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Wolfram Fleischhauer

Die Verschwörung der Engel

Die Legenden von Phantásien

Roman

hockebooks

Epilog

Alle waren gekommen. Pegario und die Sternputzer standen Spalier, während Taublume, Goldling, Windjunge und Schneeia den Wagen mit Elfenauges sterblichen Überresten durch die Ruinen von Garsiran zogen. Niemand sprach ein Wort. Nadil führte den Trauerzug an. Jiinn-Garagor und zwei seiner Offiziere gingen neben dem Wagen her. Saru, Piri, Masía und Beliar folgten schweigend in einigem Abstand. Es war nur einer von zahllosen Trauerzügen, denn die Schlacht um Mangarath hatte trotz der Hilfe der Engel sehr viele Opfer gefordert. Aber für Nadil war es der traurigste. Er fühlte sich schuldig an Elfenauges Tod und hätte einiges gegeben, um die Zeit zurückdrehen zu können. Sein Herz war schwer. Auch dass all seine Freunde mit nach Garsiran gekommen waren, konnte ihn nicht so recht trösten.

Der Zug erreichte den ehemaligen Hauptplatz der Nachtalbenstadt. Es war nicht mehr viel davon vorhanden. Verkohlte, eingestürzte Mauern ragten in den grauen Himmel. Dürre Kraulkrähen flogen dazwischen herum und ließen, unbeeindruckt von der feierlichen Versammlung, ihr heiseres Krächzen ertönen. Die prächtig geschmückte Bahre, auf der Elfenauge seine letzte Reise heim zu den Blaumohnwiesen von Nevisehr machen würde, stand bereits dort. Sechs Schmetterlinge der Jägergarde umstanden das aus Blaumohnblumen geflochtene Gefährt. Ihre hochgestellten Schwingen ragten pfeilgerade in den Himmel. Elfenauge wurde auf die mit Seerosenblättern gepolsterte Bahre gebettet. Nadil schluckte. Jetzt war es gleich vorbei. Die Jäger würden langsam aufsteigen und Elfenauge nach Hause bringen. Ach, er war untröstlich.

Pegario sprach einige Worte des Dankes für den toten Schmetterling, erinnerte noch einmal an seine Tapferkeit und versicherte, dass sein Schicksal in Mangarath und in ganz Phantásien unvergessen bleiben würde. Dann flog er zu Elfenauges Ehre persönlich über ihn hinweg und schüttete eine Handvoll des kostbarsten phantásischen Sternstaubs über ihm aus: Abendsternstaub. Die Bahre begann zu schweben. Die Jäger erhoben sich feierlich und stiegen langsam in die Lüfte hinauf. Dann lenkten sie ihre Fracht nach Osten und flogen ohne weiteren Aufschub in Richtung Nevisehr davon. Für kurze Zeit konnte man sie noch erkennen. Dann verschmolzen sie mit dem grauen Himmel. Zwei Seerosenblätter tanzten noch eine Weile über Garsiran durch die Luft. Taumelnd sanken sie zu Boden und verschwanden irgendwo in der Trümmerlandschaft.

Nadil starrte vor sich auf den Boden. Dann spürte er, dass jemand neben ihn getreten war. Er schaute auf. Es waren Saru und Beliar. Der alte Schmetterlinger legte eine Hand tröstend auf die Schulter seines Enkels. Beliar hingegen lächelte ihn einfach an und sagte: »Komm, Nadil. Wir haben uns etwas ausgedacht, um diesen Tag, der so traurig angefangen hat, etwas freudiger zu beenden.«

Der Trauerzug begann sich aufzulösen. Die Stierwächter marschierten bereits in Richtung Mangarath davon. Pegario und seine Sternputzer machten sich für den Abflug bereit. Sogar die Schmetterlinge erhoben sich jetzt eiligst in die Lüfte. Doch eine kleine Gruppe löste sich aus der Schar und segelte auf sie zu. Es waren Masía, Toralon und Piri, die auf Goldling, Windjunge und Taublume herankamen. Schneeia flog etwas abseits.

Hinter ihr erblickte Nadil einen unbemalten Riesenschmetterling, den er nicht kannte. Es war, der Form seiner Flügel nach zu schließen, ein Jäger. Jetzt überholte er Schneeia, kam direkt auf Nadil zu und landete zwischen ihm und Beliar. »Die Schmetterlinge möchten dir danken, Nadil«, sagte er und verbeugte sich. »Deshalb sollst du von allen der einzige Schmetterlinger sein, der seinen eigenen Schmetterling haben wird. Niemand anders wird mich fliegen als du, und ich werde immer nur für dich da sein, dein ganzes Leben lang.«

Nadil schaute ergriffen in die Runde. Dann musterte er den Schmetterling. Er war sehr jung, aber jeder erkannte auf den ersten Blick, dass er ein großartiger Flieger und Jäger werden würde. Er war noch ganz weiß, völlig unbemalt. Und als hätte Beliar seine Gedanken geahnt, sagte sie jetzt:

»Auch die Sternputzer haben ein Geschenk für dich. In Nevisehr wartet eine Ladung des kostbarsten Staubs auf dich: Abendsternstaub, Morgensternstaub, Staub von den seltensten Gestirnen, die jemals über Phantásien geleuchtet haben.«

Nadil wusste überhaupt nicht, wohin er noch schauen sollte. War das nicht ein bisschen zu viel der Ehre? »Aber ihr habt doch alle mitgeholfen«, rief er unsicher. »Saru, dir müssen wir doch vor allem danken.«

Saru schüttelte den Kopf. »Nein, Nadil. Nur einer von uns hat den Mut aufgebracht, in die Leere zu springen. Dir gebührt der größte Dank.«

Nadil betrachtete den Schmetterling. »Wie heißt du?«, fragte er dann.

»Kannst du dir das nicht denken?«, entgegnete der Schmetterling und lächelte geheimnisvoll.

Nadil überlegte. Ach, nur ein Name kam ihm in den Sinn. Der Name des unglücklichen Freundes, an dessen Tod er sich so schuldig fühlte. Doch der Schmetterling vor ihm war so ganz anders. Er konnte Elfenauge nicht ersetzen. Und er sollte das auch nicht. Nein, Elfenauge würde nicht vergessen, seine Geschichte würde immer wieder erzählt werden. Doch was war mit dieser anderen Geschichte, die jetzt auch zu Ende war? Und plötzlich wusste er die Antwort. Er trat vor ihn, betrachtete bewundernd seine Flügel, streichelte ihm freundschaftlich den Nacken und schwang sich dann mit einem Satz auf seinen Rücken. »Du heißt Ruhewinzer, nicht wahr?«, rief er.

Die anderen klatschten in die Hände. Der Schmetterling richtete sich stolz auf und schaute zufrieden um sich.

»Dann lasst uns aufbrechen«, rief Beliar.

»Ja, fliegen wir endlich los«, unterstützte sie Piri.

»Aber wohin denn?«, wollte Nadil wissen.

