cover
Hilde Willes

Wenn Mauern fallen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Intro

 

Wenn Mauern fallen – Hilde Willes

Er kommt aus dem Osten und findet in einem westlichen Dorfladen ein Weihnachtsgeschenk für seine Mutter, eine Schmetterlingslampe. Und die Liebe seines Lebens!

West vermischt sich mit Ost, Schicksale werden neu geboren. Doch das Leben ist kein Märchen und Glück manchmal vielleicht zu groß, als dass es für alle Zeiten halten könnte.

Der Mauerfall mit seinen Auswirkungen im Leben einer Frau und einem Ort an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zieht den Leser in den Strudel unserer jüngsten Geschichte hinein und lässt ihn bis zu letzten Seite nicht mehr los. Heimatverbundenheit, Liebe, Neid, Dramatik, Trauer und das Nachempfinden neuer Hoffnung zeichnen diese Ost-West-Geschichte aus, die dennoch mehr ist als das. Es ist eine Geschichte, die davon handelt, niemals aufzugeben und den Mut nicht zu verlieren.

Copyright © 2015 – 2018 Hilde Willes – publiziert von telegonos-publishing

2. Auflage

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Azrael Ap Cwanderay

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Kontakt zur Autorin über die Verlagshomepage

 

 

Vorwort und Prolog

 

 

„In unserem Seelenleben liegen zwischen Blitz und Donner oft viele Jahre“ (Hans Arndt)

Es gibt sie, diese Zündholz-Momente, wo man urplötzlich weiß, jetzt muss etwas geschehen. Kein Zögern und Zaudern mehr, selbst wenn einem noch gar nicht klar sein kann, wohin es einen treiben wird. Manchmal braucht’s auch einen langen Anlauf, ehe man diese entscheidende Stunde erreicht. Und wird es auch gut werden? Doch eines ist plötzlich glasklar, so wie es ist, so kann es nicht bleiben!

 

In diesem Jahr der Neuauflage meines Debüts erschien in einigen bekannten Frauen-Journalen Berichte über mich zum Thema Wie weitermachen, wenn nichts mehr geht? In den Interviews sprach man von einem Befreiungsschlag. Und ja, auch wenn sich das schon ziemlich dramatisch anhört, das Schreiben (und Veröffentlichen) von „Wenn Mauern fallen“ war seinerzeit mein Befreiungsschlag! Was Sie jetzt in Händen halten, liebe Leserin, lieber Leser, das ist mein Zündholz-Moment, der im Folgenden natürlich noch einen weitaus längeren Entwicklungsweg benötigte, als das Aufflackern eines Streichholzes.

 

Die Erstfassung schrieb ich in den Jahren 2014/15. Eine Zeit, die ich ohne zu übertreiben eine der schlimmsten (aber irgendwo auch besten) meines Lebens nennen kann, die nur so schrie nach Veränderung und sehr viel Mut und Zuversicht brauchte. Ich frage mich noch heute manchmal, wo ich’s eigentlich hernahm. Ich weiß es nicht, aber dieser Roman hatte einen gehörigen Anteil daran. Nein, mehr noch, ich bin ziemlich sicher, dass mein Zündholz-Moment nicht gekommen wäre, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Und deshalb wird es immer eine ganz besondere Bedeutung für mich haben.

Doch nun genug der furiosen Worte, Zeit für Freude, Zeit für Merci!

Danke an meine Kinder, meine Familie, Freunde und Kollegen, die ganz sicher so manches Mal Nachsicht üben müssen, weil Hilde nicht immer so WILL wie sie, sich zuweilen abschottet und gedanklich sonst wo rumtreibt.

Danke an den Schriftsteller Rolf Palm (u. a. Die Brücke von Remagen), der mich seinerzeit auf die Spur brachte, weil er sagte: „Wenn du eine Idee hast, Hilde, wenn du schreiben willst, dann tu es! Ich bin sicher, du kannst es.“

Danke an Hans-Joachim Gille, der mir während der Überarbeitung eine große Hilfe gewesen ist, indem er Korrektur las und dabei den einen oder anderen Fauxpas entdeckte.

Danke an Azrael Ap Cwanderay (Thorsten Perne), der mir nun zum dritten Mal ein schönes Buchcover erstellte, und Dankeschön an Heinz Rochholl, der mich 2015 mit in die Familie seines Telegonos-Verlags aufnahm, auf dass ich meine persönlichen Mauern noch ein Stück weit mehr einreißen konnte.

 

Last but not least … Tausend Dank und mehr an Sie, liebe Leserin, lieber Leser! Dafür, dass Sie meinen Zündholz-Moment nun lesen möchten. Ich will Sie auch gar nicht weiter aufhalten, wünsche Ihnen viel Vergnügen und so manch bewegende Stunde.

Nur eins noch … was auch immer in Ihrem Leben geschieht, denken Sie am Ende des Tages daran:

 

„Wer sich entschließen kann, besiegt den Schmerz“

(Johann Wolfgang von Goethe)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auch ein Dorf kann eine ganze Welt sein.

 

Es kann eine Zeit haben, in der es fröhlich vor sich hinlebt,

 

eine nächste, in der es anfängt, hoch nach oben zu schweben

 

und eine, in der es niederfällt,

 

wo es scheint, als fiele es in einen tiefen Schlaf.

 

nur hin und wieder hört man es im Traume leise seufzen…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

In manchen Nächten war es einfach so. Dann wurde es stark und mächtig. Zu stark, zu mächtig! Dann wollte sie ihn haben und wusste, er würde kommen, wenn sie ihn rief.

Das Warten auf den Moment steigerte dieses knisternde Gefühl fast bis ins Unermessliche. Jedes Mal, wenn es wieder soweit war. Wie ein mythisches Zeremoniell, fast könnte es einen in Abgründe reißen.

Es waren ja doch nur diese Empfindungen und die tiefe Sehnsucht nach dem, was einmal ihr Leben bedeutete. Nach Ganzheit in allem, was es umfasste. Eine Symmetrie aus Übereinstimmung, Solidarität und Vereinigung im Namen der Liebe. Das verlorene Gefühl, Wahrnehmung von Drängen und Hitze, Wünschen und Hoffen, Lust und Leidenschaft. Und dieses Versprechen, auf das er hätte hören sollen. Menschlich, nur menschlich! Man musste nachsichtig sein, hin und wieder sogar mit sich selber.

