image

Hans Eichhorn

Und alle Lieben leben

image

An den Morgen, das Gedicht von Peter Handke, das diesem Band als Motto dient, stammt aus seinem Buch Das Ende des Flanierens.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2013 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

ISBN mobi:

ISBN Printausgabe:

image

An den Morgen

Aufgewacht vor dem morgenhellen Himmel:
Über die noch dunklen Dächer
Treibt aus den Kaminen schon langsamer Rauch
Die Vögel: Sine fine dicentes
Und alle Lieben leben

Peter Handke

NACHDEM ER IN DIESER NACHT unverhältnismäßig viel abgenommen hatte, sah er morgens sein Gesicht im Spiegel so, als wäre es für immer um den richtigen Ausdruck gestorben. Nicht zu lange hinschauen, nicht vorschnell die Wörter dem klugen Verdauungsprozess einverleiben! Winterzeit ist, unter der Gummisohle kracht der gefrorene Schnee. Das Haus ist in seiner Stille ein Ort des Traums. Die Träume sind zuckende Mundwinkel, sind zu kurz gekommene, für den Rest des Lebens eingeklemmte Leistenbrüche. Der Ort und das Haus sind eine einzige Nachdenklichkeit, beliefert von Lebensmittelketten und Nahversorgungsbetrieben. Schau dir die Holzplafondverschalung an, flieg meinetwegen mit Polsterbank und abgebeiztem Nachtkastl zu den Hindupropheten. Dieses Haus verschluckt, und dieses Haus verdaut. Hier stillgelegt bei offenen Türen, brütend von einem Impuls zum nächsten, der aufstehen und schon auf halbem Wege kehrtmachen lässt. Das will heraus, das will dem Haus einen Traum zum Besten geben, den ersten nach langen Frosttagen und durchzechten Nächten. Nichts davon ist zu hören, nichts davon ist zu sehen. Das Haus ist eine Schnittstelle der Mütter und Väter, die mit Ausputzfetzen und Handwerkszeug herumgeistern. Er sitzt davor, er spielt ein Lied, er hat kaum geschlafen und ist kaum aufgestanden und verkompliziert die Sprache zu einem pompös aufgezäumten Drahtesel. Und die Sprache schnappt sich ihren Teil, fuhrwerkt und tut, müht sich ab und lässt verschwinden, als Haus, als Hausgeburt. Hier, mit den aufblitzenden Glastürblicken, mit den zeitweise hochgehorchten Autovorbeifahrgeräuschen, tut sich nichts, Mangel an Bewegung, bist eingestellt, eingesackt, im Haus verborgen zu einer längst dem Frühling entgegenfiebernden Ribiselstaude. Bist keine Ribiselstaude, bist ein Geldschein, der den Besitzer wechselt, bist der Kaffeesatz einer vergessenen Sommerkannenfüllung. Du breitest dich nicht aus, du bleibst auf der Stelle, es mangelt dir an nichts, du hast alle deine Lieben im Gepäck und packst sie der Reihe nach aus. Sind es Votivbildchen, die an einem Seitenaltar geopfert werden, Gott vergelt’s! Oder sind es Menschen aus Fleisch und Blut, wie gesagt wird, mit Rossschwänzen und mit Granitköpfen, die abgenommen und wieder hinaufgehievt werden? Das Haus und die Nacht geben dir den Rhythmus vor, du hast auf einmal Flügel, aber es fliegt nichts, es wird nur leisegetreten und ein Glas Wasser gezapft und das Klosett aufgesucht. Das ist erst der Anfang, unermüdlich rinnt das Heizöl in den Heizkessel, und die kleinen Explosionen verteilen sich bis unter den Dachboden. Abgenommen, behauptest du, hättest du, dabei drückt dein Körper schwer auf das Sofa. Da steigt auf der Traum vom Haus, da wird Heizöl geliefert, werden Thermostate gewechselt, wird mit der flachen Hand über Schweißperlenstimmen gefahren. Es sind zwei Personen zu sehen, sie huschen oder lungern herum, der Gewalt des Hauses ausgesetzt, seinem Schweigen, seinem Horchen, seiner sehnsüchtig erhorchten oder erschwiegenen Keimlingsnatur, die bloß zu pflücken und sorgfältig in die das Haus umgebende Wiese einzupflanzen ist. Von diesen Keimlingen wird geträumt. Das Haus hat seinen Geist, ist rachsüchtig, hat einen Stab an diensthabenden Personen, die jedes Aufblitzen oder Aufkeimen ausspionieren und aufzeichnen und der Fruchtbarmachung den Saft entziehen. Ohnmächtig, ohne Hände, mit einem Oberkörperklumpen sitzt du da, bist wehrlos, bist immer wehrlos gewesen, lebst von den Brosamen, die an dir vorbeiziehen. Zwei Personen, verschworen und doch wie zufällig gemeinsam ausgesetzt, von gemeinsamen Interessen gespeist und zusammengekommen in diesem Haus. Handlos, lidlos, augenlos, aber es muss gekocht werden, es muss und wird gegessen werden, es werden Geldscheine gezückt, und es werden neue Kleidermodelle für die Opernballroben entworfen, mühelos, handlos, mit forsch zupackenden Blicken auf die die Opernstiegen hinaufflatternden Gewänder. Zwei Personen zusammengeschweißt für den Moment, der zeitlos ist, für Leberknödelsuppen und Sauerkrautreste, zum soundsovielten Male aufgewärmt. So tut sich Stille kund, da nichts geschieht, die ausgedienten Bohrwerkzeuge der Zahnärzte im