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INHALT

 

EDITORIAL

GEISTESBLITZE

WIE DIE ANGST KOMMT UND GEHT

Für das Erlernen und das Verlernen von Furcht gibt es zwei verschiedene Schaltkreise im Gehirn

PILLE GEGEN SCHLIMME ERINNERUNGEN

Blutdrucksenkendes Medikament schwächt Furchtreaktion

MIT AKTIVEN PROTEINEN ZUM ERFOLG

Während einer gelungenen Psychotherapie wachsen neue Nervenzellen

GENTHERAPIE FÜR ALKOHOLIKER?

Zumindest Ratten trinken weniger, wenn bei ihnen ein bestimmtes Enzym blockiert wird

NEUE STÖRUNGSBILDER

IM KAUFRAUSCH

Die Psychologin Astrid Müller erklärt, wie aus der Lust am Shoppen ein unwiderstehlicher Drang wird – und welche Behandlung Erfolg verspricht

DER EINGEBILDETE MAKEL

Menschen mit Körperdysmorpher Störung fühlen sich hässlich, obwohl sie allenfalls einen kleinen Schönheitsfehler haben. Besitzen sie einen besonders feinen Sinn für Ästhetik?

INTERVIEW

»MENSCHEN ALS UNTERHALTUNGSFUTTER«

Wenn Boulevardmedien naive Bürger aufs Korn nehmen, leiden viele von ihnen unter Scham und Ohnmachtsgefühlen. Der Psychiater Mario Gmür über die psychischen Folgen des Schlagzeilen-Terrors

ALBTRAUM INTENSIVSTATION

Notfalltherapie kann Leben retten, doch die traumatischen Erinnerungen an die Zeit im Krankenhaus lassen die Patienten oft nicht mehr los. Ein Hormon kann hier helfen

INTERVIEW

»SUCHT NACH VIRTUELLEM PRESTIGE«

An der Uniklinik Mainz gibt es eine Spezialambulanz für Computerspiel-Süchtige. Der leitende Psychologe Klaus Wölfling erklärt, warum Onlinegames so gefährlich sind und was seinen Suchtpatienten hilft

GESAMMELTES LEID

Jeder Gang zum Papierkorb ist für Messies ein Kampf. Sie können zwischen wichtigen und nutzlosen Gegenständen nur schwer unterscheiden und fühlen sich ihren Besitztümern emotional stark verbunden

NEUROPSYCHIATRIE

INTERVIEW

»ENTSCHEIDEND IST, WIE GUT DER PATIENT ZURECHTKOMMT«

Persönlichkeitsstörungen sind schwer zu fassen. Fachleute diskutieren deshalb seit Jahren eine Revision der bisher gültigen Diagnosekriterien. Die Psychiaterin Sabine Herpertz erläutert, welche Probleme sie aufwerfen – und warum dennoch vorläufig alles beim Alten bleibt

IN DER ENDLOSSCHLEIFE

Der Psychiater Ulrich Voderholzer und die Psychologin Anne Katrin Külz erläutern, wie ein gestörter Regelkreis im Gehirn Zwänge auslösen kann

INTERVIEW

»DIE NADEL IM MOLEKÜLHAUFEN«

Im britischen Cambridge forscht Sabine Bahn nach Biomarkern für Schizophrenie und Manie. Ein Laborbesuch

FATALES ERBE

Suizide treten familiär gehäuft auf. Die Neigung zum Freitod liegt manchen Menschen in den Genen

THERAPIE IM 21. JAHRHUNDERT

HEILSAME TRIPS

Psychiater testen das therapeutische Potenzial von halluzinogenen Drogen – mit ersten Erfolgen

DIALEKTIK FÜRS GEMÜT

Eine Mannheimer Borderline-Station setzt auf Psychotherapie mit Akzeptanz und Emotionsmanagement

INTERVIEW

»GRÖSSTEN RESPEKT VOR DEM GEHIRN«

Der Kölner Neurochirurg Volker Sturm behandelt depressive Patienten mittels Tiefer Hirnstimulation

SANFTE PSYCHIATRIE

Eine Station für psychotische Patienten verzichtet auf Zwangsmaßnahmen und geschlossene Türen

