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Andreas Richter

Tattoo





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titel und Impressum

 

 

 

 

 

 

Andreas Richter

 

Tattoo

 

 

Mystery-Thriller

Copyright © Andreas Richter, Ahrensburg.

 

Erstveröffentlichung 2014.

Alle Rechte liegen beim Autor.

Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit schriftlicher Genehmigung des

Autors wiedergegeben werden.

Cover: edition.noack, Hemmoor

 

Über den Autor:

 

Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und war einige Jahre lang Geschäftsführer eines Unternehmens in Berlin, bis er sich ganz dem Schreiben und Texten zuwendete. Heute lebt und arbeitet Richter als freier Autor und Texter in Ahrensburg vor den Toren Hamburgs.

 

www.andreasrichter.info
www.facebookcom/RichterAutor

 

Alle Personen, Orte und Begebenheiten dieser Geschichte könnten frei erfunden sein – doch wer weiß das schon mit Sicherheit.

 

 

Tattoo ist A., T. und L. gewidmet.

 

 

 

 

1.

 

 

Der Mann mit dem kurzen blonden Haar schrie auf. Er stolperte einen Schritt rückwärts und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Oh Gott!«, stieß er hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Frau vor seinen Füßen. »Ist sie tot? Fuck, sie rührt sich nicht. Nein, bitte nicht! «

»Vielleicht ist sie bloß bewusstlos«, murmelte der andere Mann, ohne selbst daran zu glauben. Er trug eine schwarze Lederjacke. Unter dem Baseball-Cap fielen dunkle Locken auf seine Schultern.

»Meinst du wirklich? Nur bewusstlos?« In der Stimme des Blonden klang leise Hoffnung durch.

Der Lockenkopf hockte sich neben die Frau. Er bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Einen Moment lang zauderte er, dann gab er sich einen Ruck und beugte den Kopf tief über ihr Gesicht.

»Und?«, fragte der Blonde mit dünner Stimme.

»Scheiße, Mann. Ich glaube, sie atmet nicht.«

»Puls, hat sie Puls?«

Der Lockenkopf legte die Fingerspitzen seiner Hände an ihren Hals, dort, wo er die Schlagader vermutete.

»Spürst du was?«, fragte der Blonde bangend. »Ist da was?«

»Nein, Mann. Aber ich weiß nicht, ob es die richtige Stelle ist. Ich kenn' mich damit nicht aus, bin ja kein Arzt.«

»Fühl' mal, ob ihr Herz noch schlägt!«

»Mann, sie hat eine dicke Jacke an und darunter garantiert auch noch was. Wie soll ich denn da ihren Herzschlag spüren? Etwa ihre Titten fühlen, oder was?«

»Vergiss' ihre Titten und schieb' deine Hand unter ihre Klamotten. Nun mach schon!«

Der Lockenkopf kniff den Mund zusammen. Er war im Begriff, den Blonden anzufahren, er solle es gefälligst selbst erledigen, doch ein dämlicher Streit zwischen ihnen machte das Ganze nicht einfacher – im Gegenteil. Außerdem hatte der andere Recht, sie mussten sicherstellen, was mit ihr war. Es nützte nichts. Er holte Luft, zog den Reißverschlug ihrer Steppjacke auf, schob die Hand unter ihren Pullover und zog das T-Shirt aus der Hose. Dann schob er die Hand auf ihrer Haut nach oben, bis er gegen den Bügel ihres BHs stieß. Er legte die Hand zwischen ihre Brüste und konzentrierte sich einen Moment lang auf seine Handfläche.

»Nichts«, murmelte er schließlich. »Ich denke, das war's mit ihr.« Er seufzte und zog die Hand zurück. »Verfluchte Scheiße!«

»Gott, bitte – lass' das nicht zu«, wimmerte der Blonde.

Der Lockenkopf erhob sich. Er kaute an seinen Fingern und dachte angestrengt nach.

»Was haben wir bloß gemacht?« Der Blonde begann zu schluchzen. »Das hätte nie passieren dürfen – nie, nie!«

Der Lockenkopf sah ihn an. »Nein, das hätte es nicht. Aber es ist nun mal passiert und wir können es nicht mehr ändern. Wir müssen jetzt einen klaren Kopf behalten, verstehst du? Das Wichtigste ist, dass wir die Sache unter Kontrolle behalten. Wir müssen das hier in den Griff bekommen.«

»In den Griff bekommen? Was redest du denn da?« Der Blonde wischte sich über die Augen. »Sie ist tot wegen … uns. Da gibt es nichts mehr in den Griff zu bekommen. Wir sind voll am Arsch, verdammt!«

Der Lockenkopf blickte zum Himmel. Der fast volle Mond schimmerte durch die löcherige Wolkenwand, doch sein Licht reichte nicht aus. Um mehr zu erkennen, mussten sie die Tote in das direkte Licht ziehen.

Der Lockenkopf war im Begriff, sie an den Unterschenkeln zu packen, als er abrupt innehielt. Vor seinem geistigen Auge hielt er in jeder Hand eines ihrer Beine, und vor ihm lag nur noch ein Oberkörper mit Armen und einem Kopf, aus dem ihn zwei blutende Augen ansahen und ihn zu fragen schienen, weshalb denn bloß er ihr die Beine wegnahm.

Er atmete durch, packte die Tote und zog sie in das Licht. Ihr Hinterkopf hinterließ eine Blutspur. Es fehlte nicht viel und der Lockenkopf hätte sich erbrochen. Behutsam legte er ihre Beine ab. Er warf dem Blonden einen Blick zu, sah, dass dieser das Gesicht in den Händen vergraben hatte und nicht hinschauen mochte. Dann wandte er sich wieder der Toten zu. Einen Moment lang betrachtete er sie mit einem flauen Gefühl im Magen, dann schüttelte er den Kopf – denn was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Sie war vermutlich sechszehn oder siebzehn Jahre alt. Fast noch ein Kind. Die vollen Lippen waren leicht gespitzt, ganz so, als setzte sie zu einem sanften Kuss an. Die langen Haare waren zu einem Zopf gebunden. In beiden Ohrläppchen steckten kleine Goldringe.

