Anselm Grün

Konflikte bewältigen

Schwierige Situationen aushalten und lösen

KREUZ

Impressum

© Kreuz Verlag

in der Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: www.vogelsangdesign.de

Umschlagfoto: fotolia.com, © photastik

ISBN (E-Book) 978-3-451-80006-1

ISBN (Buch) 978-3-451-61241-1

Inhalt

Einleitung

Alltägliche Formen der Vermeidung – oder: Sieben Strategien der Konfliktverdrängung

Zeichen des Lebens – oder: Die Bedeutung von Konflikten aus psychologischer Sicht

Eine alte Tradition des Umgangs mit Konflikten – oder: Der benediktinische Impuls

Kain und Abel – oder: Die zerstörerische Konsequenz von Neid und Gewalt

Josef und seine Brüder – oder: Die destruktive Macht der Eifersucht

Mose und das Volk – oder: Der ungelöste Rollenkonflikt

Abraham und Lot – oder: Die konfliktbeladene Nähe

David und Saul – oder: Der Rivalitätskonflikt

Petrus und Paulus – oder: Der Konflikt unterschiedlicher Charaktere

Jesu Umgang mit Konflikten – oder: Wie Konflikte auf gute Weise gelöst werden

Worte zur kreativen Konfliktlösung – oder: Wie wir im Geist Jesu mit Spannungen umgehen können

Versöhnungsrituale

Schluss

Einleitung

Es gibt kein Leben ohne Konflikte. Jeder erlebt sie in seiner persönlichen Entwicklung: Krisen, schwierige und spannungsgeladene Situationen, die er für sich bewältigen oder zusammen mit anderen lösen muss. Solche Konflikte entstehen in jedem Miteinander. Dass unterschiedliche Werte, verschiedene Zielvorstellungen oder Interessen aufeinandertreffen, das ist ja keineswegs ein Kennzeichen eines schlechten Miteinanders von Personen oder auch Gruppen. Die so entstandenen Konflikte und Auseinandersetzungen können im Gegenteil gerade anzeigen, dass diese Menschen füreinander und aneinander Interesse haben. Sie können also gerade Ausdruck eines lebendigen Miteinanders sein. Gerade weil sie miteinander leben wollen, sind Menschen bereit, miteinander zu streiten, Konflikte auszuhalten und sie zu lösen. Täten sie das nicht, wäre es eher ein Zeichen von Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit einander gegenüber. Es gibt manche Idealisten, die glauben, es dürfe bei Menschen, die gemeinsame Werte teilen oder die eine grundsätzlich ähnliche Orientierung haben – religiös oder politisch –, überhaupt keine Konflikte geben. Doch das ist eine Illusion. Gerade in einer lebendigen Gemeinschaft gibt es immer Konflikte. Sie haben die Aufgabe, die Gemeinschaft voranzubringen und neue Entwicklungen zu fördern sowie die Beziehungen zu klären.

In Gesprächen höre ich immer wieder, dass Menschen sich schwertun mit Konflikten. Das Wort Konflikt ist für sie angstbesetzt. Häufig erinnert sie ein Konflikt an die Situation in der Familie, in der sehr oft gestritten wurde. Und dann löst der gegenwärtige Streit die Angst aus, einem würde der tragende Boden unter den Füßen weggezogen. Andere tun sich schwer mit Konflikten, weil in ihrer Familie nie offen gestritten wurde, sondern alles harmonisiert wurde. Konflikte rauben solchen Menschen die Energie. Sie möchten sie am liebsten leugnen. Aber Konflikte lassen sich nicht leugnen. Sonst wird »irgendein Organ, eine Funktion des Körpers, sei es Magen oder Herz oder Blutdruck, es büßen und die Spannung austragen müssen« (Wachinger 28).

Das Wort »Konflikt« stammt vom lateinischen confligere (»zusammenstoßen, zusammenprallen«). Wenn Menschen miteinander zusammenstoßen, dann entsteht Energie. Konflikte sind also immer ein Zeichen, dass Kraft im Spiel ist. Und sie wollen uns in unserer Kraft nicht lähmen. Durch den Zusammenstoß könnte vielmehr neue Energie entstehen. Daher ist es wichtig, dass wir solche Auseinandersetzungen nicht von vornherein bewerten, also nicht irgendwelche Schuldigen für den Konflikt suchen. Vielmehr sollten wir ihn nüchtern betrachten und uns fragen: Welches Energiepotential möchte dadurch frei werden? Welche Chance steckt darin? Der Konflikt zeigt ja offensichtlich an, dass die bisherigen Lösungen nicht alle Beteiligten befriedigen.