Doch er bekam keine Antwort. Masía, Piri, Toralon und Beliar flogen schon davon.

»Folge ihnen nur«, sagte Saru. »Wir sehen uns bald wieder. Ich muss nun auch los.«

»Aber kommst du nicht mit uns?«, fragte Nadil bekümmert.

»Nein, mein Junge. Ich muss zur Kindlichen Kaiserin gehen und ihr alles erzählen, was sich hier ereignet hat. Außerdem kennst du mich doch, ich bin zu unruhig, um immer in Nevisehr herumzusitzen.«

»Aber … aber was geschieht denn jetzt mit Mangarath und Silandor?«, fragte Nadil.

»Das sind jetzt nur noch Geschichten, Nadil. Wir werden sie aufzeichnen, damit sie nicht vergessen werden. Aber die Ruhewinzer sind dort nicht mehr. Silandor ist nur noch eine leere Höhle.«

»Und das Silandril? Wo ist das Silandril hingekommen?«

Saru hob die Augenbrauen und schüttelte leicht den Kopf. »Das wüsste ich auch gern, aber ich bin sicher, dass Aratron diesmal einen Ort gewählt hat, den nicht einmal die Engel kennen. Ich hoffe es jedenfalls. Auf bald, mein Junge.« Damit marschierte er davon, drehte sich noch einmal kurz um, winkte und verschwand.

Nadil schaute in den Himmel. Seine Freunde waren schon fast außer Sichtweite. »Auf geht’s, Ruhewinzer«, rief er. »In die Lüfte mit uns.«

Bald darauf hatte er sie eingeholt. Als Beliar ihn kommen sah, blieb sie etwas zurück und wartete, bis er ganz zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Wohin fliegen wir denn?«, fragte er.

»Dorthin!«, antwortete Beliar und lächelte ihn auf eine Art und Weise an, dass er fast von seinem Schmetterling heruntergefallen wäre. Ihr schönes Haar war zwar im Lärmkrater verbrannt und im Augenblick trug sie einen Turban, bis es wieder nachgewachsen wäre. Aber selbst damit sah sie einfach umwerfend aus. Dorthin?, dachte er dann. Aber das war doch die falsche Richtung.

»Das geht nicht!«, warnte er sie. »Man kann nicht nach Balang-Gir gelangen. Es ist unerreichbar.«

»Nicht mehr«, erwiderte sie. »Es gehört jetzt zu Phantásien. Aratron hat uns ein neues Land geschenkt. Du wirst schon sehen.«

»Aber … was für ein Land?«

»Saru sagt, es sei zwar nicht so vollkommen wie das Land der Leere, aber auch so unvorstellbar, dass man es nicht beschreiben kann. Man muss hineingehen, um es erfahren zu können.«

Nadil starrte verwirrt auf die Gebirgskette am Horizont. Ein neuer Teil Phantásiens? Und das Land der Leere, wo war es denn hingekommen? Aber dann fiel ihm ein, was Saru gesagt hatte. Natürlich. Aratron hatte für Silandor und die Ruhewinzer sicherlich einen anderen Ort geschaffen, irgendwo in Phantásien. Balang-Gir jedenfalls war nicht mehr die Grenze zur Leere. Und tatsächlich, das Gebirge der Unerreichbarkeit kam jetzt rasch näher. Sie flogen darauf zu wie auf eine ganz normale Bergkette. Doch was schimmerte dahinter? Nadils Augen wurden größer. Das war ja wundervoll. So etwas Schönes hatte er ja noch nie gesehen. Aber was war das denn nur?

»Beliar«, flüsterte er, »das ist ja … schöner als alles, was ich mir vorstellen kann. Schau doch nur, wie …«

Sie nickte erfreut. Da geschah plötzlich etwas Eigenartiges. Toralon, Piri und Masía machten kehrt. Sie winkten, schauten kurz zu ihnen herüber und flogen davon. Nadil begriff gar nichts. Er schaute verunsichert zu Beliar hinüber.

Doch Beliar schien gar nicht verwundert zu sein. »Sie können nicht weiter«, sagte sie schelmisch. »Dieses neue Land hat nämlich eine merkwürdige Eigenschaft.« Sie lenkte Schneeia näher zu Ruhewinzer, streckte den Arm aus und hielt Nadil die Hand hin. »In dieses Land kommt man nur zu zweit hinein, Nadil. Aber keiner weiß, mit wem es funktioniert. Ich will es mit dir versuchen. Kommst du mit?«

Nadil wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Er nahm ihre Hand. Er wollte etwas sagen, aber die Berührung verschlug ihm die Sprache. Schweigend flogen sie auf dieses neue Land zu, das hinter Balang-Gir entstanden war. Und mit jedem Flügelschlag wurde Nadil glücklicher.

»Beliar«, fragte er schließlich, kurz bevor sie Balang-Gir überquert hatten. »Wie heißt es denn, dieses Land?«

»Es hat zugleich viele und keinen Namen«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Es heißt nämlich immer so wie die Person, mit der man es geschafft hat, dieses Land zu finden.« Und kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da waren sie auch schon darin angekommen. Es war wirklich das wundervollste Land, das man sich vorstellen konnte. Und Nadil würde sich sein ganzes Leben an den Tag erinnern, als Beliar es ihm hatte zeigen wollen.

Doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Die weiteren Titel der Reihe »Die Legenden von Phantásien«

»… aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Fünf deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes Die unendliche Geschichte angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe Die Legenden von Phantásien spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund und Peter Dempf erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.

 

Ralf Isau:

Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz

978-3-95751-081-5

Karl Konrad Koreander, der Antiquar aus der unendlichen Geschichte, ist auch in jungen Jahren kein Held, der das Abenteuer sucht. Im Gegenteil: Sein größter Wunsch ist es, in einer Bibliothek zu arbeiten – den ganzen Tag umgeben von Geschichten und Legenden. Als Karl Konrad Koreander das Antiquariat des Thaddäus Tillmann Trutz betritt, scheint dieser Wunsch Wirklichkeit zu werden. Doch noch kann er nicht ahnen, welch großartigen Geheimnisse sich tatsächlich hinter den Büchern verbergen. Als der alte Buchhändler eines Tages plötzlich verschwindet, macht sich Koreander in den labyrinthartigen Hinterräumen der Buchhandlung auf die Suche nach ihm – und findet sich in Phantásien wieder, wo äußerst beunruhigende Entwicklungen ihren Lauf nehmen: In der Phantásischen Bibliothek verschwinden mehr und mehr Bücher. Zurück bleibt eine geheimnisvolle Leere, die alles aufsaugt, was mit ihr in Berührung kommt. Gleichzeitig wird es in ganz Phantásien immer kälter. Nun soll sich ausgerechnet der Zauderer Karl auf eine gefährliche Reise begeben, um Phantásien zu retten.

