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Inhalt

Lauras Party

Ein mörderischer Morgen

Die Verwalter der Spuren

Der Stoff, aus dem die Blätter sind

»Perverse Lolitas« kommen per Post

Ein Frauenprojekt in Papua-Neuguinea

Die Beute des Polizeireporters

Ein Fressen für die Presse

Rote Rosen für eine Tote

Die Arbeit beginnt

Laura und die Lolitas

Kein Lamm auf provenzalische Art

Ein abgewiesener Liebhaber?

Ist »Onkel Herbert« auch der Mörder?

Eine Überraschung am frühen Morgen und ein gutes Frühstück

Verbrechen aus Leidenschaft

Fototermin im »Pinocchio«

Lauras Prinz liebt Märchen

Ein Heuchler mit Heiligenschein

Ein Märchenprinz mit vielen Flecken

Warmer Riesling im Bermuda-Dreieck

Die Erpresserin ist nur ein Nervenbündel

Nur keine weinenden Männer!

Auftritt in Ollis Imbiss – alles ölig

Was in Märchen alles drinsteckt

»Onkel Herbert« holt die Post

Besuch im Porno-Studio

Der Schuss geht nicht ins Auge!

Eine kalte Dusche und neue Pläne

Mauern um »Haus Sonnenschein«

Buntglas gegen ungebetene Gäste

Drei Jungen und ein kleines Mädchen?

Blaue Augen und trockener Husten

Sekt beruhigt die Nerven

Bierstadt vergisst schnell

Gefangen im Labyrinth der Ahnungen

Hexe sucht Familienanschluss

Beates erster Ausflug

Eine Familie bekommt Zuwachs

Ein kleiner Trick und viele Beweise

Kowalke steht stramm

Dr. Schnösel macht durch uns Karriere

Der Professor lässt die Hosen runter

Die Polizei sucht und findet

Pulloverstricken will gelernt sein

Bettina Engler rastet aus

Ein Maler und seine Modelle

Zehn Lolitas im Sonderangebot

Endlich ein Volltreffer!

Die Bombe wird gebastelt

Die Schlinge zieht sich zu

Vorsicht! Bissiger Hund!

Ein Haus voller Überraschungen

Zwei verbeulte Töpfe

Showdown auf dem Airport

Ein gutes Ende für Beate

Lauras letztes Lachen

 

Er merkte, dass es mir ernst war. Seine Hände lockerten den Gürtel, und die Hose fiel zu Boden. Er hielt ein und guckte verdutzt. Köstlich, wie lächerlich ein Mann wird, wenn er die Hosen fallen lässt. Sein Slip hatte ein halbes Bein, die Gattin hatte das richtige Teil rausgesucht, denn der Herbst nahte.

Ich grinste: »Weiter! Den Rest auch noch!«

 

*

 

Laura Gutweil, Psychologin und Therapeutin von sexuell missbrauchten Mädchen, wird während einer Party ermordet. Reporterin Maria Grappa sucht den Mörder ihrer Freundin und macht Jagd auf den geheimnisvollen »Onkel Herbert«.

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1993 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-981-5

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappas Treibjagd

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

Amadeus Augenstern, Kunstmaler, spielt gern Briefträger und Sponsor blutjunger Modelle.

Beate Bartusch ist das unschuldige Opfer in einem mörderischen Spiel um Sex und Gewalt, von dem ihre Eltern profitieren.

Prof. Dr. Christian Ellenbogen, ein honoriger Mediziner, setzt sein Ansehen und seine Stellung nicht ohne Widerstand aufs Spiel.

Verena Ellenbogen spielt ihre Rolle als Ehefrau und Mutter von Zwillingen fast bis zum Ende.

Bettina Engler, Therapeutin, das Spiel ums große Geld wird ihr zum Verhängnis.

Anna Gerner kämpft gegen perverse Urlaubsspiele in der Dritten Welt.

Maria Grappa, Journalistin, spielt die Knallharte bei der Jagd nach einem Kinderschänder, die zu ihrer fixen Idee wird.

Laura Gutweil, Psychologin, merkt zu spät, dass sie das Spiel nicht gewinnen kann, und stirbt dabei.

Onkel Herbert, der Mann mit dem »Kleeblatt«, spielt gern die Hauptrolle in Videofilmen.

