titel.jpg

Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2015

Lektorat: Karen-Susan Fessel

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung der Fotografie „Suffragetten in England, Frauen demonstrieren auf einem Omnibus in Chelmsford, 1908“ des Ullstein Bilderdiensts.

ISBN 978-3-89656-584-6

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

1. Kapitel

Littletown in Lancashire, Nordengland, 1908

Draußen pfiff der Wind ums Haus und zauste die Pappeln unten am Fluss. Ich spürte die Müdigkeit in allen Knochen, während ich vorsichtig die Zimmerpflanzen am Salonfenster goss. Gestern hatte ich bis in die Nacht an einem Kleid für die Tochter von Mrs Ramsay, der Köchin, genäht, und heute früh war ich wie immer um fünf Uhr aufgestanden, hatte die Kamine gekehrt, Feuer angefacht, die Schlafzimmer saubergemacht, soweit sie schon frei waren – Mrs Banks schlief gern lange, und sie hatte noch nicht nach dem Frühstück geläutet –, im Garten Unkraut gezupft und den Hof gefegt. Und der Tag hatte doch gerade erst angefangen

Auf einmal bog Mrs Ramsay um die Ecke. „Hier stehst du also herum, du schlampiges Ding! Ich brauche dringend Hilfe in der Küche, und das Dienstmädchen ist nicht aufzufinden! Es steht faul am Fenster und genießt die Aussicht!“ Sie schnappte sich die Röstgabel vom Kamin, die ich gerade gereinigt und poliert hatte, und fuchtelte damit vor meiner Nase herum. Ich konnte gerade noch zurückspringen, aber im nächsten Augenblick klirrte es hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um. Eines der Porzellan-Nippesfigürchen aus dem Regal hinter mir lag in winzige Scherben zersprungen am Boden. Ich seufzte leise.

„Du dummes, dummes Ding!“ Die Köchin keifte noch lauter. Wenn sie so weitermachte, würde Mrs Banks noch davon aufwachen und schlechter Laune sein.

Doch aus dem Schlafzimmer drang kein Laut, als Mrs Ramsay schließlich lauthals zeternd in Richtung Küche verschwunden war. Das Porzellanpüppchen würde mir vom Lohn abgezogen werden, wie sie mir lauthals versichert hatte – als ob ich das nicht selber wüsste.

Nachdenklich fegte ich die Scherben auf. In den zwei Jahren, in denen ich nun schon bei den Banks arbeitete, war es mir nicht gelungen, ein gutes Verhältnis zu Mrs Ramsay aufzubauen. Nicht, dass ich mir keine Mühe gegeben hätte! Im Gegenteil, ich hatte ihr angeboten, ihr einen hässlichen Riss in ihrer Sonntagsbluse zu flicken, und ihr eine neue Schürze genäht, denn ihre alte wurde langsam schäbig. Zudem hatte ich ihr und ihrer Tochter im Laufe der Zeit je zwei weitere neue Schürzen und Sonntagskleider geschneidert, und das auch noch in meiner knapp bemessenen Freizeit.

Aber dennoch, unser Verhältnis hatte sich keineswegs gebessert. Mrs Ramsay war keinen Deut freundlicher zu mir geworden. Und ich musste zugeben, dass ich langsam ratlos wurde.

Als ich mit dem Fegen fertig war, putzte ich Staub, wischte die Böden und brachte Mrs Banks das Frühstück nach oben, als sie danach klingelte. Dann ging ich hinunter in die Küche und begann, das Gemüse für das Mittagessen zu putzen und den Tisch für Mrs Banks zu decken.

Nachdem sie gespeist hatte – ihr Gatte nahm seine Mittagsmahlzeit in der nahegelegenen Kreisstadt ein, in der sein Büro lag –, aßen Mrs Ramsay und ich die Reste, die Mrs Banks übrig gelassen hatte. Anschließend versah ich die Kamine mit frischem Feuerholz und ging Mrs Ramsay beim Backen zur Hand. Schließlich wurde ich beauftragt, zum Markt herunterzulaufen und die notwendigen Einkäufe für den Abend zu erledigen.

Es war ein frischer Herbsttag, der Himmel war grau, ich schauderte unter meinem wollenen Umschlagtuch. Der Pferdestall des Gastwirts lag auf meinem Weg, und ich beschloss, kurz nachzuschauen, ob mein Verlobter Jim vielleicht gerade dort war. Jims Job war es, die Pferde zu pflegen und mit ihnen Waren oder gelegentlich auch Übernachtungsgäste vom Bahnhof abzuholen.

Wir hatten vor, in die kleine Wohnung über den Ställen zu ziehen, sobald wir verheiratet wären. Ich konnte es kaum abwarten, dass Jim endlich seine Lohnerhöhung bekommen und wir endlich das Aufgebot bestellen würden. Der Gastwirt hatte sie ihm schon so lange versprochen, aber immer wieder war etwas dazwischengekommen.