 

Ulrike Schweikert:

Die Seele der Nacht

978-3-95751-083-9

Als ganz Phantásien von dem Nichts bedroht wird, flieht das Volk der Blauschöpfe nach Nazagur, in das einzige Land, das verschont wird. Zurück bleibt nur Tahâma. Das Mädchen will auf ihren Vater warten, der als Bote zur Kindlichen Kaiserin ausgeschickt wurde und erst nach langer Zeit schwerverletzt zurückkehrt. Aus seinen letzten verwirrenden Warnungen wir Tahâma nicht schlau, doch sie erkennt, dass ihr Volk in großer Gefahr schwebt. Auf ihrer gefährlichen Reise nach Nazagur durch die Wälder Phantásiens lernt sie Cerédas kennen. Zu ihm fühlt sich das Mädchen leidenschaftlich hingezogen. Doch Tahâma kann nicht ahnen, dass der junge Mann, seit er vom Werwolf Gmork angegriffen wurde, ein dunkles Geheimnis hütet …

 

Peter Dempf

Die Herrin der Wörter

978-3-95751-085-3

Vor langer Zeit bereisten die Nebelzwerge Phantásien. Sie sammelten Geschichten und entdeckten die Geheimnisse, die sich hinter den Wörtern verbergen. Eine wichtige Aufgabe, denn nur so konnten sie die Bewohner Phantásiens vor einer großen Gefahr bewahren: dem Alp, der dem wörterverschlingenden Nichts entstieg. Doch nun ist der Alp zurückgekehrt und von der glanzvollen Vergangenheit der Nebelzwerge ist kaum etwas übrig. Nur noch wenige verfügen über die besondere Gabe, Geschichten so zu erzählen, dass man in ihnen leben kann. Die Herrin der Wörter ist die Einzige, die das Volk der Nebelzwerge noch retten kann. Das Nebelzwergmädchen Kiray muss sich auf eine abenteuerliche Suche begeben, um die Herrin der Wörter zu finden. Doch Kiray stottert und scheint damit als Geschichtenerzählerin nicht zu taugen …

 

Peter Freund

Die Stadt der vergessenen Träume

978-3-95751-086-0

Was passiert eigentlich mit den Träumen, die nicht länger geträumt werden? Kayúns Mutter fällt dem Vergessen zum Opfer. Doch ehe sie endgültig verschwindet, schickt sie ihren Sohn auf eine gefährliche Reise: Er soll sich aufmachen nach Seperanza, der Stadt der vergessenen Träume, denn nur dort wird er in Sicherheit sein. Immer mehr Traumwesen strömen aus ganz Phantásien nach Seperanza, um hinter den dicken Stadtmauern Schutz vor dem Vergessen zu suchen. Viele berichten von Traumfängern, die ausgeschwärmt sind, um sie zu jagen. Das Mädchen Saranya bekommt die Aufgabe, hinter das Rätsel ihrer Herkunft zu kommen. Doch statt Antworten findet es einen Jungen namens Kayún. Gemeinsam begeben sich die beiden auf ein aussichtlos erscheinendes Abenteuer: Sie wollen das Geheimnis der Traumfänger lüften und das Vergessen bezwingen.

Der Autor

Wolfram Fleischhauer
Wolfram Fleischhauer

Wolfram Fleischhauer, geboren 1961 im Sternzeichen Zwilling in Karlsruhe
studierte Literaturwissenschaft in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA,
jobbte unter anderem als Schneepflugfahrer, Spanischlehrer, Gerichtsdolmetscher und bis zum Mauerfall als Telex-Schreiber in einem japanischen Handelshaus in Ost-Berlin,
lebte nach dem Studium ein Jahr mehr schlecht als recht in Paris, um für seinen ersten Roman Die Purpurlinie zu recherchieren,
entdeckte dabei seine Abneigung gegen französisches Mensaessen und seine Liebe zur französischen Sprache und Geschichte,
beschloß nach einem Ausflug ins Wirtschaftsleben und der Verfertigung einer Markstudie über die Exportchancen von französischem Hundeshampoo auf dem amerikanischen Heimtierkosmetikmarkt sein Brot doch lieber mit Fremdsprachen zu verdienen,
arbeitet seit vielen Jahren als Konferenzdolmetscher,
tanzt leidenschaftlich gern Tango,
meditiert am liebsten beim Kochen,
ist mit einer Französin verheiratet,
pendelt zwischen Berlin und Brüssel,
hat zwei kleine Kinder und
schreibt die Art von Bücher, die er immer gerne lesen wollte.

Für Simon,
unseren kleinen Unruhewinzer

Prolog

Sie kauerten auf dem Grat und blickten mit versteinerten Gesichtern in die Ebene von Sirinn-Elial hinab. Sie hatten die ganze Nacht hier gewartet. Niemand sprach ein Wort. Es gab nichts mehr zu sagen. Es gab nur die Ebene von Sirinn-Elial und die unglaublichen Gerüchte, die ihnen in den letzten Tagen zu Ohren gekommen waren.

Aratron ließ seine übermüdeten Augen über die schneebedeckten Berge auf der anderen Seite der Ebene schweifen. Das Gebirge dort hatte noch gar keinen Namen. Jenseits von Sirinn-Elial war noch keiner von ihnen gewesen.

Unter normalen Umständen wären sie abgestiegen, hätten die Ebene durchquert, am Fuß des Gebirges die übliche Zeremonie abgehalten und dann den neuen Landstrich für Phantásien in Besitz genommen. Sie hätten Späher angefordert, einige treu ergebene Cherubim mit ihren Abteilungen wären zu ihrer Unterstützung angerückt, um die ersten Vorposten zu befestigen und von da aus Stück für Stück diesen noch völlig unbekannten Teil Phantásiens zu erschließen. Doch diesmal war alles ganz anders.

Aratron überprüfte, ob seine Gruppe vollständig war. Aber natürlich waren seine Gefährten noch alle da. Wenigstens zwischen ihnen galt weiterhin das alte Gesetz. Die Cherubim Bethor, Phaleg und Hagith kontrollierten die südliche Flanke. Die Sarim Ophiel, Phul und Och hatten sich in nördlicher Richtung sogar noch ein Stück weiter auf dem Grat vorgewagt und konnten von ihrer Position aus nicht nur das nördliche Ende der Ebene von Sirinn-Elial sehen, sondern sogar die verkohlten Reste der Zinnen von Al-Sirinn. Die arglosen Höhenengel von Al-Sirinn, die Beschützer der Windrichtungen, waren schon vor einigen Wochen vernichtet worden. Sie hatten es erst gestern erfahren. Auch die Nachrichten bewegten sich langsamer als früher. Nicht nur die Engelheere.