»Verflucht, Mädchen«, murmelte der Lockenkopf. »Was in aller Teufels Namen hattest du ausgerechnet hier verloren? Du hättest überall auf der Welt sein können, wieso musste es unbedingt hier sein?«

Er tastete die Taschen ihrer engsitzenden Jeans ab, doch darin steckte nichts. Anschließend zog er die Reißverschlüsse der äußeren Taschen ihrer Jacke auf und griff hinein. Aus einer Tasche zog er ein angebrochenes Päckchen Kaugummi war, und schob es zurück. Aus der anderen Tasche fischte er einen Schlüsselbund heraus.

»Drei Schlüssel«, sagte er vor sich hin. »Alle stabil, vermutlich für Eingangstüren. Als Anhänger ein kleines Hufeisen. Das sollte ihr wohl Glück bringen, hat es aber leider nicht.« Er seufzte leicht. »Tut mir echt leid, Mädchen.«

Er ließ den Schlüsselbund in der Brusttasche seiner Lederjacke verschwinden. Dann tastete er ihre Jacke nach Innentaschen ab, doch es gab keine. Schließlich zog er den Reißverschluss der Jacke wieder zu und dachte im gleichen Moment bei sich, dass es völlig unnütz sei, da das Mädchen sich ohnehin keine Erkältung mehr holen würde.

»Nichts«, sagte er dann. »Kein Ausweis, keine Monatskarte für den Verkehrsverbund oder etwas anderes mit ihrem Namen. Sie hat nicht mal ein Portemonnaie dabei.«

»Also wissen wir nichts über sie?«

»Nicht das Geringste.«

Einen schweren Moment lang schwiegen beide, dann sagte der Blonde: »Wir müssen zur Polizei gehen und die Sache melden.«

Der Lockenkopf erhob sich langsam. Er baute sich vor dem Blonden auf und sagte. »Nein, das werden wir nicht tun. Wir werden gar nichts melden. Weder jetzt, noch später.«

Der Blonde sah ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«

»Genauso, wie ich es gesagt habe. Wir werden nicht zu den Bullen gehen. Was hier geschehen ist, wird niemand jemals erfahren.«

»Was redest du denn da? Scheiße, da liegt ein totes Mädchen. Und sie ist verdammt noch mal tot wegen ... uns. Selbstverständlich gehen wir zur Polizei.«

Der Lockenkopf trat dicht an den Blonden heran und zischte: »Jetzt hör' mal genau zu: Für das, was geschehen ist, gibt es keine Entschuldigung. Keine! Nicht ein einziges Gericht in diesem Land wird Nachsicht mit uns haben. Für diese Sache wandern wir direkt in den Bau. Und glaub' bloß nicht, dass es nach den Jahren im Knast vorbei sein wird, von wegen zweite Chance und so. Meinst du ernsthaft, dass es anschließend niemanden mehr interessiert, was wir getan haben? Wie willst du später die Jahre im Knast erklären, Mann? Klar, du kannst sagen, dass du einige Jahre lang hinter Gittern verbracht hast, weil ein Mädchen starb, das zur falschen Zeit deinen Weg gekreuzt hat. Du kannst sagen: Was soll's, Dinge wie diese passieren ständig, weil es einfach zu viele Menschen auf der Erde gibt, für die der große Maestro dort oben im Himmel nun mal keine wirkliche Verwendung hat. Tja, er hatte das Mädchen wohl nicht auf dem Zettel.«

Der Blonde schluckte. »Wir wollten sie nicht töten. Es war doch keine Absicht gewesen.«

»Nein, das war es nicht, aber es ändert nichts daran, dass sie tot ist. Hör' zu Mann, wir dürfen uns wegen dieser Sache nicht alles verbauen – und genau das wird geschehen, wenn jemand von der Sache erfährt. Dann können wir einpacken, Mann – und zwar für ewig.«

Der Blonde knetete seine Hände. Am liebsten wäre er fortgelaufen, so schnell und so weit weg wie er konnte. Das hier war schlimmer als alles, was er sich hatte vorstellen können. Es war das Grauen.

»Diese Sache hier ist etwas anderes als wegen Betrugs oder Vandalismus einzusitzen«, sagte der Lockenkopf mit fester Stimme. »Weißt du, wo wir in der Knasthackordnung stehen werden, wir, die Mädchenmörder? Ganz unten, Mann. Ich schwöre dir, dass deine Fantasie nicht ausreicht, um dir vorzustellen, was die anderen Knackis mit dir anstellen. Während sie dir Besenstiele in das Arschloch rammen und dich einen Schwanz nach dem nächsten lutschen lassen, werden die Wärter grinsend weggucken, weil viele von denen nämlich auch Töchter haben und dich allein schon deshalb hassen, weil es ihre Tochter hätte sein können. Und wenn du eines Tages aus dem Bau entlassen wirst, dann wirst du ein dauerarschgeficktes Wrack sein, das ungezählte Male hatte Dinge über sich ergehen lassen müssen, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Willst du das wirklich alles ertragen, Mann, wirst du das aushalten können?«

Der Blonde schloss die Augen. Nie zuvor hatte er sich schlechter gefühlt als in diesem Moment. Alles war falsch. Egal wie es weiterging – es ging nur noch ums Verlieren.

»Aber ich will nicht fortlaufen und mich ständig verstecken müssen«, wimmerte er.