Wo und wann wir uns auch trafen – meist nur für kurze Augenblicke, denn ich konnte kaum Zeit dafür erübrigen –, Jim wollte mich die ganze Zeit küssen, so dass ich manchmal überhaupt nicht zu Wort kam und es nicht schaffte, ihm meine Pläne für unsere Heirat und alles, was danach kommen sollte, auseinanderzusetzen. Aber das störte mich nicht weiter; Jim musste mich schrecklich gern haben, soviel war klar. Und darauf kam es ja schließlich auch an!

Im Stall war es halb dunkel und irgendwie still. Die Pferde wandten mir nur kurz die Köpfe zu und beschäftigten sich weiter mit den mit Heu gefüllten Raufen.

„Hey, Jim“, rief ich. „Bist du da?“ Ich trat ein paar Schritte näher an die Geschirr- und Sattelkammer heran, und da entdeckte ich Jim – und noch jemanden Es sah aus, als sprängen zwei Menschen auseinander, die sehr nah beieinander gestanden hatten. Viel zu nah.

„Florence!“, rief ich. „Was-was-was ma-machst du da?“

Florence grinste. „Was ma-ma-ma-machst du da?“, äffte sie mich nach.

Jimmy grinste auch.

„Aber Jimmy“, sagte ich erschrocken. Das musste ein Missverständnis sein! „Aber Jimmy, wir sind doch ver-ver-ver… Wir sind doch verlobt!“

„Ver-ver-ver…“, äffte mich Florence nach.

„Verlobt? Mit dir? Du kannst doch nicht mal richtig sprechen“, sagte Jimmy großspurig. Doch seine Ohren waren knallrot angelaufen, und sein Grinsen war irgendwie schief geraten.

Mir kam es vor, als fiele mein ganzes Leben klirrend in Scherben. „Aber Jimmy, es war doch schon alles besproch-besproch…“

„Besproch-besproch…“, echote Florence.

„Du Mistkerl“, rief ich, ohne mich weiter um Florence zu kümmern, und rannte einfach hinaus, die Straße hinunter und hinüber zum Marktplatz.

„He, Rosie, warte mal!“, schrie Jimmy hinter mir her, aber ich rannte weiter.

Jimmy und Florence … Ich konnte einfach nicht glauben, dass Jimmy wirklich eine andere küsste, wo wir zwei doch verlobt waren!

Ich biss die Zähne zusammen. Auf gar keinen Fall würde ich mitten auf dem Marktplatz anfangen zu heulen! Schwer atmend blieb ich stehen und ordnete meine Kleider. Dann holte ich tief Luft und machte mich ans Einkaufen.

Wie automatisch besorgte ich Gemüse, Tee und alles weitere, das noch auf meiner Liste stand.

Auf einmal hörte ich eine vertraute Stimme. „Rosie! Hallo, Rosie, hier bin ich!“ Meine Freundin Helen stand zwischen Katies Gemüsestand und dem großen Käfig mit den Kaninchen von Mr Watts. In der einen Hand hielt sie einen Stapel Flugschriften, mit der anderen winkte sie mir fröhlich zu.

Gerade, als ich zu ihr hinüberlaufen wollte, kam von irgendwo aus der Nähe des Feuerholz- und Kohlestands ein Ei auf Helen zugeflogen und traf ihre rechte Hüfte. Ein paar Jungs, die sich bei den nahen Ständen herumdrückten, kicherten triumphierend.

Helen zog mit gelassenem Gesichtsausdruck ein Taschentuch hervor, wischte Eigelb von ihrem Kleid – es war das alte Sommerkleid, das sie immer zur Arbeit trug, dazu wie alle Fabrikmädchen Holzpantinen und ein wollenes Umschlagtuch – und verteilte unverdrossen weiter ihre Papiere.

Wer Flugblätter für das Frauenstimmrecht verteilte, war an schlimmere Wurfgeschosse gewohnt, das wusste ich. Einmal, hatte Helen mir erzählt, hatte jemand sogar eine tote Taube nach ihr geworfen.

Viele Frauen in Lancashire verdienten an den Dampfwebstühlen besser als die Männer, die früher berühmt waren für ihre fachmännische Arbeit an den Handwebstühlen. Doch mittlerweile wurden Handweber kaum noch gebraucht, und in den Fabriken stellte man lieber Frauen ein, die billiger, gehorsamer und mindestens genauso geschickt waren. Und nun noch das Frauenwahlrecht … das war für viele Männer schwer zu verkraften, hatte Helen mir erklärt.

Die Jungs stoben kichernd davon, und ich ging zu Helen hinüber und stellte mich neben sie. „Hallo, Helen! Gehst du heute nicht mehr zur Arbeit?“

„Nein, ich hab gestern schon meinen Lohn abgeholt. Ich reise heute ab.“

„Heute schon?“ Mein Herz wurde, wenn überhaupt möglich, noch schwerer. Helen hatte sich schon vor Monaten entschlossen, in London eine Stellung anzutreten. Ich hatte so gehofft, sie würde es sich noch einmal anders überlegen. Ehrlich gesagt – ich hatte es einfach nicht wahrhaben wollen.

