Drei Tage im Paradies

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Inhaltsverzeichnis

That’s how the light gets in.

Leonard Cohen »Anthem«

Der nächtliche Anruf brachte Unordnung in Fabers Leben. Ein Brief für ihn? So ungewöhnlich, dass Sandra es für nötig befunden hatte, ihn trotz des Zeitunterschieds ohne Aufschub darüber zu informieren. Konstantin Karamanolis stand als Absender auf der Rückseite des Couverts. Ein Mann, auf dessen Existenz in Fabers Leben nur noch der Geburtsname in seinen Ausweispapieren hinwies. Für einen Scherz war die Sache eindeutig zu makaber.

Ein Brief seines Vaters mit dem handgeschriebenen Zusatz: persönlich. Vor zwei Tagen in Griechenland aufgegeben, überbracht von einem FedEx-Boten. Eine Eilzustellung von einem Mann, den Faber im Alter von fünf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte und an dessen Aussehen er sich nicht mehr erinnern konnte. Von einem Mann, den er seit beinahe einem halben Jahrhundert für tot hielt.

 

Vor den Scheiben des Hotelfensters zuckten erste Blitze, tauchten den Nachthimmel über Santiago für Momente in ein bedrohliches Violett. Seit Tagen schon war die Luft mit heißem Wasserdampf gesättigt. Nach wenigen Metern im Freien überzog ein

Doch weder die vom Hotelfenster bei Nacht besonders gut erkennbare Struktur der Innenstadt, noch die Naturgewalten, die sich über dem weitläufigen Hochplateau entluden, vermochten Faber vom Schock der Nachricht abzulenken. Eine Nachricht, für die es keinen schlechteren Zeitpunkt hätte geben können.

Faber wickelte ein Glas aus der sterilen Verpackung und goss es halb voll mit dem schottischen Quellwasser, das bei Buchungen stets für ihn geordert wurde. Er verschloss die Flasche sorgfältig, bevor er trank. Die Kühle im Mund schenkte ihm einen kurzen Moment der Entspannung. Mit dem letzten Schluck nahm er eine Tablette. Er legte den Kopf in beide Hände und rieb sich mit den Handballen die Augenhöhlen. Wenigstens der dumpfe, pulsierende Schmerz hinter seinen Augen könnte doch endlich nachlassen.

Sandras Anruf hatte ihn nicht aufgeweckt, das Schrillen des Telefons ihn nicht wirklich erschreckt. Er war am vergangenen Abend erst spät zu Bett gegangen, nachdem er rastlos die Straßen durchstreift hatte, auf der Suche nach nichts, außer dem Ende der Nacht. Vollständig bekleidet hatte er sich aufs Bett gelegt und eine kleine Ewigkeit regungslos auf den rötlich-braunen Fleck an der Zimmerdecke der eleganten Suite

Jetzt musste Faber dem Impuls widerstehen, diesem Ort, der ihm von Minute zu Minute unerträglicher wurde, auf dem schnellsten Wege zu entfliehen. Unsichtbar werden war ihm zur zweiten Natur geworden. Und hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Er konnte Länder und Städte, aber auch Menschen ohne jede Gefühlsregung verlassen. Darin war er manchem seiner Kollegen ähnlich. Das Heer der Kriegsnomaden teilte sich in zwei Lager auf: in diejenigen, die einen starken Familienzusammenhalt brauchten, um ein Leben, wie sie es führten, überhaupt durchstehen zu können. Und in die weitaus größere Gruppe derjenigen, die sich fast schon spielerisch der Gefahr hingaben.

Die Nachricht vom Brief seines Vaters hätte ihn auch an jedem anderen Ort der Welt erreichen können. Was ihn aufschreckte, war die zeitliche Parallelität. Er begleitete Inkas Sterben jetzt schon etwas länger als eine Woche. Direkt nachdem ihn in Europa der Anruf ihrer Familie erreicht hatte, war er nach Chile geflogen. Dabei hatte er geschworen, niemals wieder hierher zurückzukehren.

Lange konnte es nun nicht mehr dauern. Die einstmals so schöne Frau verfiel von Tag zu Tag mehr. Wenn die Ärzte recht behielten, würde sie die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht überleben. Fabers Tasche stand jedenfalls schon zur Abreise fertig gepackt an der Hotelzimmertür.