MUSTERHAFTER WANDEL

Mit Hilfe der Synergetik, einer Theorie zur Funktionsweise von Systemen, lässt sich der Erfolg einer Psychotherapie mathematisch erfassen und steuern

EDITORIAL

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Christiane Gelitz ist Diplompsychologin und Redaktionsleiterin bei GuG.
gelitz@spektrum.de

VON SCHATTEN- UND SCHOKOLADENSEITEN

Für Psychiater und Psychotherapeuten hat das 21. Jahrhundert aufregend begonnen. Dank neuer Operationsmethoden können Mediziner heute mittels Hirnelektroden Depressionen und Zwänge lindern. Mathematische Analysen erlauben, Wendepunkte im Verlauf einer Psychotherapie zu identifizieren. Alte Überzeugungen stehen in Frage: Sind illegale Drogen wie LSD nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance für das seelische Wohlbefinden? Und könnten Psychiatrien auf Zwangsmaßnahmen für psychotische Patienten verzichten?

Doch technischer Fortschritt hat seinen Preis: Der Apparatemedizin auf einer Intensivstation ausgeliefert zu sein, kann Patienten traumatisieren. Computer und Internet haben eine zweite Realität geschaffen, in der vieles nur noch Schein ist: sei es die Makellosigkeit dank digitaler Bildbearbeitung oder eine virtuelle Existenz als Avatar in einem Onlinespiel. Die Werbung fördert Konsumexzesse und Kaufsucht, indem sie suggeriert, dass wir nur bestimmte Produkte erwerben müssten, um jung, schön und erfolgreich zu sein. Zugleich nehmen einige Boulevardmedien Schwächen und Fehltritte argloser Menschen so lange aufs Korn, bis diese sich vor Scham nicht mehr auf die Straße trauen.

Die Schattengewächse des Fortschritts gedeihen überall dort, wo etwa Gene oder Hirnanomalien ihnen den Boden bereiten. Doch trotz ihrer biologischen Wurzeln sind wir psychischen Erkrankungen nicht hilflos ausgeliefert. Anstatt nach virtuellem Ruhm und Ansehen zu streben, sollten wir um Erfolgserlebnisse im realen Leben kämpfen. Und anstatt uns nur mit den Schönsten und Reichsten zu vergleichen, können wir dem Spiegel unsere Schokoladenseite zuwenden – und uns mit dem anfreunden, wie wir sind und was wir haben.

Herzlichst
Ihre

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Dieses Dossier bündelt die wichtigsten GuG-Artikel zu psychischen Störungen und ihrer Therapie aus den vergangenen Jahren.

GEISTESBLITZE

 

 

 

 

PHOBIEN

Wie die Angst kommt und geht

Das Zusammenspiel zweier Schaltkreise im Gehirn bestimmt unsere Reaktion auf potenziell bedrohliche Ereignisse.

Warum haben wir vor etwas Angst? Für Hirnforscher ist die Antwort klar: Die »Mandelkerne« – auch Amygdalae genannt – entscheiden anhand im Gedächtnis gespeicherter Erfahrungen, ob wir gelassen bleiben oder schreiend weglaufen.

Bei Patienten mit Angststörungen sind manche Reize eng mit bedrohlichen Erinnerungen verknüpft und lösen deshalb laufend Panikattacken aus. Um den Betroffenen zu helfen, versuchen Therapeuten, diese Konditionierung zu löschen: Die Reize werden wiederholt ohne unangenehme Folgen dargeboten. Dabei handelt es sich nicht um einfaches Vergessen, sondern um einen aktives Verlernen der Angst. Bislang war jedoch unklar, was genau im Gehirn währenddessen passiert.

Jetzt hat ein Team um Andreas Lüthi vom Friedrich-Miescher-Institut für Biomedizin in Basel entdeckt, dass Angstkonditionierung und -löschung über zwei voneinander unabhängige neuronale Schaltkreise laufen. Die Forscher hatten Mäusen Elektroden ins Gehirn eingepflanzt und den Tieren danach eine Angstreaktion antrainiert, indem sie ihnen mehrmals sofort nach einem Tonsignal einen leichten Elektroschock verpassten. Danach löschten sie diese Reaktion wieder, indem sie den Ton ohne Stromstoß vorspielten.