„Komm mich doch einfach in London besuchen“, schlug Helen vor.

„Das ist unmöglich“, sagte ich. „Du weißt doch …“

„Weiß ich“, sagte Helen, „deine Mama braucht dich! Du kümmerst dich sehr um sie, weil sie sich, nun ja, nicht um sich selber kümmern kann.“ Helens Gesichtsausdruck wurde hart. Was meine Mama betraf, waren wir unterschiedlicher Meinung. „Aber …“

Ein fauler Apfel traf sie an der Schulter und hinterließ einen feuchten Fleck, bevor er zu Boden plumpste.

Helen seufzte. „Ich glaube, ich habe für heute genug“, sagte sie. „Bist du fertig hier? Ich begleite dich ein Stück. Hier!“ Sie reichte mir eines ihrer Pamphlete. „Das ist zum Thema Frauenwahlrecht! Das interessiert dich doch?“

„Schon“, sagte ich zerstreut und steckte das Papier ein. Wieder stand mir das Bild von Jim und Florence vor Augen. Wie konnten sie nur? Helen sah mich nachdenklich an, dann legte sie mir den Arm um die Schultern. „Was ist los?“, fragte sie weich, und mir stiegen Tränen in die Augen.

„Ärger mit Jimmy?“, fragte Helen leise.

Ich nickte nur, zu beschämt, um die ganze Geschichte zu berichten. Dann holte ich tief Luft. „Ich muss mich beeilen“, sagte ich ausweichend, „ich hatte heute Morgen schon Ärger mit der Köchin. Wenn ich nicht bald zurückkomme, dreht sie noch vollends durch!“

„Kannst du mich später nicht zum Zug bringen?“, fragte Helen und klemmte sich den Stapel Flugschriften unter den Arm. „Dann können wir in Ruhe über alles reden.“

„Ja, aber vorher muss ich mich um meine Mutter kümmern“, sagte ich. „Vielleicht mache ich es irgendwie möglich. Ich versuch’s.“

Helen nahm mich zum Abschied noch einmal fest in den Arm, und mir wurde das Herz schwer. Erst das mit Jimmy und jetzt … jetzt würde Helen weggehen, meine beste und einzige wahre Freundin. Und das wahrscheinlich für lange Zeit. Ihre Tante in London fühlte sich einsam, seit ihr Mann im letzten Herbst gestorben war. Sie hatte Helen gefragt, ob sie als Gesellschafterin zu ihr kommen wolle, und Helen hatte das Angebot akzeptiert.

Wir winkten uns traurig zu, dann gingen wir unserer Wege.

Helen und ich waren seit der Schulzeit befreundet. Ohne sie und ohne Jimmy konnte ich mir mein Leben überhaupt nicht vorstellen. In düstere Gedanken verstrickt wanderte ich mit meinen Einkäufen zurück zu meinem Arbeitsplatz.

Nachdem ich die Lebensmittel in die Speisekammer geräumt hatte, ging ich nach oben, um die Schlafzimmer für die Nacht fertigzumachen. Gerade, als ich Mrs Banks’ Bett aufdeckte, kam die Köchin herein.

„Wo sind die Hühner?“, fragte sie.

Mir wurde eiskalt, und ich ließ die Bettdecke sinken.

„Welche Hü-hü-hühner?“, flüsterte ich.

„Die drei Hühner, die du auf dem Markt kaufen solltest!“

„Ich … ich hab sie vergessen“, flüsterte ich. „Es war …“

Die Köchin packte mich mit beiden Händen am Kragen und schüttelte mich grob, so dass ich kaum noch Luft holen konnte. Angst stieg in mir auf – und noch etwas anderes. Hass! Ich hasste es, dass diese Frau mich anfasste, mit ihren dicken, schwieligen Fingern! Ich stieß sie so heftig zurück, wie ich nur irgend konnte. Mrs Ramsay verlor das Gleichgewicht und knickte um. Obwohl ich sie noch gerade so eben am Arm festhalten konnte, prallte sie mit dem Hinterkopf gegen den metallenen Bettpfosten, schrie auf und wurde augenblicklich kreideweiß.

„Mrs Ramsay!“, rief ich erschrocken und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. Das war nicht einfach, denn Mrs Ramsay war nicht gerade ein Leichtgewicht.

„Was geht hier vor?“ Mrs Banks war ins Schlafzimmer getreten. Ich brauchte nur einen Blick auf sie werfen, um zu sehen, dass einer ihrer gefürchteten hysterischen Anfälle im Anzug war. „Was hast du mit Mrs Ramsay gemacht?“, kreischte sie. „Charles! Charles! Die Köchin! Das Dienstmädchen hat versucht, die Köchin umzubringen!“

Ich warf einen Blick auf die zusammengesunkene, blasse Mrs Ramsay, die wie ein nasser Sack am Bettgestell lehnte. Ein Tropfen Blut rann ihre Schläfe herab und hinterließ einen Fleck auf der Schürze, die ich für sie genäht hatte.