Manchmal treten die Konflikte durch neue Ereignisse auf, die bei der alten Problemlösung nicht bedacht worden sind. Manchmal tauchen auch Beziehungsprobleme auf, weil womöglich Rivalitätskämpfe bei der gemeinsamen Arbeit unterdrückt worden sind, die irgendwann doch an die Oberfläche kommen und dann das Miteinander blockieren. Es kommt auch immer wieder vor, dass die Beziehungen durch persönliche Verletzungen getrübt sind oder dass einfach durch neue Mitarbeiter das Gleichgewicht, das bisher in der Gruppe herrschte, gestört worden ist.

Es gibt inzwischen viele Bücher über das Lösen von Konflikten. Sie alle geben uns wertvolle Hinweise, wie wir mit Auseinandersetzungen umgehen können. Ich möchte in diesem Buch jedoch von der Bibel ausgehen und von dort her Strategien der Konfliktlösung bedenken. Die Erkenntnisse der Psychologie und Konfliktforschung begleiten mich dabei und helfen mir, in den biblischen Texten konkrete Wege zu erkennen, wie wir heute mit den Konflikten umgehen können, die uns treffen. Damit ist kein Allheilmittel angegeben. Denn es gibt in der Bibel beides: Beispiele für eine gute Lösung des Konflikts, aber auch Beispiele, wo die Lösung nicht gelingt.

Die biblischen Konfliktgeschichten sind archetypische Geschichten. Sie erzählen nicht nur von der Vergangenheit. Sie sind vielmehr allgemeine Bilder geworden, die heute genauso aktuell sind wie damals. Bilder sind wie Fenster, durch die wir schauen, um etwa die Schönheit der Landschaft zu erblicken. Bilder bieten uns Perspektiven an, wie wir die Wirklichkeit anschauen. Die biblischen Bilder zeigen uns die archetypischen Strukturen auch heutiger Konflikte. Alle Konflikte haben bestimmte Muster. Diese Muster begegnen uns schon in diesen alten Texten. Es kommt nur darauf an, sie auf unsere heutige Realität hin auszulegen. Dabei sind mir drei Lebensbereiche besonders wichtig: Konflikte in der Familie und in der Partnerschaft, Konflikte in der Arbeitswelt und Konflikte in christlichen Gemeinden und Gemeinschaften.

Doch zuvor möchte ich noch kurz einige psychologische Einsichten zum Konflikt und seiner Lösung sowie einige Erfahrungen der benediktinischen Tradition mit Konflikten beschreiben. Und bevor ich die Möglichkeiten beschreibe, wie Konflikte gelöst werden können, möchte ich auf typische und immer wiederkehrende Formen der Vermeidung einer Konfliktbearbeitung schauen, wie sie nicht nur in kirchlichen und frommen Kreisen, sondern auch in Firmen und Vereinen und auch in Familien und in der Partnerschaft immer wieder vorkommen. Konflikte wahrzunehmen und sich um ihre Lösung aktiv zu kümmern ist etwas anderes, als sie zu verdrängen. Es ist auch etwas anderes als eine Haltung, die einen Konflikt auf jeden Fall vermeiden will und ihn deswegen möglicherweise gar nicht wahrnimmt – nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Es gibt immer wiederkehrende Muster eines solchen Umgangs mit bestehenden Konflikten, den man nicht wirklich als lösungsorientiert ansehen kann. Sie sollen im Folgenden typologisch kurz dargestellt werden.