Lüthis Gruppe stellte fest, dass bei den beiden Vorgängen zwei unterschiedliche Nervenzellgruppen in der Amygdala aktiv sind. So feuerte der eine Neuronentyp während der Löschung immer weniger, wogegen die Aktivität des anderen stark zunahm. Die bisherige Sichtweise, Mandelkernaktivität gehe grundsätzlich mit Angst einher, ist also zu simpel.

Zudem sind die beiden Neuronengruppen auch Teil zweier unabhängiger Schaltkreise: Während die Angst vermittelnden Zellen Signale vom Hippocampus – der Pforte für neue Gedächtnisinhalte – erhalten, sind die Löschungsneurone mit dem medialen präfrontalen Kortex verbunden. Offenbar entscheidet die Balance zwischen diesen Schaltkreisen darüber, wie wir auf Furcht einflößende Reize reagieren. Bei Patienten mit Angststörungen müsste man sie dann in Richtung Löschung verschieben.

Nature 454, S. 600–606, 2008

ANGSTSTÖRUNGEN

Pille gegen schlimme Erinnerungen

Ein blutdrucksenkendes Mittel schwächt das Furchtgedächtnis.

Schlimme Erlebnisse hinterlassen oft tiefe Spuren in der Psyche der Betroffenen. Wie praktisch wäre es da, die schmerzhaften Erinnerungen einfach per Pille löschen zu können. Die Psychologin Merel Kindt und ihre Kollegen von der Universität Amsterdam sind diesem Ziel ein Stückchen nähergekommen – mit Hilfe eines Betablockers.

Zuerst zeigten die Forscher ihren 60 Probanden wiederholt Bilder von Spinnen und verabreichten dabei bisweilen unangenehme Elektroschocks. Wie zu erwarten, neigten die Versuchspersonen nach kurzer Zeit schon beim bloßen Anblick der Bilder zu Furchtreaktionen. Das äußerte sich etwa darin, dass sie nun heftiger blinzelten, wenn sie zusätzlich durch ein lautes Geräusch erschreckt wurden.

Am Tag darauf schluckten alle Studienteilnehmer eine Pille – ohne zu wissen, ob es sich dabei um 40 Milligramm des Betablockers Propranolol oder um ein Scheinpräparat handelte. Weitere 24 Stunden später sahen sie ein zuvor mit dem Elektroschock gekoppeltes Spinnenbild erneut.

Wer unter Einfluss des Medikaments stand, reagierte auf diesen Anblick jetzt mit deutlich weniger Furcht (gemessen am Lidschlagreflex) als die Probanden aus der Placebogruppe. Die erlernte Angstreaktion verflüchtigte sich bald sogar ganz, so die Forscher.

Propranolol hemmt die Wirkung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin und wird deshalb bei hohem Blutdruck eingesetzt. Das Medikament blockiert offenbar auch entsprechende Rezeptoren in der Amygdala, dem Angstzentrum im Gehirn. Ob das die negativen Erinnerungen löscht oder nur ihren Abruf hemmt, ist allerdings noch unklar. Die Forscher hoffen gleichwohl, dass sich mit Hilfe von Propranolol die Leiden von Angstpatienten künftig besser lindern lassen.

Nat. Neurosci. 12, S. 256–258, 2009

DEPRESSION

Mit aktiven Proteinen zum Erfolg

Eine gelungene Psychotherapie spiegelt sich biologisch im Wachstum neuer Nervenzellen und Synapsen.

Um Depressionen zu behandeln, greifen Ärzte häufig auf Medikamente zurück, die den Stoffhaushalt des Gehirns verändern. Nun konnten Kieler Forscher nachweisen, dass auch reine Psychotherapie auf ähnliche Weise wirkt: Eine erfolgreiche Behandlung lässt die Konzentration des Transkriptionsfaktors CREB (CyclicAMP Response Element-Binding Protein) ansteigen. Dieses Protein sorgt dafür, dass bestimmte Gene in den Zellkernen von Neuronen vermehrt abgelesen werden.

Ein Team um den Psychiater Jakob Koch von der Kieler Christian-Albrechts-Universität untersuchte insgesamt 30 Patienten, die unter Depressionen litten. Sechs Wochen lang absolvierten die Probanden eine Psychotherapie mit insgesamt zwölf Gesprächssitzungen. Bei rund der Hälfte der Teilnehmer zeigte die Kurzzeitbehandlung Wirkung: Die Schwere ihrer Depression – per Fragebogen ermittelt – ging deutlich zurück.