 

Dieses Ritual, wenn sie sich vorbereitete. Hundert Bürstenstriche für das Haar, nur ein wenig Lippenstift. Das Parfüm an die Stellen, wo sie seine Küsse bereits spürte. Rondo Veneziano aus dem Player, es passte gerade so schön. Ein Schluck Wein aus dem langstieligen Glas, rot wie die Liebe. Lächelnd, wissend, den hauchdünnen Stoff der Nylons in den Händen spürend, das knisternde Geräusch beim Hochziehen. Manchmal hatte er ihr dabei zugesehen.

Allein schon das so hoch erotisch, neben der Erwartung. Sie loderte von Minute zu Minute höher, genauso wie die Flammen im Kamin. Leckten an den Holzscheiten, umgarnten sie. Ohne Gnade, viel zu heiß, um viel zu tragen.

 

Blick aus dem Fenster hinein in die Nacht, auf ein schlafendes Dorf im Schimmer der Laternen und auf den lächelnden Mond. So sehnsüchtig, aber auch so still und friedlich, diese Nacht. Sie hatte ihre Sterne ja gar nicht verloren. Nicht wirklich!

Und dann rief sie ihn. Wusste, es konnte nicht mehr lange dauern, ließ sich nieder auf dem weichen Fell vor dem Kamin. Ein vergangener, gemeinsamer Lieblingsplatz, wo man sich hingeben konnte. Wo man sich öffnete, ganz wie von selbst.

 

 

 

Und immer wieder dieser verbliebene Wunsch. Vielleicht kam ja irgendwann die Nacht, an dem die Mauern noch einmal fielen und er würde bleiben.

 

Für immer?!

Der Traum

 

In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum.

 

Da gab es ein Schloss, irgendwo in einem grünen Tal, umgeben von sanft geschwungenen Wiesen und Feldern, einen dichten, dunklen Wald im Hintergrund.

Die Prinzessin tänzelte in ihrem wunderschönen Kleid durch den Palast, im Haar ein funkelndes Diadem. Überall, wohin sie kam, schenkten ihr die Menschen ein liebes Lächeln.

Im Thronsaal saß das Königspaar mit seinem Hofstaat, die Minnesänger trällerten fröhliche Lieder und der Narr scharwenzelte um sie herum. Emsiges Hin und Her herrschte in der großen Küche. Ein Festmahl wurde zubereitet, und die Prinzessin durfte vom Kuchenteig naschen. Wohin man auch guckte, putzten und schmückten fleißige Diener das Schloss, und in dem weitläufigen Park waren unzählige Gärtner mit großen seltsamen Scheren zugange, aus den Hecken kunstvolle Figuren zu zaubern.

Auf hohen Schuhen spazierte die Prinzessin durch den Schlosshof. Das lange Haar wehte im Wind, als sie die Treppen zum Turm hinaufstieg. In der Ferne erspähte sie drei edle Ritter, die auf ihren stolzen Rössern herantrabten, und plötzlich war ein rauschendes Fest im Gange mit Musik und Wein und all dem guten Essen. Die Ritter kamen und stachen sich gegenseitig aus, um die Gunst der Prinzessin zu erlangen. Sie waren höflich und zuvorkommend und sehr, sehr nett. Einer nach dem anderen tanzte mit ihr und sie tanzten wundervoll. Aber die Prinzessin konnte ihre Verehrer unter den Rüstungen nicht erkennen.

Plötzlich bildeten diese ein Dreieck und wirbelten die Prinzessin von einem zum anderen, immer schneller, immer ungestümer, immer rasanter. Die Erde begann sich zu drehen. Ihr wurde ganz schwindelig, auch von dem dröhnenden Lachen der drei, das wie ein höhnisches Echo von allen Wänden widerhallte. Sie verlor den Boden unter den Füssen, das blitzende Diadem lockerte sich und fiel herunter. Aber sie konnte es nirgends erspähen, so sehr schwankte es um sie herum.

Und dann war mit einem Schlag alles still. Wie erstarrt, dass der eigene Atem sich anhörte wie eine galoppierende Herde wilder Pferde.

Die Prinzessin fand sich ganz alleine im winzig kleinen Schlossturm wieder, über die Maßen verwundert über das, was geschehen war. Keine Musik war mehr zu hören, kein Gelächter und kein Stimmengewirr. So, als hätte sich alles schlafen gelegt, und die drei Kavaliere waren verschwunden.

Sie hätte gerne aus dem kleinen runden Fenster hinausgesehen, versuchte verzweifelt, dorthin zu gelangen. Aber es war einfach nicht möglich, so sehr sie sich auch anstrengte. Sie konnte noch nicht einmal erkennen, ob der Himmel über dem Turm blau war.

 

Noch bevor sie mit einem erschreckten Ruck aus diesem Traum erwachte, drehte sich die Prinzessin um und Conni erkannte, dass deren Gesicht ihr eigenes war.

Damit war die Nacht definitiv zu Ende, halb fünf in der Früh. Wo der Wecker doch erst in einer Stunde geklingelt hätte! Verwirrt von diesem seltsamen Traum schlich Conni fröstelnd auf leisen Sohlen durch den Flur. Die Kinder schliefen noch, sie wollte sie nicht vor der Zeit wecken. Aber die Kaffeemaschine, die musste zuerst in Gang gesetzt werden, wie jeden Morgen. Sie brauchte den Duft und die Wirkung, um richtig wach zu werden.

 

Das Spiegelbild zeigte ein verknittertes Gesicht, bleich, nach allen Seiten wirr abstehendes Haar. Kastanienrot, aber früher war die Farbe auch mal intensiver gewesen.

„Boah!“, knurrte sie sich entgegen. „Schau dich an, du irre Träumerin! So kannst du wirklich keinen Blumentopf gewinnen!“

Ganz offensichtlich war ein dringender Friseurbesuch ratsam. Vielleicht, in Anbetracht der Tatsachen, gar noch eine Kosmetikerin!?

„Kannst du dir sowieso nicht leisten!“, zog sie einen Flunsch. „Und überhaupt, wozu denn?!“

 

Eine heiße Dusche tat unglaublich gut, wischte den Traumschweiß weg. Mit Föhn und Bürste gelang es sogar, eine halbwegs ansehnliche Frisur zu basteln. Eine wenig Farbe aus der Kosmetikkiste tat das Übrige, sich wenigstens ein bisschen mehr als Jemand und nicht wie Irgendwer zu fühlen. Doch eigentlich war das gar nicht so wirklich wichtig. Oder?!