»Das will ich auch nicht, Mann. Scheiße, im Leben nicht! Und deshalb sage ich dir jetzt, was wir machen: Wir werden uns nicht verstecken, sondern ganz normal weiterleben. Alles bleibt wie es ist, nichts ändert sich.«

Der Blonde sah verwundert auf. »Was sagst du da? Wie soll das denn funktionieren?«

»Ganz einfach: Das hier ist nicht geschehen.«

Der Blonde schluckte. »Wie meinst du das?«

Der Lockenkopf sagte mit fester Stimme: »Wir streichen die vergangenen zehn Minuten. Es hat sie nie gegeben. Wir waren heute Nacht nicht hier, und das Mädchen ist heute Nacht nicht gestorben.«

Der Blonde bekam kein Wort heraus. Er starrte den Lockenkopf einfach nur an.

»Hör' zu, Mann: Das Wichtigste ist, dass niemand erfährt, was hier geschehen ist. Klar? Schnauzehalten ist das oberste Gebot.«

»Was ist … mit ihr?« Die Stimme des Blonden war kurz vor dem Versagen. Er ahnte die Antwort bereits. Ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus.

Der Lockenkopf holte tief Luft und sagte: »Es gibt nur eine Formel, die unsere Ärsche rettet, und die lautet: Keine Leiche plus keine Anklage gleich kein Knast.«

Der Blonde verstand. Seine Gesichtsmuskeln zuckten.

»Es ist die einzige Möglichkeit, Mann. Uns bleibt keine andere Wahl.«

»Das können wir nicht machen, auf gar keinen Fall.« Der Blonde schüttelte hektisch den Kopf und kämpfte mit einer Welle Übelkeit.

»Nein, das geht nicht!«

»Wir müssen es machen. Oder hast du etwa einen besseren Vorschlag?«

Der Blonde war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Wie stellst du dir das denn vor? Das geht nie gut. Wenn ein Mädchen verschwindet, wird in Bewegung gesetzt, um es zu finden. Die Polizei verfolgt die kleinsten Spuren, die graben Landstriche um und pumpen ganze Teiche leer. Die hören nicht auf zu suchen, bis sie das Mädchen gefunden haben, und selbst wenn fast die ganze Welt die Sache längst vergessen hat, suchen und jagen sie weiter, die lassen nicht locker. Alter, wenn wir jetzt noch mehr Scheiß bauen, wird alles nur noch schlimmer. Komm, lass' uns vernünftig sein. Wir gehen zur Polizei und erzählen denen die Geschichte. Wir müssen die Verantwortung übernehmen, wir können uns nicht drücken – das geht nicht.«

Der Lockenkopf holte tief Luft und sagte: »Hör' zu, Mann: Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass das Mädchen aufsteht, sich an nichts erinnert und uns fragend ansieht und einfach davongeht. Doch das wird sie leider nicht. Weil sie nämlich tot ist. Und daher spielt es für sie nicht mehr die geringste Rolle, was mit dir und mir passiert. Aber für dich und mich, für uns spielt es sehr wohl eine Rolle, wie es mit uns weitergeht. Ja, Scheiße, wir haben sie getötet, und das ist nicht zu verzeihen, aber sollen wir den Rest unseres Lebens dafür zahlen? Für immer geächtet sein?«

Der Blonde starrte in die Dunkelheit.

Der Lockenkopf sagte mit betont ruhiger Stimme: »Hör' zu, Mann, ich sag' dir, was wir machen: Wir werden das Mädchen erst mal verstecken. Gleich hier. Dann gehen wir nach Hause und kommen ein wenig zur Ruhe, schlafen ein paar Stunden. Okay? Wenn es hell ist, kehre ich zurück und kümmere mich um sie. Du brauchst nicht dabei zu sein, ich mach' das schon. Klingt das soweit okay für dich?«

»Alleine?«, fragte der Blonde und sah den Lockenkopf staunend an. »Warum du alleine?«

»Weil wir auf Nummer sicher gehen müssen. Wenn nur einer von uns beiden hier ist, werden weniger Spuren hinterlassen. Und sollte plötzlich jemand auftauchen, kann einer sich schneller und besser verstecken als zwei. Das ist der Grund.«

Der Blonde glaubte ihm nicht, doch es war ihm lieber, diese durchschaubare Lüge zu hören als die Wahrheit, dass der Lockenkopf ihm nicht viel zutraute.

»Was wirst du mit ihr ... machen?«, fragte er.

»Das weiß ich noch nicht. Ehrlich nicht. Es ist jetzt auch nicht wichtig, Mann. Entscheidend ist, dass das Mädchen niemals gefunden wird.«

Der Blonde betrachtete die Tote. »Gott, wir machen einen Riesenfehler«, sagte er leise. »Das klappt nicht, am Ende wird es für uns nur noch schlimmer enden.«

Der Lockenkopf legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich verspreche dir, dass alles gut gehen wird. Ehrlich, Mann. Wichtig ist, dass wir beide dichthalten. Für immer. Also, ich werde gegenüber keiner Menschenseele auch nur ein einziges Wort über diese Nacht verlieren, darauf kannst du dich verlassen. Und was ist mit dir? Schweigst du auch eisern? Kann ich mich auf dich verlassen, mein Freund?«

Ich bin nicht dein Freund, dachte der Blonde wie betäubt, und nach dieser gottverdammten Horrornacht werde ich es niemals sein.

»Kannst dich auf mich verlassen«, sagte er leise und senkte den Blick. »Zu niemandem ein Wort, niemals.«

Der Lockenkopf nickte kaum merklich und reichte dem Blonden die Hand, um die Abmachung zu besiegeln.

Der Blonde schlug ein.

Und spürte in seinem Innersten, dass er einen unverzeihlichen Fehler beging.

 

2.