Bereits eine Woche nach Therapiebeginn konnten die Forscher bei diesen Patienten eine erhöhte Konzentration an pCREB, der aktiven Form des Proteins, messen. Bei jenen Teilnehmern, die nicht auf die Behandlung ansprachen, fand sich dagegen kein solcher Anstieg.

Was zuvor schon für Antidepressiva bekannt war, trifft somit auch für die Psychotherapie zu: Eine erfolgreiche Behandlung führt zu mehr aktiviertem CREB. Das Protein fördert unter anderem das Wachstum neuer Nervenzellen und Synapsen, was eine wichtige Rolle beim Lernen spielt. »Zum ersten Mal zeigt ein zellulärer, biologischer Marker die Wirkung einer Psychotherapie an«, so die Autoren der Studie.

Psychother. Psychosom. 78, S. 187–192, 2009

SUCHT

Gentherapie für Alkoholiker?

Wird die Produktion eines bestimmten Enzyms blockiert, trinken Ratten weniger.

Nicht nur das Risiko, Alkoholiker zu werden, hängt von unserem Erbgut ab – die Gene können auch einen wirksamen Schutz gegen die Trinksucht bieten. Das zeigt das Beispiel vieler Menschen ostasiatischer Herkunft. Der Genuss von Wein, Bier und Spirituosen führt bei ihnen zu Übelkeit und Herzrasen. Der Grund: eine Genmutation, die die Produktion des Enzyms Aldehyd-Dehydrogenase-2 (ALDH2) verhindert. Der Hilfsstoff ist entscheidend am Alkoholabbau beteiligt – ein Mangel daran stellt für die meisten Ostasiaten wegen der abschreckenden Nebeneffekte einen wirksamen Schutz gegen Alkoholismus dar.

Diesen Mechanismus machten sich Wissenschaftler um den Biologen Yedi Israel an der Universidad Santiago de Chile nun in Laborversuchen zu Nutze. Sie trieben zunächst Ratten in die Alkoholabhängigkeit, indem sie den Tieren zwei Monate lang unbegrenzten Zugang zu dem berauschenden Stoff gewährten. Anschließend injizierten die Forscher den Nagern RNA-Sequenzen ins Blut. Diese blockieren die Produktion des ALDH2-Enzyms. Das Ergebnis: Die gentherapierten Ratten tranken nur noch halb so viel Alkohol!

Ob derselbe Effekt auch bei alkoholabhängigen Menschen greift, ist damit allerdings noch lange nicht geklärt.

Alcohol.: Clin. Exp. Res. 32, S. 1–6, 2008

NEUE STÖRUNGSBILDER | VERHALTENSSUCHT

Im
Kaufrausch

Wenn das Hochgefühl an der Kasse das Einzige ist, was den Alltagsfrust kurz vergessen lässt, dann wird die Lust am Shoppen zur Sucht. Die Psychologin Astrid Müller testet am Uniklinikum Erlangen einen Therapieansatz aus den USA, der den Kaufattacken einen Riegel vorschieben soll.

VON ASTRID MÜLLER

AUF EINEN BLICK

Kauflust außer Kontrolle

1 Eine Kaufsucht kann vorliegen, wenn jemand permanent und über längere Zeit überflüssige Dinge erwirbt. Der Akt des Kaufens löst dabei ein Hochgefühl aus, das schnell wieder verfliegt.

2 Die Betroffenen wissen um die Sinnlosigkeit ihres Verhaltens, können dieses jedoch nicht kontrollieren. Die Folgen sind Angst, Scham und Depressionen – und ein wachsender Schuldenberg.