Keller gelagert und vergessen werden. Zwei Personen, verkörpert im Traum des Hauses, das seine Krakenarmstifte in jede Ecke wirft. Du wirst dich nicht davonmachen und du erst recht nicht. Mit deiner Strickware wird kurzer Prozess gemacht, mit den vorgezogenen Vorhängen zucken deine Augenlider einer neuerlichen Attacke entgegen. Es nützt nichts, das Wort entgegenzuhalten, den Dämon in die Schweineherde zu treiben und in den Fluss zu jagen. Er ist immer schon längst Fluss, immer schon längst wieder erbrochen aus der Schweineherde, hier, auf das Sofa geschmissen, er ist immer schon längst mit den Schweinen und Flussbildern verquickt und hier unter dem Dachfirst abgelagert. Zwei Personen, zwei Siebenschläfer, zwei blinde Passagiere, schnell wachgerüttelt von dem glucksenden Rauschen der Heizkörper. Der leichtfertige Stift bohrt sich durch die Hausstille, wann ist Schluss, wann vergräbst du dich in deinem Schlafsack? Winterkälte bewegt den Dachstuhl, da und dort krachen die Fugen. Stellt sich der schwarze Kassettenrekorder ein, das kurze Haar, die lange wohlsuchenden Augen? Und Musik ist die reizende Begleitung. Heimisch geworden in der Fremde, immer einer Liebe auf der Spur. Das Viel-zu-viel eines Wortschatzes im Viel-zu-viel dieser Hausstille. Diesem Hausschweigen kracht das Gebälk entgegen. Minus fünfzehn Grad bei vollem Mond und klarer Nacht. Steh doch auf, geh doch hinaus mit deinem schlafenden Kind, atme die kalte, bewegende Winternachtluft! Du bist abgestellt, hast keine Hände, lauschst auf das Wachsen einer kleinwinzigen Conterganhand. So still, so allein, eingesperrt in der Vorstellung Einsperren, gar gekocht in diesem traurigen Haus, das keine Traurigkeit kennt, sondern nur den Mut und die Macht zu beschützen. Sitzt vor dem leeren Wasserglas, willst sie nochmals aufscheuchen, die Hausgeister, zu einer mitternächtlichen Tanzeinlage. Ein Faustschlegel liegt in deiner nicht gewachsenen Kleinwinzighand, Strohhalme für den Kakao werden verteilt. Dachflächenfenster werden zum Auslüften gehoben und schnell wieder zugemacht. Hier hast du einen Schlüssel für dein höhnisch lachendes Gefängnishaus. Der Schlüssel passt nicht, einmal ist er zu groß, dann zu klein, zu leicht, einmal ist die Tür eine Garagenschiebetür, einmal ist sie das ohnehin weit offen stehende Eingangstor. Wem horchst du nach, was erzählst du deinem Kind vom Erhorchten und vom dem Erhorchten prompt folgenden Unwetterpeitschen auf und in den Eternittafeln? Eine Schadensmeldung ist zu machen. Manches ist zu Bruch gegangen. Und die Lieben drängen sich auf, Gespenster, Bleichgesichter, Ideenträger. Fühlt sich das Kind bedroht, fürchtet es um seinen Platz? Das Kind ist die zweite Person, das Kind ist das Nächste unter diesem Dach, aber es entzieht sich. Lebt vor seinem Körper, ist ausgetreten und hofft darauf, angefüllt zu werden von allem Lebendigen, das wie sprudelndes Wasser über die Schalen rinnt. Du bist verurteilt zuzuschauen. Die Kettensägen dröhnen als ein Wachrütteln aus der Erinnerung, aus dem Schweigen ein Wolkengespinst, sich andauernd verändernd. Was stellt es dar? Und jetzt und jetzt? Du reißt die Eingeweide aus den Rotaugen und Hechten und stellst die Frage: Und? Du schleppst den schweren Außenbordmotor und stellst die Frage: Wer will hier schon nach Antwort suchen? Die Dachlandschaft des Dorfes ist noch immer der bestimmte, von der Kirche hinabgeworfene Vertrautheitsblick. Fischförmiges aller Art hängt im Zentralraum des Hauses. Ein Bekannter wird getroffen, und das Händeschütteln ist ein langes Erinnerungsgedankenschütteln. Die große Linde und der Blick auf den See, unter dem Kreuz und auf der Hiertreffen-wir-uns-Bank. Und schon ist die Hausstille um einen Keimling reicher, schon spitzt sie die Ohren, ist ganz Anteil und Sorge hier auf dem Sofa, in der Kugelschreiberfüllung. Jetzt geh schlafen! Sorge dich nicht! Es gibt Bulldozer, und es gibt Reißnägel, und es gibt Moltofillpackungen. Die Lebensmittel gehen nicht aus, die Geschichte geht nicht aus, der Außenbordmotor fällt nicht aus, das Friseurgeschäft stellt noch immer Lehrlinge ein, und Parkplatzraser sind eine Gefahr. Zwei blinde Passagiere, abgestellt in der Nacht, abgestellt im Sternbild des Hauses, des Gehäuses und seiner Geschwister und seiner Wandergesellen. Das kommt nicht zur Ruhe, das rumort in den Kniekehlen, in den Lesebrillensets. Leise tritt es auf, damit wie von selbst einmal die Hausenergie zur Verfügung stehe. Dann tritt die Veränderung ein, ganze Stadtteile werden umgebaut, ganze Wohnviertel abgerissen und neu konzipiert. Viel Arbeit, viel Spezialwissen, viele Berufszweige profitieren davon. Viele Stellen werden ausgeschrieben und besetzt, und es kann losgehen.