Ich hörte Schritte aus der Bibliothek, wo Mr Banks um diese Zeit meist seine Zeitung las. Eine verletzte, vielleicht sogar schwer verletzte Mrs Ramsay, eine größere Auseinandersetzung mit der kreischenden Mrs Banks und ihrem wichtigtuerischen Gatten … das war mehr, als ich heute Abend noch ertragen konnte.

„Ich glaube, dass Mrs Ramsay vielleicht einen A… einen A… Ich hole Doktor Tanner“, rief ich hastig und floh aus dem Zimmer.

In der Küche schnappte ich mir meinen wollenen Umhang, stieg die steile Dienstbotentreppe hinab und rannte die paar hundert Meter bis zum Haus des Doktors so schnell ich konnte.

Hastig betätigte ich den Türklopfer. Es dauerte nur einen Moment, bis Doktor Tanners Frau öffnete und mich mit hochgezogenen Brauen ansah. Sie machte nicht viele Worte.

„Was ist los, Rosie?“

„Unsere Köchin, Mrs Ramsay, sie hat sich den Kopf am Bettgestell gestoßen. Sie war ganz weiß, und da war Blut …“

„Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung“, meinte Mrs Tanner. „Aber mein Mann ist nicht da, er ist bei Mrs Mitchell. Du weißt doch, sie bekommt ihr Baby! Am besten, du sagst Mrs Neill Bescheid!“

Ich geriet in Panik. Mrs Neill, die Gemeindeschwester, stand kurz vor der Pensionierung und wohnte etwas außerhalb. Ob die Zeit reichte? Ich raffte meine Röcke und lief los, die Dorfstraße entlang, an der Kirche vorbei, über den Marktplatz, durch die Arbeitersiedlung, vorbei an Miss Collets Haus, die früher meine Lehrerin gewesen war, bis zur Windmühle, dem Wahrzeichen des kleinen Dorfes. Von dort waren es nur wenige Meter zu Mrs Neills Haus. Als ich es endlich erreichte, war ich so außer Atem, dass ich kaum sprechen konnte. Mrs Neill, in einen reichlich fadenscheinigen Hausmantel gekleidet, öffnete auf mein heftiges Klopfen die Tür.

„Atme tief durch, Rosie“, empfahl mir die resolute, überaus stattliche Gemeindeschwester, „ist was mit deiner Mutter?“

Meine Mutter hatte ich total vergessen. Sie würde noch etwas warten müssen!

Ich erklärte, dass die Köchin gestürzt war und Hilfe brauchte, und Mrs Neill willigte ein, nach Mrs Ramsay zu sehen.

„Ich muss mich nur erst umziehen“, sagte sie. „Willst du auf mich warten, wollen wir zusammen gehen?“

„Nein. Ich muss noch etwas Wichtiges erledigen“, erklärte ich hastig.

„Du siehst furchtbar aus, Rosie“, stellte die Schwester fest. „Hast du ein Gespenst gesehen?“

„Ich muss los“, rief ich ausweichend. „Vielen Dank, Mrs Neill!“ Und ich eilte davon, so schnell es meine langen Röcke zuließen.

Der Weg zum Bahnhof dauerte nur eine Viertelstunde, aber er kam mir wie eine Ewigkeit vor. Von weitem sah ich den Zug am Bahnsteig stehen. Ich holte tief Luft und rannte keuchend das letzte Stück, so schnell es nur ging.

„He, Fräulein!“ rief der Fahrkartenverkäufer, als ich den Perron erklomm. „Haben Sie eine Bahnsteigkarte? Oder wollen Sie in die große Stadt?“

Mein Herz schlug rasend schnell, als ich notgedrungen stehenblieb. Wenn ich bloß nicht ohne einen Penny Geld losgelaufen wäre!

„Ich brauche eine Bahnsteig…“ Ich kramte in meiner Schürze, die ich über den Röcken trug, nach Kleingeld. Da fiel mir der große Geldschein für den Kauf von drei fetten Hühnern in die Hände, und etwas Wechselgeld vom Einkauf vorhin war auch dabei.

Wirre Gedanken und Bilder tobten durch meinen Kopf: Jimmy und Florence und eine leichenblasse Köchin, aus einer Kopfwunde blutend, möglicherweise tot. Das vage Gefühl, dass meine ganze kleine Welt zersprang wie ein Porzellanpüppchen, das vom Sims fällt.

Plötzlich entschied ich mich und straffte die Schultern. „Ich brauche eine Fahrkarte dritter Klasse nach London, bitte“, sagte ich laut und sehr deutlich.

Helen würde mir helfen! Sie würde mich nie im Stich lassen. Wir würden alles besprechen und eine Lösung für meine Probleme finden. Helen war stets vernünftig, und sie dachte so klar.

Der Fahrkartenverkäufer reichte mir meine Fahrkarte und das Wechselgeld und tippte sich freundlich an die Mütze, bevor er sich dem nächsten Kunden zuwendete.