3 Bisher gibt es nur wenige Behandlungsansätze.
Eine neu entwickelte Verhaltenstherapie zeigt erste Erfolge.

Als Frau L. zum ersten Mal in die Sprechstunde kam, war sie sehr niedergeschlagen. Sie berichtete, dauernd Streit mit ihrem Mann zu haben. Auslöser waren meist Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen – offenbar gab Frau L. zu viel Geld für Kleidung und Wohnungsdekoration aus. Fast täglich gefielen ihr neue Sachen, die sie unbedingt haben musste. Obwohl die Freude an den erworbenen Dingen stets sehr schnell nachließ, konnte sie dem Kaufdrang nicht widerstehen. Manchmal versteckte sie die Einkäufe sogar vor ihrem Mann und ihren Kindern. Der Keller war längst mit Kisten voller Vasen, Sofakissen und Kerzenständern vollgestopft. Aus Angst prüfte Frau L. schon gar nicht mehr ihren Kontostand; auch die Post öffnete sie nicht mehr. Sie schämte sich dermaßen für ihr Verhalten, dass sie mit niemandem darüber sprechen konnte.

So wie dieser Patientin geht es vielen Menschen: Die Lust am Einkaufen entgleitet ihnen. Vorher vertrieb das Shoppen trübe Launen oder belohnte für erledigte Arbeit – jetzt ist ein ernsthaftes Problem entstanden, Psychologen sprechen vom »pathologischen Kaufen«.

Die Betroffenen benutzen die Waren so gut wie nie, manchmal packen sie diese nicht einmal aus. Oft verheimlichen oder verstecken sie ihre Einkäufe; mitunter vergessen sie sie schlichtweg. Was erstanden wird, hängt von persönlichen Vorlieben ab: Schuhe, Taschen, Elektronikartikel, Bücher, Küchengeräte oder auch Lebensmittel. Dabei kaufen die Betroffenen nicht unbedingt nur Dinge für sich selbst, manchmal beschenken sie auch andere. Während manche Kaufsüchtige die Komplimente, die exklusive Zuwendung und das quasifreundschaftliche Verhältnis zu den Verkäufern genießen, bevorzugen andere das vermeintlich anonyme Katalog- oder Onlineshopping.

Unabhängig davon, was oder wie jemand am liebsten kauft – Shoppingsüchtigen geht es immer um den Akt an sich. Dieser kann eine Art Flucht sein: Betroffene konzentrieren sich so stark auf den Erwerb von Waren, dass sie unangenehme Gefühle nicht mehr spüren und auf diese Weise Konflikte ausblenden können. Für die Patienten scheint keine andere Ablenkungsstrategie so schnell zu wirken, so einfach und gesellschaftlich so akzeptiert zu sein wie das Einkaufen.

Andere empfinden ein regelrechtes Hochgefühl beim Kaufen. Zwar reicht die Intensität der Glücksmomente nicht an die eines Drogenrausches heran – das Bewusstsein ist beim Shoppen kaum getrübt. Doch vor allem in der Fantasie der Betroffenen scheint das Hochgefühl grenzenlos: Viele stellen sich während des Kaufens vor, wie sie hinterher mit Bewunderung und Lob für ihre »gute Wahl« überschüttet werden.

Frust statt Vergnügen

Diese Wirkung verfliegt allerdings schnell. Bereits beim Bezahlen an der Kasse oder mit Eintreffen einer bestellten Sendung stellen sich Reue, Scham und Schuldgefühle ein. Die kurzfristig verdrängten Probleme treten wieder in den Vordergrund.

Unvernünftige Kaufimpulse überfallen jeden Menschen ab und an. Pathologisches Kaufen unterscheidet sich jedoch vom gelegentlichen Schnäppchenwahn oder von Frustkäufen dadurch, dass die Betroffenen extrem häufig und in unüberschaubaren Mengen Waren erstehen, die sie sich gar nicht leisten können. Kaufsüchtige versuchen, die negativen Konsequenzen ihres Verhaltens zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder oft auch durch Lügen oder Betrügereien zu kaschieren. Mitunter kommt es sogar zu Strafdelikten, um dem Kaufdrang nachgehen zu können – darunter Scheckbetrug oder Bestellungen unter falschem Namen.

Die amerikanische Psychiaterin Susan McElroy von der University of Cincinnati formulierte bereits 1994 wissenschaftliche Diagnosekriterien für pathologisches Kaufen oder compulsive buying (siehe (siehe Kasten »Kaufsüchtig oder nicht«). Die Betroffenen sind sich ihres ungezügelten Konsumverhaltens und der daraus resultierenden Schäden durchaus bewusst, dennoch gelingt es ihnen nicht, den Drang unter Kontrolle zu bringen. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Kaufsucht meistens nicht plötzlich auftritt, sondern sich über Jahre hinweg langsam entwickelt. Den Kontrollverlust verheimlichen viele Betroffenen so lange, bis ihnen der Schuldenberg über den Kopf wächst oder der Partner mit Trennung droht.

