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Timothy Keller

GOTT IM LEID BEGEGNEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Walking with God through Pain and Suffering

© 2013 by Timothy Keller

Published by Dutton, a member of Penguin Group (USA) Inc.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dr. Friedemann Lux

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, der Übersetzung

Hoffnung für alle ®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®

Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel.

Sonst:

ELB:Revidierte Elberfelder Bibel

© 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus

im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984,

durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung,

© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

NGÜ: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen,

© 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

EIN: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

© 1980, Katholische Bibelanstalt Stuttgart.

© 2015 Brunnen Verlag

www.brunnen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Jenny Alloway / Yellowtree

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7655-5465-0

eISBN 978-3-7655-7350-7

FÜR MEINE SCHWESTER SHARON JOHNSON,
EINEN DER GEDULDIGSTEN UND FRÖHLICHSTEN MENSCHEN,
DIE ICH KENNE,

VON DER ICH SO VIEL ÜBER LASTENTRAGEN,
SCHMERZARBEIT UND GOTTVERTRAUEN GELERNT HABE.

INHALT

Einleitung

Unter der Oberfläche rumort die große Lebensangst

Teil I  Den Schmelzofen verstehen

Kapitel 1 Die Kulturen des Leidens

Kapitel 2 Der Sieg des Christentums

Kapitel 3 Das Problem des Säkularismus

Kapitel 4 Das Problem des Bösen

Teil II Dem Schmelzofen entgegengehen

Kapitel 5 Die Herausforderung für den Glauben

Kapitel 6 Die Souveränität Gottes

Kapitel 7 Das Leid Gottes

Kapitel 8 Der Sinn des Leidens

Kapitel 9 Laufen lernen

Kapitel 10 Die Gesichter des Leidens

Teil III Mit Gott durch den Schmelzofen gehen

Kapitel 11 Gehen

Kapitel 12 Weinen

Kapitel 13 Vertrauen

Kapitel 14 Beten

Kapitel 15 Denken, Danken, Lieben

Kapitel 16 Hoffen

Epilog

Danke!

Anmerkungen

EINLEITUNG

Unter der Oberfläche rumort die große Lebensangst

Meiner Ansicht nach besteht Lebensernst in Folgendem: Was immer der Mensch auf diesem Stern anfängt, es muss in der lebendigen Wahrheit und angesichts des Schreckens der Schöpfung, des Absurden, der Panik, die wie ein kommendes Erdbeben alles erzittern lässt, vollzogen werden. Anderenfalls ist es geheuchelt. (Ernest Becker, Dynamik des Todes)1

Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! (Psalm 34,2-4, LUT)2

Leid ist allgegenwärtig; wir können ihm nicht ausweichen und das Ausmaß erdrückt uns oft. Wenn Sie eine Stunde lang in diesem Buch gelesen haben, sind in der gleichen Zeit über fünf Kinder in der Welt an den Folgen von Misshandlung und Gewalt gestorben.3 Wenn Sie einen ganzen Tag gelesen haben, sind über hundert Kinder einen gewaltsamen Tod gestorben. Und das ist nur eine von unzähligen Arten des Leidens. Jede Stunde sterben Tausende durch Verkehrsunfälle oder Krebs, und Hunderttausende erfahren, dass ihre Lieben plötzlich nicht mehr sind. Zusammen verschwindet so jeden Tag die Bevölkerung einer kleineren Stadt und lässt die trauernden Freunde und Lieben fassungslos zurück.

Wenn sehr viele Menschen auf einen Schlag umkommen – wie bei dem Wirbelsturm Bhola in Ostpakistan (dem späteren Bangladesch) 1970, dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 oder dem Erdbeben in Haiti 2010, mit jeweils über 300.000 Toten –, sind die Schlagzeilen und der Schock groß. Aber Zahlen können täuschen. Solche historischen Katastrophen ändern nicht viel an der allgemeinen „Leidensrate“. Täglich kommen auf der Erde Zehntausende tragisch und unerwartet ums Leben, und Hunderttausende Hinterbliebene taumeln unter der Wucht des Schocks und der Trauer. Die allermeisten von ihnen schaffen es nicht in die Schlagzeilen, weil in dieser Welt Elend und Schmerz die Norm sind.

Shakespeare verstand dies, als er schrieb:

An jedem neuen Morgen

heulen neue Witwen, weinen neue Waisen;

neue Sorgen schlagen dem Himmel ins Gesicht …4

Das Böse und das Leid sind dermaßen allgegenwärtig, dass die gerade genannten statistischen Zahlen uns kaum mit der Wimper zucken lassen. Aber wir sollten mit der Wimper zucken. Ernest Becker hat über die Gefahr der Verdrängung des Elends und der Willkür des Leidens geschrieben. Wenn wir etwas Schlimmes hören, setzt sofort ein tief verwurzelter Abwehrmechanismus ein. Wir denken, dass solche Dinge halt den anderen passieren oder den Armen oder denen, die nicht aufgepasst haben. Oder dass wir sie abstellen können, wenn wir an unseren Sozialsystemen arbeiten und die richtigen Leute ranlassen.

Becker war der Meinung, dass ein solches Denken einen Mangel an „Lebensernst“ verrät, der es versäumt, sich dem „Schrecken der Schöpfung“ und „der Panik, die wie ein kommendes Erdbeben alles erzittern lässt“ zu stellen.5 Diese Panik ist die Angst vor dem Tod, dem großen Unvorhersehbaren und Unerbittlichen.

Die gleiche Botschaft finden wir in einem Artikel im New York Times Magazine,der erschien, als im Raum Washington, D. C., der „Beltway Sniper“ sein Unwesen trieb, ein Heckenschütze, der seine Opfer offenbar total willkürlich auswählte. Ann Patchett schrieb:

Wir versuchen immer, Mord erklärbar zu machen, damit er uns nicht zu nahe kommt: Ich sehe nicht wie das typische Opfer aus, ich wohne nicht in dieser Stadt, ich hätte mich nie an diesem Ort aufgehalten oder jene Person gekannt. Aber was, wenn es keine Beschreibung, keinen typischen Ort, keine typischen Personen gibt? Was machen wir dann, um uns zu beruhigen? … Tatsache ist: Das Hinauszögern unseres Todes ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Ob es Ausgleichssport ist, unsere Cholesterinwerte oder eine Mammografie, unsere Sterblichkeit hält uns ständig auf Trab. Wie sieht das typische Opferprofil aus, und inwiefern bin ich hier aus dem Schneider? Aber ein Heckenschütze, der sein Opfer mit einem einzigen Schuss und mithilfe eines Zielfernrohrs tötet, das erinnert uns grausam an den Tod in Reinkultur, der, so sehr wir uns auch anstrengen, immer noch meistens willkürlich zuschlägt. Und der mit absoluter Sicherheit kommen wird.6

Patchett und Becker legen die Strategien bloß, mit denen wir die große Angst vor dem Tod zu verdrängen versuchen. Dieses Buch ist der Versuch einer Einführung in den von ihnen geforderten „Lebensernst“. Ich möchte meinen Lesern helfen, vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Realitäten das Leben gut, ja freudig zu leben. Der Verlust lieber Menschen, Krankheiten, die unser Leben einschränken und irgendwann tödlich enden, Menschen, die uns enttäuschen, finanzielle Verluste und moralische Niederlagen – all dies werden Sie früher oder später erleben, wenn Sie ein normales Lebensalter erreichen. Keiner ist dagegen gefeit.