ZARTER RAUREIF AM BAUMGEZWEIG, an den Spinnwebfäden zwischen den Balkonlatten. Es ist wieder Tag geworden. Nebel hüllt den See ein, Blässhühner, und eines kopfüber ins Wasser. Möwe weit über der Bootshütte, ruhige, kräftige Flügelschläge. Ihre Selbstverständlichkeit ist Beruhigung, beunruhigt dich in ihrer Fremdheit. Das offene Feuer im Kachelofen prasselt. Eisklumpen an den Fendern des Stegs klopfen dumpf herauf in den Dachboden. Kaum geschlafen, die Stimmen, die Geräusche im Haus ein bizarres Geisterleben. Vorfahren rücken ihre Sargdeckel zur Seite, das viele ungelebte Leben steht auf. Im Blick in den Nebel schweigt das Haus weiter. Im Blick auf die Raureifäste gellen die Möwenschreie höhnisch. Wie viel kostet ein zehn Jahre alter Gebrauchtwagen? Wir mögen das Haus bewohnen, wer ist imstande, die Fixkosten zu begleichen? Wir mögen das Haus bewohnen, aber das Haus bewohnt uns, wohnt uns aus, lässt uns bis auf das Gerippe abmagern. Ein wenig Schnee auf den Bootshüttendachziegeln, ein wenig wieder von den Wörtern beäugt, der galoppierenden Schwindsucht. Hast noch nicht die Kanalbenützungsgebühr entrichtet, hast noch nicht die Abfahrts- und Ankunftszeiten des Linienbusses studiert. Pappelalleen, Pappelalleen, wo immer sie herkommen, wie immer sie aufgenommen werden. Studier endlich den Fahrplan, schäl endlich die Erdäpfel, brat endlich den Fisch! Aber das zu wenig erhitzte Fett?! Die zu wenig gekochten Kartoffeln?! Und der Salat?! Der Salat hat Hände. Der Salat streckt seine Hände nach dir und würgt dich. Was hast du ihm angetan? Die Möwenschreie sind kein Zufall. Und die Autos rasen, als müssten sie so schnell wie möglich Tausende Tonnen von Legehennenbatteriendreck hinter sich lassen. Der Nebel lichtet sich, zwei rote Bojen kommen zum Vorschein, eine dicke Kröte hockt schwarz im verunglückten Wortbild. Wie zupacken ohne Hände und wie dem Wortbild das Schmalz auspressen? Dem Wortbild das Schmalz auspressen, und das Schmalz zum Braten der Fische verwenden. Dann werden sie schön knusprig und alle profitieren davon. Renn mir mit den Gedanken die Zeilen voraus, benutz die raureifbewachsenen Spinnwebfäden, benutz deinen Schnupfen, den Außenbordmotor, die vielen im ganzen Haus verstreuten Schneuztücher, das Klagelied schlechthin, benutz sie und renn mit ihnen um die Wette, die Zeile entlang, den wartenden Großvaterstuhl entlang. Hier geht jemand morgens zu Bett, um all das nächtliche Horchen in den Schlaf mitzunehmen, Schattenbilder von Schritten, von Eierspeisresten, Schattenbilder von Getöteten, von Fernsehflimmern und auf dem Sofa gestapelten Decken. Es sind kleine Schritte, kleine Schattenbilder, kleine Eierspeisreste. Weckruf Möwe dazwischen. Das Dazwischen als die gefüllte Vorratskammer. Bediene dich der Stofffische, bediene dich der Bootshüttendachziegel, bediene dich des Telefons! Du musst anrufen, du musst den Sachverhalt darlegen, du musst dir den Linienbusplan ansehen. Wo ist der Plan? Wohin hast du ihn gelegt? Du bist die Verlegenheit. Du bist der demnächst einzuzahlende Sozialversicherungsbeitrag. Wo hernehmen? Aus der Tiefe des Seegrundschlamms? Warum nicht! Die Kinderschokolade nicht vergessen. Die kaputten Steckdosen nicht vergessen. Nicht vergessen, die Kachelofentür zu schließen und den Anruf zu tätigen. Was muss noch getan werden? Eine Kamelhaardecke muss ein für alle Mal aus dem Zusammenhang gestrichen werden! Das Haus ist irdisch geworden. Die Klotür ist die Klotür, sonst nichts, der Fernsehtisch ist der Fernsehtisch, sonst nichts, der Geschirrspüler spült Geschirr, die Plafonddecke ist gut, aber sicher nicht optimal isoliert. So wird die Winterkälte in Schach gehalten, und der 21. Dezember ist der 21. Dezember. Wie gebannt das Horchen und Durch-Wände-Schauen, wie gebannt das Austräumen der Hausstille. Ein flacher Atem, ein schnelles Ins-Bett-Verkriechen, Nippesfiguren stehen auf der Kredenz, mühsames Dahinstolpern, ein paar Höhenmeter weniger und schon fallen dir die Augen zu. Der Geschirrspüler spült weiter ohne dich. Das Holz für den Kachelofen steht bereit. Auf dem Esstisch stehen ein Gugelhupf und eine Kerze. Das macht den Blick mürrisch. Lauern die Siebenschläfer, steht der Tischfußballtisch unter dem Dachflächenfenster?