Obwohl es auf den ersten Blick so aussehen mag, ist diese Verhaltensstörung kein neues Phänomen: Bereits vor 100 Jahren beschrieb der deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1856–1926) die »krankhafte Kauflust« in seinen Lehrbüchern. Er bezeichnete sie als »Oniomanie« (zu Deutsch: krankhafter Kauftrieb) und hielt sie für eine Störung der Impulskontrolle.

Trotz der langen Geschichte des Konzepts ist die Forschungslage zum pathologischen Kaufen noch immer eher dürftig. Breitere Beachtung bei Psychiatern, Soziologen und Konsumforschern fand das Phänomen erst in den 1990er Jahren. Dabei scheint es durchaus weit verbreitet zu sein: Laut Schätzungen sind in Deutschland rund sechs Prozent der Erwachsenen zumindest akut gefährdet, wenn nicht gar eindeutig betroffen. Dies ergab eine 2005 veröffentlichte Repräsentativbefragung, bei der Wissenschaftler der Universität Hohenheim und der Fachhochschule Ludwigshafen die Kaufsuchtgefährdung mit Hilfe eines Fragebogens erfassten.

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte 2006 ein amerikanisches Forscherteam der Stanford University um den Psychiater Lorrin Koran. Demnach zeigen in den USA gleichfalls knapp sechs Prozent der Bevölkerung Symptome einer Kaufsucht. Beide Studien ergaben zudem, dass jüngere Menschen deutlich öfter dem Shoppingwahn erliegen als ältere.

Exzessive Kaufgewohnheiten gelten gemeinhin als ein typisch weibliches Problem. Tatsächlich bewegte sich der Frauenanteil unter den Kaufsuchtpatienten in mehreren Untersuchungen zwischen 80 und 95 Prozent. In der Bevölkerung scheinen jedoch Männer und Frauen gleich häufig kaufsuchtgefährdet zu sein – dies belegen die Resultate der amerikanischen Studie von Koran.

Viele Betroffene horten die erworbenen Waren zu Hause. Die entstehende Unordnung und das Nichts-mehr-finden-Können provozieren weitere unnütze Einkäufe. Soziale Aktivitäten wie etwa Einladungen an Freunde nehmen immer mehr ab, da sich die Betroffenen für das zunehmende Chaos in ihrer Wohnung schämen. Es fällt ihnen auch immer schwerer abzuschätzen, ob eine Kaufentscheidung angemessen ist, weil sie längst die Übersicht über ihren Haushalt verloren haben.

Von den Kaufsüchtigen, die sich in Behandlung begeben, leiden mehr als 90 Prozent an mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung: Wie wir in einer eigenen Studie am Universitätsklinikum Erlangen feststellten, sind Depressionen und Ängste mit etwa 80 Prozent am weitesten verbreitet; fast jeder Dritte litt an Essstörungen oder einer weiteren Suchterkrankung.

Angesichts der vielen Begleitsymptome stellt sich die Frage, ob Kaufsucht überhaupt ein eigenständiges Störungsbild ist – oder ob es sich nicht vielmehr um ein »Nebenphänomen« anderer psychiatrischer Erkrankungen handelt. Bislang ist es Wissenschaftlern nicht gelungen, diese Frage endgültig zu beantworten. Auch ein erschöpfendes Modell darüber, wie pathologisches Kaufverhalten entsteht, gibt es noch nicht.

Allerdings mehren sich die Hinweise darauf, dass Selbstwertprobleme, hohe Impulsivität und geringe Selbstkontrolle wesentlich dazu beitragen, dass Menschen kaufsüchtig werden und es lange Zeit bleiben. Die Patienten beschreiben sich oft als wenig selbstbewusst und sozial ängstlich. Offenbar gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Konsumdrang und der emotionalen Befindlichkeit: In vielen Fällen lösen negative Stimmungen die »Kaufattacken« aus. Ganz sicher spielt auch die kulturelle Umgebung eine Rolle – pathologisches Kaufen ist fast ausschließlich in Ländern mit kapitalistischen Wirtschaftssystemen bekannt.