Noch besser wurde es dann mit dem Kaffeebecher in der Hand. Draußen noch finster, der runde Mond wie eine reife Orange am Himmel. Er war schon immer Connis Freund gewesen, auch wenn er nie auf all ihre Fragen antwortete.

Ob sonst überhaupt irgendwer auf dieser Welt je bemerkt hatte, dass das fahle Mondgesicht da oben wahrhaftig ein Lächeln in sich trug?

Immer, wenn er so am nächtlichen Himmel leuchtete, konnte sie es sehen und deshalb war er ihr Freund. Mit diesem Gefühl nahm sie den neuen Tag an. Der merkwürdige Traum war fast vergessen.

 

Genügend Zeit noch, um Wäsche zu falten und das Frühstück vorzubereiten, dabei im Geiste den bevorstehenden Tag planen. Einkaufen gehen schien sehr vonnöten, denn der Kühlschrank gähnte vor Leere. Der Einkaufszettel wurde an die Pinnwand geheftet, neben die vergilbte Ansichtskarte mit dem Sonnenuntergang am Strand. Sie hing schon so lange dort. Wer hatte sie geschickt? Da war ja auch der Zettel von der Reinigung. Total vergessen! Vielleicht konnte man Nele dazu bewegen, das Wäschegut abzuholen, und gleich noch, weil’s auf dem Weg lag, das Rezept beim Arzt?!

 

Tims Zimmer musste ebenfalls wieder aufgeräumt werden. Man konnte ja nicht mehr mit dem Staubsauger durchkommen, ohne dabei gefühlte zehntausend Legosteinchen aufzuschlürfen. Es gab allerhand zu tun. Die Verpflichtungen hörten niemals auf. Aber manchmal war’s auch egal. Mit der Zeit lernte man das Liegenlassen, zumindest so lange, bis es überhandnahm.

 

Am späten Nachmittag wollte Conni, wie versprochen, ihrer Freundin Beate mit der Buchhaltung helfen, und dann war der Tag auch schon wieder zu Ende. Einer von vielen sich stets gleichenden, die zu Wochen, Monaten und Jahren wurden.

Doch Gott sei Dank war man ja nicht pessimistisch oder trübsinnig. Überhaupt nicht! Gar nie nicht! Sonst hätte man vielleicht schon manches Mal innegehalten und sich gefragt, ob das wirklich schon alles im Leben gewesen sei. Und man hätte … ja, was hätte man denn dann?

Aber nein, so war Conni ganz und gar nicht! Und der Mond da oben am Himmel, der wusste das. Deshalb lächelte er ihr ja in regelmäßigen, immer wiederkehrenden Abständen zu. Genau das machte ihn ihr zum Freund. Selbst wenn sie sich trotzdem so manches Mal fragte, ob es nicht doch noch irgendetwas anderes geben musste?!

 

Ein Blick auf die Uhr, jetzt war es Zeit für die Schlafmützen. Zuerst Neles Zimmertür, die sie leise öffnete. Im sanften Lichtschimmer, der nun vom Flur hereinschien, sah man nur das lange, auf dem Kissen ausgebreitete Haar.

„Liebes! Gleich halb sieben. Zeit zum Aufstehen!“ Das Gesicht zur Wand, aber sie rührte sich gleich. „Jaaa! Zwei Minuten noch! Und mach bloß kein Licht an!“

Unnötig, es immer wieder zu erwähnen, weil Conni es doch wusste. Sie alle mochten es nicht, sofort helles Licht beim Aufwachen! Gerade deshalb waren die Tage im Herbst so prima, wenn sie anfingen, später zu beginnen.

Auch bei Tim war das so. Allerdings bewegte sich der neunjährige Knirps auf den Zuruf seiner Mutter noch lange nicht. Drum bahnte diese sich wie eine Slalomläuferin einen Weg durch die überall herumliegenden Spielsachen zum Bett. Zuckte zusammen, weil sie, nur Socken tragend, doch auf irgendetwas Spitzes trat. „Au! Verdammt!“ Also, hier musste wirklich aufgeräumt werden. Da ging kein Weg mehr dran vorbei!

Conni ließ sich nieder auf dem Bettrand und suchte unter der warmen Bettdecke den mageren Jungenkörper. Kitzelte ihn am Bauch, damit er wach wurde. Tim brauchte seine Zeit, um aufzuwachen, aber er war kein Morgenmuffel. Etwas von so manchem, was er von seinem Vater fürs Leben mitbekommen hatte, und wenn seine Augen endlich offen waren, tat es sein Mundwerk gleich nach.

„Mama! Am Samstag auf dem Fußballturnier, da werde ich fragen, ob ich nicht auch mal im Sturm spielen kann. Ich will nicht immer nur in die Abwehr. Ich will Tore schießen!“

„Ja, mein Kleiner“, zerzauste Conni sein Haar. „Das mach mal! Aber jetzt stehst du auf und ziehst dich an. Frühstück ist fertig! Keine Trödeleien mehr!“

 

Doch bis die kleine Familie schließlich gemeinsam das Haus verlassen konnte, musste es sehr wohl noch eine Menge Aufforderungen geben, endlich in die Pötte zu kommen.

Sowohl bei Nele, die ewig brauchte, sich zu entscheiden, was sie anziehen wollte und bis das Haar richtig saß, als auch bei Tim, der lieber mit seinem Nintendo spielte, als sich die Schuhe zu binden. Die Schultaschen waren nicht fertig gepackt. Hin und her wurde gesprungen, um hier noch ein Buch oder da ein Federmäppchen zu suchen.

Dabei kam man sich ins Gehege, es wurde gestritten. Auf Neles Jacke fand sich urplötzlich ein Fleck, woraufhin diese partout nicht angezogen werden wollte.

„Wir hätten sie noch waschen können! Warum hast du nicht rechtzeitig was gesagt? Die andere Jacke kannst du nicht anziehen. Die ist viel zu dünn! Kein Sommer mehr, falls dir das noch nicht aufgefallen ist!“, schimpfte eine genervte Mutter.

Trotzdem wurde die sommerliche Variante gewählt. Da half alles ärgerlich besorgte Augenrollen nichts.

Vor der Haustür fiel Tim ein, dass er seinen Sportbeutel vergessen hatte. Also noch mal die Treppen hoch gespurtet und das verflixte Ding gesucht.

Dann das letzte Abschiedsküsschen.

Tim ging seinen Schulweg zu Fuß.