Egal, wie gut wir vorbeugen, egal, wie gut wir unser Leben gestalten, egal, was wir alles anstellen, um reich, gesund, beruflich erfolgreich und in Freundschaft und Familie glücklich zu sein – irgendwann kommt etwas, das unser schönes Leben beschädigt, ja ruiniert. Mit noch so viel Geld, Macht und Planung können wir es nicht verhindern, dass Tod, Krankheit, zerbrochene Beziehungen, finanzielle Katastrophen und hundert andere Übel über uns hereinbrechen. Das menschliche Leben ist furchtbar zerbrechlich, ausgeliefert an Kräfte, die zu stark für uns sind. Das Leben ist tragisch.

Intuitiv wissen wir dies alle, und die unter uns, die sich mit Leiden und Schmerz auseinandersetzen müssen, lernen nur zu bald, dass dies allein aus ihrer Kraft nicht möglich ist. Wollen wir nicht verzweifeln, brauchen wir alle Hilfe. In diesem Buch versuche ich zu zeigen, dass diese Hilfe nur von Gott kommen kann.

„Dass es die Elenden hören und sich freuen“

An unserem Hochzeitstag tauschten Kathy und ich vor unseren Freunden und Verwandten unser Ehegelübde aus. Dabei ergänzten wir die übliche Formel durch ein Bibelzitat, Psalm 34,2-4, das auf der Innenseite unserer Eheringe eingraviert ist:

Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! (LUT)

Es war ein großer Augenblick, und die erhabenen Worte aus der Bibel machten ihn noch größer. Wir standen am Anfang eines lebenslangen gemeinsamen Dienstes für Christus und konnten es schier nicht erwarten, die Botschaft von unserem Gott freimütig in die Welt hinauszutragen. Was wir damals fast ganz übersahen, waren die Worte in der Mitte des Textes, die beschreiben, was einen erfolgreichen Dienst für Gott ausmacht: „dass es die Elenden hören und sich freuen.“ Einer der Gründe für dieses Übersehen war schlicht, wie Kathy das später formulierte, dass „damals keiner von uns auch nur das Elend eines eingewachsenen Fußnagels kannte.“ Wir waren jung, und der Übermut der Jugend kann sich Leid und Schmerz nicht vorstellen. Wir ahnten nicht, wie wichtig es für uns werden würde, anderen Menschen zu helfen, Leid zu verstehen und zu bewältigen. Und es selber zu bewältigen.

Als junger Pastor versuchte ich zu verstehen, warum so viele Menschen nichts von Gott wissen wollten. Schon bald merkte ich, dass der Hauptgrund das Leiden war. Wie konnte ein guter, gerechter, liebender Gott so viel Elend, Schmerz und Not zulassen? Der Leidende wird leicht zum Zweifler. Im Gespräch mit Leidenden war ich oft herausgefordert, auf bittere Zweifel an Gott und am christlichen Glauben Antworten zu finden. Vor einigen Jahren wurde eine Hollywood-Schauspielerin interviewt, deren Geliebter plötzlich tödlich verunglückt war. Sie hatte lange keinen Gedanken an Gott verschwendet, aber jetzt sagte sie: „Wie konnte ein liebender Gott das zulassen?“ Eben war Gott ihr noch egal gewesen, jetzt war sie wütend auf ihn.7 Es sind solche Fälle, die viele Denker zu dem gleichen Schluss gebracht haben wie den französischen Schriftsteller Stendhal: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt.

Doch gleichzeitig lernte ich auch, dass genauso viele Menschen durch Leid und Not zu Gott finden.Sie machen die Erfahrung, dass Not sie zu ihm hintreibt und nicht von ihm weg; sie rüttelt sie wach aus dem unruhigen Schlaf des religiösen Eigendünkels, sodass sie anfangen, ernsthaft nach Gott zu suchen. Leiden „richtet in der Festung der gegen Gott rebellierenden Seele das Banner der Wahrheit auf.“8 Es ist vielleicht eine Übertreibung zu sagen, dass niemand Gott findet, solange er kein Leid erlebt, aber daran ist viel Wahres. Wenn Schmerz und Leid über uns kommen, erkennen wir, dass wir eben nicht unseres Glückes Schmied sind, ja mehr noch: dass wir es nie waren.

Im Laufe der Jahre habe ich auch erkannt, dass Leiden uns nicht nur zum Glauben an die Existenz Gottes führen kann, sondern auch jemanden, der bereits an ihn glaubt, in eine tiefere Erfahrung seiner Realität, Liebe und Gnade führen kann. Eine der Hauptstraßen, die von dem bloßen Bücherwissen über Gott zur persönlichen Begegnung mit ihm als einer lebendigen Realität führen, ist der Schmelzofen der Not. C. S. Lewis hat es klassisch so formuliert: „Gott flüstert durch unsere Freuden, er spricht durch unser Gewissen, aber er schreit in unserem Schmerz.“9 Es gibt viele biblische Lehren, die Christen mit ihren grauen Zellen begriffen haben, aber ins Herz eindringen tun diese Wahrheiten oft erst durch Enttäuschungen, Scheitern und Not. Wie ein Mann, der vor dem Verlust seiner Karriere und seiner Familie stand, mir einmal sagte: „Theoretisch hatte ich immer schon gewusst, dass ‚Jesus alles ist, was du brauchst‘. Aber wirklich wissen, dass Jesus alles ist, was du brauchst, tust du erst dann, wenn Jesus alles ist, was du hast.“