 

 

Er blickte in den Spiegel und hörte das Lachen. Dieses zynische, spöttische Lachen. Es kam von allen Seiten und drückte wie gewaltige Wassermassen.

Damals, nachdem er endlich begriffen hatte, was vor sich ging, hatte er es zum ersten Mal gehört. Das lag bereits einige Zeit zurück, aber längst nicht lange genug, um sich nicht daran zu erinnern, dass das Lachen damals genauso geklungen hatte, wie es heute klang. So klirrend kalt und so unumstößlich endgültig.

Sie betrat das Badezimmer und blieb hinter ihm stehen. Sie betrachtete ihn im Spiegel und las die Wut und Resignation in seinen Augen – diesen traurigen Ausdruck, den sie nur zu gut kannte.

»Wie geht es dir?«, fragte sie.

»Fantastisch«, knurrte er.

Sie nahm ihm die Haarbürste ab und legte sie zurück in den Korb aus geflochtenen Wasserhyazinthen, in dem seine wenigen Pflegeutensilien lagen.

Er betrachtete seine Finger und murmelte: »Schau' nur, wie vertrocknete Zweige, sie sehen so aus wie abgestorbene Holzzweige. Bin ich etwa ein Scheißbaum?«

Während sie mit schnellen Griffen ihren Pferdeschwanz richtete, betrachtete sie ihr Spiegelbild und stellte einmal mehr fest, dass sie entsetzlich müde aussah. Es verwunderte sie nicht im Geringsten. Sie hatte einen leichten Schlaf und hörte es jede Nacht, wenn er sich laut stöhnend im Bett umdrehte, vor sich hin murmelte oder in die verschließbare Urinflasche pinkelte, die sie im Sanitätshaus gekauft hatte, damit er Nachts nicht aufstehen musste. Was sie allerdings seit längerem nicht mehr gehört hatte, war Schluchzen. Er weinte nicht mehr. Und ihr war klar, weshalb: Er hatte akzeptiert, was geschah, und nahm es hin als etwas, das er nicht verhindern konnte.

Das niemand verhindern konnte.

»Ich bin froh, dass wir gestern Abend alles besprochen haben«, sagte er plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken heraus. »Es wird nicht einfach für dich werden, Engel, aber ich erwarte, dass du dich an unsere Absprache hältst. Denn ab dann geht es nur noch um dich und nicht mehr um mich. Ich möchte nicht wissen, was los ist, wenn du dich nicht an die Absprache hältst und die Prozedur ihren üblichen Lauf nimmt.«

Sie verspürte ein Ziehen im Magen. Es stimmte, es wäre kaum auszudenken. Doch die Vorstellung von dem, was sie zugesagt hatte, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie hoffte, dass ihr bis dahin noch eine Menge Zeit blieb – und gleichzeitig wünschte sie sich, dass es möglichst bald soweit sein würde. Dass der Tag kommen würde.

»Wir machen es wie besprochen«, sagte sie und lächelte gequält.

»Gut, so ist es gut. Engel. Weißt du, auch wenn es kitschig klingt, aber ich hätte mir nie vorstellen können, jemals einem Menschen so dankbar zu sein wie dir. Ich könnte das, was du für mich tust, für niemanden tun. Nicht mal für dich. Ist das nicht eine schlimme Aussage, die ich da mache? Du leistest Unmenschliches für mich und musst dir anhören, dass ich dasselbe für dich nicht tun würde.«

»Es stimmt nicht, du würdest an meiner Stelle ebenso handeln.«

»Zu deinem Glück werden wir es nie herausfinden.«

Sie wandte sich ab und sagte: »Ich werde mal losgehen und die Einkäufe erledigen.«

»Deine tägliche Auszeit. Jeden Tag zwischen neun und zehn Uhr für ziemlich genau zwei Stunden, auch am Sonntag. Raus hier und durchatmen. Ja, das kann ich verstehen, Engel, ich verstehe es wirklich.«

Sie half ihm vom Schemel hoch.

»Es ist nicht schlechter geworden in den vergangenen Wochen«, sagte er und drückte gequält den Rücken durch. »Wäre ich ein beschissener Arzt, würde ich wohl gleichbleibend sagen, sozusagen stabil. Eigentlich sollte ich darüber froh sein, weil gleichbleibend im Grunde ein gutes Zeichen ist, aber ich bin nicht froh darüber, und mein Engel ist es auch nicht. Ist doch so, Engel, oder? Seien wir ehrlich: Es ist für dich nicht gut, dass es gleichbleibend ist.«

Mit kleinen Schritten verließ er das Badezimmer. Sie sah ihm hinterher. Es war unfassbar, was mit ihm geschah. Sie hatte mehrfach versucht, etwas darüber herauszufinden. Erst vor wenigen Tagen hatte sie einmal mehr stundenlang am Computer der öffentlichen Stadtbücherei gesessen und die größte Suchmaschine des Internets mit allen für sie infrage kommenden Stichworten gefüttert. Doch sie hatte dazu nichts gefunden, nicht einen einzigen Eintrag. So wie es aussah, war er ein Einzelfall – mit ihm geschah etwas Einmaliges.

Sie verließ das Badezimmer und folgte ihm über den schmalen Flur in das karge Wohnzimmer. Mit einem leisen Stöhnen setzte er sich in seinen angestammten Drehsessel.

Sie fragte: »Was möchtest du heute Mittag essen?«

Er überlegte kurz und sagte dann: »Nudeln, scharf wie ein anständiger Fick. Pasta arabiatta ficki, Engel.«

Genervt hob sie die Augenbraue.