Nele hatte nur ein paar Schritte bis zur Bushaltestelle. Ihre Schule war zwar genau wie der Arbeitsplatz ihrer Mutter im acht Kilometer entfernten Kreisstädtchen, aber meistens wollte der Teenager mit seinen Freundinnen zusammen dort ankommen, zumindest heute war das so.

Conni winkte beiden noch einmal zu, ehe sie ihren Fuß aufs Gaspedal trat, mit einem kleinen Seufzer auf den Lippen. Wenn der Tag sie gepackt hatte, dann gab es keine Grübeleien mehr und keine fragenden Gedanken.

Was sollte das schon bedeuten, ob noch etwas anderes im Leben kommen würde? Ob das schon alles gewesen wäre? Viel mehr wäre doch eh fast nicht zu verkraften, oder?!

Beate und Conni

 

Während sie die letzten Zahlen auf der Computertastatur eintippte, trank sie den bereits kalt gewordenen Rest vom Herbstzauber. Beate immer mit ihrer Tee-Schatzkiste! Jedes Mal, wenn Conni kam, um die Buchführung auf Zack zu bringen, zauberte ihre Freundin eine andere Sorte hervor mit den Worten: “Schau mal, meine Liebe, was ich heute für dich habe! Damit dir die ganzen Zahlen da nicht so trocken werden!“

Dann lachte sie, wie sie immer lachte mit ihrem heiteren und fröhlichen Wesen und trotz ihrer fortschreitenden Krankheit. Denn wegen des Rheumas hatte sie ja diese Schwierigkeiten am PC. Die Finger wollten einfach nicht mehr so wie sie.

„Aber du weißt ja“, sagte sie hin und wieder, „davon lassen wir uns mal gar nicht aufhalten. Unkraut vergeht nicht!“

Dennoch wusste Conni, dass diese heitere Stärke manchmal nur aufgesetzt war. Selbst vor ihr, der allerbesten Freundin, verbot Beate sich, allzu viel Schwäche zu zeigen.

Conni sträubte sich jedes Mal, den Obolus für ihre Hilfe anzunehmen. Aber die Freundin zwang ihn ihr förmlich auf und wenn sie es nicht schaffte, dann kam Hugo hinzu. Der kannte nun überhaupt kein Pardon. „Zumindest für die nie enden wollenden Wünsche deiner Kinder wird’s schon gut sein!“, bestimmte er und steckte den Geldschein einfach in Connis Dekolleté.

 

„Noch lange zu tun?“ Beate lugte zur Bürotür hinein. Wie meistens trug sie Jeans und eines ihrer geliebten karierten Männerhemden mit einer Steppweste darüber. Ihr halblanges blondes Haar hatte sie mit einem Band im Nacken zusammengebunden, aber einige der Locken fanden immer den Weg in die Freiheit.

„Nein! Ich bin gleich fertig. Nur noch ausdrucken und wegheften.“ Die Freundin nickte. „Hast du noch ein bisschen Zeit? Weil, ich müsste dir was sagen.“

 

Es war kurz vor 19 Uhr, eigentlich knapp! Die Kinder warteten sicher schon, aber irgendetwas in Beates Stimme klang alarmierend.

„Klar hab ich Zeit! Wenn du noch ein Stück von deinem Apfelkuchen rausrückst?!“

Herzliches Lachen war die Antwort und klappernde Geräusche aus der Teeküche, während Conni sich reckte und streckte. Schon so viele Stunden an diesem Tage am Schreibtisch zugebracht, erst im Büro und jetzt noch hier. Das bekam dem Rücken nicht. Sie müsste sich unbedingt wieder etwas mehr bewegen, aber meistens hatte sie keine Lust dazu. Oder wenn, dann fühlte sie sich viel zu müde.

Beim Zusammenräumen der letzten Papiere fragte sie sich, was Beate wohl auf dem Herzen hatte. Vielleicht musste sie wieder in irgendeine Klinik zu erneuten Untersuchungen und Behandlungen? Hugo würde es alleine nicht schaffen. Möglicherweise wollte sie fragen, ob Conni im Geschäft aushelfen konnte, wie schon so oft?!

Ein Lampenkatalog fiel ihr in die Hände. Gleich vorne auf dem Deckblatt das Bild einer Tiffany-Tischlampe in Form eines Schmetterlings. Wie ein Pfeilstoß mitten ins Herz traf sie die Erinnerung. Denn so eine ähnliche Lampe war Conni schon einmal auf bedeutsame Weise begegnet. Lange Zeit hatte sie dort gestanden auf dem Regal, hier in Beates Laden, wie eine Königin zwischen all den anderen.

Bis eines Tages einer kam, der sie mitnahm. So hatte alles angefangen … damals.

 

Beate drückte mit dem Ellenbogen die Tür auf, Kuchen und dampfende Tee-Pötte vor sich auf dem Tablett. Schöne große Tassen mit bunten Mustern und Lebensweisheiten, wie sie auf Kalenderblättern zu finden waren. Beate stand auf so was. Und ob es etwas zu bedeuten hatte, dass auf Connis Pott Himmelblau stand, darüber wollte sie gar nicht weiter nachdenken. Aber für einen kleinen Moment fiel ihr der merkwürdige Traum wieder ein.

„Und? Wie läuft´s daheim? Was machen die Kinder?“

Mit beiden Händen die himmelblaue Teetasse umschließend, antwortete Conni: „Ganz gut eigentlich, wie immer halt. Nele schreibt grade an ihrer großen Hausarbeit. Muss sie spätestens bis zu den Weihnachtsferien abgegeben haben. Diesmal hat sie sogar zeitig genug damit angefangen. Was bin ich froh, dass sie nicht wieder auf den letzten Drücker … Du weißt schon! Und Tim, alles gut soweit! Am Samstag ist Fußballturnier. Darauf freut er sich schon wie verrückt!“

„Prima!“, Beate nippte an ihrer Tasse, die ein Stückchen Strandsaum zeigte und irgendwas von neuen Ufern erzählte. „An der Arbeit alles okay?“

„Ja klar. Im Moment ein bisschen stressig wie jedes Jahr, wenn´s langsam auf das Ende zugeht! Neulich gab es eine Besprechung mit den Chefs. Scheint so, als verlieren wir ein paar Mandanten, weil sie ihre Geschäfte zu machen. Wir sollen Augen und Ohren offenhalten und versuchen, neue Kundschaft ranzuholen.“

„Witzig! Woher nehmen, wenn nicht stehlen?! Ist doch überall tote Hose hier! Ständig macht ein anderer Laden dicht. Dann kommt der nächste, um bald wieder pleitezugehen. Echt schlimm!“

„Du hast recht, Beate! Irgendwie sieht’s auch nicht so aus, als ob das alles mal besser werden würde. Ich frage mich wirklich, ob die Autobahn so vieles verändern kann, wie immer behauptet wird?“

„Vielleicht schon. Aber bis die fertig ist! Ob wir das noch erleben?!“

Seit einer gefühlten Ewigkeit schon bauten sie an der A44 herum. Das konnte noch dauern und ob es wirklich Auswirkungen auf das wirtschaftliche Leben hier haben würde?