Und schließlich erkannte ich, als ich die Bibel besser kennenlernte, dass die Realität des Leidens einer ihrer roten Fäden ist. Das 1. Buch Mose beginnt mit der Erzählung, wie das Böse und der Tod in die Welt kamen. Im 2. bis 4. Buch Mose geht es um die vierzigjährige Wüstenwanderung Israels, eine Zeit intensiver Nöte und Prüfungen. Der Großteil der Weisheitsliteratur des Alten Testaments kreist um das Problem des Leidens. Das Buch der Psalmen enthält Gebete für jede erdenkliche Lebenssituation, und der Leser staunt, wie voll es ist von Schmerzensschreien und unverblümten Klagen an Gott über die offensichtliche Willkür und Ungerechtigkeit des Leidens. In Psalm 44 betrachtet der Beter die Verwüstung seines Landes und ruft aus: „Wach auf, Herr! Warum schläfst du? … Warum verbirgst du dich vor uns? Hast du unsere Not und unser Elend vergessen?“ (V. 24-25). Die Bücher Hiob und Prediger (Kohelet) versuchen, der Frage auf den Grund zu gehen, warum der Unschuldige leiden muss und unser Leben oft so sinnlos ist. Die Bücher Jeremia und Habakuk sind leidenschaftliche Klagen, dass in der menschlichen Geschichte das Böse zu herrschen scheint. Im Neuen Testament ist es das Hauptanliegen etwa des Hebräerbriefes und 1. Petrusbriefes, den Gläubigen in ihrem ständigen Kampf mit Not und Verfolgung beizustehen. Und die Zentralfigur der ganzen Bibel, Jesus Christus, ist der große Schmerzensmann. Wenn die Bibel ein Hauptthema hat, dann ist es das Leiden.

Meine Frau Kathy und ich haben im Leben unsere eigene Portion Leid erfahren. Im Jahre 2002 wurde bei mir Schilddrüsenkrebs festgestellt; ich musste mich einer Operation und weiteren Therapien unterziehen. Etwa um die gleiche Zeit wurde Kathys Morbus Crohn akut, was ihr zahlreiche Operationen einbrachte – einmal sieben in einem Jahr, sodass ich mich schließlich fragte, ob ich nicht wegen der Krankheit meiner Frau den Pastorenberuf an den Nagel hängen sollte. Es waren die bisher dunkelsten Stunden in unserem Leben, und wir wissen (aus der Bibel wie aus der eigenen Erfahrung), dass noch mehr dunkle Stunden kommen werden. Aber auch mehr Freude, als wir uns jetzt vorstellen können.

Wenn Kathy und ich auf unser Leben zurückblicken, dann sehen wir: Ob Menschen Gott ablehnen oder ob sie an ihn glauben, ob sie innerlich wachsen oder verkümmern, ob Gott uns größer wird oder ferner rückt – der Schlüssel heißt immer: Leid. Und als wir die Bibel studierten, um diese tiefe Gesetzmäßigkeit besser zu verstehen, entdeckten wir, dass es das große Thema der Bibel ist, wie Gott unendliche Freude nicht trotz unseres Leides bringt, sondern durch unser Leid, so wie Jesus uns nicht trotz des Kreuzes erlöst hat, sondern durch das Kreuz. Es scheint eine ganz besondere, reiche, tiefe Freude zu geben, die man nur im Leiden und durch Leiden erfahren kann.

In diesem Buch finden Sie das, was wir in diesen Jahren des Dienstes an den „Elenden“ gelernt haben. Simone Weil schreibt, dass Gott im Leid fernzurücken scheint, und da hat sie recht. Doch in Psalm 34 hält David dagegen, dass Gott zwar fern zu sein scheint, aber nicht fern ist. Im Rückblick auf eine Zeit, wo er in großer Lebensgefahr war und alles verloren zu sein schien, schreibt er: „Der Herr ist denen nahe, die verzweifelt sind, und rettet jeden, der alle Hoffnung verloren hat“ (Psalm 34,19).

Ich schreibe dieses Buch, weil wir die Wahrheit dieses Psalmverses in unserem eigenen Leben erfahren haben.

Der Schmelzofen und wie dieses Buch aufgebaut ist

Dies ist also ein Buch für Leidende? Ja, aber wir müssen hier differenzieren. Wir alle sind entweder gerade Leidende oder werden es einmal sein. Aber nicht jeder von uns steckt zurzeit mitten in einer tiefen Leidenskrise. Menschen, die nicht selber leiden, aber das Leiden anderer beobachten, stellen sich viele „theoretische“ (philosophische, soziale, psychologische, ethische) Fragen über das Leiden, während jemand, der selber gerade vom Leiden durchgeschüttelt wird, es gerade nicht von der theoretischen Warte aus betrachten kann. Es ist nicht einfach, in ein und demselben Buch sowohl die Fragen des Nichtleidenden als auch die Kämpfe des Leidenden anzusprechen. Der akut Leidende mag vielleicht philosophische Fragen benutzen („Gott, warum lässt du das zu?“), aber eigentlich geht es ihm nur darum, den nächsten Tag zu überstehen: Wie schaffe ich es, an diesem Elend nicht zugrunde zu gehen? Wie komme ich da durch, ohne Schaden an meiner Seele zu nehmen? Es ist grausam, einem akut Leidenden kluge Vorträge zu halten. Doch andererseits führt erfahrenes Leid fast zwangsläufig zu „großen Fragen“ über Gott und das Wesen der Dinge, die man nicht beiseiteschieben kann.

Bei meiner Lektüre von Büchern über das Böse und das Leid merkte ich bald, dass die meisten Autoren das Thema mehr oder weniger aus nur einer Perspektive betrachteten. Viele Bücher waren aus philosophischer Perspektive geschrieben; sie behandelten das „Problem des Bösen“ und die Frage, ob dieses die Existenz Gottes wahrscheinlicher und den christlichen Glauben plausibler macht oder nicht. Andere gingen das Thema von der theologischen Warte an, mit einer systematischen Darstellung dessen, was die Bibel über Leid und Schmerz zu sagen hat. Viele Autoren wählten die Gattung des Andachtsbuches, mit Meditationen, die Leidenden in ihrer akuten Situation helfen sollten. Dazu kam eine kleinere Zahl von Artikeln und Büchern, die historisch-anthropologisch vorgingen und untersuchten, wie verschiedene Kulturen ihren Gliedern helfen, mit Nöten und Prüfungen umzugehen. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, dass all diese unterschiedlichen Perspektiven sich gegenseitig beleuchteten und dass jede Darstellung, die sich auf nur eine Perspektive beschränkte, viel zu viele Fragen unbeantwortet ließ.

Und so gliederte ich dieses Buch schließlich in drei Teile, die das Thema aus einer jeweils anderen Perspektive angehen. Was die drei Teile zusammenbindet, ist das zentrale Bild des Leidens als „Schmelzofen“. Das Bild kommt aus der Bibel und ist vielschichtig. Feuer ist zunächst einmal ein bekanntes Bild für Qual und Schmerzen. Die Bibel nennt Nöte und Prüfungen „durchs Feuer gehen“ (Jesaja 43,2, ELB) oder „das Feuer der Verfolgung“ (1. Petrus 4,12, ELB). Aber sie spricht auch vom „Feuer des Schmelzofens“ (1. Petrus 1,6–7, NGÜ). Statt von einem Schmelzofen könnten wir auch von einem Schmiedefeuer sprechen. Es ist extrem heiß und gefährlich, aber richtig benutzt, zerstört es den Gegenstand, den wir in es hineinlegen, nicht, sondern formt ihn, läutert und verfeinert ihn, ja macht ihn schöner. Dies ist eine bemerkenswerte Sicht vom Leiden: Im Glauben getragen, kann es uns am Ende nur besser und stärker machen, uns mehr Größe und Freude geben. Leid kann den Spieß des Bösen gleichsam umdrehen; es kann seine teuflischen Pläne vereiteln und aus Finsternis und Tod Licht und Leben kommen lassen.