Ich sprang förmlich in den Zug und lief hastig durch die Waggons, auf der Suche nach Helen. In der dritten Klasse konnte ich sie nicht entdecken, also schaute ich auch in alle Abteile der zweiten Klasse, und schließlich linste ich schüchtern in die Waggons mit den teuersten Sitzplätzen, aber ohne Erfolg. Offenbar war Helen nicht unter den Passagieren!

Bedrückt ging ich zurück in die vollbesetzte dritte Klasse und suchte meinen Sitzplatz. Schwer atmend ließ ich mich auf die harte Holzbank fallen, nickte der alten Dame zu, die mir gegenübersaß, und lehnte die Stirn ans Fenster. Inzwischen hatte sich der Zug nach London leise rumpelnd in Bewegung gesetzt.

Ob Helen vielleicht doch schon den Nachmittagszug genommen hatte? Sie sollte doch bereits morgen ihre Stellung antreten! An die Möglichkeit, dass sie sich anders entschieden und überhaupt nicht nach London reisen würde, wollte ich lieber nicht denken.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich allein auf dem Weg in Englands Hauptstadt befand, ohne Geld für eine Rückfahrkarte. Und ich hatte mich noch nicht einmal von meiner Mutter verabschiedet!

Meine Mutter … Papa war in der Gewerkschaft aktiv gewesen und nie sonderlich beliebt bei den Vorgesetzten. Als dann unter Tage Grubengas explodiert war und Papa und fünf andere Bergarbeiter dabei ums Leben kamen, war meine Mutter augenblicklich überzeugt davon, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um eine Art Mordkomplott gehandelt hatte. Sie glaubte, dass Papa mit Absicht nicht rechtzeitig aus dem Schacht geholt worden war.

In der Folge fing sie an, mehr und mehr Schnaps zu trinken und sich immer seltsamere Dinge einzubilden. „Die haben wieder versucht, mich ins Bergwerk zu locken, um mich umzubringen!“, sagte sie manchmal.

Für mich war das alles schlicht Blödsinn. Warum sollte jemand meine Mutter umbringen wollen, die doch auf dem besten Weg war, sich selbst ins Grab zu trinken?

Ich glaubte auch nicht, dass Papa absichtlich im Schacht „vergessen“ worden war. Sicher waren die Arbeitsbedingungen im Bergwerk nicht gut genug – aber für mich war der Unfall schlichtweg ein Unglück gewesen, und ich vermisste meinen Vater schrecklich.

Und es war bitter, dass ich nun nicht mehr aufs Lehrerinnenseminar gehen konnte, wie ich es fest vorgehabt hatte. Handarbeiten und Englisch hätte ich gern unterrichtet, und Geschichte dazu, das hatte mir in der Schule selber Spaß gemacht. Ich war richtig gut in der Schule gewesen, und Papa hatte versprochen, mir die Ausbildung zu bezahlen. Nach dem Unfall allerdings ließen sich meine Pläne nicht mehr umsetzen, denn es war kein Geld mehr da.

Und da Mama mich in ihrer Nähe haben wollte, musste ich in Littletown bleiben und eine Stellung im Haushalt annehmen. Ich durfte nicht einmal wie die anderen Mädchen in meinem Alter in der Weberei in Millston arbeiten gehen. Dabei wurde die Arbeit am Dampfwebstuhl gut bezahlt, abends konnte man nach Hause und hatte seine Ruhe und wurde nicht noch einmal aus dem Bett geklingelt, weil die gnädige Frau spätabends plötzlich einen Kakao wollte. Zudem hatte man immer Gesellschaft von Gleichaltrigen und konnte sogar in die Gewerkschaft eintreten und Lohnforderungen durchsetzen.

All das aber kam für mich nun nicht mehr in Frage. Mama hatte sich nie mehr richtig erholt. Wir waren keine richtige Familie mehr, nur noch zwei unglückliche Frauen. Und so sehr mir mein Gewissen zu schaffen machte, als ich mit dem Zug durch die Hügel Lancashires rumpelte, so sehr mich Sorgen und Skrupel quälten – ich war zugleich unglaublich erleichtert, dem Städtchen Littletown und meiner Mutter zum ersten Mal in meinem Leben den Rücken zu kehren.

Kapitel 2

London, 1908

„Madam, ich suche meine Freundin. Können Sie mir nicht helfen? Sie heißt Helen, Helen Smith …“

Doch die Frau, die ich so flehentlich um eine Auskunft gebeten hatte, wickelte sich nur fester in ihren warmen, mit Blütenranken bestickten Schal, warf mir einen skeptischen Blick zu und eilte ohne zu antworten davon.

Irgendjemand hier musste Helen kennen, das konnte gar nicht anders sein! Ich sah mich im Bahnhof um. Der Lärm der einfahrenden Züge, die hin- und herströmenden Menschen, das Geschrei und Geschimpfe wurden immer unerträglicher für mich.