„Und sonst, Conni?“ Beate hatte den Katalog mit der Schmetterlingslampe auf dem Cover entdeckt. Eine Weile sahen sich die Freundinnen schweigend an. Jedoch kannten sie einander so gut, dass die eine die Antwort, die die andere nicht gab, auch so verstand.

„Worüber wolltest du eigentlich mit mir reden?“, besann Conni sich, denn die Zeit rannte ihr davon. Sie musste nach Hause. Beate streckte ihren Rücken durch. Es schien, als müsse sie sich einen inneren Ruck geben und strich sich eine der Locken zurück, die übers Auge gefallen war. Dann fing sie an, von jener Zeit zu sprechen …

Als sie mit Hugo das Handwerksgeschäft übernahm, im Sommer 1987. Obwohl Conni das alles bereits kannte, hörte sie aufmerksam zu, weil das Gefühl aufkam, dass ihre Freundin für das, was sie sagen wollte, eine Einleitung brauchte.

„Du weißt“, so ging es weiter, „meine Eltern hatten keinen Bock mehr auf all das hier. Sie fühlten sich zu müde, zu alt, was weiß ich. Vater hat zwar trotzdem ab und an nach dem rechten geschaut und in der Werkstatt die kleineren Sachen repariert. Aber so, wie er gerade Lust und Laune hatte. Sich ganz und gar zurückziehen, das brachte er doch noch nicht fertig. Immerhin war das hier ja sein Lebenswerk gewesen.“

Aber Beates Mutter hatte keine Lust mehr gehabt, jeden Tag im Laden zu stehen, Schalter und Steckdosen, Lampen oder Waschmaschinen zu verkaufen und sich das Genöle der Leute anzuhören, wie sie immer klagte. An den staubigen Elektrokabelrollen im Schuppen wollte sie sich schon gleich gar nicht mehr die Hände schmutzig machen. Viel lieber grub sie in ihrem kleinen Garten hinter dem Haus herum und da war es ihr auch schnurzpiepegal, ob die Hände sauber blieben oder nicht.

Beate und Hugo waren damals bereits verlobt und er passenderweise Elektriker. Sie bekamen das Geschäft von den Eltern überschrieben. Deswegen musste geheiratet werden, damit „klare Verhältnisse“ herrschten. Aber das hatten sie sowieso vorgehabt.

„Deine Hochzeit damals! Das war so toll!“, schwärmte Conni. Sah ihre Freundin noch vor sich in dem langen weißen Kleid mit einem Schleier, der bis zum Boden reichte. Fantastisch sah das aus! Nachdem das glückliche Paar sich das Ja-Wort gegeben hatte, wurde es in einer wundervoll geschmückten Kutsche, gezogen von zwei prächtigen Hannoveranern, abgeholt.

Ein Drittel des Ortes hatte Spalier gestanden vor der Kirche und Rosenblüten oder Reiskörner geschmissen. Das zweite Drittel trabte fröhlich einander eingehakt hinter dem Landauer her.

Der Rest stand winkend an den Wegen, die hin zu den Feierlichkeiten führten. Eine Hochzeit war immer eine große Sache im Ort. Man kannte sich, man begegnete sich oft. Da hatte man noch tagelang was drüber zu reden.

Ebenfalls über die riesige Hochzeitstorte mit rosa Marzipanrosen neben den vielen anderen Köstlichkeiten. Natürlich war auch der in Strömen fließende Alkohol stets ein beliebtes Thema und die Auswirkungen, die er haben konnte. Die wurden hinterher ganz besonders gern aufs Korn genommen.

„Weißt du noch, der Holunderlikör von deiner Mutter?!“, prustete Conni los. „Der hatte es mir schon immer angetan.“ Wovon sie an Beates Hochzeit den Rausch ihres Lebens bekam. Gleich mehrere Tage hatte er ihr gekostet, bevor sie wieder in die Reihe gekommen war.

„Du kannst eine Flasche haben, Conni! Ich mach den jetzt selbst jedes Jahr. Nach dem speziellen Rezept meiner lieben Mama!“ Es klang gewollt geheimnisvoll.

Musik war immer sehr wichtig bei solchen Events. Damals hatte sich die hiesige Akkordeongruppe formiert, um das Essen musikalisch zu untermalen. Auch der Bläserchor des Pfarrers wollte zeigen, was er draufhatte. Am Ende war es egal und sie blieben alle, um ordentlich mitzufeiern.

„Und dann dieser Auftritt von euch! Das war der absolute Hit!“, kicherte Beate.

Weil, all ihre Freundinnen hatten heimlich einen Cancan in herrlichen Kostümen einstudiert. Zwei davon krabbelten mit aufreizenden Tanzbewegungen aus der riesigen selbstgebastelten Pappmaché-Torte und dann wurden die Beine unter den Röcken nur so geschwungen.

Die Nacht schon weit fortgeschritten und eventuelle Hemmschwellen von diversen Gläsern Bier, Wein oder besagtem Likör einfach weggeschwemmt. Was den einen oder anderen Kerl mit glasigen Blicken auf die neckischen Strumpfbänder stieren ließ, wenn sie zum Vorschein kamen. Ein schüchterner Junggeselle vom Bläserchor riss aus lauter Verwirrtheit das komplette, aber Gott sei Dank schon sehr leergefegte, Buffet um. Gerade er lachte heute noch am lautesten darüber. Weil, mittlerweile längst nicht mehr befangen und unbeholfen, sondern glücklich verheiratet und Vater von fünf Kindern, zwei Zwillingspärchen darunter.

„Ach Beate, lass das lieber mit deinem Likör! Du kannst mir ja zu Weihnachten eine Flasche schenken. Wenn ich dran denke, wie ich mich damals noch blamiert habe auf deiner Hochzeit!“ Daran dachte man jetzt aber nicht, es gab Wichtigeres.