Niemand wusste, warum diese Überfälle geschahen. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die Höhenengel von Al-Sirinn zu vernichten? Aratron und seine Gefährten blickten auf die dunkle Ebene hinab. Ein eisiger Wind strich über sie hinweg und zerrte an ihren goldenen Haaren, hoch aufgerichteten Flügeln und silbrigen Mänteln. Die äußere Kälte spürten sie nicht. Gleichwohl fröstelten sie. Denn vor ihren Augen nahm plötzlich etwas Gestalt an, das nichts Gutes bedeuten konnte. Hagith hatte es zuerst gesehen und deutete auf die Stelle weit unter ihnen hin. Aratron musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was dort unten vor sich ging. Es hatte weit hinten in der Ebene von Sirinn-Elial begonnen. Das Morgenlicht hatte die Wiesen dort gerade erst in ein feines, zartes Grün getaucht. Doch plötzlich schlängelte sich eine dunkle Linie durch das Gras. Langsam, aber stetig verschwand das Grün und wich einem schmutzigen Grau. Kurz darauf kam die Linie zum Stillstand.

Farbenfresser, dachte Aratron grimmig und wünschte sich, er könnte sofort ein Heer von Cherubim dorthin schicken, um dieser widerlichen Pest Einhalt zu gebieten. Aber gleichzeitig wusste er, dass es nicht klug wäre, jetzt anzugreifen. Ihr Gegner war ihm noch ein Rätsel. Sie hatten keinerlei Anhaltspunkte, was dort vor sich ging. Und das behagte ihm nicht. Nein, er wollte erst beobachten. Mehr konnten sie gegenwärtig nicht tun. Nicht einmal gegen diese feigen Farbenfresser.

Phaleg machte ihm ein Zeichen. Aratron schaute in die gewiesene Richtung. Ach, wenn er bisher noch gehofft hatte, dass alle Gerüchte nur Übertreibungen waren, so war diese Zuversicht nun mit einem Schlag dahin. Er hielt den Atem an und krallte sich so fest an den Felsen, dass das scharfe Gestein fast in seine weiche weiße Haut schnitt. Doch Aratron achtete nicht auf den Schmerz. Er war viel zu beschäftigt damit, sich zu überlegen, wie es zu dem Aufmarsch dort unten hatte kommen können. In aller Heimlichkeit hatten sie sich gesammelt. Es war nicht ihre Gestalt, die ihn so erschreckte. Es war ihre Zahl! Warum waren es so viele? Wie konnte das sein? Die ganze Ebene schien sich mit ihnen füllen zu wollen. Ja, war Sirinn-Elial plötzlich ein monströser Schoß geworden, der unablässig Iblisse ausspie? Allein die heimtückischen Bewegungen der tänzelnden Ungeheuer ließen Aratron zusammenzucken.

Wieder kniff er die Augen zusammen. Jetzt sah er alles aus einer größeren Nähe. Wie sich ihre geschmeidigen Leiber in dem Gewimmel umeinanderschlangen! Einmal war er Zeuge geworden, wie solch ein Iblis einen Seraph gerissen hatte. Die Bilder würden ihn nie wieder verlassen: das angstverzerrte Gesicht des Seraphen, der dem Iblis trotz des langen Kampfes allmählich unterlegen war. Was sollte ein Seraph alleine gegen diese schrecklichen Iblisse schon ausrichten. Das Beste war, sie einfach zu meiden. Wie bei so vielen Geschöpfen Phantásiens war völlig rätselhaft, woher sie überhaupt kamen. Aus welchem dunklen, grässlichen Loch krochen diese Kreaturen? Und warum? Wozu? Und wenn sie schon unbedingt existieren mussten, warum blieben sie dann nicht dort, wo sie herkamen: in den unzugänglichen, unerforschten Teilen von Phantásien, wo sie keinen Schaden anrichten konnten? Aber es war müßig, jetzt über solche Fragen nachzudenken. Dort unten sammelten sie sich. Und dass sie sich dort sammelten, konnte nur bedeuten, dass sie keinesfalls vorhatten, jenseits von Sirinn-Elial zu verbleiben. Und das allein zählte jetzt. Er mochte noch so lange darüber nachdenken, woher diese Ungeheuer kamen; die viel drängendere Frage war, was sie hier wollten und wie er verhindern sollte, dass sie über diesen Grat gekrochen kamen. Aber Aratron wusste keine Antwort darauf.

»Aratron, was ist mit dir?«, hörte er eine Stimme neben sich. Es war Phaleg, der ihn jetzt glücklicherweise von seinen schrecklichen Erinnerungen ablenkte und in die Gegenwart zurückholte.

»Nichts«, log er und schaute seinen Freund wohlwollend an. Aber nicht einmal der kriegserprobte Phaleg und seine Heere konnten ihn jetzt beruhigen. Irgendwo weit hinter ihnen lagerten sie und warteten auf ihre Befehle. Doch was sollte er nur tun? Sollte er sie wirklich gegen diese Ungeheuer losschicken, ohne zu wissen, wo sie ihren Ursprung hatten? »Was denkst du, wie viele werden es sein?«

Phaleg ließ seinen Blick über die Ebene wandern und seine Mundwinkel zuckten vor Ekel. »Wenn ein Iblis drei von uns vernichten kann, so lauert dort unten der zehntausendfache Tod auf uns«, sagte er grimmig. »Aber sieh, dort ist … er.«

Aratron kniff die Augen noch enger zusammen, damit er weitere Einzelheiten erkennen konnte: die glänzenden, irren Augen dieser Ausgeburten der Hölle, ihr geschmeidiges Fell, ihre gezackten Zähne, ihre messerscharfen Klauen. Doch vor allem sah er ihn: Forcas!

Phaleg entfuhr ein unterdrückter Fluch in der Engelsprache. »Nemis tuu-r caphisod!«

Aratron erwiderte nichts. Forcas, einer der mächtigsten Thronengel, hatte sich tatsächlich auf die Seite der Dunkelheit geschlagen. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Forcas hatte das Licht verraten. Er war ein Dämon geworden. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, er hätte es niemals geglaubt.

»Geh zu den anderen und sag ihnen, dass wir uns zurückziehen, um die Lage zu besprechen«, flüsterte Aratron. Phaleg nickte und stieß sich rückwärts vom Felsen ab. Aratron sah ihm hinterher, wie er ein ganzes Stück in den Abgrund hinunterstürzte, bis er genügend Geschwindigkeit gewonnen hatte. Er sah zu, wie Phaleg seine beiden Segelflügel öffnete, die Manövrierschwingen quer stellte und zielsicher bei Bethor und Hagith landete. Was für ein großartiger Flieger Phaleg doch war, dachte Aratron stolz.

Aber schon im nächsten Augenblick wurde seine Seele wieder schwer vor Sorgen. Was geschah nur in Phantásien? Warum diese Überfälle? Und woher kamen all diese Ungeheuer? Forcas war übergelaufen. Nun gut, letztlich war kein Engel dagegen gefeit, sich zu irren und zu verirren. Die Vergangenheit war voll von Beispielen. Aratron erinnerte sich jetzt wieder daran, welchen Hass Forcas immer in sich getragen hatte. Forcas hatte Phantásien von Anfang an verflucht. Ja, um ein Haar wäre es ihm sogar gelungen, die Erschaffung Phantásiens zu vereiteln. Doch am Ende hatte Aratron sich durchgesetzt. Und Forcas war verschwunden. Insofern hätte er eigentlich sofort an Forcas denken sollen, als die ersten Angriffe geschahen. Aber diese alte Auseinandersetzung war so lange her. Er hatte Forcas einfach vergessen gehabt und bis vor wenigen Augenblicken nie mehr an ihn gedacht. Und jetzt war Forcas auferstanden und mit ihm ein riesenhaftes Heer der entsetzlichsten Bestien, die Phantásien jemals heimgesucht hatten.