Alltägliche Formen der Vermeidung – oder: Sieben Strategien der Konfliktverdrängung

Idealisierung von Harmonie und Geschlossenheit

Nicht nur im kleinen Bereich, etwa in der Familie oder der Partnerschaft, werden Konflikte oft lieber vermieden als offen angesprochen. Die Gründe der Konfliktvermeidung sind verschieden. So führt eine Idealisierung von Harmonie und Geschlossenheit sehr häufig dazu, dass man Konflikte nicht wahrnimmt oder sie verdrängt. Wenn wir hohe Ideale von unserer Gemeinschaft haben, dann stellen die Konflikte unsere Ideale in Frage. Oft erleben wir sie als etwas, das nicht sein dürfte. Wir appellieren an den guten Willen, nach dem Motto: Wenn wir einander lieben würden, dann hätten wir keine Konflikte. Doch solche moralisierenden Appelle helfen im Konflikt nicht weiter. Wir sollen vielmehr mit verschiedenen Interessen und mit Spannungen, die sich aus einem unterschiedlichen Blick ergeben, rechnen und uns nicht hinter unseren Idealen verstecken und die Schuld anderen in die Schuhe schieben. Es geht darum, die Konflikte einfach anzuschauen und darin immer auch eine Chance zu sehen, gemeinsam zu wachsen, gemeinsam nach neuen Lösungen Ausschau zu halten oder etwas zu klären, was in der Gruppe unter der Oberfläche brodelte, aber lange Zeit verdrängt wurde. Wenn ein Konflikt auftaucht, dann können die sich unter der Oberfläche regenden Strebungen nicht mehr übersehen werden. Wir müssen uns der Wahrheit stellen. Das macht demütig. Doch häufig verleugnet man gerade auch in religiösen Kreisen die Konflikte. Die am folgenden Beispiel sichtbaren Mechanismen sind durchaus auch auf andere Kreise übertragbar: Ein Mitarbeiter fühlt sich ungerecht behandelt. Die anderen werden bevorzugt. Er geht zum Vorsteher der Gemeinde und spricht seine Unzufriedenheit mit dieser Ungleichbehandlung offen an. Doch der Vorsteher leugnet den Konflikt mit der Behauptung, das sei nur Einbildung, denn er behandle doch alle gleich. Doch solche Leugnung verstärkt den Konflikt mit dem Mitarbeiter noch mehr. »Der Mitarbeiter ist unzufrieden; er ist nicht nur seinem Vorgesetzten gegenüber in der schwächeren Position, er war ihm vielleicht auch rhetorisch unterlegen und konnte nicht richtig erklären, was er meinte. Zu seinem ungelösten Problem kommt der Ärger hinzu, im Gespräch ›verloren‹ zu haben. Für diesen Mitarbeiter geht der Konflikt weiter« (Kellner 12).

Was für größere Gruppen gilt, gilt oft auch im Kleinen, in der Familie oder in Partnerbeziehungen. Da herrscht oft die Angst, was die anderen sagen könnten, wenn man in der Familie miteinander streitet. Oder die Ehepartner haben Angst, dass die Kinder an ihrem Konflikt leiden könnten. Doch die Kinder spüren auch den nicht ausgetragenen und ungelösten Konflikt. Andere haben Angst, dass der Konflikt sie auseinandertreibt. Lieber leben sie unter dem Schein der Harmonie, als sich den tieferen Konflikten zu stellen. Und manche haben Angst, sich der eigenen Wahrheit zu stellen, vor sich selbst einzugestehen, dass die Ehe nicht so ideal ist. Man braucht vor dem eigenen Gewissen das Bild der idealen Ehe, um daran festzuhalten. Wenn man sich die Konflikte eingestehen würde, hätte man Angst, dass dieses hochgehaltene Ideal wie ein Kartenhaus zusammenfällt.

Eine Vermeidung von Konflikten um des angeblich höheren Wertes der Geschlossenheit willen geschieht vor allem in geschlossenen Gemeinschaften und in Gemeinschaften, die von hohen Idealen geprägt sind. Konflikte widersprechen dem Ideal, das eine Gemeinschaft nach außen hin gibt. So tun sich vor allem kirchliche Gemeinschaften schwer, die Konflikte offen anzugehen. Ein Beispiel: Da ist etwa die Bischofskonferenz, die bemüht ist, nach außen hin immer den Eindruck der Einheit der Kirche zu vermitteln. Sie möchte mit einer Stimme sprechen. Aber jeder, der etwas Einblick hat in die Mentalität der einzelnen Bischöfe, weiß, wie unterschiedlich die Meinungen auch da sind und welch harte Auseinandersetzungen da oft unter der Oberfläche und hinter den Kulissen ausgefochten werden. Aber man löst den Konflikt oft nicht wirklich. Nach der Konferenz fühlt man sich verpflichtet, mit einer Stimme zu sprechen. Man muss nach außen hin den Eindruck erwecken, als ob alle einmütig im Geiste Jesu das Gleiche denken würden. Doch das wirkt letztlich unglaubwürdig. Ehrlicher wäre es, die Konflikte offen auszutragen und nicht so zu tun, als ob sie am Ende der Konferenz schon alle gelöst wären. Der inzwischen emeritierte Bischof Franz Kamphaus hatte den Mut, sich in der Frage der Schwangerschaftsberatung der Anweisung Roms zu widersetzen, weil er sie nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Letztlich musste er sich dann doch dem Diktat aus Rom beugen. Aber er hat damit klargemacht, dass er nicht einverstanden war. Auch als er nachgab, hat er seine gegenteilige Meinung zur Frage der Schwangerenberatung nicht aufgegeben. Seine Glaubwürdigkeit ist durch den ausgetragenen Konflikt nicht geringer geworden.