Im ersten Teil dieses Buches werden wir uns den „Schmelzofen“ von außen anschauen. Wir werden das Phänomen des menschlichen Leidens untersuchen und wie verschiedene Kulturen, Religionen und Epochen der Geschichte versucht haben, den Menschen im Umgang mit dem Leid zu helfen. Wir werden uns auch das klassische philosophische „Problem des Bösen“ anschauen und wie man versuchen kann, es zu lösen. Dieser erste Teil wird zwangsläufig mehr referierend und „theoretisch“ sein. Er ist unerlässlich, wenn wir das ganze Bild sehen wollen, aber ein Leser, der gerade mitten in einer akuten Leidenssituation steckt, wird ihn möglicherweise zu „abstrakt“ finden.

Im zweiten Teil des Buches verlassen wir die mehr theoretischen Fragen und wenden uns dem zu, was die Bibel über das Leiden zu sagen hat. Wir beginnen damit eine Reise vom Philosophischen zum Persönlichen. Man könnte die Bibel fast mit einem Vater vergleichen, der seinem Kleinkind das Laufen beibringt, geduldig Schritt für Schritt. Die Bibel ruft uns auf, unverdrossen durch unsere Nöte hindurchzugehen. Dazu aber müssen wir ihre wunderbar ausgewogene und umfassende Leidenslehre verstehen, die sowohl zutiefst realistisch als auch erstaunlich hoffnungsvoll ist. Dies bewahrt uns vor den falschen Strategien des Weglaufens (also Vermeidung des Schmelzofens), des „Augen zu und durch“ (Verdrängung) und des passiven Alles-über-sich-ergehen-Lassens (Verzweifeln).

Im dritten Teil dieses Buches wird es am praktischsten. Die Bibel sieht das Bestehen im „Schmelzofen des Leidens“ nicht als eine Sache der richtigen Technik. Leid kann uns nur deshalb läutern und nicht kaputt machen, weil Gott mit uns durch das Feuer geht. Aber wie geht man in solchen Zeiten mit Gott? Wie richten wir uns auf ihn aus, sodass das Leiden uns läutert und nicht zerstört? Jedes Kapitel in diesem Teil kreist um eine Grundstrategie, wie man im Schmelzofen des Schmerzes Gottes Hand sucht. Die Kapitel sollten nicht als „Schritte“ gelesen werden, die in einer bestimmten Reihenfolge zu gehen sind, sondern vielmehr als verschiedene Aspekte oder Facetten eines einzigen Schrittes, der darin besteht, dem Gott nahe zu kommen, der gesagt hat: „Wenn du durchs Wasser gehst … wenn du durchs Feuer gehst … ich bin bei dir“ (vgl. Jes 43,2, ELB).

Falls Sie gerade mittendrin sind im Leiden, werden Sie vielleicht den zweiten und dritten Teil vor dem ersten lesen wollen. Sie finden dort eine solche Vielfalt von Möglichkeiten, mit Leid umzugehen, dass sie manchmal fast einander zu widersprechen scheinen. Diese Fülle ist eine der großen Stärken der Bibel als Buch für Leidende; die Bibel weiß darum, dass es viele Arten von Leid gibt, viele Ursachen und viele richtige Reaktionen. Um diese Vielfalt konkreter werden zu lassen, lasse ich viele Kapitel mit der Beispielgeschichte eines konkreten Menschen enden, der mit Gott durch ein Leid hindurchgegangen ist. Es sind Geschichten, die ebenso realistisch wie hilfreich sind. Die Bibel verspricht uns nirgends, dass es in diesem irdischen Leben ein „Happy End“ geben wird oder alle unsere Fragen beantwortet werden. Aber diese Beispiele zeigen, wie Menschen des Glaubens mit Gottes Hilfe durch verschiedene Schmelzöfen der Not hindurchgegangen sind, und wollen uns Mut machen, selbst in den dunkelsten Stunden Gottes Gegenwart zu erkennen. Vor allem in den dunkelsten Stunden.

In der vielleicht plastischsten biblischen Schilderung des Glutofens des Leidens, im 3. Kapitel des Buches Daniel, werden drei gläubige Männer buchstäblich in einen Ofen geworfen, um verbrannt zu werden. Doch da erscheint neben ihnen eine mysteriöse Gestalt. Die erstaunten Zuschauer sehen in dem Feuer nicht drei, sondern vier Männer, und der vierte sieht aus „wie ein Sohn der Götter“. Und so gehen die drei unversehrt durch die Flammen hindurch. Christen, die ihr Neues Testament kennen, wissen, dass dieser vierte Mann niemand anderes war als der Sohn Gottes, der Jahrhunderte später am Kreuz seinen eigenen, unendlich heißeren Glutofen des Leidens erleben würde. In Jesus Christus gewinnt der Gedanke, dass Gott mit uns durch das Feuer geht, eine ganz neue Dimension, denn in Jesus ist er in dem Feuer nicht nur an unserer Seite, sondern er erleidet mit uns den Schmerz der Flammen. Er ist wirklich der Immanuel, der „Gott mit uns“ in unserem Leid, der uns liebt und versteht.

Gott ist in unseren Schmelzofen hineingetreten, damit wir mitten im Feuer auf ihn sehen und wissen können, dass das Feuer uns nicht verbrennen, sondern schöner und größer machen wird. „Ich lass’ dich nicht fallen, ich bleibe dein Teil/ und wende dein Unglück in Segen und Heil.“10

TEIL I

Den Schmelzofen verstehen

Kapitel 1

Die Kulturen des Leidens

„Was soll das noch?“, fragte mein Vater, als er im Sterben lag.