DER RAUREIF AM GEZWEIG IST DICKER GEWORDEN. So im Hausinneren gesprochen hängt sich die erstarrte Gesichtsmimik mit diesem Satz an die Außenwelt. Hast Angst, im Hausinneren verschüttet zu werden! Steigst in den Keller. Hast Angst, im Hausinneren samt Keller verschüttet zu werden! Steigst nicht mehr, schüttelst nicht mehr, stützt das Mauerwerk durch zusätzliche Träger. So eine Stütze ist beispielsweise der Begriff Zinssenkung oder der Begriff Fruchtfolge oder der Begriff Friseursalon. Schlagartig hast du das Hausinnere mit Eisenträgern und Eisenkörben abgesichert. Jetzt hat sich die Heizung automatisch eingeschaltet, Wärme breitet sich aus. Du bist wieder abgekoppelt von dem Horchen und Schweigen des Hauses. Schlagartig ist dir die Technik verloren gegangen, die geschauten, erhorchten und erschwiegenen Dinge haben ihre Sprache verloren. Sie stehen herum. Sie reden nicht miteinander. Ein systematisch mit dem Schnitzmesser zerschnittener Arm redet nicht mehr. Eine Kartonschachtel, die Klappdeckel abgerissen, redet nicht mehr. Aus diesem Hausinneren haben sich Winzigarme und Winzighände, die dir die Erinnerung nahelegen wollten, zurückgezogen, und auf einmal liegen die im Herbst geernteten Äpfel herum. Sie schmecken sehr gut. Nichts wird mehr von selbst gesagt, scharf vorbei an der mit Schallbrettern verkleideten Dachstuhlwand. Und die Lieben? Wurliblumen, wie sie der Freund nennt, gepflückt zum kunterbunten Strauß. Die Kachelofenasche in eine Plastikwanne gefüllt (Vorsicht, dass die Glutreste das Plastik nicht zum Schmelzen bringen!) und vor der Garagentür ausgestreut, denn hier ist es eisig. Damals, der Kuhstall, die Melkmaschine, ein verschworener Abend in Nachdenklichkeit zusammengefaltet und mit Stirnrunzeln zum Blühen gebracht. War einmal, zwanzig Jahre früher und zwanzig Kilogramm weniger. So viele Weinflaschen und so viele Un- und Ausfälle später als wiederholtes Pochen der Hausherzkammer. Oder ist es der Zündungsimpuls der Heizung, oder ist es die Wasserumwälzpumpe? Die Balkonbretter voller weißer Stacheln, Raubtiergebisse, Sägeblätter, willst das Sezierbesteck ausbreiten, aber die fein säuberlich abgetrennten Dinge müllen dich zu. Du fragst dich, wo hab ich jetzt diese Niere oder diesen Nierenstein oder die Herzklappenwand abgelegt? Wiesel fällt dir ein, als ein völlig vereinzelt stehendes Wort, und schon ist der Zwieselbaum umgeschnitten, fällt auf das Dach, auf die Satellitenschüssel, auf die Holzbadestiegen. So im Unentschiedenen, dass selbst die Rechnung des Steuerberaters keine Gültigkeit mehr hat. Es ist still, und es kracht im Gebälk, und die Schreie der Blässhühner sind keinesfalls Fanfarenstöße, aber ein: Noch einmal, versuch’s! Schnall die Schischuhe an und los geht’s. Vollmond über der Hütte, lange Briefe in schwarzer Schrift, verbrannt, die Asche den Krähen gestreut, die durch den Nebel fliegen. Ein Morgen im künstlichen Licht, im Brodeln des Wasserkochers, in wildweiß verwachsenen Schneekristallen, die ihre Stacheln nach allen Seiten richten.