Direkt ein Jahr später bekamen Beate und Hugo ihre geliebte Tochter Maike. Sie führten zusammen dieses Geschäft und lebten ihr Leben. Alles war gut … soweit. Auch als Beates Krankheit kam, blieb trotzdem alles gut. Sie war eine Kämpfernatur, die sich einfach nicht unterkriegen lassen wollte. Dennoch konnte das, was sie erzählen wollte, nur mit diesem vermaledeiten Rheuma zusammenhängen. Conni war sich dessen so sicher. Aber als Beate dann sagte, was wirklich los war, konnte sie die andere nur noch wortlos anstarren.

„Conni, wir werden das Geschäft zu machen und weggehen von hier!“

„Was wollt ihr???“

„Das überlegen wir schon eine ganze Weile. Jetzt ist es spruchreif. Wir werden nach München gehen zu Maike. Sie erwartet ihr drittes Kind und braucht jede Hilfe, die sie nur kriegen kann. Schau, wir sehen sie doch so selten und auch die Kleinen. Wir kriegen kaum mit, wie sie aufwachsen! Sie haben vor kurzem ein Haus gekauft, am Rande von München mit viel Natur drum herum für die Kinder. Da gibt es eine kleine Einliegerwohnung. Wunderbar wird das sein für Hugo und mich. Wir werden in ihrer Nähe leben und können helfen. Conni, verstehst du das?“

 

Später, als sie im strömenden Regen durch die wie leergefegten Straßen nach Hause ging, war ihr natürlich völlig klar, warum Beate und Hugo fortgehen wollten. Das Geschäft lief schon lange nicht mehr. Sie hielten sich gerade so über Wasser und ob es je besser werden würde? Sie wurden älter und Beate war nicht gesund. Ihre Tochter lebte mit ihrer Familie längst woanders. Sie würde nicht mehr hierher zurückkommen. Das Geschäft brauchte keinen Nachfolger mehr. So viele gingen weg. Häuser und Wohnungen standen leer, fanden nur selten jemanden, der sich ihrer annehmen wollte. Gab es hier denn überhaupt eine echte Zukunft?

Jedenfalls nicht so richtig. So sah es doch aus, so fühlte es sich an. Eine gewisse Trostlosigkeit war wohl zu spüren. Conni wurde ja selbst oft genug angst und bange, wenn sie daran dachte, was aus Nele und Tim eines Tages werden sollte?! Hier?! Auch sie würden weggehen, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Da gab es sicherlich nicht mal ein Vielleicht. Selbst wenn es Heimat war, Zuhause, dort, wo ihr Herz wohnte.

Diese Kirche mit der immer etwas schief wirkenden Turmspitze, mit dem Platz davor, wo Bänke zum Ausruhen und Innehalten einluden, neben dem kleinen Brunnen, der abends beleuchtet war. Hier führten die Wege oft vorbei, wie eben auch jetzt.

Unzählige Male hatten Conni und Beate dort gesessen in der ganzen langen Zeit, die sie sich schon kannten.

Wundervolle gemeinsame Kindheit!

Verrückte aufregende Teenagerzeit!

All die Geheimnisse, die sich gegenseitig anvertraut wurden, dort hockend bei Wind und Wetter. Gestritten, mindestens drei Tage lang kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen und sich dann doch wieder heulend in die Arme gefallen. Herumgealbert, wie blödsinnig gekichert, Trost und Rat gespendet, wenn es nötig war. Sich geholfen, immer füreinander da gewesen. Quasi das ganze bisherige Leben miteinander verbracht.

 

Der Wind zerrte an Connis Schirm, Regen klatschte gegen die Jeans. Unangenehm klamm, und nicht nur an den Beinen, sondern bis ganz tief nach innen, während sie nach Hause stiefelte. Vorbei an der Gaststätte, in der auch Beates und Hugos Hochzeit gefeiert wurde. Von der sie damals genau diesen Weg heim gewankt war, voll wie eine Haubitze. Der Holunderlikör!

Vor einigen Minuten noch hatten sie über Connis große Blamage gekichert, wegen des Geheimrezeptes der Likörbrauerei. Diesem Gesöff konnte man einfach alles in die Schuhe schieben. Und nun sah Conni es wieder vor sich, als wäre es gestern gewesen. Als die Musikband eine Pause einlegte und die Akkordeonspieler samt Bläser-Jungs bereits nicht mehr in der Lage waren, mit ihren Instrumenten umzugehen. Wie Conni versuchte, auf die Bühne zu krabbeln. Mindestens drei Anläufe hatte es gebraucht, ehe sie endlich oben war und mutig an das Mikrophon klopfte. Es brummte und dröhnte, also funktionierte es auch. Und alle schauten her.

„Hallo Leute!“, schallte es irrsinnig laut durch den ganzen Saal. Hoppla, man durfte wohl nicht so grölen!

„Licht aus! Spot an! Hier kommt Conni Richter!“

Das Mikro quietschte, aber die ersten unten im Saal fingen an zu lachen. Irgendjemand war sogar spontan genug, das Licht zu dämmen. Anscheinend fand dieser sogar noch auf die Schnelle eine Taschenlampe, dessen Strahl er auf Fräulein Superstar richtete.

„Wissst ihr eigendddlich, was schon immer mein Traum gewwwesen ist? Neiiiin, nich? Na gut, ich verrrat’sss euch ma! Aufff’m Biratenschifff mitfffahren. Wwwo es solche Matrooosen gibt. Biraten, sooo wilde Kerle mmmit nackter Brrrust und Tätttowierungen! Und ichhh gaaanz allleine mit den gaaanzen annnimalischen Kerlen da!“

Als wenn an diesen lallenden Worten nur ein Fünkchen Wahrheit gewesen wäre! Gerade Conni, mit ihrer weniger als einer Handvoll nichtssagender Erfahrungen in Liebesdingen. Auf so einem Schiff mit eben diesen Piraten! Davongelaufen wäre sie, kilometerweit! Zumindest heruntergesprungen vom Boot und weggeschwommen, selbst wenn die Haie sie aufgefressen hätten. Aber man konnte ja so tun als ob. Was auch immer die Hochzeitsgäste von dem Gefasel glaubten oder nicht, es schien ihnen Spaß zu machen. Das zeigte jedenfalls ihr brüllendes Gelächter. Aber vielleicht war‘s ja wirklich nur der Holunderlikör?!