Vorbereitung auf den Ernstfall

Manchmal zerstört Leiden so vieles, was dem Leben Sinn gibt, dass man schier nicht mehr kann. In den letzten Wochen seines Lebens musste mein Vater mit einer ganzen Palette schmerzhafter, tödlicher Krankheiten auf einmal kämpfen. Er hatte kongestive Herzinsuffizienz und gleich drei Krebsarten; dazu kamen noch eine Gallenkolik, ein Emphysem und akuten Ischias. Einmal sagte er zu einem Freund: „Was soll das noch?“ Er war zu krank, um die Dinge zu tun, die seinem Leben Sinn gaben. Wozu sich noch weiterquälen? Auf der Beerdigung meines Vaters erzählte jener Freund uns, wie er meinen Vater behutsam an einige Grundwahrheiten der Bibel erinnert hatte. Solange Gott ihn noch nicht abberufen hatte, gab es noch etwas, das er für seine Mitmenschen tun konnte. Jesus trug ein noch größeres Leiden geduldig für uns; da können wir geringere Leiden geduldig für ihn tragen. Und vor uns liegt der Himmel, wo alles gut sein wird. Diese wenigen, zutiefst mitfühlend gesprochenen Worte ließen in meinem Vater christliche Glaubenswahrheiten, die ihm seit vielen Jahren vertraut waren, wieder lebendig werden und gaben ihm neue Kraft für die letzte Wegstrecke seines irdischen Lebens.

Wir werden uns diese christlichen Glaubenswahrheiten später noch genauer ansehen. Hier nur so viel: Nichts ist wichtiger, als dass wir lernen, trotz Leid, Not und Schmerz ein sinnvolles Leben zu führen.

Zu den Schlüsselleistungen jeder Kultur gehört die Art, wie sieihren Gliedern hilft, mit den großen Angriffen des Bösen und des Leides umzugehen. Der Philosoph und Soziologe Max Scheler schrieb: „Ein Kernstück in den Lehren und Wegweisungen, welche die großen Religiösen und Philosophen den Menschen gaben, war überall und zu allen Zeiten eine Lehre vom Sinn des Schmerzes und des Leides im Ganzen der Welt, darauf gebaut aber eine Anweisung und Einladung, ihm richtig zu begegnen, das Leid richtig zu erleiden ‚oder es aufzuheben‘.“11 Soziologen und Anthropologen haben die verschiedenen Arten, wie Kulturen ihre Glieder auf Schmerz, Leid und Verlust vorbereiten, analysiert und verglichen, und ein Ergebnis dieses Vergleichs lautet oft, dass unsere heutige westliche Kultur hier im historischen Vergleich mit das schwächste Bild abgibt.

Alle Menschen sind getrieben von einer „innere(n) Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können.“12 Dies gilt auch für das Leid. Der Anthropologe Richard Shweder schreibt: „Die Menschen wollen offenbar durch ihr Elend erbaut werden.“13 Und der Soziologe Peter Berger sieht eine alte Funktion jeder Kultur in einer „Erklärung menschlicher Ereignisse, die der Erfahrung von Leid und Bösem einen Sinn verleiht.“14 Berger sagt hier, wohlgemerkt, nicht, dass das Leid als etwas in sich Gutes oder Sinnvolles dargestellt wird (dies ist verschiedentlich versucht worden, doch Kritiker haben diese Versuche zu Recht als eine Art philosophischen Masochismus bezeichnet), sondern es geht darum, zu zeigen, dass das Erfahren von Leid nicht vergeudete Zeit sein muss, sondern eine schmerzliche, aber sinnvolle Art sein kann, das Leben gut zu leben.

Dieser tiefe „innere Drang“ bedeutet, dass jede Kultur ihren Gliedern bei der Bewältigung von Leid helfen muss, will sie nicht unglaubwürdig werden. Wo das Leid überhaupt nicht erklärt und mithin als vollkommen sinnlos und gleichzeitig unausweichlich betrachtet wird, kann es bei seinen Opfern zu einem tiefen, bohrenden Hass kommen, den Friedrich Nietzsche, Max Weber und andere als Ressentiment bezeichnet haben15 und der die Gesellschaft ernsthaft destabilisieren kann. Und so muss, in der Sprache der Soziologen, jede Gesellschaft ihren Gliedern einen „Diskurs“ anbieten, der es ihnen ermöglicht, dem Leid einen Sinn abzugewinnen. Mit diesem Diskurs, zu dem eine Erklärung der Ursachen des Schmerzes sowie Anweisungen zum rechten Umgang mit ihm gehören, rüstet die Gesellschaft ihre Glieder für den Kampf des Lebens in dieser Welt zu.

Nicht jede Gesellschaft bewältigt diese Aufgabe gleich gut. Unsere heutige westliche Kultur gibt ihren Gliedern keine Erklärung für das Leid und sehr wenig Hilfen, wie man am besten mit ihm umgeht. Elf Tage nach dem Amoklauf in Newtown im Dezember 2012 überschrieb Maureen Dowd ihre Kolumne in der New York Times vom 25. Dezember „Gott, warum?“ und druckte die Reaktion eines katholischen Priesters auf das Massaker ab.16

Fast sofort gab es Hunderte Reaktionen auf die Kolumne. Die meisten Einsender lehnten die dort vertretene Position ab, wobei jedoch ihre eigenen Positionen völlig unterschiedlich waren. Einige vertraten die Idee des Karmas, nach der wir mit unserem gegenwärtigen Leiden Sünden aus der Vergangenheit abzahlen. Andere schrieben (eine buddhistische Idee), dass diese materielle Welt nur eine Illusion sei. Wieder andere akzeptierten die traditionelle christliche Sicht, dass wir im Himmel unsere Lieben wiedersehen und für unser Leid auf der Erde getröstet werden. Einige erwähnten, dass Leid uns stärker macht – eine unbewusste Anknüpfung an die Stoiker und andere Denker der griechisch-römischen Antike. Wieder andere schrieben, dass diese Welt alles sei, was wir haben, und daher jeder „religiöse“ Trost nur eine Torpedierung der einzig richtigen Reaktion auf Leid sei – dass man nämlich etwas tut, um seine Ursachen zu bekämpfen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Die Leserreaktionen auf diese Kolumne zeigten, dass unsere eigene Kultur ihren Gliedern fast keine Hilfen für den Umgang mit Lebenskatastrophen an die Hand gibt. Die Einsender mussten sich bei zahlreichen anderen Kulturen und Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, griechisch-römische Antike, Christentum) bedienen, um mit dem Amoklauf fertigzuwerden. Jeder war letztlich auf sich selber gestellt.