Neurobiologische Ursachen könnten ebenfalls zur Störung beitragen, zum Beispiel ein Ungleichgewicht im Serotonin- oder Dopaminhaushalt. Allerdings lassen sich auf Grund der häufigen Begleiterkrankungen solche Befunde kaum spezifisch der Kaufsucht zuordnen.

Unwiderstehliche Impulse

Experten sind sich auch noch uneinig, wie sich die Kaufsucht in die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme einordnen lässt. Am plausibelsten erscheint den meisten Psychiatern, sie als »Impulskontrollstörung« zu werten. Darunter fallen auch andere Verhaltensmuster, die den Betroffenen oder anderen Menschen schaden, wie Kleptomanie oder pathologisches Glücksspiel. Mit diesen Phänomenen hat die Kaufsucht beispielsweise gemein, dass der Patient die aufkommenden Impulse als unwiderstehlich erlebt und sein Verhalten nicht rational begründen kann. Außerdem setzen Kaufsüchtige ihre Handlungen trotz negativer Konsequenzen fort – dies spricht für eine Störung der Impulskontrolle.

Andere Autoren betrachten den psychologischen Mechanismus dahinter tatsächlich als Sucht – nur dass die Betroffenen nicht von einer Substanz abhängig sind. Nach diesem Verständnis fallen Kaufsucht, Spielsucht, Arbeitssucht, Sexsucht und Internetsucht in die gemeinsame Kategorie der »Verhaltenssüchte«.

Ob mangelnde Impulskontrolle oder Sucht – den meisten Patienten dürfte die Antwort auf diese Frage egal sein. Doch die unklare wissenschaftliche Einordnung trägt dazu bei, dass es bisher nur wenige professionelle Behandlungsangebote gibt. Denn obwohl die Konsumexzesse sowohl bei den Betroffenen selbst als auch bei ihren Angehörigen einen enormen Leidensdruck erzeugen, übersehen oder bagatellisieren Ärzte und Psychologen das Beschwerdebild nach wie vor häufig. Selbst wenn die begleitenden Erkrankungen wie Ängste oder Depressionen erfolgreich behandelt wurden, normalisiert sich das Kaufverhalten nur selten.

Daher wirken auch die etablierten Medikamente in der Regel nicht: Eine Behandlung mit Antidepressiva hilft nur in Einzelfällen. Die wenigen bisher publizierten Studien zu Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) konnten keine Überlegenheit dieser Stoffe gegenüber einem Placebo in der Behandlung von pathologischen Käufern belegen.

Neues Konsumverhalten lernen

Erste Ergebnisse sprechen jedoch dafür, dass eine gezielte Psychotherapie den Betroffenen helfen könnte. Eine Forschergruppe um den Psychiater James Mitchell von der University of North Dakota erprobt derzeit eine speziell für Kaufsüchtige entwickelte kognitive Verhaltenstherapie. An der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen haben wir eine modifizierte deutsche Version dieses Programms entwickelt. In zwölf Therapiesitzungen lernen die Patienten, ihre Kaufattacken zu reduzieren, indem sie deren Ursachen auf den Grund gehen. Gleichzeitig üben sie ein angemessenes Konsumverhalten ein. Da Kaufsüchtige in der Regel schlecht mit Geld umgehen können, stehen auch Finanzmanagement und die Bedeutung von EC- und Kreditkarten auf dem »Lehrplan«. Die meisten Patienten verwalten ihre Konten längst nicht mehr selbst, weil die Karten von den Banken eingezogen wurden oder Angehörige die finanzielle Verantwortung übernommen haben. Doch das hilft nur kurzfristig, die Patienten müssen den Umgang mit Geld selbst neu erlernen.

2008 haben wir in einer Gruppentherapiestudie mit 60 Patienten gezeigt, dass diese Behandlung wirksam ist: Etwa die Hälfte der Teilnehmer erfüllten nach der Therapie nicht mehr die Kriterien einer Kaufsucht – auch wenn bei vielen noch Restsymptome bestanden. Die Weiterentwicklung solcher störungsspezifischen Angebote scheint derzeit der vielversprechendste Ansatz, um das Problem »pathologisches Kaufen« in den Griff zu bekommen.

