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William A. Schabas

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit?

Die Rolle der internationalen Strafjustiz

Aus dem Englischen
von Edith Nerke und Jürgen Bauer

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book-Ausgabe 2013 by Hamburger Edition

© der Printausgabe 2013 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Einleitung

Justiz der Sieger – Wer soll auf die Anklagebank?

Parteinahme bei den Ad-hoc-Gerichtshöfen

Auswahl der »Situationen«, in denen der Internationale Strafgerichtshof tätig wird

Die Schwere des Verbrechens

Die unvollendete Debatte um die politische Richtung

Wer hat Angst vor Siegerjustiz?

Geschichte, internationale Gerichtsbarkeit und das Recht auf Wahrheit

Bilanzierung der Geschehnisse

Das Recht auf Wahrheit

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Das Amnestie-Dilemma

Verbietet das Völkerrecht Amnestien?

Die Opfer und das Recht auf Gerechtigkeit

Die Haltung des Internationalen Strafgerichtshofs

Gehören Amnestien »vom Tisch«?

Schlussbemerkungen

Zum Autor

Einleitung

Die Geschichte der Menschheit ist durch Wendepunkte gekennzeichnet, die mit dem Aufkommen neuer Technologien, neuer Regierungsformen und neuer Konzepte in Zusammenhang stehen. Sie sind Meilensteine des Fortschritts. In Zukunft werden die Nürnberger Prozesse einmal ein solcher Wendepunkt sein. Vielleicht sind sie es heute schon. Nürnberg war im Mittelalter die heimliche Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs. Hitler wählte die Stadt zum Ort seiner pompösen Reichsparteitage und ließ hier ein riesiges Aufmarschgelände errichten, ein bleibendes Mahnmal der Nazi-Gräuel. Heute steht der Begriff »Nürnberg« vor allem für das Streben nach Gerechtigkeit. Hier richteten die Alliierten in den Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 den Internationalen Militärgerichtshof ein, wo den überlebenden Nazi-Größen der Prozess gemacht werden sollte. Heute genügt der Verweis auf »Nürnberg«, um eine Vorstellung von diesem Schritt zu vermitteln.

Nürnberg steht für eine Reihe bedeutender, weitreichender Grundsätze. Drei von ihnen schlug der britische Ankläger Hartley Shawcross 1946 in einem Vortrag vor der amerikanischen Anwaltskammer vor: Einen Aggressionskrieg zu beginnen ist ein Völkerrechtsverbrechen; wer sein Land in einen solchen Krieg führt, ist persönlich dafür verantwortlich; der Einzelne hat daher internationale Verpflichtungen, die Vorrang vor der Gehorsamspflicht gegenüber dem eigenen Staat haben, wenn die Erfüllung dieser Pflicht einen Verstoß gegen das Völkerrecht bedeuten würde. Diese Aufzählung könnte noch um einen weiteren Grundsatz ergänzt werden, den die damals gerade entstehende Menschenrechtsbewegung einbrachte: Gräueltaten einer Regierung gegen das eigene Volk sind als internationales Verbrechen strafbar. Nürnberg erinnert auch an die Pflicht aller Staaten, dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen für internationale Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Mehrere Jahrzehnte lang stand Nürnberg für ein interessantes, aber doch isoliertes Ereignis. Die begeisterten Befürworter des Prozesses träumten von einem permanenten Gerichtshof. Dieses Ziel wurde nach den Urteilen des Internationalen Militärgerichtshofs noch einige Jahre lang weiterverfolgt, doch dann geriet das Projekt ins Stocken und wurde mit dem Beginn des Kalten Krieges endgültig aufgegeben. Als ich Anfang der 1980er Jahre Jura studierte, war der Nürnberger Prozess eher ein Kuriosum denn ein Modell. Die Menschenrechtsbewegung wusste nicht recht, ob man Nürnberg als Schlüsselereignis verstehen oder besser vergessen sollte. Erst Ende 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, ließ die UN-Generalversammlung die Tradition von Nürnberg wieder erstehen. Das war sicher kein Zufall.