 

Auf dem roten Teppich, direkt hinter der Drehtür, verharrte er kurz und schaute zum Himmel, wo die Sonne den Frühdunst zu vertreiben suchte. Er schob sich die Sonnenbrille vor die Augen und überquerte die Straße. Gegenüber lag eine für südamerikanische Verhältnisse prachtvolle Parkanlage. Wege und Pflanzen überzogen einen aufgeschütteten Hügel, von dessen höchstem Punkt man mit etwas Glück am Horizont die Kette der Anden sehen konnte.

Er spazierte die Avenida Bellavista entlang, überquerte den Río Mapocho und bog auf Höhe der Avenida Recoleta schließlich in die Straßen des historischen Zentrums ein. Faber schlenderte über breite Gehwege und betrachtete die Auslagen eines Haushaltwarengeschäfts mit dem gleichen entrückten Gesichtsausdruck wie die Perückensammlung des daneben gelegenen Friseursalons. Er fotografierte einen Mann undefinierbaren Alters, der sich mit einem Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr um den Inhalt einer Tonne stritt, und bestaunte nicht zum ersten Mal die Ähnlichkeit der Metropole mit dem europäischen Paris.

Etliche Boulevards, Litfaßsäulen und Pissoirs weiter erreichte Faber das Herz der Stadt, die Plaza de Armas. Zwischen Bürotürmen, Rathaus, Kathedrale und Hauptpost war der von Bäumen umsäumte Platz eine Bühne für Flaneure, Straßenhändler, Gaukler und

Eine Brise strich vom hundert Kilometer entfernten Pazifik über das Land. Die ersten Sonnenstrahlen lugten über die Bebauung und spiegelten sich in den Pfützen. Die Grünanlagen, die den Platz nach allen vier Himmelsrichtungen begrenzten, waren gepflegt. Es roch nach feuchter Erde, vermischt mit dem süßlich schweren Duft von Rosen.

Faber zog die D-Lux4 aus der Hosentasche. Die kleine Kamera war eine Sonderedition und die einstellige Seriennummer auf dem Metallplättchen Ausdruck für seinen Stellenwert unter den Gegenwartsfotografen.

Bei der Arbeit trat Faber den Menschen ohne jede Scheu entgegen. Für Porträtaufnahmen ein Teleobjektiv einzusetzen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Es hätte ihn des intimsten Moments seiner Arbeit beraubt. Niemals durfte sein Auftritt die Menschen stören, da sie sonst ihr Verhalten ihm und der Kamera gegenüber grundlegend verändern würden. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern sollte wahrhaftig sein. Faber wollte die großen und kleinen Dramen hinter ihrer

Wenn er eine Situation als heikel einstufte, dann deutete er kurz auf seine Kamera und sah dabei seinem Gegenüber fest in die Augen. Meistens erhielt er ein zustimmendes Nicken, und von dieser Sekunde an wurde der Fotograf für seine Modelle unsichtbar. Ein Vorgang, der ihn nach all den Jahren als Fotograf immer noch faszinierte. Wenn der geringste Widerwille gegen die Aufnahmen spürbar wurde, akzeptierte er den Wunsch nach Privatsphäre und verschwand, ohne auch nur den Versuch unternommen zu haben, sein Gegenüber umzustimmen.

An diesem Morgen stieß er auf keinerlei Ablehnung.

Als die Sonne begann, die Konturen aufzuweichen, verzog sich Faber in einen alten Eissalon. Im hinteren Teil des Ladens quetschte er sich in eine Sitzecke, ehemals rotes Leder, im Rücken brüchig, auf dem Sitz abgewetzt-speckig. Er wartete auf den Kellner und bestellte einen starken Kaffee, einen, der einem Espresso am ähnlichsten und vom meist ausgeschenkten Nescafé am weitesten entfernt war.

 

Die Arbeit hatte Faber Klarheit verschafft. Er hatte sich entschieden, vorerst keinen weiteren Gedanken an den mysteriösen Brief zu verschwenden. Er hatte sich nur noch nicht aufraffen können, dies auch Sandra mitzuteilen.