Peter Jansen, Journalist, kennt seine Rolle in dem Spiel und füllt sie brillant aus.

Agnus Naider, Psychologe, wechselt seine Rollen spielend – von hilflos bis eiskalt.

Friedel Zahlmann, Kriminalhauptkommissar. Er spielt nicht, sondern handelt. Er hasst Kinderschänder noch mehr als superschlaue Journalistinnen.

In Bierstadt, einer Großstadt im Revier, werden Kinder sexuell missbraucht und kommerziell ausgebeutet. Das Geschäft mit den Kinderpornos floriert. Obwohl die Behörden schnell und häufig eingreifen, kommen die Täter oft ungeschoren davon, weil auch die Opfer schweigen.

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Zitate und Fallbeispiele entstammen jedoch der deutschen Wirklichkeit.

Ein schwüler Garten stand die Nacht.

Wir verschwiegen uns, was uns grauend erfasst.

Davon sind unsre Herzen erwacht

Und erlagen unter des Schweigens Last.

 

Es blühte kein Stern in jener Nacht

Und niemand war, der für uns bat.

Ein Dämon nur hat im Dunkel gelacht.

Seid alle verflucht! Da ward die Tat.

 

Georg Trakl, Ballade

Lauras Party

 

 

Lauras Haus strahlte die morbide Würde einer ausrangierten Hollywood-Diva aus. Es lag im Westen der Stadt, in einer Gegend, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Die Fassade war abgenutzt, der Vorgartenzaun verlangte nach einem neuen Anstrich, und die Klingel an der Eisentür funktionierte schon seit Jahren nicht mehr.

Es war die Zeit zwischen Abend und Nacht. Ich beobachtete das Licht, das durch die hohen Fenster in Lauras Wohnzimmer fiel. Eben noch war die Stimmung rosa, jetzt legte sich unmerklich ein Grauschleier auf Möbel und Gäste.

In dem großen verwinkelten Raum mit den blank gebohnerten Holzdielen waren die Kerzen weit heruntergebrannt; ihr weißes Wachs lief – Tränen gleich – die silbernen Leuchter herab. Auf den Tischen und den Fensterbänken leere Weingläser und halb abgegessene Teller, die achtlos weggestellt worden waren. Hier ein Rest Kartoffelsalat, da ein Klecks Senf, in dessen Mitte eine halb gerauchte Zigarette ausgedrückt worden war. In den Ecken des verschachtelten Raumes unterhielten sich die Gäste leise. Ich lauschte. Ich konnte keine Einzelheiten verstehen, doch die da drüben stritten sich. Ihre Stimmen hatten eine aggressive leise Schärfe.

Die Körperhaltung des Mannes war verkrampft. Die Frau, die die Vorwürfe einstecken musste, wandte sich betont desinteressiert ab und schaute sich um, ob irgendein Gast dem Dialog zuhören würde. Der Blick der Frau und mein Blick trafen sich. Sie zuckte die Schultern – eine Geste der Entschuldigung. Ich lächelte, wandte mich ab und blickte in eine andere Richtung.

Der Mann im Erker versuchte, erste Kontakte zu einer Frau zu knüpfen, die er wohl heute Abend kennengelernt hatte. Seine Haltung strahlte Wachheit und Gespanntheit aus. Er legte der Frau die Hand auf den Oberarm, so als wolle er sie beschützen oder an sich ziehen.

Sie ließ es geschehen und lehnte lässig am Fensterkreuz, strich sich ab und zu durch das lange Haar, ließ es sachte auf die Schultern zurückfallen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er sie verzückt anstarrte. Sie genoss es, und beim Lachen warf sie den Kopf in den Nacken. Eine anmutige Geste in einem uralten Spiel, dachte ich. Reden, küssen, streicheln, ins Bett gehen, schweigen und sich wieder verlassen.