Aratron wandte den Blick von Sirinn-Elial ab und schaute in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. Schneebedeckte Berggipfel säumten dort den Horizont. Hinter diesen Bergen standen ihre Heere, und dahinter begann das Land, das zu schützen ihre Aufgabe war: Phantásien.

Er stieß sich lautlos vom Felsen ab und folgte seinen Gefährten, die bereits an einer steil aufragenden Felswand vorübersegelten. Kurz darauf hatten die Engel eine versteckte Schlucht erreicht und versammelten sich dort um Aratron.

»Ihr habt mit eigenen Augen gesehen, dass Forcas in Sirinn-Elial ein Heer von Iblissen zusammenzieht«, begann er. »Da wir nicht wissen, wie zahlreich sie sind und was sie vorhaben, halte ich es nicht für klug, sie anzugreifen.«

Phaleg unterbrach ihn. »Aratron, sie haben Al-Sirinn vernichtet. Willst du das ungesühnt lassen?« Der kräftige Cherub konnte seine Entrüstung nur mit Mühe zügeln. Auch Bethor und Hagith, die anderen beiden Cherubim, knurrten zustimmend, während die Sarim Och, Ophiel und Phul unsicher zu Boden schauten.

Aratron blickte von einem zum anderen. Es war immer das gleiche Bild. Die kriegerisch gestimmten Cherubim konnten es kaum erwarten, sich mit ihren Flammenschwertern auch noch dem übermächtigsten Gegner entgegenzuwerfen. Ein Wink von ihm, und Phaleg, Bethor und Hagith würden sich mit ihren drei Heeren auf die Iblisse stürzen, auch auf die Gefahr hin, von ihnen vernichtet zu werden. Das imponierte ihm durchaus. Er selbst war ja auch ein Cherub und fühlte das Feuer der Rache in sich brennen. Doch das Urteil der besonnenen drei Sarim war ihm ebenso wichtig. Durch ein Nicken forderte er Och, Ophiel und Phul auf, sich gleichfalls zu äußern, aber die drei schüttelten nur stumm die Köpfe.

Phaleg verlor die Beherrschung. »Auf euch Sarim ist auch nie Verlass!«, rief er. »Nun, dann gehen wir eben allein. Nicht wahr?«

»Und gegen wen kämpfst du überhaupt?«, antwortete Och ruhig. »Tausende von Iblissen haben wir vor uns. Doch wie sind sie hierher gekommen? Was tun sie hier? Wie willst du sie besiegen, wenn du nicht weißt, wer sie lenkt und zu welchem Zweck?«

»Sie haben sämtliche Höhenengel von Al-Sirinn vernichtet«, entgegnete Bethor scharf. »Wie viele Erklärungen brauchst du, bevor du dich wehrst?«

»Wer seinen Feind nicht versteht«, erwiderte Och, »kann ihn nicht besiegen. Im Gegenteil: Möglicherweise tut er unwissentlich dessen Arbeit.«

Phaleg setzte zu einer Antwort an. Sein Kopf war bereits rot angelaufen vor Zorn. Aber Aratron kam ihm zuvor. »Lasst uns jetzt nicht streiten. Phaleg, du weißt so gut wie ich, dass es Irrsinn wäre, ein solches Heer von Iblissen anzugreifen. Selbst wenn wir dieses hier besiegen sollten, wartet hinter der nächsten Bergkuppe vielleicht schon das nächste auf uns. Och hat recht. Wir müssen versuchen zu verstehen, was eigentlich geschehen ist. Warum diese Überfälle? Wo ist Forcas all die Jahre gewesen? Warum ist er hier erschienen? Wer sind seine Verbündeten? Und was hat er vor?«

Die drei Sarim Och, Ophiel und Phul schlugen wieder die Augen nieder und sagten nichts. Die Cherubim indessen starrten Aratron vorwurfsvoll an. Phalegs, Bethors und Hagiths Schwingen hatten sich sogar aufgerichtet, als wollten die drei sich sogleich in die Schlacht stürzen. Doch ohne Aratrons Befehl würden sie das natürlich nicht tun.

»Wir wissen jetzt, dass die Gerüchte stimmen«, meldete sich Phul zu Wort. »Forcas hat die Iblisse um sich gesammelt. Und sicher ist er nicht allein. Er muss auch noch andere von uns gewonnen haben.«

»Das vermute ich auch«, stimmte Och ihm zu. »Aber ich verstehe nicht, wie er so schnell derart stark werden konnte. Die Ebene … Ich habe so etwas überhaupt noch nicht gesehen. Es wimmelt ja von diesen Bestien.«

Für einen Augenblick verstummten jetzt alle sieben Engel. Ja, sie mussten sich eingestehen, dass sie ratlos waren. Sie konnten sich vorerst nur zurückziehen. Aber was dann?

Aratron hörte plötzlich ein leises Geräusch. Er drehte sich um. Die anderen taten es ihm gleich. Das Geräusch kam aus der Richtung, wo hinter einem schneebedeckten Bergrücken die Engelheere lagerten. Waren sie etwa losmarschiert? Ohne einen Befehl? Nein, das war nicht vorstellbar. Doch offenbar war dort irgendetwas geschehen, denn jetzt konnten sie deutlich eine Gruppe von drei Sarim erkennen, die in großer Eile herangeflogen kamen.

»Was sind das für Sarim?«, fragte Aratron verärgert. »Wie können sie es wagen, ohne Marschbefehl hierher zu kommen?«

Aber weder Och noch Ophiel oder Phul wussten eine Antwort darauf. »Sie gehören nicht zu uns«, sagte Phul. »Ich habe sie noch nie gesehen.«

Die Cherubim zogen unverzüglich ihre Flammenschwerter und stellten sich schützend vor Aratron. Doch die heranfliegenden Sarim ließen sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen begannen sie laut zu rufen: »Samech caphiod Silandor, samech caphiod Silandril!«

Aratron erstarrte. Auch die anderen trauten ihren Ohren nicht. Was riefen diese Sarim? Silandor war gefallen? Das Silandril war in Gefahr? Im Nu stiegen jetzt alle sieben Engel auf und erwarteten die Ankömmlinge.

Mit einem lauten Rauschen kamen die drei Sarim vor ihnen in der Luft zum Stehen. Einer von ihnen ergriff ohne Umschweife das Wort: »Aratron, Silandor ist gefallen. Es ist entsetzlich. Sie haben Silandor.«

Der Engel wurde bleich. »Silandor«, stammelte er und schaute in die Runde. Aber die Gesichter der anderen spiegelten eine noch größere Fassungslosigkeit. Wie konnte das geschehen sein? »Wer hat das getan?«, fragte Aratron.