„Madam, ich bitte Sie …“

Eine rothaarige junge Frau wurde auf mich aufmerksam und verlangsamte ihren Schritt. „Sie sehen sehr müde aus“, sagte sie mit einem Akzent, den ich noch nie zuvor gehört hatte.

„Ich bin auch sehr müde“, nickte ich. „Und ich suche meine Freundin Helen Smith. Sie hat dunkle Haare, und sie hilft ihrer Tante, die langsam gebrechlich wird. Kennen Sie sie vielleicht und können mir sagen, wo ich sie finde?“

Die Fremde lachte, und obwohl ich noch vor Sekunden fast geweint hätte, musste ich plötzlich auch lachen.

„Wissen Sie, London ist groß“, sagte sie, und ihre orangefarbenen Haare und unzähligen Sommersprossen schienen um die Wette zu leuchten. „Es gibt hier Tausende dunkelhaarige Mädchen und zahllose alte Tanten! London ist einfach riesig!“

„Ja“, rief ich eifrig, „ja, nicht wahr? Ich habe mich zwar noch nicht viel umgesehen … Wollen Sie sagen, Sie ke-ke-kennen Helen nicht?“

Die junge Frau – sie war vielleicht zwanzig, eine Spur älter als ich – wäre Helen sicher genauso sympathisch gewesen wie mir. Sie war sehr schick angezogen, und man konnte ihr hübsches Dekolleté sehen, denn die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse standen etwas offen.

„Vielleicht kenne ich sie, wer weiß“, sagte sie gutmütig. „Ich kann mich ja mal umhören. Helen … wie war noch der Nachname?“

„Helen Smith! Sie ist ungefähr so alt wie Sie, aber sie hat blonde Haare, und sie besucht ihre Tante Clare hier, die niemanden mehr hat und eine Gesellschafterin sucht …“

„Und was willst du machen, wenn du sie gefunden hast?“ Sie trat einen Schritt beiseite, um eine Frau mit zwei Kleinkindern an der Hand vorbeizulassen.

„Ein paar Tage bei ihr bleiben, bis ich einen Job gefunden habe!“

„Du suchst einen Job?“

„Ja, wissen Sie … meine Herrschaft oben in La-la-Lancashire war nicht sehr nett zu mir, und gestern …“ Ich wusste nicht recht weiter. Schließlich konnte ich dieser wildfremden Person nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte erzählen!

Die Rothaarige schien jedoch nicht überrascht. „Vielleicht weiß ich was für dich.“ Sie sah sich um. Ein älterer Gentleman in unserer Nähe versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen, und sie nickte ihm zu.

Noch nie war ich in einem so riesigen Gebäude gewesen, mit so gewaltig hohen Wänden, an denen mannshohe Reklametafeln hingen. Die grellen Farben darauf schienen mich förmlich anzuspringen. Es wimmelte von Menschen jeden Alters. Am ehesten ließ sich das Getümmel noch mit dem Markttag in Littletown vergleichen. Mit dem Unterschied natürlich, dass ich hier kein einziges bekanntes Gesicht sah. Die meisten hier schienen es auch sehr viel eiliger zu haben. Und wie modisch und elegant viele gekleidet waren, Frauen wie Männer!! Andere wirkten dagegen richtig abgerissen und sehr müde. Eine dürre Frau mit zwei rotznasigen kleinen Kindern an der Hand fiel mir auf, wie sie in einem Müllhaufen etwas abseits der Gleise herumstocherte. Als ein Polizist näher kam, räumten die drei eilig das Feld.

„Oh, ich muss weiter“, sagte meine neue Bekannte. „Hast du einen Platz zum Schlafen?“

Das war ja das Schlimme! Ich schüttelte stumm den Kopf.

„Warte hier auf mich. Ich versuche, in einer Stunde wieder da zu sein. Vielleicht würdest du gern in einem vornehmen Etablissement arbeiten, Gläser spülen und so, nette Herren treffen?“

Ich nickte voller Eifer. Einen netten Herrn kennenlernen, natürlich! Nicht so einen Schuft wie Jim! Jemand Nettes. Wir würden spazieren gehen, in einem von diesen großen Londoner Parks, von denen ich gehört hatte. Ich würde mir so ein Kleid nähen, wie ich es bei den schicken Damen hier im Bahnhof gesehen hatte – aus Musselin, mit Spitze. Und dann, eines Tages …

„Du träumst ja“, lachte die junge Frau. „Hier, kauf dir inzwischen eine Limonade, bis ich zurück bin.“ Sie deutete auf einen Stand mit Getränken und hielt mir einen Shilling hin.

„Aber …“

„Keine Widerrede“, sagte sie, fasste mich unters Kinn und inspizierte mich genau. „Wie heißt du eigentlich?“

„Rosie!“

„Ich bin Jane. Also, in einer Stunde! Rühr dich nicht vom Fleck!“ Sie steuerte auf den älteren Herrn zu und verschwand mit ihm in der Menschenmenge.