Tatsache ist, dass die heutigen Europäer und Nordamerikaner dem Leid schockierter und hilfloser gegenüberstehen als ihre Vorfahren. Im Mittelalter starb in Europa etwa jedes fünfte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag, und nur die Hälfte der Kinder wurde zehn Jahre alt.17 Die durchschnittliche Familie musste die Hälfte ihrer Kinder begraben, wenn sie noch klein waren, und die Kinder starben selbstverständlich zu Hause, vor den Augen und Herzen ihrer Eltern und Geschwister. Das Leben unserer Vorfahren war viel leidvoller als heute, aber unzählige Tagebücher, Briefe und andere Dokumente zeigen uns, dass sie dieses Leid viel besser bewältigten als wir heute unseres. Ein Experte für die frühe nordeuropäische Geschichte erwähnt, dass der moderne Leser fassungslos davorsteht, wie wenig Angst die Menschen vor 1500 Jahren vor Gewalt, Leid und Tod hatten.18 Ein anderer Autor merkt an, dass uns die Grausamkeit unserer Vorfahren schockiert, aber dass diese genauso von unserer „Weichlichkeit, Weltlichkeit und Ängstlichkeit“ schockiert gewesen wären.19

Und wir stehen hier nicht nur schlechter da als vergangene Generationen, sondern auch als viele Menschen in anderen Ländern unserer heutigen Welt. Dr. Paul Brand, ein Pionier in der Behandlung der Lepra, verbrachte den ersten Teil seiner medizinischen Karriere in Indien und den zweiten in den USA. Er schreibt: „In den USA ... traf ich auf eine Gesellschaft, die Leiden um jeden Preis vermeiden will. Die Patienten dort hatten mehr Annehmlichkeiten als alle, die ich bisher behandelt hatte, aber sie standen dem Leiden viel hilfloser und traumatisierter gegenüber.“20 Wie das?

Die Antwort lautet in aller Kürze, dass andere Kulturen ihren Gliedern diverse Antworten auf die Frage, was der Sinn des menschlichen Lebens sei, gegeben haben. Einige Kulturen sagen, dass dieser Sinn darin besteht, ein gutes Leben zu führen und so irgendwann aus dem Kreislauf von Karma und Reinkarnation erlöst zu werden. Andere sagen, dass der Sinn darin besteht, erleuchtet zu werden und durch Erkenntnis der Einheit aller Dinge zur Ruhe zu kommen. Oder ein Leben der Tugend und Ehre zu führen. Oder in den Himmel zu kommen, um dort für immer mit seinen Lieben und mit Gott vereint zu sein. So verschieden diese Vorstellungen sind, eines haben sie gemeinsam: Leid kann, so schmerzlich es ist, ein wichtiger Weg zum Erreichen des Sinnes in meinem Leben sein. Es kann ein Segel sein, das mein Lebensschiff schneller zu dem großen Hafen bringt. Man könnte es auch so ausdrücken: In den großen „Sinnerzählungen“ dieser Kulturen ist das Leid eines der zentralen Kapitel.

Die moderne westliche Kultur ist da ganz anders. Für den Säkularismus ist die materielle Welt alles, was es gibt, und folglich besteht der Sinn des Lebens darin, sich das Leben wählen zu können, das einen am glücklichsten macht. Für Leid ist hier kein Platz; es ist eine lästige Störung meiner Lebensgeschichte, aber niemals ein sinnvolles Kapitel. Folglich muss ich es um fast jeden Preis vermeiden oder zumindest minimieren. In der Praxis bedeutet dies, dass der säkulare Zeitgenosse, der vor einem Leiden steht, das er nicht vermeiden oder minimieren kann, Anleihen beim Karma, beim Buddhismus, bei den Stoikern oder beim Christentum machen muss, obwohl er an diese Religionen eigentlich gar nicht glaubt.

Dieser relativen Schwäche des modernen Säkularismus im Vergleich zu anderen Religionen und Kulturen wollen wir uns in den ersten Kapiteln dieses Buches näher zuwenden.

Leid als Schule

Richard Shweder gibt einen guten Überblick darüber, wie die heutigen nicht westlichen Kulturen ihren Gliedern helfen, „durch ihr Elend erbaut zu werden“. Traditionelle Kulturen sehen die Ursachen von Leid durch eine stark von Religion, Gemeinwesen und Moral gefärbte Brille. Es gibt folgende vier typische Strategien für den Umgang mit dem Leid und dem Bösen in diesen Kulturen:

Da ist zunächst die von einigen Anthropologen sogenannte moralistische Sicht (wobei sie dies nicht abwertend meinen). In manchen Kulturen sind Schmerz und Leid die Folge davon, dass jemand nicht richtig gelebt hat. Es gibt zahlreiche Versionen dieser Sicht. Viele Gesellschaften glauben, dass einem dann, wenn man die Sittengesetze und Gott bzw. die Götter ehrt, das Leben gelingt. Probleme im Leben sind ein Alarmsignal, dass man Buße tun und sich ändern muss. Die vielleicht reinste Form der moralistischen Sicht ist die Karma-Lehre: Jede Seele wird wieder und wieder reinkarniert, wobei sie in jedes neue Leben die Taten aus ihrer Vergangenheit und deren latente Folgen (darunter Leid) mitnimmt. Wenn ich heute leiden muss, ist das wahrscheinlich die Strafe für Sünden aus meinen vergangenen Inkarnationen. Und wenn ich mein heutiges Leben mit Anstand, Mut und Liebe lebe, dann wird es mir in meinen künftigen Inkarnationen besser gehen. Kurz: Alles muss bezahlt werden, daraus gibt es kein Entrinnen. Meine Seele wird erst dann in die göttliche Seligkeit der Ewigkeit entlassen, wenn ich meine sämtlichen Sünden abgebüßt habe.

Es gibt zweitens die sogenannte ich-transzendierende Sicht.21 Der Buddhismus lehrt, dass Leid nicht aus unseren vergangenen Taten, sondern aus unerfülltem Begehren entspringt, und dieses Begehren kommt aus der Illusion, dass wir separat existierende Individuen seien. Wie die griechischen Stoiker sah Buddha die Lösung des Problems des Leides im Erlöschen des Begehrens durch eine Veränderung unseres Bewusstseins. Wir müssen unser Herz von allem lösen, was materiell und vergänglich ist, von Dingen ebenso wie von Personen. Das Ziel des Buddhismus besteht in „jener Begehren, Individuum und Leid auflösenden und erlöschenden Meeresstille des Gemütes“.22 Andere Kulturen erreichen diese Ich-Transzendierung dadurch, dass sie kollektiv geprägt sind auf eine Art, die dem heutigen westlichen Menschen nahezu unbegreiflich ist. In solchen Gesellschaften gibt es Identität und Wohlergehen nur im Rahmen der Förderung des Wohles von Sippe und Stamm. Diese Weltsicht mildert das Leid, weil dieses das eigentliche „Ich“ ja gar nicht betrifft. Man lebt in seinen Kindern und in seinem Volk.23