Doch er bekam keine Antwort auf seine Frage. Denn plötzlich geschah etwas Gespenstisches: Die drei Sarim stürzten erschöpft vor ihnen nieder. »Wir … wir haben alles gegeben, um noch bis hierher zu kommen«, stammelten sie, »… um euch zu warnen … Aber jetzt ist es zu spät … wir … vergehen, seht doch, dort, es gibt keine Rettung für uns. Das Silandril …«

Wie zur Bestätigung zog am Horizont ein violetter Schimmer herauf. Die drei Cherubim reagierten zuerst. Im Nu hatten sie ihre riesigen Schwingen geöffnet und schossen mit gezückten Schwertern ein gewaltiges Stück in den Himmel empor. Dort verharrten sie in ihrer vollen Größe und starrten der unheimlichen Bedrohung entgegen.

Aratron und die zurückgebliebenen Sarim schauten angstvoll zu ihnen hinauf. Welch ein prächtiges Bild, dachte Aratron noch. Aber er wusste auch, dass dies das Ende war. Dieser violette Schimmer … das konnte nur eines bedeuten: Silandor war tatsächlich zerstört worden. Wie um alles in der Welt hatte das geschehen können? Sollte Forcas …?

Doch nicht einmal diesen Gedanken konnte er noch zu Ende denken. Mit einem ungeheuerlichen Schrei stürzte Phaleg sich als Erster der Cherubim dem violetten Schimmer entgegen. Er blähte sich auf und schwang sein flammendes Schwert. Heller und heller leuchtete er, aber dann geschah es: Ein weißes, unerträglich gleißendes Licht umhüllte den mutigen Kämpfer und im nächsten Augenblick war er nicht mehr.

Aratron hielt es jetzt nicht länger. Er schwang sich auf, flog zu den Cherubim empor. Als Zweiter hatte sich bereits Hagith dem violetten Licht entgegengeworfen. Ein Zittern überlief ihn. Er zuckte, sammelte seine Kraft, um der furchtbaren, unbekannten Macht Widerstand zu bieten, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich zerriss es ihn. Und auch aus ihm floss ein gleißender Lichtschein, der sich in wenigen Augenblicken verlor. Auch Hagith gab es nun nicht mehr.

Aratron war endlich bei Bethor eingetroffen, der wie gelähmt seinen verschwundenen Gefährten hinterherschaute. »Es ist sinnlos«, stammelte er und fasste den Cherub bei der Schulter. »Lass uns fliehen, Bethor.«

Doch der alte Engelkrieger riss sich los. »Ohne Silandor sind wir verloren«, rief er zornig, »und du weißt es. Nun denn, so sei es!« Und damit schwang er sein Feuerschwert und stürzte dem violetten Licht entgegen. »Wir haben uns getäuscht, Aratron«, rief er noch. »Silandor mag verderben!«

Seine letzten Worte trafen Aratron wie Fausthiebe. »Nein, Bethor, komm zurück!«, schrie er verzweifelt.

Aber der Cherub flog unbeirrt seinem Schicksal entgegen. Und wie seine beiden Gefährten zerbarst er unter einem Lichtblitz von solcher Helligkeit, dass Aratron geblendet zu Boden taumelte. Doch was er dort sah, steigerte sein Entsetzen nur noch mehr: Was war nur mit den Sarim geschehen? Wirkte diese zerstörerische Kraft nun auch schon hier? Die Sarim wanden sich in furchtbaren Krämpfen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Flügel hingen kraftlos herunter und ein schreckliches Zucken hatte ihre Körper ergriffen. Und dann spürte Aratron selbst, wie alles ringsum ihn zu ersticken begann. Er konnte sich kaum noch bewegen. Seine Hände, seine Flügel versagten ihm den Dienst. Ja, es war, als bewegten sich von allen Seiten riesige Eisenplatten auf ihn zu, um ihn zu erdrücken.

Aratron wusste jetzt, was geschehen war. Silandor. Silandor. Immer wieder ging ihm dieses Wort durch den Kopf. Sie waren verloren. Wie hatte das geschehen können? Aber es war zu spät, um darüber nachzudenken. Er musste etwas unternehmen. Ein letzter Gedanke musste zurückbleiben. Das Geheimnis durfte nicht mit ihm verschwinden. Doch in welcher Form sollte er es zurücklassen? Und wer würde es verstehen? Und selbst wenn, war an Rettung dann überhaupt noch zu denken?

Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung wandte Aratron seinen Blick von seinen sterbenden Freunden ab und schwang sich noch einmal in die Höhe. Gaya von Raginor!, dachte er. Sie würde das Geheimnis aufbewahren. Jemand musste es dort finden. Aratron spürte, dass er nur noch wenig Zeit hatte. Von allen Seiten erdrückte ihn jetzt diese zerstörerische Macht. Er wand sich, schlug mit den Flügeln, kämpfte sich in eine größere Höhe hinauf, wo sich seine ursprüngliche Gestalt noch einmal in ihrer ganzen Schönheit und Größe entfalten konnte. Ein letztes Mal schaute er auf seine toten Gefährten hinab. Dann nahm er sein Feuerschwert, hob es hoch und hieb sich selbst mit einem gewaltigen Streich in der Mitte entzwei.

Für einen kurzen Augenblick blieb die Welt stehen, angesichts dieser ungeheuerlichen Tat. Die beiden Engelhälften schwebten langsam auseinander und entließen ein kleines, unscheinbares Licht, das wie eine Sternschnuppe davonflog. Dann stürzte Aratrons letzte Gestalt allmählich auf den Boden hinab, erreichte diesen jedoch nicht mehr. Denn schon nach wenigen Augenblicken begann seine Form sich in Licht zu verwandeln, ein Licht, so hell und strahlend, wie es nur der größte aller Cherubim hervorbringen kann.

Erster Teil

1

Schon aus der Ferne war Mangarath eine Augenweide.

Am Fuß des riesenhaften Gebirges Balang-Gir, das sich über den ganzen Horizont erstreckte, lag es leuchtend und glitzernd wie ein kostbares Juwel. Bunte Lichtstrahlen schossen hier und da nach oben und malten leuchtende Farben auf den tiefblauen Abendhimmel. Gewaltige Glastürme, mit Abertausenden kleiner Lichter geschmückt, ragten allerorten empor, unterbrochen von kleineren, doch nicht minder zauberhaft erleuchteten Schlössern und Palästen, die jedes Kind in Phantásien bereits mit Namen kannte, bevor es sie jemals gesehen hatte. Was dort so mattblau schimmerte, das mussten die Mondsteinmosaike der Klangthermen sein. Und die gewaltige Arena, auf deren Zinnen alle Fahnen Phantásiens im Wind flatterten, das war die Heimstatt des Glückschors, wo jeder Besucher begrüßt und besungen wurde.