Leugnen oder Ausweichen

Konflikte zu leugnen ist eine nicht seltene Methode, ihrer Bearbeitung auszuweichen. Manchmal leugnen beteiligte Personen einfach, dass überhaupt ein Konflikt besteht. Da kommt etwa eine Frau unter hohem Leidensdruck in die Eheberatung, weil sie mit den Konflikten in der Ehe nicht mehr klarkommt. Doch der Ehemann leugnet jeden Konflikt. Es gehe doch alles gut. Die Kinder machen keine großen Schwierigkeiten, das Einkommen ist gesichert, er ist im Beruf erfolgreich, kurz: Er sieht überhaupt keine Probleme. Aber gerade darin liegt ja der Konflikt, dass der Partner jeden Konflikt leugnet und gar nicht merkt, wie es seiner Frau in der Ehe geht.

Die Strategie solcher Konfliktverdrängung beobachten wir nicht nur in familiären Zusammenhängen, sondern genauso auch in Firmen. Da traut man sich oft nicht, die Konflikte wirklich anzusprechen und anzugehen, aus Angst, sonst könnte ein Vulkan hochgehen. Das Ansprechen des Konflikts könnte alles nur noch schlimmer werden lassen. Unter der Hand spricht man von den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Geschäftsführern, zwischen den Mitgliedern des Vorstands. Aber man löst den Konflikt nicht. Die ganze Firma leidet dann unter dem ungelösten Konflikt, der die Tendenz entwickelt, die Firma zu spalten. Manchmal kommt es dann schließlich zur Eskalation des Konflikts, der nicht gelöst worden ist. Ungelöste Konflikte drohen dann ein ganzes Unternehmen zugrunde zu richten.

Kirchliche Organisationen sind der Versuchung von Konfliktvermeidungsstrategien und und ihren problematischen Konsequenzen nicht weniger ausgesetzt als »weltliche« Akteure. Viele Ordensgemeinschaften etwa haben keine geeignete Strategie entwickelt, wie sie mit Konflikten in der Gemeinschaft umgehen. Manche gehen den Weg des geringsten Widerstandes: Jeder kann machen, was er will. Andere versuchen, die Konflikte durch autoritäre Anordnungen zu lösen. Doch unter der Oberfläche schwären die Konflikte oft weiter. Manch eine Gemeinschaft ist schon an einem nicht gelösten Konflikt zerbrochen. Man fand keine gemeinsame Sprache mehr, um die Differenzen anzusprechen. So flüchtete sich jeder in seine eigene Deutung des Ordenslebens. Einzelne wichen den Konflikten aus und engagierten sich für ihr je eigenes Projekt, das ihnen wichtiger war als die Gemeinschaft. Dass Gemeinschaften und Gruppen bei einem solchen Verhalten erodieren können, zeigt die Geschichte.

Aussitzen oder unter den Teppich kehren

Die Art und Weise, wie Konflikte vermieden werden, ist in allen Bereichen ähnlich. Eine weitere typische Strategie besteht darin, die Konflikte zuzudecken. Man meint, es werde irgendwann schon genügend Gras über die Sache wachsen, wenn man nur lange genug schweigend darüber hinweggeht. Es werde sich dann alles von alleine lösen. Zu diesem Zudecken gehört die Mentalität des Aussitzens. Diese Konfliktvermeidungsstrategie hat man ja Helmut Kohl vorgeworfen. Er hat manche Konflikte einfach ausgesessen, bis sie für die Presse und für seine Mitarbeiter nicht mehr interessant waren. Nicht immer ging diese Strategie auf: Am Ende seiner Kanzlerschaft sind viele dieser Konflikte, die »ausgesessen« worden waren, neu aufgebrochen.

