrer neuen Eltern nicht als das wahrnehmen, was sie sind. Als beispielhaften Beleg führe ich eine Äußerung des achtjährigen Stefan (s. 2.1.2.1) an, der mit zwei Jahren zu seinen Pflegeeltern kam: »Manchmal glaub ich immer noch, dass sie vielleicht doch Diebe sind. Dass sie klauen, wenn ich nicht hinsehe.« Statt sich also anzuvertrauen, fühlen sie sich gezwungen, ihre persönliche Sicherheit nach ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenarten und ihren Lebensumständen allein zu gewährleisten.

Zur Erklärung der verhaltensbiologischen Dynamik der Bindung im Rahmen von KEF stelle ich im Folgenden das »Verlaufsmodell traumatischer Entwicklung in der frühen Kindheit« von Jochen Peichl vor:

Abbildung

Verlaufsmodell traumatischer Entwicklung in der frühen Kindheit: Bindung – Flucht/Kampf – Dissoziation, aus: Peichl, J., Die inneren Traumalandschaften, 2007, S. 44

Während in der bisherigen Traumapsychologie stark auf die sympathische Aktivierung fokussiert (fight und flight im SAM-System) und als weitere Möglichkeit der Erstarrungszustand anerkannt wird, impliziert dieses Modell eine ganze Bandbreite weiterer neurophysiologischer Aktivierungen und Verhaltensmöglichkeiten: Indem die parasympathische Aktivierung zunehmend die Kontrolle über das Individuum übernimmt, erfolgt bei zunehmender Verzweiflung nun das Alarmieren der Pflegepersonen, das Rufen nach Hilfe.