Seit 1989 wurden mehrere internationale Strafgerichtshöfe eingerichtet, um Menschen zur Verantwortung zu ziehen, denen Gräueltaten vorgeworfen werden. Die Adhoc-Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda Anfang der 1990er Jahre schienen zunächst nur ein Experiment zu sein. Doch die Idee entwickelte eine erstaunliche Dynamik. Im Juli 1998 verabschiedete eine diplomatische Konferenz in Rom den rechtlichen Rahmen für ein permanentes Gericht. Am 1. Juli 2002 trat dieses Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Kraft. Innerhalb eines Jahres wurden die Richter und ein Ankläger gewählt, und der Gerichtshof konnte seine Tätigkeit aufnehmen.

Die internationale Justiz gilt immer stärker als unverzichtbarer Bestandteil der Bemühungen der Vereinten Nationen und regionalen Organisationen, Konflikte zu beenden und dauerhaften Frieden zu schaffen. Als zum Beispiel im Februar 2011 das brutale Gaddafi-Regime in Libyen dem »arabischen Frühling« ein Ende zu setzen drohte, schaltete der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof als eines der ihm zur Verfügung stehenden wichtigen Justizorgane ein. Wenige Wochen später tat er dasselbe im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Côte d’Ivoire. Der IStGH und die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe spielen hier eine zentrale Rolle.

Im vorliegenden Band geht es vor allem um die politische Dimension der Strafjustiz, vor der Juristen oft zurückscheuen und die sie lieber anderen Disziplinen überlassen würden. Er will einige der Kontroversen im Zusammenhang mit den Strafverfahren zur Ahndung massiver Gräueltaten ansprechen. Der Verfasser ist Jurist – der allerdings einen interdisziplinären Ansatz verfolgt und die kaum verhohlene Neigung besitzt, alles zu hinterfragen. Gegenstand des Bandes sind die Komplexität und Unergründlichkeit einiger wichtiger Fragestellungen in dem Bereich, der heutzutage unter dem Begriff »Völkerstrafrecht« firmiert – nicht zuletzt, um politische Entscheidungsträger, Diplomaten, Journalisten, Wissenschaftler und Studenten zu Reflexion und Diskussion anzuregen.

Justiz der Sieger – Wer soll auf die Anklagebank?

In seiner Rede zur Eröffnung des Nürnberger Prozesses erklärte der amerikanische Ankläger Robert Jackson: »Daß vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.«1 Jacksons Kollege am Supreme Court der Vereinigten Staaten, Harlan Fiske Stone, sah das ganz anders. Er nannte den Internationalen Militärgerichtshof eine »Lynchpartie ersten Ranges«. Nürnberg hat begeisterte Anhänger, darunter den Autor dieser Zeilen, aber auch Gegner. Einer der häufigsten Vorwürfe gegen die Nürnberger Prozesse ist der der »Siegerjustiz«. Hier sei keineswegs darauf verzichtet worden, Rache zu üben, meinen die Kritiker, die Prozesse seien weit entfernt von fairen Verfahren und geradezu ein Musterbeispiel für Rachejustiz.

Der Vorwurf der Siegerjustiz beinhaltet drei unterschiedliche Aspekte. Da sind zum einen die angewendeten Rechtsnormen, vor allem die Straftaten, die den Nazi-Größen zur Last gelegt wurden. Der Straftatbestand des Kriegsverbrechens war bereits etabliert, doch die anderen beiden Kategorien, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden, waren neu und wurden zum ersten Mal verhandelt. Damit war Raum für den Vorwurf der Ex-post-facto-Justiz geschaffen. Wie es im Urteil von Nürnberg heißt, muss zunächst »bemerkt werden, daß der Rechtssatz nullum crimen sine lege keine Beschränkung der Souveränität darstellt, sondern allgemein ein Grundsatz der Gerechtigkeit ist«.2 Die französische Version des Urteils ist da präziser: »[…] nullum crimen sine lege ne limite pas la souveraineté des États; elle ne formule qu’une règle généralement suivie«.3 Weiter heißt es im Urteil:

»Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu strafen, die unter Verletzung von Verträgen und Versicherungen Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben, ist offenbar unrichtig, denn unter solchen Umständen muß der Angreifer wissen, daß er unrecht hat, und weit entfernt davon, daß es nicht ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre es vielmehr ungerecht, wenn man seine Freveltat straffrei ließe [… Die Nazi-Größen] mußten gewußt haben, daß sie allem Völkerrecht zum Trotz handelten, als sie mit vollem Vorbedacht ihre auf Invasion und Angriff gerichteten Absichten ausführten.«4

Mit anderen Worten: Das Gericht räumte ein, dass die Strafverfolgung von Verbrechen gegen den Frieden eine rückwirkende Dimension aufwies, hielt es aber für ungerecht, solche Taten unbestraft zu lassen. Der nullum crimen-Grundsatz galt somit nur relativ, unter bestimmten Umständen waren Ausnahmen möglich.

Der zweite Aspekt dreht sich um die Fairness des gesamten Verfahrens. Es bleibt ein vages Gefühl, dass die Mindeststandards der allgemein anerkannten Verfahrensrechte in Nürnberg nicht uneingeschränkt beachtet wurden. In einer der ersten Entscheidungen des Jugoslawien-Tribunals vom August 1995 heißt es, den Richtern sei bei der Ausarbeitung der Verfahrensordnung und Beweisregeln bewusst gewesen, dass einige der in den Verfahren von Nürnberg und Tokio festgestellten Mängel zu vermeiden waren.5 Doch das ist, als würden heutige Architekten am Parthenon kritisieren, dass es weder Rampen für Rollstuhlfahrer noch Notausgänge gibt. Man kann die Verfahren von 1945 und 1946 nicht anhand von Menschenrechtsstandards bewerten, die sich erst 50 oder 60 Jahre später etabliert haben. Die damaligen Standards haben sie sicher im Großen und Ganzen erfüllt.

Der dritte Aspekt betrifft die Auswahl derjenigen, gegen die Anklage erhoben wurde. Der Militärgerichtshof befasste sich ausschließlich mit den NS-Tätern, obwohl vieles dafür sprach, dass einige der Verbrechen in seinem Zuständigkeitsbereich auch von denjenigen begangen worden waren, die ihn ins Leben gerufen hatten. Die Kriegsverbrechen und Gräueltaten der Siegermächte – angefangen von dem Massaker in Katyn bis zur schrecklichen Bombardierung deutscher und japanischer Städte, darunter die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und nicht zuletzt die alltäglicheren Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht in einem brutalen bewaffneten Kampf, zum Beispiel die Ermordung von Gefangenen oder die Anweisung, keine Gefangenen zu machen – waren nicht Gegenstand der juristischen Aufarbeitung und sind bis heute unbestraft geblieben. Am Militärgerichtshof für den Fernen Osten in Tokio übte der indische Richter Radhabinod Pal in einer ausführlichen abweichenden Stellungnahme offen Kritik an der Einseitigkeit des Verfahrens. Für ihn waren die europäischen Alliierten im Pazifikkrieg ebenso rücksichtslos vorgegangen wie die Japaner. Er plädierte für alle Angeklagten auf Freispruch.6