Er sagte: »Sorry, sollte ein Witz sein. Das mit dem Ficken ist natürlich reines Wunschdenken, ich schaffe es ja nicht mal mehr, mir einen runter zu holen. Ich kann an meinem Schwanz spielen, so viel ich will, da regt sich nichts. Das Ding ist nur noch zum Pissen da.«

Sie verdreht die Augen. »Aha. So, und was willst du nun zum Mittagessen?«

»Nudeln mit Käsesauce wäre prima, dazu eine Flasche italienischen Weißen. Ein Pino, vielleicht. Was meinst du?«

»Ja, warum nicht. Klingt gut.«

»Das will ich doch wohl meinen. Heute Mittag hocken wir nicht in dieser muffigen Wohnung, sondern sitzen irgendwo in der Toskana auf einer Piazza am Tisch eines Restaurants. Engel, schöne und entspannte Menschen sitzen an den Nebentischen oder flanieren vorbei und fröhliche Kinder stecken uns mit ihrem Lachen an, ab und zu braust eine Vespa vorbei. Dolce vita, Engel.« Er streckte die Arme nach oben, blickte zur Zimmerdecke und rief: »Das Leben ist schön, preiset den Herrn! Halleluja, Hal-le-luja!«

Ausdruckslos sagte sie: »Ich schaue nach, was wir sonst noch benötigen.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum.

Kurz darauf fiel die Wohnungstür zu. Er seufzte. Wie an jedem anderen Tag bestand die theoretische Möglichkeit, dass sie nicht zurückkehrte. Doch sie würde ihn nicht im Stich lassen, das hatte sie bisher nicht getan und würde es auch heute nicht tun. Sie war der großartigste Mensch, der jemals geboren worden war. Für jeden Tag, den sie ihm schenkte, verzichtete sie auf einen Tag ihres Lebens. Doch sie klagte nicht, für sie war es wie selbstverständlich. Sie war ein Engel in Menschengestalt.

»Verehrte Kunden, bis auf diesen einen Engel sind leider alle Engel ausgestorben, und daraufhin mussten wir leider die Engelsabteilung schließen«, sagte er in den leeren Raum hinein. »Bitte besuchen Sie stattdessen die Teufelsabteilung im sechshundertsechsundsechzigsten Untergeschoss. Aber vorsicht, dort unten ist es höllisch heiß, doch was macht das bisschen Hitze schon aus? Es erwartet Sie dort unten eine große Auswahl an Teufeln. Suchen Sie sich dort Ihren persönlichen Lieblingsabgründigen aus. Wir wünschen Ihnen einen diabolischen Einkauf!«

Mit einer kurzen Handbewegung wischte er das Wasserglas vom Beistelltisch. Es flog ein kurzes Stück, dann fiel es zu Boden und zerbrach. Er würde ihr nachher sagen, das Glas sei ihm aus der Hand gerutscht, es täte ihm leid. Ob sie ihm glaubte oder nicht, würde sie für sich behalten. Sie würde schweigend die Scherben aufsammeln und die Splitter im Beutel des Staubsaugers verschwinden lassen, und es wäre ihr egal, dass es einmal mehr danach aussah, als sei sie seine Leibeigene, seine Sklavin. Es machte ihr nicht das Geringste aus, sich für ihn klein zu machen – und genau darin lag ihre tatsächliche Größe.

Sein lieber, selbstloser Engel.

 

3.

 

 

Das Geräusch schlich sich in den dünnen Traum hinein, nistete sich dort ein und lief für eine unbestimmte Zeit mit. Dann war abrupt Schluss.

Lars wurde wach. Das Telefon. Es klang so anders als Zuhause oder im Büro. Das Telefon zuhause hatte diese angenehm aufsteigende und abnehmende Melodie: Hallohooo, ist jemand dahaaa? Das Klingeln im Büro war ein penetrantes Schrillen: Nimm! Sofort! Ab! Dieses Klingeln hingegen war ein dezentes Schnarren, das zu sagen schien: Tut mir ehrlich leid, dass ich störe, aber es ist nun mal mein Job.

Lars musste sich kurz orientieren, dann wusste er wieder, dass er in diesem privat geführten Hotel am Stadtrand von Düsseldorf war. Wie lange klingelte das Telefon bereits? Und wo stand es noch gleich? Nach kurzem Tasten hatte er den Hörer in der Hand.

»Ja?« Eine Stimme wie aus der Gruft.

»Guten Morgen, Herr Benthien. Hier spricht Karla von der Rezeption. Es ist sieben Uhr. Sie wollten um diese Uhrzeit geweckt werden.«

Lars grummelte. »Sagten Sie, Ihr Name ist Karla?«

»Ja, richtig.«

»Karla, welches Jahr haben wir?«

»2013.«

»Okay. Und ist heute der erste April?«

»Nein, der fünfzehnte Dezember.«

»Hm. Also ist Ihr Anruf kein übler Aprilscherz und es ist wirklich an der Zeit, aufzustehen und die Welt zu erobern?«

»Für die ganze Welt könnte es möglicherweise nicht ganz reichen, aber Sie werden sicherlich einen erfolgreichen Tag haben.«

»Erfolg kann ich heute tatsächlich gut gebrauchen. Danke für den Weckruf, Karla.«

»Sehr gerne.«

Ein kurzes Knacken, gefolgt von einem durchgehenden Summen. Karla von der Rezeption hatte aufgelegt.

Lars schlug die Augen auf, doch in dem Zimmer war es stockdunkel. Was das Tageslicht betrifft, war sieben Uhr am fünfzehnten Dezember mitten in der Nacht, zudem lag das Zimmer zum Hinterhof raus. In einem geschlossenen Sarg war es kaum dunkler.

Lars spielte mit dem Gedanken, zu Hause anzurufen, doch er verwarf die Überlegung. Es war zu früh, Melanie sollte endlich mal länger schlafen. Die vergangenen zwei Monate waren für sie anstrengend genug gewesen, sie hatte sich alleine um alles kümmern müssen.