Sandra hatte von ihm klare Anweisungen verlangt, was mit dem Brief zu geschehen habe. Sie war wie immer neugierig gewesen, schien aber auch ein wenig um ihn besorgt. Wahrscheinlich wollte sie weitere Irritationen von ihm fernhalten, die einer termingerechten Ablieferung seiner Arbeiten im Wege stehen könnten. Er verstand schon, dass ihr inzwischen die Argumente ausgingen, mit denen sie seine immer zahlreicher werdenden Ausfälle den Auftraggebern gegenüber begründen konnte. Doch das war es nicht allein: Sie hatte sich vor Monaten in ihn verliebt und hoffte nun, ihn mit ihrer Fürsorge für sich gewinnen zu können. Zumindest sah Faber das so. Dabei hatte er nur eine einzige Nacht mit ihr verbracht. Nicht mehr Zeit also, wie mit jeder anderen Frau vor und nach Sandra auch. Obwohl sie ihm am nächsten Morgen versichert hatte, dass das kleine Abenteuer keinesfalls ihre Zusammenarbeit belasten müsse, wusste es Faber besser.

Sandra war eine kluge Frau. Sie hatte ein interessantes Gesicht mit einer markanten Nase und einen ganz eigenen Humor. Manchmal vergaß Faber in ihrer Gegenwart die Zeit. Eine junge Frau, die wusste,

Endlich zog Faber das Handy aus der Innentasche seiner Reisejacke und schickte ihr eine Kurznachricht: Leg den verdammten Brief, schrieb er, und setzte verdammt in Anführungszeichen, wofür er ewig brauchte, weil er sich mit den Sonderzeichen auf der Handytastatur schwertat, einfach in mein Fach. Gruß Trini.

Trini Faber war sein Künstlername. Er bestand aus der Kurzform seines tatsächlichen Vornamens Trinidad (angeblich der Ort seiner Zeugung) und seinem Rufnamen aus Jugendtagen, als er ständig einen weichen Faber-Castell 2B-Bleistift hinter dem Ohr trug und alles aufzuschreiben oder zu zeichnen versuchte, was ihn faszinierte. Ein Faber-Castell steckte auch heute immer noch in seiner Jackentasche.

Faber nahm ihn zur Hand, um die Bildnummern der morgendlichen Serie in sein schwarzes Notizbuch einzutragen, während er mit der freien Hand den schlechten, aber heißen Kaffee schlürfte. Das Wasserglas hatte er dem Kellner gleich wieder zurück auf das Serviertablett gestellt und dabei den Kopf geschüttelt. »Kein Wasser«, hatte er auf Spanisch geflüstert und sich, ohne eine Antwort abzuwarten, gleich wieder über das Display der Leica gebeugt.

Bürokräfte eilten zur Arbeit. Schuhputzer bezogen ihren Platz vor dem Thron aus dunklem, fast schwarzem Holz. In den vergoldeten Scharnieren brach sich das frühe Licht der Sonne. Limonadenverkäufer

Faber nahm nicht aktiv am Leben teil. Seine Position befand sich außerhalb des Schachbretts. Er war der stille Beobachter, keine der handelnden Figuren. Er hatte aus der Not eine Tugend gemacht, aus einem Defekt seinen Beruf.

 

Normalerweise entlud Faber seine Kamerachips jeden Abend. Er sortierte die Bilder im Laptop mithilfe seiner Notizen, bearbeitete und speicherte sie anschließend auf externen Platten und formatierte die Speicherkarten für den nächsten Einsatz. Dieser Angewohnheit war er in der vergangenen Nacht nicht gefolgt. Deshalb zeigte das Display nach den letzten, den soeben erst entstandenen Aufnahmen, das Bild einer ausgemergelten Frau. Sie lag auf einem Krankenbett, den Kopf auf einem dünnen Kissen. Man konnte

Faber schaltete die Kamera aus und schob sie zurück in die Seitentasche seiner Cargohose. Unsicher strich er mit der Hand über seine unrasierten Wangen, über das Kinn, den Hals. Mechanisch wiederholte er die Bewegung, während er an seiner Wasserflasche nippte. Sein Blick glitt in die Ferne, verließ das Café, überquerte die Plaza de Armas und die Kathedrale Intendencia, flog über die Slums der Vorstädte hinaus auf das fruchtbare Plateau mit seinen kilometerlangen Reihen von Rebstöcken, die langen Kehren hinab zum sechshundert Meter tiefer gelegenen Valparaiso, wo er schließlich auf den Pazifik und seine eigene Vergangenheit traf.

Faber stöhnte leise auf. Sein Atem kam jetzt stoßweise und er benötigte drei konzentrierte, tiefe Züge der abgestandenen Barluft, um sich wieder zu beruhigen. Entschlossen stand er auf, schulterte seinen Kamerasack, bezahlte den Kellner mit einem ordentlichen Trinkgeld und beeilte sich, dem Flug seiner Gedanken zu folgen.