Ich wechselte die Blickrichtung und gähnte. Vor Müdigkeit oder vor Hunger. Ich hatte mich an diesem Abend tapfer gehalten. Stundenlang war ich an den vollen Schüsseln mit köstlichem Kartoffelsalat, den dekorativ arrangierten Canapés, den aufgetürmten fetten Aal-Häppchen und vor allen Dingen an der Riesenschüssel Rote Grütze vorbeigeschlichen. Doch mehr als ein verächtliches Lächeln hatte ich für die versammelten Leckereien nicht übrig. Lediglich drei oder vier knackigen Radieschen hatte ich den Weg in meinen genervten Magen gestattet. Beim Gedanken an die acht Tage Rohkost-Diät, die noch vor mir lagen, drehte sich mir derselbe um. Der Geschmack von Radieschen und trockenem Weißburgunder vermischte sich auf meiner Zunge zu einer scheußlichen Verbindung.

Ich dachte an die letzten drei Monate zurück. Mein Urlaub in Brasilien, die ausgefuchsten Kochkünste meines hinreißenden Gastgebers und seines nicht minder begabten Personals hatten mich zum erneuten Studium meiner zahlreichen Diät-, Schönheits-, Schlankheits-, Vollwert- und Fitnessbücher veranlasst.

Ich blickte mich um. Laura schien nicht mehr da zu sein. Zumindest nicht in diesem Raum des Hauses. »Ich muss dich sprechen, Maria«, hatte sie vor knapp einer Stunde zu mir gesagt, »es ist wichtig.« Und nun war sie weg. Spurlos verschwunden. Ich musste sie finden, denn ich war neugierig.

Das Pärchen im Erker schmuste inzwischen. Das Weibchen hat das Männchen akzeptiert, dachte ich, bald würde die Begattung folgen. Ich lächelte. Paarungsrituale! Wenigstens der Fortpflanzungstrieb verband den Menschen noch mit der Natur. Genauso wie der Fresstrieb. Ich beobachtete finster eine dünne Frau, die sich über die Rote Grütze hermachte. Sie nahm tatsächlich drei große Löffel und klatschte sie in ihre Glasschüssel. Dann noch eine Kelle Vanillesoße obendrauf. Gierig leckte sie sich die Lippen. Plötzlich hasste ich sie und schämte mich.

Wo konnte Laura sein? Ich verließ das Zimmer, um sie zu suchen. Der Alkohol verbreitete eine wohlige Wärme in meinem Körper. Ein Typ torkelte mir entgegen. Er grölte ein Loblied von leichten Mädchen und schweren Getränken. Ich stieß ihn beiseite, als er sich an mir festhalten wollte.

Laura sah ich nicht. Sie war vielleicht in ihrem Schlafzimmer. Ich klopfte an die Tür. Zunächst rührte sich nichts, dann hörte ich ein leises Stöhnen. »Laura«, rief ich mit verhaltener Stimme, »bist du da drin?«

Keine Antwort. Nur dieses leise Stöhnen. Da waren zwei, die allein sein wollten. Na also, dachte ich zufrieden, endlich tröstete sie sich über ihre verflossene Liebe zu jenem lackierten Affen hinweg, den ich nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte. Jetzt brauchte ich dies zum Glück auch nicht mehr, denn die Sache war gegessen. Für immer, so hoffte ich. Denn die Liebschaft mit Prof. Dr. Christian Ellenbogen hatte Laura nicht gut getan. Als es zu Ende war, litt sie. Ich sagte »stopp« und half ihr über das heulende Elend hinweg.

Doch immer, wenn ihr Blick wie zufällig über den Porzellan-Clown strich, kam etwas Wundes in ihren Blick. Der Clown, ein billiges Ding aus zuckerartigem Material, drückte aus seinem Auge eine gemalte Träne. Der schwarz-weiße Stoffanzug war mit Rhomben übersät, und er trug eine schwarze enge Kappe. Laura fand das Monster schön. Ich fand es nur billig und geschmacklos. Es war für sie jedoch ein Stück von ihm. Den Clown hatte Prof. Dr. Christian Ellenbogen vermutlich beim Kaffeekauf erstanden, denn dort sah ich das Teil ein paar Wochen später. Zum stolzen Preis von 14,95 Mark.

Ich hatte Laura nichts gesagt. Ich wollte sie nicht verletzen. Was würde es auch bringen? Im Großen und Ganzen hielt sich Laura nämlich prächtig. Und nun das Stöhnen hinter der Tür. Welcher Gast war es wohl von denen, die heute Abend hier waren? Ich guckte durchs Schlüsselloch und sah … nichts. Pfui, dachte ich, da stehst du vor der Tür wie eine Spannerin.