Astrid Müller ist Psychologin und leitete die Studie zur Verhaltenstherapie Kaufsüchtiger am Universitätsklinikum Erlangen. Zurzeit forscht sie am Neuropsychiatric Research Institute in Fargo (US-Bundesstaat North Dakota).

Kaufsüchtig oder nicht?

Bereits 1994 formulierte die amerikanische Psychiaterin Susan McElroy von der University of Cincinnati folgende Diagnosekriterien für pathologisches Kaufen oder compulsive buying:

 

Image unwiderstehliche, sich aufdrängende und sinnlose Kaufimpulse oder -handlungen

Image Erwerb von mehr Waren, als der Betroffene sich leisten kann

Image Erwerb unnötiger Waren über längere Zeitspannen

Image erheblicher Leidensdruck, verursacht durch den ständigen Kaufdrang; Beeinträchtigung von sozialen und beruflichen Funktionen und/oder Verursachung finanzieller Probleme (Verschuldung oder Konkurs)

Image Auftreten der Kaufexzesse nicht nur im Rahmen manischer oder hypomanischer Phasen

Der »Hohenheimer Kaufsuchtindikator«

Die Forschungsgruppe Kaufsucht der Universität Hohenheim entwickelte einen Fragebogen, um Patienten oder Versuchspersonen auf Anzeichen von pathologischem Kaufen zu testen. Hier ein Auszug aus den insgesamt 16 Fragen:

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Hilfe zur Selbsthilfe

Da es bislang kaum Behandlungsangebote speziell für Kaufsüchtige gibt, gründeten sich in den letzten Jahren mehrere Selbsthilfegruppen in Deutschland. So ist zum Beispiel seit 2002 in Hannover »Lindes Selbsthilfegruppe« aktiv (www.kaufsuchthilfe.de) und in Bayern seit 2006 die Fürther Selbsthilfegruppe »KAUSUD«.

QUELLEN

Black, D. W.: A Review of Compulsive Buying Disorder. In: World Psychiatry 6, S. 14–18, 2007.

Koran, L. M. et al.: Estimated Prevalence of Compulsive Buying Behavior in the United States. In: American Journal of Psychiatry 163, S. 1806–1812, 2006.

Müller, A. et al.: A Randomized, Controlled Trial of Group Cognitive Behavioral Therapy for Compulsive Buying Disorder: Posttreatment and 6-Month Follow-up Results. In: Journal of Clinical Psychiatry 69, S. 1131–1138, 2008.

Weitere Quellen unter:

www.gehirn-und-geist.de/artikel/1001648

NEUE STÖRUNGSBILDER | KÖRPERWAHRNEHMUNG

DER EINGEBILDETE MAKEL

Menschen mit Körperdysmorpher Störung fühlen sich hässlich – dabei haben sie allenfalls einen kleinen Schönheitsfehler. Leiden sie an einem besonders feinen Sinn für Ästhetik?

VON SUSANNE RYTINA

 

 

Eine Kraterlandschaft ist nichts dagegen. Tief zerklüftet, von Furchen und Tälern durchzogen und mit pusteligen Erhebungen übersät. Stundenlang inspiziert Andreas Klein* sein Gesicht im Spiegel. Eine leichte Akne in der Pubertät hat bei ihm ein paar winzige Narben hinterlassen – kaum sichtbar für andere.

Der 26-Jährige leidet an einer Körperdysmorphen Störung (KDS). »Dysmorph« stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie »missgestaltet« oder »entstellt«. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig, manche mehrere Stunden täglich, mit einem vermeintlichen körperlichen Makel. Sie fühlen sich hässlich. Dabei ist ihre Sorge unbegründet oder völlig überzogen, weil andere Menschen höchstens einen kleinen Schönheitsfehler an ihnen entdecken können.

Jedes Körperteil kann zum Objekt des Abscheus werden, doch am häufigsten gilt er dem eigenen Gesicht: Die Gedanken kreisen um Haarausfall, Akne, Falten, Narben, Gesichtsbehaarung, um die Form oder Größe der Nase, Ohren, Augen oder Zähne. Auch Körpergröße und Körperbau stehen häufig im Fokus der kritischen Blicke. Seit einigen Jahren beobachten Ärzte außerdem, dass sich immer mehr KDS-Patienten an ihren Brüsten, Genitalien oder dem Gesäß stören.