Manche Gesellschaften versuchen Leid über Schicksal und Vorherbestimmung zu erklären. Unser Leben wird von den Sternen oder von übernatürlichen Kräften, vom Schicksal der Götter oder (im Islam) durch den unerforschlichen Willen Allahs bestimmt, und wer weise ist, schließt seinen Frieden mit dieser Realität. Die alten heidnischen Kulturen Nordeuropas glaubten, dass am Ende der Zeit die Götter und Helden in der Schlacht von Ragnarok allesamt von den Riesen und Monstern getötet werden würden. In diesen Gesellschaften war es die höchste Tugend, einen aussichtslosen Kampf tapfer zu Ende zu führen; das war die größte Ehre, die jemand erlangen konnte, und durch die er in Liedern und Legenden fortlebte. Die größten Helden dieser Kulturen waren stark und schön, aber traurig, weil der Untergang auf sie wartete. Ähnlich ist im Islam die Unterwerfung unter den unergründlichen Willen Allahs einer der Grundpfeiler eines richtigen Lebens. In all diesen Kulturen ist das kompromiss- und klaglose Akzeptieren eines Schicksals oder göttlichen Ratschlusses die höchste Tugend und somit eine Möglichkeit, dem Leid einen hohen Sinn abzugewinnen.24

Und schließlich gibt es die Kulturen mit einer „dualistischen“ Weltsicht. Diese Religionen und Gesellschaften sehen die Welt nicht als völlig von einem Gott oder dem Schicksal beherrscht, sondern als Schlachtfeld zwischen den Kräften des Lichtes und der Finsternis. Die Ursache von Ungerechtigkeit, Sünde und Schmerz sind böse, satanische Mächte und die Leidenden sind Opfer dieses Krieges. Max Weber hat es so beschrieben: „Der Gang der Welt ist voll von unvermeidlichem Leiden, aber letztlich eine fortschreitende Reinigung des Lichtes von der Verunreinigung durch die Finsternis“, und er fügt hinzu, dass diese Idee zu einer „sehr starken ... emotionalen Dynamik führt“.25 Die Leidenden, die die Opfer dieses Kampfes zwischen Gut und Böse sind, dürfen hoffen, weil am Ende das Gute siegen wird. Gewisse radikalere Varianten des Dualismus, wie der persische Zoroastrismus, glauben, dass am Ende der Zeit ein Erlöser kommen und die Welt neu machen wird, aber auch weniger radikale Varianten, wie manche marxistischen Theorien, sehen den Sieg des Guten über das Böse voraus.

Auf den ersten Blick scheinen diese vier Positionen miteinander unvereinbar zu sein. Die ich-transzendenten Kulturen fordern den Leidenden auf, anders zu denken, die moralistischen, anders zu leben; in den fatalistischen soll er sich tapfer seinem Schicksal stellen, in den dualistischen auf die Zukunft hoffen. Aber sie haben auch vieles gemeinsam. Erstens sehen sie alle Leid nicht als etwas Überraschendes, sondern als notwendigen Teil der menschlichen Existenz. Zweitens sagen sie dem Leidenden, dass das Leid ihm zum Erreichen seines großen Lebensziels helfen kann, ob dieses nun inneres Wachsen, Selbstbeherrschung, Ehre oder der Einsatz für die Kräfte des Guten ist. Und drittens muss in all diesen Kulturen der Leidende selber aktiv werden; dass er in die rechte Beziehung zur spirituellen Realität kommt, ist seine Aufgabe.

Die ich-transzendierende Kultur lässt den Leidenden sagen: „Ich muss sterben, aber meine Kinder und Kindeskinder werden weiterleben.“26 Buddhistische Kulturen lassen ihn sagen: „Ich muss sterben, aber der Tod ist nur eine Illusion, und ich werde anschließend genauso ein Teil des Universums sein wie jetzt.“ Der karmische Leidende kann sagen: „Ich muss leiden und sterben, aber wenn ich dies gut und edel tue, werde ich in der Zukunft ein besseres Leben bekommen und irgendwann ganz frei werden vom Leiden.“ Doch in jedem Fall ist Leid sowohl Aufgabe als auch Gelegenheit. Es gilt, nicht vergeblich zu leiden. All diese Denkweisen nehmen das Leiden sehr ernst, sehen es aber letztlich als Weg zu einem höheren Gut. Wie in Shakespeares Wie es euch gefällt Rosalindes Vater, Herzog Senior, sagt:

Süß ist der Nutzen aus der Widrigkeit,

die wie die Kröte, hässlich und giftig,

doch einen wertvollen Juwel im Kopfe trägt.27

Diese traditionellen Kulturen gehen davon aus, dass Leid im Leben unvermeidlich ist, und den rechten Umgang mit dem Leid sehen sie vor allem als eine Sache der inneren Einstellung und des An-sich-Arbeitens. Sie rufen zu Sündenbekenntnis und Reinigung auf, zu innerem Wachstum und Stärkung, zu Wahrhaftigkeit und zum Aufbau der richtigen Beziehung zu sich selber, den Mitmenschen und der Gottheit. Leid ist eine Herausforderung, die, richtig bewältigt, das irdische Leben besser, weiser, größer, ja schöner machen und einen auf den ewigen Trost im Jenseits vorbereiten kann. Der Leidende wird auf eine bessere Zukunft hier auf Erden verwiesen, auf die ewige, selige Vereinigung mit der Gottheit, auf innere Erleuchtung und ewigen Frieden oder auf die Zuwendung Gottes und die Wiedervereinigung mit seinen Lieben im Paradies.

Hier eine tabellarische Zusammenfassung dieser vier traditionellen Einstellungen zum Leid:

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Leid als Unfall

Nachdem er diese anderen, traditionellen Kulturen dargestellt hat, stellt Shweder fest, dass unsere heutige westliche Gesellschaft eine völlig andere Einstellung zum Leid hat. Die westliche Wissenschaft hat ein „naturalistisches“ Weltbild. Während für andere Kulturen die Welt aus Materie und Geist besteht, sieht das westliche Denken nur materielle Kräfte in ihr am Werk, die jenseits von allem wirken, was mit „Sinn“ zu tun haben könnte. In dieser Welt ist Leid nicht die Folge von Sünde, einem kosmischen Kampf oder irgendwelchen Schicksalsmächten, sondern einfach ein Unfall oder Zufall. Shweder: „[In dieser Welt] ist Leiden zwar real, aber es liegt außerhalb des Bereiches von Gut und Böse.“28 Mit seltener Deutlichkeit formuliert Richard Dawkins die säkulare Sicht vom Bösen und vom Leid in seinem Buch Und es entsprang ein Fluss in Eden:

Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. … In einem Universum mit blinden physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit.29

Dies ist ein totaler Bruch mit allen bisherigen Kulturen des Leidens. Diese sehen samt und sonders das Böse als etwas, das einen Sinn hat, sei es als Strafe, als Prüfung oder als Chance. Warum kämpfen die Menschen angesichts des Leidens so sehr? Für Dawkins gibt es einen ganz einfachen Grund: Sie wollen nicht akzeptieren, dass das Leid nie einen Sinn hat. Es ist sinnlos, weder gut noch böse – weil solche Kategorien wie „gut“ und „böse“ in dem Universum, in dem wir leben, sinnlos sind. Dawkins: „Wir Menschen sind zweckorientiert. Es fällt uns schwer, irgendetwas zu betrachten und nicht zu fragen, ,wozu‘ es vorhanden ist … die alte Versuchung kehrt mit Macht zurück, wenn das Unglück zuschlägt …: ‚Warum, ach warum nur musste der Krebs/das Erdbeben/der Orkan ausgerechnet mein Kind treffen?‘“ Zu solchen Fragen kommt es – so Dawkins –, weil wir uns nicht eingestehen können, „dass etwas weder gut noch böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur gefühllos ist – gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne jeden Sinn.“30 Und er zitiert den Dichter A. E. Housman: „Die geist- und herzlose Natur wird weder wissen noch sich sorgen“ und schließt: „Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.“31