Und außerdem noch nicht das Ende vom Lied: Mutig geworden, jaulte die neugeborene Chansonette ihr komplettes Repertoire an Seemannsliedern á la Lale-Anderson ins Mikro und alle anderen jodelten mit. Ein klein wenig hatte sie sich wirklich wie ein Star gefühlt in jenem Moment.

 

Gut zwei Jahre später im November lernte das Sternchen einen Mann kennen, nur wenige Tage nach dem offiziellen Fall der Berliner Mauer. Dieser hatte nun so gar nichts von einem rauen Seefahrer an sich. Dennoch war er genau das, was sie unter einem richtigen Mann verstand. Auch wenn er keine Schiffe mochte, das Meer aber schon. Ach, Jo!

 

Beate und Hugo machten es vielleicht richtig. Bestimmt! Aber es tat weh, sie zu verlieren. München war nicht aus der Welt, man konnte sich besuchen. Diese Stadt war sicher eine Reise wert. Es gab Telefon, Internet, alles, und doch würde es nicht das gleiche sein.

Auch Jo war gegangen … damals!

Titanic


Vor der Haustür schüttelte Conni heftig den Regenschirm aus. Dabei spritzten unzählige Wassertropfen nach allen Seiten. Aber darauf kam es nun auch nicht mehr an, pitschnass war pitschnass! Aus dem geöffneten Fenster des Nachbarhauses schaute Hannahs Gesicht zu ihr herunter.

„Conni, hallo! So ein Wetterchen heute, was?!“, rief sie mit ihrem dünnen Stimmchen. Um besser verstehen zu können, musste man zwangsläufig ein paar Schritte aus der schützenden Überdachung hervortreten. Erneut sprühte kalter Regen ins Gesicht.

„Guten Abend, Hannah! Ja, Sauwetter! Und ich hatte mir so sehr einen goldenen Oktober gewünscht.“

„Kommt noch, Kindchen, kommt! Hab eben den Wetterbericht gehört. Wird besser!“

„Na hoffentlich! Geht’s dir gut, Hannah?“

Sie winkte ab. „So wie’s halt ist. Groß besser kann’s nicht mehr werden, aber ich bin zufrieden!“

Hannah war schon fast 90, eine zierliche, gebeugte Dame mit grauen Löckchen. Sie ließ sich noch immer regelmäßig ihre Dauerwelle machen. Das war so drin von früher.

„Zu meiner Zeit war das modern“, erklärte sie oft. Manchmal jammerte sie ein bisschen, weil das, was sie heute auf’m Kopp trüge, längst kein Haar mehr sei, sondern nur noch lächerliches Flusengewirr.

„Ich komme grad von Beate, hab ihr geholfen im Büro. Die Kinder warten sicher schon. Endlich raus aus dem Schmuddelwetter!“

„Na, dann nichts wie rein mit dir ins Warme, sonst kriegst du noch eine Erkältung! Grüß mir deine beiden Schätzchen schön. Sie sollen sich mal wieder blicken lassen. Ich habe ein paar Fußballbildchen für Tims Sammelalbum.“

„Weißt du was, Hannah, vielleicht schaff ich’s die Woche nachmittags mal rüberzukommen. Bring auch Kuchen mit. Ein Besuch ist sowieso längst fällig.“

„Ach ja, das wär’ schön! Aber nur, wenn’s dir passt. Ich weiß doch, dass du noch ein bisschen was mehr zu tun hast, als einer alten Frau die Zeit zu vertreiben.“

„Rede keinen Unsinn, Hannah! Ich besuche dich doch gerne! Hab schon ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich so lange nicht mehr da war.“

„Papperlapapp! Musst du nicht haben, Kindchen! Nun aber marsch ins Haus! Ich habe jetzt genug frische Luft geschnappt. Es kommt ein Krimi, den will ich sehen!“ Ein verschmitztes Lächeln noch und das Fenster klappte zu. Ein letztes Winken, ehe Hannah hinter den dicken Vorhängen aus grauen Vorzeiten verschwand.

Ach, diese liebe alte Dame, die so tapfer ihr Leben meisterte und sich niemals über irgendetwas wirklich beklagte! Wie oft war sie früher gekommen - mit einem Kuchen und mit Zeit, Rat und Hilfe! Heute war es an Conni, einiges wiedergutzumachen.

Im Haus wurde sie von molliger Wärme empfangen. Nele musste den Kamin angeheizt haben und schien jetzt vor dem Fernseher zu hocken. Noch während Conni über achtlos hingeworfene Schultaschen und Schuhe stolperte, erkannte sie Titanic bereits an der Filmmusik. Diese DVD, wohl zum hundertsten Mal!

Das Mädchen saß im Schneidersitz auf dem Sofa, ein feuchtes Handtuch wie einen Turban ums frisch gewaschene Haar geschlungen. „Hallo Nele!“

Im Vorübergehen sprang Conni sofort die fast leere Kiste neben dem Kamin ins Auge. Neues Brennholz besorgen, unbedingt!

„Mama! Da bist du ja endlich! Wo warst du denn so lange?“

„Bei Beate, das weißt du doch. Hat leider länger gedauert.“

Müde stellte die gestresste Mutter ihre Tasche ab und saugte mit ihren Blicken das Chaos ringsherum förmlich ein, was unsagbar an den Nerven kratzte. „Sag mal, wie sieht‘s hier bloß wieder aus?! Ihr macht mich noch wahnsinnig! Könnt ihr nicht einmal euer Geschirr und den Müll wegräumen?!“, brach es schärfer hervor als gewollt. Aber es verpuffte sofort. Abgespanntheit gepaart mit Verdruss und Resignation, all das ließ sie einfach nur dastehen und einen tiefen Seufzer ausstoßen.

„Mama! Ich gucke Titanic!“

„DAS sehe ich!“

„Mama! Schaust du mit mir? Wir können doch später aufräumen!“

Conni hatte die leere Chipstüte, benutzte Becher und Teller schon beinahe in der Hand, doch dann ließ sie sich neben ihrer Tochter aufs Sofa fallen und legte die Beine hoch. Fühlte sich viel zu erschöpft vom Tag und zu frustriert von dem, was Beate eben noch erklärt hatte. Nein, jetzt würde sie alles stehen und liegen lassen. Streit und Endlosdiskussionen wollte sie auch nicht mehr haben. Einfach nichts mehr … für heute!