Während der zurückliegenden sieben Wochen hatte Lars sich zwei freie Sonntage gegönnt, ansonsten hatte er jeden Tag gearbeitet, mitunter bis in den späten Abend hinein. Er war Inhaber eines Planungsbüros für Erneuerbare Energien mit dem Schwerpunkt Photovoltaik. Mit mehreren festen und einigen freien Mitarbeitern projektierte er mittlere bis große Anlagen zur direkten Umwandlung der Sonnenenergie in elektrischen Strom. Das Projekt, für das er nun hier in Düsseldorf war, war die Photovoltaik-Lösung für eine Unternehmensgruppe mit Standorten in Deutschland und im benachbarten Ausland. Heute musste er in der Düsseldorfer Unternehmenszentrale das Projekt präsentieren. Wenn alles glatt lief, dürfte er seinen bislang größten Auftrag so gut wie in der Tasche haben.

Als Lars sich vor rund drei Monaten dem Vorstand der Unternehmensgruppe vorgestellt hatte, hatte er zuvor einen Fragebogen ausfüllen müssen, in dem es auch um einige persönliche Angaben ging, die jedoch freiwillig waren. Lars hatte auch diese Fragen wahrheitsgetreu beantwortet, denn erstens hielt er es in Anbetracht des lockenden Auftrags für schlauer, und zweitens hatte er nichts zu verheimlichen. Also gab er wahrheitsgemäß an, dass er vierundvierzig Jahre alt und mit Melanie verheiratet war, die neun Jahre jünger war und mit der er seine knapp fünfjährige Tochter Juliana hatte. Zu dritt lebten sie in einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein im Hamburger Speckgürtel.

Als Lars Melanie das erste Mal getroffen hatte, war er bereits seit einigen Jahren von Sonja geschieden gewesen. Sonja und er hatten damals überstürzt geheiratet, keine drei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Doch sie hatten nicht zusammengepasst. Nach dem Scheidungstermin hörten sie nichts mehr voneinander. Mit Melanie hatte Lars es dann langsamer angehen lassen. Erst nachdem sie länger als zwei Jahre zusammen waren, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte sofort angenommen.

Am Abend vor der Eheschließung starb Lars' Vater. Er saß mit seiner Frau Helga bei einem Glas Rotwein, als sein Herz plötzlich den Dienst quittierte. Lars und Melanie wollten die Hochzeit verschieben, doch seine Mutter bestand darauf, dass alles wie geplant über die Bühne ging.

Nach einer Nacht mit wenig Schlaf heirateten sie standesamtlich im engsten Kreis. Für den Abend hatten sie die Angehörigen und einige Freunde in ein Restaurant geladen, doch kaum jemandem war zum Feiern zumute. Melanies und Lars' schönster Tag wurde zu einer traurigen Veranstaltung. Die meisten Gäste gingen früh, und Lars betrank sich dermaßen, dass er sich bereits vor Mitternacht nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Knapp ein Jahr später kam Juliana auf die Welt, gesund und hübsch. Melanies und Lars' Welt war perfekt und alles, was sie sich wünschten, war, dass sich daran nichts änderte.

Das erneute Schnarren des Telefons riss Lars aus seinen Gedanken heraus. Er nahm den Anruf entgegen.

»Hier spricht noch mal Karla von der Rezeption. Bitte entschuldigen Sie die Störung, Herr Benthien, ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht wieder einschlafen. Sie klangen vorhin so, als könne das durchaus passieren.«

»Das ist nett von Ihnen, Karla, Ihr Anruf rettet mich tatsächlich.«

Es war geflunkert, doch Lars verspürte das Verlangen, Karla etwas Nettes zu sagen.

Karla wünschte ihm erneut einen schönen Tag und legte auf.

Lars schaltete das Licht ein. Zur Orientierung ließ er den Blick einmal durch den Raum schweifen, dann blickte er auf seine auf dem Nachtschrank liegende Armbanduhr. Er war gut in der Zeit. Mit Schwung stand er auf und ging in das Badezimmer.

Er warf nur einen kurzen Blick in den Spiegel. Lars wusste auch so, was ihn erwartete, nur mit dem Unterschied, dass die bittere Wahrheit jeden Tag eine Nuance härter wurde. Die Fältchen um Augen und Mund wurden länger und tiefer und die Anzahl der grauen Haare nahm zu. Auch wenn Lars' Äußeres sich insgesamt gut gehalten hatte, lagen seine besten Jahre nun mal hinter ihm, selbst wenn Melanie nicht locker ließ zu behaupten, er sehe zunehmend interessanter aus – was in Lars' Ohren ein drittklassiges Synonym für alt war.

Er zog das T-Shirt über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen. Dann trat er dicht an den Waschtisch und nahm die Dose Rasierschaum und das Rasiermesser aus der Kulturtasche. Er ließ das Wasser laufen und regulierte die Temperatur, dann wässerte er das Gesicht und den Hals. Anschließend sprühte er Rasierschaum in die rechte Handfläche, stellte die Dose ab und blickte in den Spiegel, um mit der Rasur zu beginnen – als ihn ein plötzlicher Hieb aus Verwunderung und Schrecken traf und fast von den Beinen riss.

Lars blieb die Luft weg.

Was zum Henker ... .

Eine Zeichnung. Sie prangte mitten auf Lars' linkem Oberarm und er sah sie zum ersten Mal – denn bisher war sie nicht da gewesen. Lars riss sich von dem Spiegel los und starrte auf seinen Arm. Türkis. Blau. Rot. Schwarz. Die Farben schienen zu tanzen, sich übereinander zu legen und ständig neue Formen zu bilden. Es war, als blickte Lars direkt in ein Kaleidoskop.