Eine andere Strategie heißt: unter den Teppich kehren. Das meint: Man nimmt den Dreck durchaus wahr. Man weiß, da ist viel Unrat. Aber man schafft ihn nicht nach draußen und entsorgt ihn in der Mülltonne. Vielmehr kehrt man ihn unter den Teppich, um ihn unsichtbar zu machen. Aber er bleibt im Haus. Und irgendwann macht sich der Dreck bemerkbar. Ungeziefer sammelt sich in dem unter den Teppich gekehrten Dreck. Und auf einmal wird die ganze Atmosphäre im Haus von den ungelösten Konflikten negativ beeinflusst. Um im Bild zu bleiben: Es kommt zu Atembeschwerden, Stauballergien oder ähnlichen Abwehrreaktionen gegen die unter den Teppich gekehrten Konflikte. Man hat dann mehr mit den Symptomen zu kämpfen als mit dem zugrunde liegenden Konflikt. Die ganze Energie verwendet man auf die Symptome, anstatt den Konflikt zu lösen. Oft wird dann mehr Energie benötigt, diese negativen Folgen zu bewältigen, als wenn man sich dem Konflikt gleich und direkt gestellt hätte.

Die »Schwamm drüber«-Mentalität

Eine andere Strategie könnte man als die Mentalität des »Schwamm drüber« beschreiben. Die Interessengegensätze werden nicht geklärt. Man glaubt, man könne die Dinge unaufgearbeitet sein lassen und einfach wegwischen. Man macht eine oberflächliche Bemerkung, dass doch alles nicht so schlimm sei. Oder wenn der Konflikt angesprochen wird, gibt es die schnelle Reaktion: »Also vertragen wir uns wieder. Betrachten wir alles als gelöst.« Doch es ist nichts wirklich gelöst. Man möchte die Konflikte als Störpotentiale des Zusammenlebens nicht sehen. Aber es ist wie bei einer Schultafel, die ich nur oberflächlich mit dem Schwamm gewischt habe. Die vermeintlich abgewischte Schrift tritt wieder hervor. Und alle, die Augen haben, können sehen, dass da nichts gelöst ist. Die alten einander widerstrebenden Sätze tauchen wieder auf. Und auch ein nochmaliges Wischen würde sie nicht auslöschen. Sie wollen bearbeitet werden. Nur dann wird die Tafel frei für neue Sätze, für Sätze, die aufbauen und ermutigen.

Ausweichen durch Rationalisieren

In allen Bereichen – in größeren Gemeinschaften, Firmen und Familien – gibt es konfliktunfähige oder konfliktscheue Menschen. Wer ihre Biographien betrachtet, wird nicht selten feststellen, dass das meist mit der Vater-Erfahrung zusammenhängt. Wenn der Vater mir den Rücken nicht gestärkt hat, tue ich mich im späteren Leben schwer mit Konflikten. Da werde ich spannungsgeladenen Situationen lieber ausweichen. Ein Weg, in diesem Sinn die Konflikte zu übergehen, ist die Rationalisierung. Das heißt: Ich finde genügend Gründe, um darzulegen, dass es gar keinen Konflikt gibt. Es ist nur ein Missverständnis oder eine Informationslücke. Mit dem Rationalisieren verharmlose ich den Konflikt oder verleugne ihn gar. Die rationalen Argumente klingen oft sehr einleuchtend. Aber in Wirklichkeit sind sie von Angst geprägt. Man hat Angst, den Konflikt zuzugeben, weil damit Emotionen zutage treten, die anzusehen und zu bearbeiten unangenehm wäre. Deshalb braucht man viele »rationale« Gründe, um den Konflikt zu leugnen oder durch tausend Erklärungen zu verharmlosen.