Kurz: Leid bedeutet – nichts. Es ist ein böser Schluckauf. Dawkins beharrt darauf, dass das Leben nicht dadurch, dass es keinen Gott gibt, „leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungslosigkeit wird“, und erklärt jeden Versuch, angesichts des Leidens so etwas wie Sinn oder Bedeutung zu finden, für infantil.32

Shweder hält dergleichen Argumentationen für falsch und unrealistisch. Er schreibt: „Der Wunsch, Leiden einen Sinn zu geben, ist eine der Eigenschaften, die unserer Spezies am meisten Würde geben.33 Was uns von Tieren unterscheidet, ist unter anderem, dass wir auf Leid nicht einfach mit Geschrei und Flucht reagieren, sondern einen Sinn in ihm suchen und es so transzendieren. Wir sehen uns nicht als hilflose Zahnräder in einer grausamen Maschine. Und dies gibt uns nicht nur Würde, sondern es gehört unauslöschlich zu unserem Menschsein dazu. Für Peter Berger und seine Kollegen auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften verlangt Dawkins das Unmögliche. Ohne Sinn sterben wir.

Natürlich – Dawkins fährt fort und sagt: „Die wirklich erwachsene Einstellung dagegen lautet: Unser Leben ist so sinnvoll, so ausgefüllt und großartig, wie wir selbst es gestalten.“34 Mit anderen Worten: Ich muss mir meinen eigenen Sinn schaffen. Ich entscheide, welches Leben ich am wertvollsten und lebenswertesten finde, und versuche dann, mir dieses Leben zu schaffen.35

Aber jeder solcher selbst gemachte Sinn kann nur innerhalb der Grenzen dieser materiellen Welt und dieses physischen Lebens liegen, und genau hier unterscheidet sich diese Sicht der Realität und des Leidens so diametral von allen anderen bisherigen. Wenn ich die Grundannahme des Säkularismus, dass wir es mit einem rein materiellen Universum zu tun haben, akzeptiere, dann muss das, was meinem Leben Sinn gibt, etwas Materielles, in dieser Welt zu Findendes sein – irgendeine Annehmlichkeit, Vergnügen oder Sicherheit. Doch Leid blockiert das Erreichen solcher Lebensgüter; es bedeutet ihre Zerstörung oder zumindest ernste Bedrohung. Wie Paul Brand im letzten Kapitel seines Buches The Gift of Pain [„Die Gabe des Schmerzes“] darlegt: Leid ist für die Amerikaner deswegen etwas so Schreckliches, weil für sie der Sinn des Lebens darin besteht, glücklich zu sein und ihre Freiheit auszuleben.

In allen anderen Kulturen ist der höchste Sinn des Lebens etwas anderes als persönliches Glück und Wohlergehen. Er heißt Tugend, Erleuchtung, Ehre oder Treue zur Wahrheit. Ein sinnvolles Leben führt, wer ein ehrenhafter Mensch ist oder jemand, zu dem seine Kinder und Nachbarn aufschauen können, oder der sich für eine große Sache einsetzt oder den Himmel oder der die Erleuchtung sucht. In all diesen Kulturen ist Leid etwas, das dazu hilft, die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. All diese „Lebenssinne“ erreicht man nicht trotz des Leidens, sondern gerade durch Leiden. In all diesen Weltanschauungen haben das Leid und das Böse nicht das letzte Wort. Wenn ich ihm mit Geduld, Weisheit und Heldenmut begegne, kann das Leid die Reise zu dem ersehnten Ziel geradezu beschleunigen. Es kann ein wichtiges Kapitel in meiner Lebensgeschichte werden, etwas, das mir entscheidend zur Verwirklichung meiner höchsten Wünsche hilft. Für den überzeugten Säkularisten dagegen kann Leid niemals ein gutes Kapitel in seiner Lebensgeschichte sein, sondern nur eine lästige Unterbrechung. Es bringt ihn nicht nach Hause, sondern nimmt ihm das weg, was er im Leben am meisten will. Kurz: In der säkularen Weltsicht ist das Leid immer der Sieger.

Shweder drückt es so aus: Beim Thema „Leid“ ist die „herrschende Metapher in der heutigen säkularen [Weltsicht] die des zufälligen Missgeschicks. Der Leidende ist das Opfer von Angriffen durch blinde, absichtslose Naturkräfte.“ Was bedeutet, dass „Leid … vom Erzählstrang unserer Lebensgeschichte abgekoppelt ist. [Es ist] eine Art ‚atmosphärisches Rauschen‘, eine zufällige Störung des Lebensdramas des Leidenden. … Leiden hat keinen erkennbaren Bezug zu irgendeinem Handlungsgerüst, außer als chaotische Unterbrechung.“36 Ältere Kulturen (und heutige nicht westliche Kulturen) sehen Leid als normalen Bestandteil einer Lebensgeschichte, als entscheidenden Bestandteil eines guten Lebens, durch den wir persönlich und seelisch wachsen. Aber in unserer heutigen westlichen Gesellschaft ist der Sinn des Lebens die persönliche Freiheit. Es gibt in ihr kein höheres Gut als das Recht und die Freiheit, selber darüber zu bestimmen, was für mich gut ist. Die kulturellen Institutionen sollen neutral und „wertfrei“ sein; sie sollen den Menschen nicht vorschreiben, für was sie leben sollen, sondern dafür sorgen, dass jeder die Freiheit hat, so zu leben, wie er es am besten findet. Wenn aber der Sinn des Lebens persönliche Freiheit und Glück ist, dann hat Leid keinen „Nutzen“. In dieser Weltsicht kann man mit Leid nur eines machen: ihm um jeden Preis ausweichen oder, wo dies nicht möglich ist, den Schmerz und das allgemeine Missgefühl so stark wie möglich dämpfen.

Opfer unseres Leides

Diese Sicht impliziert unter anderem, dass die Verantwortung für die Reaktion auf das Leiden nicht mehr beim Leidenden selbst liegt. Shweder schreibt, dass Leid als zufälliges Missgeschick „durch die Intervention von … Experten angegangen werden muss, die über bestimmte Fertigkeiten zur Behandlung des Problems verfügen.“37