Eine Stunde später war Jane jedoch nicht zurück. Ich hatte mir einen Sitzplatz auf einer Bank gleich am Bahnsteig gesucht, und langsam wurde ich ungeduldig. Die Geschichte mit Jim lastete schwer auf mir. Vielleicht hatte ich ja wirklich etwas falsch verstanden … Vielleicht hatten er und Florence nur gescherzt?

Aber ich wusste eigentlich, dass es nicht so war. Sie hatten eng umschlungen zusammengestanden, als ich den Stall betrat. Und wenn ich ganz ehrlich war, dann hatte ich sogar gesehen, wie sie sich geküsst hatten …

„Oh, Verzeihung!“ Jemand hatte mich angerempelt, und als ich den Kopf hob, entdeckte ich einen der Kofferträger, die hier emsig über die Bahnsteige rannten, schwer bepackt mit Koffern und Taschen.

„„Oh, Verzeihung! Ganz alleine, kleines Fräulein?“, fragte er und ließ den Koffer sinken, mit dem er mich gerade noch angestoßen hatte.

„Ich warte auf eine Freundin“, sagte ich traurig.

Ich sah, wie er zu seinen Kollegen hinübersah und ihnen Zeichen machte. Sie grinsten zu mir herüber: zwei Jungs in Jims Alter, aber bei weitem nicht so gutaussehend. Offensichtlich machten sie sich über mich lustig.

Ich stand auf, wandte mich ab und suchte mir einen neuen Sitzplatz auf einer anderen Holzbank, ohne die drei noch eines Blickes zu würdigen.

Dort wartete ich, bis mir vom langen Herumsitzen der Rücken schmerzte. Ein paar Schritte auf dem Bahnhofsvorplatz konnten sicher nicht schaden, beschloss ich.

Kaum war ich aus dem düsteren Bahnhofsgebäude herausgetreten, riss die Wolkendecke auf und strahlend blauer Himmel wurde sichtbar. Vor dem Haupteingang herrschte ein munteres Treiben. Kutschen, von großen, glänzenden Pferden gezogen, hielten eine nach der anderen vor dem großen Tor, und uniformierte Kutscher sprangen herunter, öffneten die Türen und halfen den Reisenden heraus.

Wohlhabende Herren strömten in den Bahnhof und elegante Frauen mit duftigen Frisuren, in Umhängen aus schmiegsamen Stoffen in zarten Farben, mit Taschen aus weichem Leder, dazwischen aber auch viele zerlumpte, hinkende Gestalten, manche davon an Krücken und Gehstöcken. Dazwischen liefen bettelnde und kreischende Kinder umher.

Ich trat einen Schritt vor und rempelte unabsichtlich eine ältere Frau an, die mich böse anfunkelte. Als ich ihr eilig auswich, eine Entschuldigung murmelnd, stieg ich einem Herrn auf den Fuß. Ich spürte, wie ich über und über errötete, murmelte eine weitere Entschuldigung, wandte mich ab … und spürte, wie wahnsinnig müde ich war, so müde wie nie zuvor in meinem Leben. Mit einem Mal konnte ich keinen Lärm mehr ertragen, keine Menschenmassen mehr sehen. Wo zum Teufel blieb Jane?

Aber sie ließ sich nicht blicken. Dafür sah ich eine Frau in einer Art Schwesternuniform in den mittleren Jahren, etwas korpulent, die mich zu beobachten schien. Ich lächelte ihr zaghaft zu, und sie kam näher.

„Was machst du hier so ganz alleine? Bist du aus deiner Anstellung weggelaufen? Kommst du vom Land? “

Ich starrte sie an. „Woher wi-wi-wissen Sie das?“

„Na weißt du, da bist du nicht die Einzige.“

„Nein?“, fragte ich verdutzt und zog meinen wollenen Umhang enger über meinen Schultern zusammen.

„Nein!“ Sie lachte. „Nein, hier kommen jeden Tag ein paar Dutzend Mädchen an, die in der gleichen Situation sind.“

„In der gleichen Situation?“ Meinte sie etwa, dass all die anderen Mädchen auch von ihren Freunden betrogen worden waren?

„Du bist doch nicht etwa …“ Skeptisch musterte sie meinen mageren Körper von oben bis unten. „Nein“, sagte sie wie zu sich selbst. „Ärger mit der gnädigen Frau? Wertvolles Porzellan zerbrochen?“

Ich schüttelte den Kopf. So wertvoll war das Porzellanfigürchen nun auch wieder nicht gewesen.

„Jemand von den anderen Dienstboten hat dich schikaniert? Die Köchin vielleicht?“

Ich nickte vehement.

Sie seufzte. „Und jetzt hast du dir gedacht, wenn du einfach so in die Großstadt kommst …“

„Nicht einfach so! Meine Freundin Helen ist auch unterwegs nach London. Aber sie war nicht im Zug, wir haben uns verpasst, und jetzt kann ich sie nirgends finden.“

„Aha. Also Pech gehabt. Und jetzt hast du keinen Platz zum Schlafen.“

Woher wussten eigentlich alle Londoner, dass ich keinen Schlafplatz hatte?