Auf der Mattscheibe lief die Szene, in der Rose im Licht der untergehenden Sonne am Bug stand, die Arme seitlich weit ausgestreckt. Jack dicht hinter ihr, um sie festzuhalten, und ihre Hände spielten dieses zärtliche Spiel der Verliebten miteinander. Nicht ahnend, dass es die letzte Nacht der Titanic sein würde.

Nele war hin und weg, in ihren großen Augen glitzerte es. Sie war völlig ergriffen von diesem Film. Egal, wie oft sie ihn schon gesehen hatte, es war immer wie das erste Mal. Solches brachten doch wirklich nur Menschen in diesem jungen Alter fertig und eigentlich war das so schön! Hier waren Illusionen einfach noch keine Illusionen.

„Schau mal, was Rose für ein sagenhaftes Kleid anhat!“

Conni nickte. „Ja, hat sie!“

„Und guck dir ihre Haare an! Sind die nicht himmlisch?! Die Farbe ist so toll! Fast so wie deine, Mama.“

Ein schwaches Lächeln. „Aber nur fast!“

„Ich möchte gern mal so eine Tönung kaufen, was meinst du, Mama? Würde mir das stehen?“

„Wir könnten es versuchen!“

Für Conni hatte Neles Haar das wunderschönste Brünett, was es überhaupt gab. Außerdem war es sehr lang, sehr dicht und schimmerte im Licht. Dazu ihre braunen Augen mit den langen gebogenen Wimpern. Sie sah so hübsch aus. Man konnte es ihr sagen, so oft man wollte. Glauben tat sie es aber trotzdem nicht. Noch nicht!

„Du hattest doch auch mal so lange Haare, Mama. Auf den Fotos von früher! Warum hast du sie schneiden lassen?“

Ja, warum?

Vielleicht, um irgendein Zeichen zu setzen?

Und wenn ja, welches?

Conni tat es einige Zeit später, nachdem Jo gegangen war.

„Ach!“ Nur wieder dieser schwere Seufzer und dann: „Das weiß ich nicht mehr, Nele. Es ist schon so viele Jahre her.“

Danach hatte sie nie mehr versucht, ihre Haare wieder wachsen zu lassen. Wollte es auch nicht. Denn seine Hände, die sich in so vielen leidenschaftlichen Momenten darin festgehalten hatten, würden dies nie wieder tun. Und andere solcher Hände gab es nicht, würde es in diesem Leben wohl kaum mehr geben.

Prompt waren ER und ES wieder da, Jo und diese brennende Sehnsucht nach dem Leben, das sie hatten. Es kam von jetzt auf gleich, ohneweiters, und es lähmte so sehr. Manchmal wurde es zu einem Wechselspiel der Gefühle, wenn im nächsten Moment diese Wut hinzuprallte. Darüber, dass sie nach wie vor nicht verstand, was damals wirklich passiert war und wie sinnlos es Conni doch immer wieder vorkam, darüber nachzudenken.

Das brachte sie augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. „Zu Abend habt ihr ja schon gegessen, wie ich sehe! Und wo ist eigentlich Tim?“

„Ach so, ja klar! Das wollte ich dir eigentlich gleich sagen. Tim hatte Bauchweh und ist ins Bett gegangen.“

„Boah, Nele! Du hättest mich sofort anrufen müssen!“ Flugs war man keine Frau mit wunderlich-sinnfreien Gefühlswallungen mehr, sondern besorgte Mutter. Rannte, gleich drei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Da lag er in seinem Bett, der kleine Kerl, mit verstrubbelten blonden Haaren und hochroten Wangen. Auch seine Ohren leuchteten knallrot, ein sicheres Zeichen von Fieber. Er schlief fast, aber es war augenfällig, dass es ihm nicht gut ging.

„Tim! Mein armer kleiner Liebling!“ Zärtlich strich sie ihm das verschwitzte Haar aus der Stirn. „Was hast du? Wo tut es weh?“

Er öffnete seine fiebrig glänzenden Augen, schaute so hilflos, dass es einem ganz schrecklich wehtat in der Brust. Wie seltsam das doch immer war mit diesen Muttergefühlen, dass man um so vieles mehr die Wehwehchen oder Traurigkeiten seiner Kinder verspürte.

„Mama“, hauchte er, „mir ist sooo heiß und sooo komisch! Und du warst sooo lange weg!“

Conni legte ihre kühlen Hände auf seine glühenden Wangen. „Aber jetzt bin ich ja da und helfe dir, mein Schatz. Das kommt alles in Ordnung, wirst sehen! Wir schauen, wie es dir morgen geht. Du brauchst auch nicht zur Schule. Ich bleibe zuhause, und wenn wir müssen, dann gehen wir zum Doktor. Der hat eine Medizin und bald ist alles wieder gut!“

Der Kleine schloss seine Augen, aber bevor er wieder in seinen Dämmerschlaf zurückfiel, lächelte er noch ein klein wenig, murmelte: „Und ich krieg einen Lolli von ihm!“

„Ja! Du kriegst deinen Lolli! Ganz bestimmt!“

Tims Nachttisch, ihr Blick fiel darauf. Hinter der gelb-schwarzen Lampe mit dem Emblem seines Lieblingsfußballvereins lag versteckt die kleine Holzfigur. Conni nahm sie, betrachtete sie wehmütig … ein bisschen abgegriffen schon nach all den Jahren. Tim hielt sie oft in seinen Händen beim Einschlafen. Eigentlich das einzig Greifbare, was der Junge von seinem Vater hatte. Diesen von Jo geschnitzten kleinen Holzengel mit dem Lächeln im Gesicht und den ausgebreiteten Flügeln. Ein Geschenk, das er ihr einmal gemacht hatte. In einer Zeit, als sie noch ein Wintermärchen lebten.

Bevor es erneut Tränen in die Augen treiben und dieses Gefühl zu kummervoll werden ließ, stand sie entschlossen auf, legte die Figur zurück und ging, um das Fieberthermometer zu holen. Sie wusste zwar noch nicht genau, wie das am nächsten Tag alles funzen sollte. Vielleicht konnte sie am Nachmittag noch ein paar Stunden zur Arbeit fahren, wenn Nele von der Schule zurück war. Hannah durfte mit so was nicht mehr behelligt werden, dafür war sie zu alt und zu schwach. Undenkbar, sie in ihrem Zustand jetzt mit irgendeinem Infekt anzustecken. Obwohl sie sofort kommen würde, bäte man sie darum. Wie sie es immer getan hatte.

Aber irgendwie würde es auch diesmal klappen, irgendwie klappte es ja immer.