Was – in – aller – Namen – war – das?

Reflexartig strich er mit der rechten Hand über die Farben und schmierte dabei Rasierschaum auf den Arm. Er riss das Handtuch vom Haken und wischte den Schaum ab. Die Farben hörten auf zu tanzen, und nach und nach bildete sich ein Motiv. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Lars drauf. Nach mehreren Sekunden begriff er endlich, was er sah.

Es war ein Liebesherz. Ein fingerdicker blutroter Rand, umschlungen von einem schwarzen Strang spitzer Dornen. In der Mitte des nicht mit Farbe ausgefüllten Herzens standen drei violette einzelne senkrechte Balken.

»Wo kommt das denn her?«, murmelte Lars ungläubig. Er strich über die Farben und betrachtete seine Fingerkuppen, doch die Farben hatten nicht abgefärbt. Hektisch drückte Lars den Handseifenspender, und ein dünnes Band gelbliche, nach Limette riechende Masse fiel auf seine Handfläche. Er verrieb die Seife auf dem Arm, gab Wasser dazu und rieb noch kräftiger. Nichts. Die Zeichnung verwischte nicht und die Farben blieben unverändert kräftig. Lars nahm das Handtuch und rieb damit über den Arm bis die Haut schmerzte, doch außer, dass sie durch die Reibung leicht rot wurde, passierte nichts.

Lars wurde schwindelig. Er setzte sich auf den WC-Sitz, schloss die Augen und mahnte sich zur Ruhe. Es musste der innere Stress sein, vermutlich setzte ihm der Druck der anstehenden Präsentation zu. Er zählte stumm bis Zehn, dann öffnete er die Augen und blickte auf seinen Arm – und sah die Zeichnung. Ohne darüber nachzudenken, spuckte er drauf und rieb über die Farben. Nichts.

»Es geht nicht ab«, sagte er verwundert. »Wieso geht es nicht ab?«

Warum wohl nicht, warum wohl nicht?, fragte eine helle Knabenstimme in Lars' Kopf. Er hatte sie nie zuvor gehört.

»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Lars, während sich ein aberwitziger Gedanke durch seinen Kopf schob. Sein Herz schlug bis in den Hals hinein.

Und, Larsi, und? Die Knabenstimme lachte hysterisch.

»Weil ...« – Lars musste kräftig schlucken – »es vielleicht eine Tätowierung ist.« Staunend hörte er seinen Worten hinterher.

Schlaukopf, Schlaukopf!

»Aber wie kann das sein?« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie kommt ... eine Tätowierung auf meinen Arm?«

Keine Antwort. Die helle Knabenstimme schwieg.

 

Etwas war anders. Stimmte nicht. Es war nur ein Gefühl, doch dieses Gefühl war so stark, dass es zur Gewissheit wurde.

Sie trat noch näher an den Spiegel heran und betrachtete ihr Gesicht. Die grünblauen Augen waren wie immer, mit der Ausnahme, dass sie nervös flackerten. Der Mund war wie immer, die Nase auch, und auch darüber hinaus entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Alles schien so zu sein wie immer, doch sie war fest davon überzeugt – nein, sie wusste – dass genau das nicht der Fall war.

Es war nicht wie immer.

Es war komplett anders.

Sie schloss die Augen, hielt den Atem an und horchte in sich hinein. Nichts drückte oder pochte, nichts schmerzte, doch das war nichts weiter als eine falsche Fährte. Irgendwo in ihrem Körper steckte etwas und fraß sich gierig schmatzend voran. Es hatte einen Vorsprung herausgeholt, und möglicherweise war dieser Vorsprung bereits so groß, dass er sich nicht mehr aufholen ließ.

Mit einem Mal verspürte sie blanke Angst. Ohne einen weiteren Gedanken riss sie ihre Pyjama-Bluse auf. Zwei Knöpfe flogen durch das Badezimmer, um gleich darauf mit hellem Pling! Pling! Pling! auf den Fliesen zu tanzen. Sie tastete ihre Brüste ab, doch sie fühlte weder einen Knoten noch etwas anderes, das ungewöhnlich war. Aber das war keine Entwarnung. Wenn dieses tückische Etwas nicht in ihrer Brust steckte, hatte es sich woanders verschanzt.

Feige und hinterhältig.

Die Lymphknoten – was war mit den Lymphknoten? Mit unruhigen Händen tastete sie erst hinter, dann unterhalb der Ohren. Nichts. Dann den Nacken und den Hals. Sie strich sich über den Unterkiefer und das Kinn, tastete die Achselhöhlen und die Leistengegend ab, doch sie fühlte nichts, was dort nicht hingehörte. Alles war wie immer – und zugleich war es das nicht. Etwas steckte in ihrem Körper und hatte den Plan geschmiedet, sie zu töten. Schnell oder langsam, gütig oder quälend. Der Tod kannte viele Wege des Näherkommens, doch am Ende hatte seine Fratze immer dieselbe kalte Endgültigkeit.

»Freu' dich nicht zu früh«, zischte sie ihrem Spiegelbild entgegen und zog die Pyjama-Bluse resolut zusammen, ganz so, als stünde jemand vor ihr, der ihren blanken Busen nicht anzustarren habe. Sie spuckte gegen den Spiegel. Trotzig wie ein kleines Kind, dem kein besseres Mittel des Protestes einfiel. Und während sie nur in Slip und Pyjama-Bluse bekleidet dastand und der Speichel das Glas herablief, ratterte in ihrem Kopf das Vaterunser herunter. Ohne ihr Zutun, ohne ihr Wollen. Es geschah einfach so, und sie fragte sich staunend, weshalb. Sie erinnerte sich nicht, jemals aus tiefer Überzeugung gebetet zu haben, und nun betete sie das am meisten verbreitete Gebet des Christentums – oder vielmehr: Es betete in ihr.