Das Veto der Beleidigten

Eine andere Weise, den Konflikt zu vermeiden, ist die emotionale Reaktion des Beleidigtseins. Konflikte sind letztlich immer emotional. Aber wenn ich beim Ansprechen des Konflikts beleidigt reagiere, dann lege ich gleichsam ein Veto ein, um den Konflikt nicht weiter besprechen zu müssen. Ich bin dann dermaßen emotional betroffen, beleidigt, gekränkt, dass ich jetzt nicht weiter sprechen kann. Ich bestrafe den anderen, indem ich ihm die Kommunikation verweigere. Oder ich stelle mein Beleidigtsein so in den Mittelpunkt, dass der Konflikt in den Hintergrund tritt. Wir können über den Konflikt gar nicht sprechen, weil es nur um mein Gefühl des Beleidigtseins geht. Auf diese Weise vermeide ich es, den Konflikt anzusprechen und zu lösen. Ich übe mit meiner Reaktion, dem Beleidigtsein, letztlich Macht aus. Ich verweigere die Aussprache über die zugrunde liegende Sachproblematik und mache durch den Abbruch der Kommunikation auch die anderen sprachlos. Der eigentliche Konflikt wird tabuisiert und auf eine persönliche Ebene verlagert.

Harmonisierung und Arrangement

Konfliktscheue Menschen sind oft Harmonisierer. Sie haben ein großes Harmoniebedürfnis. Sobald ein Konflikt entsteht, bekommen sie Angst. Der Konflikt zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Deshalb müssen sie harmonisieren. Sie tun so, als ob alles harmonisch wäre. Und sie beschwichtigen die Konfliktparteien, dass sie sich doch wieder verstehen sollten, es sei doch alles nicht so schlimm. Doch Harmonisierer lösen nichts. Sie akzeptieren den positiven Wert von Aggressionen nicht, leugnen den Konflikt oder schütten eine fromme Sauce darüber. Doch die frommen Worte helfen nicht, den Konflikt aufzulösen – und so schwelt er ungelöst weiter und lähmt dann eine Gemeinschaft. Die anderen trauen sich nicht mehr, die Probleme anzusprechen. Man arrangiert sich in einem »faulen Frieden« miteinander. Aber das Miteinander wird immer schwieriger. Eigentlich lebt man nur noch nebeneinander, weil man alle Reibungspunkte, die die Harmonie stören, vermeiden möchte. Aber ohne Reibung entsteht keine Wärme. Und ohne Wärme wird es in der Gemeinschaft immer kälter.

Zeichen des Lebens – oder: Die Bedeutung von Konflikten aus psychologischer Sicht

Es gibt verschiedene Definitionen von Konflikten. Man kann sie rein äußerlich beschreiben, indem man zeigt, durch welche Dynamik im Miteinander bzw. Gegeneinander von Menschen oder Gruppen, durch welche sachlichen Differenzen oder durch welche Beziehungsprobleme sie ausgelöst werden. Die Autorin Hedwig Kellner bietet eine einfache Definition: »Ein Konflikt entsteht dann, wenn mindestens zwei gegensätzliche Dinge angestrebt werden oder wenn mindestens zwei Parteien das Gleiche wollen und sich dabei gegenseitig Konkurrenten sind« (Kellner 13). Eine andere Definition von Konflikten zielt auf die einzelnen Personen und deren Beziehung ab und beschreibt die Rollen bzw. Erfahrungen derer, die an einem Konflikt beteiligt sind, bzw. zeigt auf, inwieweit sich einzelne Personen von einem Konflikt oder einer Auseinandersetzung negativ betroffen fühlen.

Eine philosophisch ausgerichtete Psychologie geht in der Beschreibung und Deutung noch tiefer. Sie versucht einen tieferen Zugang zu Konflikten als einer Konstante menschlichen Lebens. Der französische Theologe und Psychiater Marc Oraison etwa meint, Konflikte seien Zeichen von Leben. Geboren werden heißt schon: in Konflikt geraten. Das Kind entwickelt sich durch die verschiedenen Konflikte, die es in der Erziehung gibt: den Entwöhnungskonflikt, den Konflikt der Trotzphase, den Konflikt der Pubertät. Leben ist von Anfang an Wandlung und Entwicklung. Eine innere Entwicklung geht nicht ohne Konflikte. Ständig steht der Mensch im Konflikt zwischen seinem eigenen inneren Spüren und dem Über-Ich, der Stimme in seinem Inneren, die sich von den Maßstäben der Eltern leiten lässt.