Das war also Mangarath, dachte Nadil und rieb sich geblendet die Augen, während Elfenauge, sein Riesenschmetterling, plötzlich mit dem Flügelschlag innehielt und auf die hell erleuchtete Stadt zusegelte. Und was man aus der Ferne sah, das war noch das wenigste, wie Nadil nur zu gut wusste. Denn Mangarath war vor allem ein Ort der Musik, der Töne und Klänge, so unvergleichlich, dass niemand zurückkehrte, ohne mit großen Augen davon zu berichten.

»Ist es nicht großartig«, hörte Nadil jetzt Piris Stimme neben sich. »Ich kann es kaum erwarten, in den Geräuschdom zu gehen.«

»Und ich will zuerst im Glückschor mitsingen«, rief Beliar dazwischen und warf ihr langes schwarzes Haar nach hinten.

»Gehen wir auch zu den Lärmsklaven?«, fragte Masía, die sich schon bei der bloßen Nennung dieser Fabelwesen zu gruseln schien.

»Papperlapapp!«, rief Meister Toralon und ließ seinen Zitronenfalter zwischen die aufgeregt durcheinanderredenden jungen Schmetterlinger segeln. »Es gibt doch überhaupt keine Lärmsklaven. Was redest du nur für dummes Zeug. Seht erst einmal zu, dass ihr sicher auf den Boden gelangt«, befahl er streng. »Dann wird sich schon zeigen, wo wir zuerst hingehen.«

Nadil sagte dazu nichts. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Mangarath, dachte er. Dort war Saru, sein Großvater, vor wenigen Wochen das letzte Mal gesehen worden. Und seither keine Nachricht von ihm. Nichts. Bisher wunderte sich noch niemand darüber, denn Saru war schon oft für lange Zeit irgendwo in Phantásien auf Reisen gewesen. »Mach dir nur keine Sorgen um ihn«, hatte seine Mutter gesagt. »Er kommt immer wieder zurück, er ist einfach ein unruhiger Geselle.« Aber Nadils Mutter wusste ja auch nicht, was Saru seinem Enkel vor seiner Abreise aus Nevisehr anvertraut hatte. Sie wusste nichts von den Vorgängen in Sirinn-Elial. Ja, es wusste überhaupt niemand davon. Das war ja das Unglück. Und er hatte Saru auch noch hoch und heilig versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden. Erst wenn er aus Mangarath zurück und wieder in Nevisehr sei, dann würde er ihm weitere Einzelheiten berichten. Doch Saru war aus Mangarath nicht zurückgekehrt. Er war einfach verschwunden.

Nadil vergewisserte sich, dass er fest im Sattel saß, und ließ seinen Blick über die Schwingen von Elfenauge gleiten. Er war stolz auf seinen Schmetterling, ja, er liebte ihn, Elfenauge war so schön geworden. Nadil war überhaupt stolz darauf, ein Schmetterlinger zu sein. Und endlich war er auch groß genug, um auf einem echten Riesenschmetterling aus Nevisehr durch die Luft zu reiten. »Erst wenn deine Schulter an die Schulter eines Purpurbüffels heranreicht, darfst du auf einen Schmetterling steigen«, hatte Saru ihm immer gesagt. Nun ja, jetzt war es so weit. Aber Saru konnte ihn nicht einmal fliegen sehen. Was für eine Enttäuschung! Die schön bemalten Flügel, für die er sich so angestrengt hatte. Es hatte Monate gedauert, denn so ein Flügel war ja zweimal so lang wie er selbst und fast ebenso breit. Aber es machte ihm große Freude, die Flügel dieser Riesenschmetterlinge mit Sternstaub zu bepudern und ein schönes Muster zu malen. Elfenauge war ihm ausnehmend gut gelungen. Er hatte sich allerdings auch besonders angestrengt, denn es war sein Meisterstück zum Abschluss seiner Gesellenzeit. Und zur Belohnung trug ihn Elfenauge jetzt nach Mangarath.

Piri gab seinem Pfauenauge die Sporen, flatterte übermütig vorneweg und rief: »Mangarath, wir kommen!« Dabei warf er vor Begeisterung sein Hütchen in die Luft. Nadil riss Elfenauge herum und fing Piris Hütchen geschickt auf.

»Schluss mit dem Unsinn«, brummte Meister Toralon, musste jedoch lächeln angesichts von Piris Übermut. Doch kurz darauf verging ihm das Schmunzeln.

»Auf nach Mangarath, auf nach Mangarath«, sangen Masía und Beliar im Chor. Und auch Nadil konnte jetzt nicht mehr an sich halten.

»Jippieee!«, entfuhr es ihm. Doch das gewagte Manöver von eben hatte Elfenauge aus dem Rhythmus gebracht. Er taumelte. Nadils rechter Fuß rutschte aus dem Zaumzeug und glitt … o Schreck, über den kunstvoll gepuderten Flügel.

Augenblicklich geschah etwas Furchtbares. Elfenauge sackte weg. »Nadil«, rief der Schmetterling, »was hast du getan? Ich kann nicht mehr steuern!«

Alles ging so schnell, dass Nadil später nicht einmal mehr wusste, wie es damit zugegangen war. Wäre Meister Toralon nicht sogleich zur Stelle gewesen, so wäre sicher ein Unglück geschehen. Elfenauge trudelte wie ein Herbstblatt durch die Luft. Nadil hielt sich mit aller Kraft fest, doch auf einmal fiel er aus dem Sattel, hielt sich zwar noch am Zaumzeug fest, aber auch er schlitterte jetzt noch über den rechten Flügel.

»Nadil, Nadil, was tust du?«, rief Elfenauge. »Der Sternstaub fliegt davon, hilf mir, hiiiilf mir!«

Doch alle Hilfe kam zu spät. Elfenauge schoss wie ein Stein hinab, auf seinem rechten Flügel den unglücklichen Nadil, der dort hin und her rutschte und verzweifelt versuchte nicht herunterzufallen.

»Hier, halte dich fest, du musst absteigen«, hörte er plötzlich Meister Toralons Stimme über sich.

»Ich kann ihn doch nicht allein lassen«, schluchzte Nadil. »Der arme Elfenauge, ich muss ihm doch helfen!«

»Du kannst ihm nur helfen, wenn du absteigst. Los, halte dich fest.«

Nadil wurde am Kragen gepackt und nach oben gezogen. Meister Toralon hatte erst gar nicht mehr gewartet, sondern ihn einfach ergreifen lassen und aus dem Sattel gelüpft. Jetzt hing er hoch oben in der Luft an den Beinen von Windjunge, Meister Toralons Schmetterling, und sah, wie Elfenauge unter ihm wieder ein wenig zu segeln begann. Er torkelte zwar, doch er fiel jetzt viel langsamer und taumelte halbwegs sicher zum Boden hinab.