„Ich habe eine Dame kennengelernt“, sagte ich hastig. „Sie ist sehr freundlich und hat vielleicht eine Anstellung für mich … Ich sollte auf sie warten, aber sie kommt einfach nicht wieder …“ Die Sonne, die ohnehin nur schwach durch den bedeckten Londoner Himmel geschienen hatte, war jetzt gänzlich hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden. Mir war kalt, und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

„Was war das für eine Frau?“, erkundigte sich mein Gegenüber.

„Sehr schick und sehr nett. Jung“, sagte ich. „Aber dann musste sie mit einem Herrn mitgehen …“

Die ältere Frau schnaubte, als hätte ich etwas besonders Dummes gesagt. „Du kannst ein, zwei Nächte bei uns bleiben“, sagte sie. „Und dann sehen wir weiter.“ Sie sah, dass ich zögerte, und ergriff meine Hand. „Ich arbeite für eine christliche Organisation, die Dienstmädchen hilft“, erklärte sie. „Mädchen wie dir.“

Christlich? Mein Misstrauen war sofort geweckt. Opium fürs Volk, hatte Papa immer gesagt. Das stand in einem der Bücher von diesem Deutschen, in denen er immer gelesen hatte. Es sollte bedeuten, dass die Kirche die Menschen nur davon abhielt, sich um ihre wahren Probleme zu kümmern: soziale Ungerechtigkeit, zu niedrige Löhne … Ich entzog der Frau meine Hand und stemmte die Füße in den Boden wie ein Maultier. Jeder Mensch braucht Prinzipien, hatte Papa immer gesagt. „Aber Jane kommt sicher gleich wieder“, sagte ich mit fester Stimme.

„Da wäre ich nicht so sicher“, sagte die Dame lächelnd. „Was für eine Arbeit hatte sie denn für dich?“

„Gläser spülen in einem Pub“, sagte ich sehnsüchtig. „Nette Herren kennenlernen … Wissen Sie, mein Verlobter … Ich meine, mein früherer Verlobter …“ Ich wusste nicht weiter. Obwohl er sich so schäbig verhalten hatte, vermisste ich Jim plötzlich schrecklich.

„Weißt du“, sagte die fremde Frau, „anscheinend ist deiner Jane etwas dazwischengekommen. Vielleicht würde sie gern kommen, aber es ist ihr nicht möglich. Ich mache dir einen Vorschlag: Du übernachtest ein, zwei Nächte bei uns. Wir können dir vielleicht helfen, eine seriöse Anstellung zu finden. Wenn du dann später lieber in einem Pub Gläser spülen möchtest, warum nicht?“

Ich zögerte. Helen hatte gesagt, man solle nicht einfach in der Großstadt mit jedem mitgehen. Was wusste ich schon von dieser dicken, ältlichen Frau? Jane, ja, die hatte einen richtig netten Eindruck gemacht, so jung und sommersprossig und ein bisschen frech. Aber diese hier?

„Du kannst dir unser Haus ja einfach mal ansehen“, sagte die Frau, die sich zu amüsieren schien. Was war wohl so lustig? „Du brauchst nicht einmal hineinzugehen, wenn es dir nicht gefällt. Und wenn es dir zusagt, mache ich dir eine Tasse Tee und ein Schinkensandwich. Und dann entscheidest du, ob du bleiben willst.“

Ein Schinkensandwich! Prinzipien hin oder her – augenblicklich fühlte ich mich so hungrig, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Langsam nickte ich.

Die Frau fasste mich unter, und wir gingen flotten Schritts die belebte Straße hinab. Sie war belebter als jede Straße, die ich zuvor in meinem Leben gesehen hatte: Droschken, Automobile und sogar Busse rauschten an mir vorbei, dazwischen Scharen von Menschen, mehr, als ich je auf einem Markttag zu sehen bekommen hatte. Noch dazu herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, Schreie, Rufen, Hupen, Hundegebell, Klingeln und anderes Getöse, und der Geruch – nein, der war kaum zu beschreiben!

„Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein“, sagte die Frau freundlich und behutsam, ein bisschen, wie man zu einem verängstigten Kätzchen spricht. „Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben. Andererseits hast du recht – allzu vertrauensselig sollte man auch nicht sein. Übrigens, ich heiße Beth. Und du?“

„Rosie!“ Zum zweiten Mal an diesem Morgen nannte ich einem Menschen aus London meinen Namen.

„Rosie, ein hübscher Name“, sagte Beth und zog mich weiter.

Nach etwa zehn Minuten betraten wir ein schlichtes Haus mit einem kleinen Büro, dessen Wände bis auf den letzten Zentimeter mit ordentlich in Regalen und Schränken gestapelten Akten vollgestopft waren. Beth deutete auf ein abgewetztes kleines Sofa, auf dem ich mich ohne weitere Umstände niederließ.

Hungrig verschlang ich das Sandwich, das sie mir kurz darauf brachte, trank ein paar Schlucke Tee, stellte die Tasse weg, lehnte mich zurück und schlief augenblicklich ein.