Auch in Nürnberg konnten sich die Richter diesen Bedenken nicht entziehen. Auf den Anklagepunkt gegen die beiden deutschen Admirale Dönitz und Raeder, sie hätten den uneingeschränkten U-Boot-Krieg angeordnet, reagierten deren Verteidiger mit der Vorlage von Beweisen, dass der US-Admiral im Pazifik den gleichen Befehl erteilt und auch die britische Admiralität ähnliche Anweisungen gegeben hatte. Willkürliche U-Boot-Angriffe gegen Handelsschiffe waren ein Verstoß gegen das zweite Londoner U-Boot-Protokoll vom 6. November 1936. Im Urteil von Nürnberg wurde dies als Kriegsverbrechen eingestuft. Aber angesichts der Beweise für das identische Vorgehen der Alliierten lehnten die Richter eine Strafe gegen die NS-Admirale wegen dieses Tatvorwurfs ab. Oft heißt es, die NS-Admirale wären vom Anklagepunkt der Führung des U-Boot-Kriegs freigesprochen worden,7 doch bei genauer Lektüre der Urteile erweist sich das als falsch.

Den vier Siegermächten (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Vereinigte Staaten von Amerika und Sowjetunion) war bei der Unterzeichnung der Charta von Nürnberg ohne Zweifel bewusst, dass sie hier einen internationalen Rechtsrahmen festlegten, der in Zukunft auch für sie selbst gelten sollte. »Wenn bestimmte Handlungen und Vertragsverletzungen Verbrechen sind, dann sind sie Verbrechen, ob sie von den Vereinigten Staaten oder von Deutschland begangen wurden. Wir sind nicht bereit, eine Regel für ein strafbares Verhalten gegenüber anderen aufzustellen, deren Anwendung wir nicht auch gegen uns zulassen würden«, erklärte der amerikanische Ankläger Robert Jackson.8 Aus diesem Grund haben die Initiatoren des Militärgerichtshofs von Nürnberg den Umfang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewusst auf Handlungen im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg eingeschränkt. Mit dieser sorgfältigen und geradezu zynischen Abgrenzung wollten die vier Mächte verhindern, wegen ihres eigenen rassistischen, kolonialistischen und repressiven Vorgehens selbst strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Darüber hinaus wurde die Ausrichtung des Gerichts noch durch andere Maßnahmen sichergestellt, die eher strukturellen Charakter hatten.

Die Zuständigkeit der Nürnberger Militärgerichtshöfe wurde so definiert, dass die Strafverfolgung eines Mitglieds der militärischen oder politischen Führung der Alliierten rechtlich unmöglich war. Nach Artikel 1 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs bestand sein Mandat in der gerechten und schnellen Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse. Der Wortlaut der Gründungscharta des Internationalen Militärgerichtshofs von Tokio wies geringfügige Unterschiede auf: Hier war von den »Hauptkriegsverbrechern im Fernen Osten« die Rede, ohne Angabe, auf welcher Seite sie standen.

Die Initiatoren der beiden Gerichtshöfe konnten in jedem Fall auf die Kooperation der Ankläger zählen, da diese ihre Angestellten waren. Sie konnten sie nicht nur benennen, sondern auch entlassen. Niemand schien besonderes Unbehagen bei dem Gedanken zu empfinden, dass sich die Ankläger während des Prozesses bei wichtigen Entscheidungen mit den Regierungen berieten, die sie ernannt hatten. Um ganz sicherzugehen, bestimmten die Amerikaner den General William J. Donovan zum stellvertretenden Ankläger. Er war damals Chef des wichtigsten US-Geheimdienstes, des Vorgängers der CIA. Mit seiner Entsendung sollte unter anderem sichergestellt werden, dass gegen hochrangige NS-Funktionäre, mit denen die Amerikaner in den letzten Monaten vor Kriegsende handelseinig geworden waren, keine Anklage erhoben würde. Die Sowjets hatten ihrerseits eine Sonderkommission des sowjetischen Ministerrats unter Vorsitz von Andrei Wyschinski eingerichtet, die ihrem Ankläger Anweisungen zum Umgang mit Sachverhalten wie dem Massaker von Katyn erteilte, das im folgenden Kapitel detaillierter besprochen wird.9 Man kann davon ausgehen, dass auch der britische und der französische Ankläger politische Anweisungen erhielten.