Kurz darauf waren sie alle heil gelandet und lauschten mit gesenkten Köpfen Meister Toralons berechtigten Vorwürfen: »Und ihr wollt Schmetterlinger sein? Gibt es denn so etwas? Ihr bringt uns ja alle in Lebensgefahr!« Er ging dabei gewichtig auf und ab, während die Schmetterlinge etwas abseits standen und dem erschöpften Elfenauge Mut zusprachen.

»Er war einfach unvorsichtig«, hörte Nadil den Zitronenfalter Windjunge sagen. »Er hat es nicht böse gemeint. Sie sind noch jung und ungestüm. Das wird ihnen eine Lehre sein.«

»Mir auch«, piepste Elfenauge. »Ich weiß, dass es ein Versehen war, aber schau dir mal meine Flügel an. Wie soll ich denn überhaupt weiterkommen.«

»Meister Toralon hat bestimmt noch etwas Staub dabei«, tröstete ihn der Schmetterling Schneeia, der Masía befördert hatte.

»Aber die Farbe, die schöne Farbe ist dahin.«

Nadil krümmte sich innerlich vor Scham und Wut. Warum war er nur immer so ungestüm. Ach, immer ihm passierten solche Missgeschicke.

Meister Toralon hatte tatsächlich noch Sternstaub dabei und besserte Elfenauges Flügel notdürftig aus. Man sah es dem ramponierten Schmetterling an, dass er sich sehr schämte, so geflickt und ausgebessert in Mangarath ankommen zu müssen. Es war nämlich für einen Riesenschmetterling nicht nur eine Notwendigkeit, ein tadelloses Flügelkleid zu haben, sondern auch eine Frage der Ehre.

»Ich sehe ja aus wie eine Motte«, klagte Elfenauge, als Toralon fertig geworden war.

»Aber immerhin eine bunte Motte«, tröstete ihn Toralon. »In Mangarath lassen wir dich wieder herrichten. Dort bekommen wir so viel Sternstaub, wie wir wollen. Nadil repariert das alles, nicht wahr, Nadil?«

Der junge Schmetterlinger nickte beschämt. »Es tut mir so leid«, sagte Nadil, als er wieder aufsaß. »Ich hatte mir solche Mühe gegeben.«

»Ist schon gut«, erwiderte Elfenauge und schnäuzte sich noch schnell den Staub aus der Nase, bevor es wieder losging. »Ich weiß, dass du es nicht absichtlich getan hast. Sei jetzt aber vorsichtig, ja?«

Auch Piri, Masía und Beliar schauten kleinlaut drein und nahmen vorsichtig in ihren Sätteln Platz.

»So«, rief Meister Toralon, »das ist ja noch einmal gut gegangen. Und jetzt freuen wir uns auf Mangarath. Auf geht’s. In die Lüfte mit euch.«

2

Wenige Minuten später flatterten sie bereits wieder durch die warme Luft des Sommerabends, und es dauerte nicht lange, da hatten sie den unglücklichen Vorfall vergessen. Ein großartiges Panorama bot sich ihnen dar. Das Glitzer- und Farbenmeer vor ihren Augen wurde immer größer und wundervoller, und zudem vernahmen sie nun auch die ersten Töne und Melodien. Hingerissen lauschten sie. Welch herrliche Geräuschkulisse. Sie segelten langsam hinab, und je näher sie der Stadt kamen, desto voller und vielversprechender wurden die Klänge.

Nadil schloss zu Beliar auf. »Ist es nicht wundervoll«, sagte er und warf ihr einen scheuen Blick zu. Sie schaute kurz zu ihm hinüber und lächelte so, dass er fast wieder aus dem Sattel gefallen wäre. Wie schön sie aussah mit ihren wallenden schwarzen Haaren.

»Wundervoll?«, erwiderte sie spöttisch. Er wurde knallrot. Beliar grinste. Sie wusste natürlich, dass Nadil sie immer heimlich beobachtete und wohl ein wenig in sie verliebt war. Aber was bildete sich dieser komische Junge denn ein! Wie er schon aussah. Zugegeben, er hatte hübsche braune Augen und einen blonden, lockigen Haarschopf, der ihn sympathisch machte. Aber er schaute immer so versonnen und traurig drein. Und dann auch noch diese karierten Jacken und Westen, in die seine Eltern ihn steckten. Das waren doch Sachen wie für langweilige Erwachsene. Nadil war ihr einfach zu brav, zu gut erzogen. Ja, er wirkte auch oft so in sich gekehrt. Wie langweilig! Und die meiste Zeit saß er sowieso nur mit seinem Großvater herum und hing an dessen Lippen, wenn Saru von seinen Reisen erzählte. Dabei wusste doch jeder, dass der Großvater ein bisschen verrückt war. Nein, mit Nadil konnte man nicht viel anfangen. Er stellte zwar immer mal etwas an, aber eigentlich mehr aus Missgeschick. Ja, er war ein Tollpatsch, dachte sie, warf stolz ihre Mähne zurück und gab ihrem goldschimmernden Zigeunerfalter die Sporen.

Nadil schaute ihr wehmütig hinterher. So wie Beliar wollte er gern sein. Wild und frei. Er liebte dieses Mädchen über alles, aber es war hoffnungslos. Sie würde sich immer nur über ihn lustig machen.

»Mach dir nichts draus«, sagte Piri, der Szenen wie diese schon oft beobachtet hatte. »Sie ist ein ungezogenes Biest. Kümmere dich nicht um sie.«

Nadil erwiderte nichts. Er lächelte unsicher und schielte dann zu Masía hinüber. Aber Masía flog brav hinter Meister Toralon her und war bemüht, ihren Schneefalter auf Kurs zu halten.

»Warum ist sie nur so giftig?«, fragte er traurig.

»Weil sie dich ärgern will«, erwiderte Piri. »Mädchen sind so. Wenn man sie nicht beachtet, dann beklagen sie sich. Und wenn man sie beachtet, dann beklagen sie sich auch.«

»Masía ist nicht so«, entgegnete Nadil.

»Na, dann rede doch mit ihr«, sagte Piri und grinste.

Nadil runzelte die Stirn. Machte sein bester Freund sich jetzt auch noch über ihn lustig? Aber er hatte keine Lust, mit ihm zu streiten. Warum faszinierte Beliar ihn nur so, fragte er sich. Vielleicht weil sie all das hatte, wonach er sich sehnte? Vor allem Selbstvertrauen. Sie ließ sich nie etwas gefallen und war auch nie um eine Antwort verlegen. Außerdem fand er sie wirklich wunderschön mit ihrem schwarzen Haar und der feinen dunkelblauen Zeichnung auf ihrem hübschen Gesicht. Schmetterlinger bemalten nicht nur Schmetterlinge, sondern auch sich selbst. Und Beliars Mutter hatte ein ganz besonderes Talent dafür, das sie jedoch allein in den Dienst ihrer Tochter stellte. Viele waren neidisch auf Beliars schöne Gesichtsbemalung, und nicht wenige versuchten sie zu kopieren, was aber niemandem gelang. Nadil seufzte. Piri hatte recht. Beliar würde sich nie für ihn interessieren. Er war einfach langweilig.