Ich ging zurück in das große Zimmer. Das Pärchen im Erker hatte sich zurückgezogen, um die Nacht artgerecht zu verbringen. In Lauras Haus gab es genug Gästezimmer, die benutzt werden konnten. Auch die beiden Streithähne waren nicht mehr da. Ich war müde und erschlafft wie die Petersilie auf dem Silbertablett. Es war kurz vor zwei Uhr morgens. Das Bett verlangte nach mir. Am kalten Büfett griff ich wie in Trance nach einem Stück staubtrockenem Weißbrot, das meinen Magen bis zum Morgen beruhigen würde. Lauras Partys hatten immer etwas Besonderes, sinnierte ich, während ich mich in meinem Zimmer auszog und abschminkte. Sie waren so außergewöhnlich wie Laura selbst. Laura war für ihre Umgebung das, was für die Motten das Licht war: Sie war anziehend und versengend zugleich. Nur bei diesem medizinischen Großmaul hatte ihr Zauber nicht gewirkt, sonst hätte er sie nicht so kalt abserviert.

Jetzt diese Geräusche hinter der Tür. Ich ließ die männlichen Gäste vor meinem geistigen Auge vorbeiflanieren. Ringo konnte es nicht sein, der grobe Kerl mit den dicken Fingern. Sein Bildungsniveau war begrenzt, seine Witze entsprechend platt, sein gepriesener jungenhafter Charme eine Mischung aus Dreistigkeit und Anhänglichkeit. Das einzige Fremdwort, das er kannte, war das Wort »fiktiv«. Wenn ich ihn auf die Stirn klopfen würde, käme ein Echo zurück.

Berthold kam auch nicht in Betracht. Bleiche Haut, rötliches Haar, schlaffes Fleisch und gehemmt. Er war mindestens so athletisch wie ein Wackelpudding. Frauen gegenüber brachte er keine drei zusammenhängenden Sätze über die Lippen.

Casimir passte auch nicht. Er litt mehr als wir Frauen, wenn wir unsere Tage haben. Seine angeblich linke Intellektualität trug er wie eine Fahne vor sich her. An seinen Fingern klebte das Wachs diverser Lichterketten für oder gegen was auch immer.

Walter war lieb. Ein Kuscheltier. Egon war an die vierzig und lebte noch bei seiner Mama. Bernhard war in festen Händen, und Kurt war stockschwul. Wer also? Ich tippte auf Walter. Nach Prof. Dr. Ellenbogen war Kuscheln angesagt – als Kontrastprogramm.

Ich zerrupfte das Stückchen Weißbrot, speichelte es gut ein und schluckte es runter. Mein Magen bedankte sich mit einem erleichterten Knurren. Nach dem Zähneputzen zog ich beruhigt und heiter die Bettdecke über mich. Alles war gut.

Ich schlief tief, träumte von einem weißen Sandstrand in Südamerika, von kalten Drinks und fetten Aalstücken, die in Litern von Vanille-Soße schwammen. Die Nummer war unterlegt mit fetziger brasilianischer Samba-Musik. Ich genoss lustvoll das Palmwedeln eines schwarzen gut gebauten Kraftprotzes, der bemüht war, mir Kühlung zuzufächeln. Das Leben war schön.

Ein mörderischer Morgen

 

 

Die Stimmen, die mich weckten, waren außer sich. Hände griffen und schüttelten mich; ich schreckte hoch. Irgendetwas Furchtbares hatte sich zugetragen, ich spürte es, obwohl ich kaum bei Sinnen war. Im Halbschlaf öffnete ich die Augen. Ich sah Walter, der mich schüttelte.

»Wach auf, um Gottes willen«, jammerte er. »Laura! Es ist etwas mit Laura!«

Nein! Ich rappelte mich hoch. Setzte mich auf und fragte entgeistert: »Wo ist sie?«

»Sie ist in ihrem Zimmer … aber sie ist tot!«

Ich verstand noch immer nichts. Ich stand auf und hastete aus dem Zimmer. Mir war, als würde der Boden bei jedem meiner Schritte dröhnen. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war geöffnet. Ich stürzte hinein.