DIE STROHSTERNE AUF DER HEIMISCHEN TANNE, und die Katze liegt hingestreckt auf dem ausziehbaren Sofa, das völlig andere Bühnenbild, das Wie-gehabt-Bühnenbild, sodass sich die offenkundigen Geheimgänge ins Innere des Körpers wieder schließen und ein gleichermaßen gepanzertes Ebenbild seine Joggingrunden dreht. Hier bist du auf herumliegende Plastikfische als Weihnachtsschmuck angewiesen oder auf die erwähnten Strohsterne oder auf die Hauskatze. Begierig greifst du nach diesen Wörtern, wie beiläufig auch immer sie sich anbieten, begierig ziehst du sie so sehr ins Beiläufige, bis vor lauter Beiläufigkeit ihre Erwähnung nicht einmal mehr Benennung genannt werden kann, nicht einmal mehr Begriff. Es gibt keinen Begriff mehr, es gibt nur noch Begriffe, es gibt kein Begreifen mehr, nur noch Begriffenes, Abgegriffenes, Abgegriffenes: so oft gesehene Pölster, Korbsessel, Sofas, Teppichfäden. Die von dir abgegriffenen Wörter formieren sich als Gegenstände und nehmen dich ins Visier. Du entgehst ihren Blickblitzen nicht, sie starren dich so lange an, bis du’s endgültig aufgegeben hast, sie in die Waschmaschine zu stopfen und auf der Wäscheleine, die durch die ganze Wohnung gespannt ist, zum Trocknen aufzuhängen. Strohsterne in die Waschmaschine gestopft und auf der Wäscheleine, die von einem Zimmer zum anderen, von einer Wohnung zur anderen, von einem Haus zum anderen gespannt ist, aufhängen und trocknen lassen und als gewaschene, getrocknete und abgegriffene Gegenstände in den Wäschekorb werfen, um sie zum Bügeln oder zum Zusammenlegen zu stapeln, um sie alsdann in die vorgesehenen Ablagen zu schlichten. Das sind keine blutenden, vor Übermut mit der Beißzange ausgerissenen Fingernägel, das sind Bilder, die begierig an den Körperöffnungen lecken, um sie lustvoll, um sie lustvoll … Das sind keine Körperöffnungen, das sind jäh in den Nachmittag eingravierte Verfassungsänderungen. Sie haben sich eine Nulldiät verordnet, sie stecken den Spielraum ab, der notwendig ist, um doch irgendwann einmal in so eine Körperöffnung hineinzufallen und darin zu verschwinden, verschwinden mit Strohstern, Hauskatze und Sofa, verschwinden mit Wäschekorb, Bügeln und Lecken, so verschwinden, als wäre dieses Verschwinden eine regelrechte oder regellose Hausgeburt mit einer beispielgebenden oder beispiellosen Informationsleiste, auf der steht: Fernheizwärme in der ganzen Wohnung. Bist zurückgeschlüpft in das gepanzerte Nichtwissen, hast den Weihnachtsbaum auf den Kompost geschmissen, bist mit allen abgegriffenen und angetrockneten und zu Ende gebügelten und zu Ende zusammengelegten Begriffen als Wörter, als Namen, als Typen an das Körperende gekommen, an dem letztlich dieselben Wörter, Namen, Begriffe und Typen erneut heraussprudeln werden. Darauf warten wir.