Wie ein natürlicher Reflex, dachte sie schaudernd.

 

Lars stand im Badezimmer und in seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Wann war das hier endlich vorbei, wann rief Karla an und befreite ihn aus diesem irrsinnigen Traum? Doch er wusste nur allzu genau, dass dies die Wirklichkeit war, auch wenn sie ihm nie unwirklicher vorgekommen war als in diesem Moment.

Die Präsentation, fuhr es ihm durch den Kopf, er musste sich fertigmachen.

Irgendwie gelang es Lars, sich halbwegs aus der Starre zu befreien. Während er sich rasierte, fiel sein Blick immer wieder auf die Zeichnung auf dem Arm, und jedes Mal traute er seinen Augen kaum.

Auch unter der Dusche konnten Wasser und Seife den Farben nichts anhaben. Minutenlang stand Lars unter dem Wasserstrahl, den Kopf gedankenleer gesenkt und die Hände gegen die Wand gedrückt. Als er schließlich aus der Dusche heraustrat, hing die Feuchtigkeit wie ein Schleier in der Luft und der Spiegel war beschlagen. Lars öffnete die Badezimmertür und sah zu dem Bett.

War es möglich, dass ...? Nein, dachte Lars, vollkommen unmöglich. Niemand war während der vergangenen Nacht herein spaziert und hatte ihn seelenruhig tätowiert, während er tief und fest geschlafen hatte. Auf der anderen Seite wusste Lars mit absoluter Sicherheit, dass er die Tätowierung gestern Abend noch nicht gehabt hatte – also musste sie ihm während des Schlafens gestochen worden sein. Und dann war da noch etwas, das nicht passte, und zwar etwas ganz Entscheidendes. Denn obgleich Lars nicht wusste, wie es sich anfühlte, tätowiert zu werden, wusste er eines sehr wohl: Es dauerte einige Tage, bis die von der Tätowiernadel verletzte Haut wieder verheilt war.

Und genau das war der Knackpunkt – denn die Haut auf Lars' Arm war unversehrt.

 

Fünfzehn Minuten später saß Lars in dem Frühstücksraum und starrte vor sich hin. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Becher Kaffee. Um ihn herum herrschte gemäßigtes Treiben. Lars hörte das Klappern von Geschirr und Besteck, er vernahm Stimmen und sogar das Umschlagen von Zeitungsseiten, doch das alles schien weit entfernt zu sein.

Ein Mann mit vollbeladenem Frühstücksteller in der Hand stieß ihn beim Vorbeigehen leicht an. Es riss Lars aus den kreisenden Gedanken heraus. Der Mann entschuldigte sich knapp und Lars akzeptierte mit einem kurzen Nicken. Er blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit.

Er stand auf und kehrte in das Hotelzimmer zurück. Mit schnellen Griffen stopfte er seine Sachen in die Reisetasche, zog den Mantel über und schnappte sich den Pilotenkoffer mit Trolly, in dem er den Laptop und die Unterlagen für die Präsentation verstaut hatte. Dann atmete er tief durch und sagte vor sich hin: »Lars Benthien, du hast eine wichtige Präsentation vor der Brust und willst diesen Auftrag unbedingt haben. Du und deine Mannschaft, ihr habt dafür geackert wie die Wahnsinnigen, und es geht um eine Menge Kohle. Du fährst da jetzt hin und tütest den Auftrag ein. Keine Gedanken an andere Dinge, du konzentrierst dich nur auf deinen Job, nichts anderes zählt.«

Lars verließ das Zimmer und marschierte zur Rezeption. Er checkte aus, unterschrieb die Kreditkartenabrechnung und bat Karla, ihm ein Taxi zu rufen. Dann setzte er sich auf einen der Sessel im Foyer und wartete.

 

Während der gesamten Präsentation war Lars vollkommen fokussiert. Es war, als würden ihm alle Antworten auf die gestellten Fragen der sechs Unternehmensvertreter ins Ohr geflüstert. Er war getragen von absoluter Sicherheit, spürte, dass nichts schief gehen, ihn nichts in Verlegenheit oder aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

Obgleich für die Präsentation ein ganzer Tag angesetzt worden war, war bereits am späten Mittag Schluss. Lars wusste, dass er auf der ganzen Linie überzeugt hatte, doch er vermied es, es sich anmerken zu lassen. Er überreichte ein detailliertes Leistungs- und Kostenangebot, und ihm wurde gesagt, dass man sich innerhalb der kommenden Woche bei ihm melden würde. Dan verabschiedeten sich die Unternehmensvertreter von Lars und ließen ihn alleine, damit er in Ruhe seine Sachen zusammenpacken konnte.

Kaum war Lars alleine im Raum, setzte er sich auf einen der Konferenzstühle, lockerte die Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf, atmete tief durch. Erst jetzt bemerkte er die Anspannung, die nun von ihm abfiel wie ein schwerer Mantel. Kurz darauf rief er die Website der Fluggesellschaft auf, mit der er fliegen würde. Er buchte seinen Rückflug auf einen früheren Flug um, der in etwas mehr als zwei Stunden abheben sollte.

Anschließend packte er rasch seine Sachen zusammen und bat die Teamassistentin im Empfangssekretariat, ihm ein Taxi zu rufen. Dann ging er zu den Sanitärräumen und schloss sich in einer der WC-Kabinen ein. Er zog das Jackett aus und drückte den Ärmel des weißen Hemdes auf seinen Oberarm.

Die Zeichnung. Sie schimmerte durch den Stoff.

Lars schüttelte den Kopf. Er verstand das alles nicht. Doch er brauchte Antworten – und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er sich damit nicht zu viel Zeit lassen sollte.