DER HOLZSCHLITTEN LEHNT AN DER BALKONWAND. Keksdosen auf dem in Plastikhaut eingehüllten Sofa. Das Gesehene und das Gehörte ein Vereinzeltes, das Augen und Ohren verstopft. Das Gesehene und Gehörte ein Vereinzeltes, das blindlings nach der auf dem Fauteuil liegenden Katze greift. Aber die Katze geht mit der Sonne hinter dem Toten Gebirge unter. Traurigkeit kriecht aus den Fernseh- und Computerlautsprechern. Der Staubsauger behauptet sich im Wohnzimmer. Holzschlitten und Tellerbob lehnen an der Balkonwand. Du registrierst das Katzenfutter, und das Katzenfutter ist bloß ein weiteres Indiz zufälliger Augenblicke, zufällig nach Indizienketten suchender Augenblicksgier. Die Pflanzen auf dem Fenstersims sind halb verdorrt, schwarz heben sich ihre Umrisse vor der untergegangenen Sonne ab. Auf dem Plafond trampeln Schritte herum. Die Katze leckt sich das Fell. Damals das Ruderboot und das helle Gesicht die Morgengabe. Damals die lange Zigarre im Mundwinkel, der Mond hielt seinen Trabanten als Fingerzeig. Das Wohnzimmer voller künstlicher, leuchtender Geräusche, voller Elektrogeräte auf Stand-by, die den Atem nehmen, den Atem in das Knacken des Salzgebäcks sperren und Tür zu!