Laura lag auf ihrem Bett. Sie war nackt. Ihre Arme waren über dem Kopf an das Bettgestell gefesselt, mit einer Gardinenkordel. Die Beine waren gespreizt. Blut war nicht zu sehen.

Meine Nerven begannen wie eine Hochspannungsleitung zu summen. Das Stöhnen heute Nacht, es war kein Stöhnen der Lust, sondern des Todes. Ich hatte vor Lauras Tür gestanden und nichts gemerkt! Ich schaute in ihr Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Das dicke blonde Haar umrahmte den Kopf wie ein Schleier. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt. Neben ihrem Kopf lag ein Kissen. Ihre Haut war wächsern. Ich sah alles und konnte dennoch nichts verstehen.

»Sie ist tot!«, sagte Walter hinter mir. Ich drehte mich um. Er machte ein verzweifeltes Gesicht.

»Hast du sie gefunden?«, fragte ich.

Er nickte. »Ich hatte gerade das Frühstück fertig und wollte sie wecken«, erklärte er. Seine Stimme versagte.

»Warst du heute Nacht bei ihr?«, wollte ich wissen.

Er schüttelte den Kopf und war überrascht. »Aber nein«, stellte er klar, »ich habe in der Bibliothek geschlafen.«

Ich glaubte ihm. Es war also tatsächlich der Mörder gewesen, den ich in der vergangenen Nacht belauscht hatte.

»Wir müssen die Polizei holen«, sagte ich. Walter verließ das Zimmer.

Die anderen gingen auch. Ich war mit Laura allein und nahm Abschied von ihr. Ich ging zum Bett und berührte sacht ihre Wange. Die Haut war kühl. Ich zuckte zurück und verließ das Zimmer.

Im Wohnzimmer fiel die Sonne durch das Fenster. Der Morgen war so schön. Ich ging ins Bad und hielt meinen Kopf unter den Wasserhahn. In der Küche nahm ich einen Becher Kaffee. Mein Blick fiel auf den Clown von Prof. Dr. Christian Ellenbogen. Er beobachtete mich, guckte mich höhnisch an, weinte mit seiner lächerlichen, aufgemalten Träne. Ich packte ihn und schlug ihn gegen die Wand. Er zersprang in tausend Stücke.

Die Verwalter der Spuren

 

 

Die Spurensucher der Bierstädter Kripo verwandelten Lauras Haus in einen Bienenkorb. Man kam, man ging, trug Dinge hinein und heraus. Da wurden Schränke geöffnet, Schubladen herausgezogen – so, als ginge es nur noch darum, zu dokumentieren und zu katalogisieren, einzuordnen, aufzulisten, zusammenzustellen. Ich schaute zu. Mir war kalt. In einem Nebenzimmer wurden die Vernehmungen durchgeführt. Jemand berührte meine Schulter. »Kommen Sie, der Hauptkommissar wartet auf Sie.« Ich folgte und nahm den angebotenen Sitzplatz an.

Der Mann benahm sich, als sei er hier der Hausherr, dachte ich müde. Dabei war er nur der Verwalter der Spuren.

Ich betrachtete ihn: mittelgroß, mittelblond, mittelalt. Graue Hose, graues Hemd, graue Haut und – wie gewagt! – mittelblaue Krawatte. Ein Mann, den man sieht und gleich wieder vergisst. Unauffällig und austauschbar. Vielleicht genau das Richtige für einen Polizisten.

Er riss sich von seinem Schreibblock los und widmete mir die unbeteiligte Aufmerksamkeit seiner mittelgrauen Augen. »Ihr Name?«

»Maria Grappa.«

»Beruf?«

»Journalistin.«

Er notierte. »Wie lange und wie gut kannten Sie die Tote?«

»Ich bin seit etwa drei Jahren mit ihr befreundet.«

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

Ich erzählte es ihm und bemühte mich um Genauigkeit.

»Hatte sie Feinde?«

Ich schwieg. Nein, dachte ich, Feinde hatte Laura nicht, oder vielleicht doch? Sie verletzte manchmal, ohne es zu wollen. Sie war ehrlicher, als es manch einer ertragen konnte. Mit ihren knappen, präzisen Statements hatte sie schon viele Männer in die Wüste geschickt.

Der Kommissar schien meine Gedanken zu erraten. »Gab es vielleicht einen abgewiesenen Verehrer?«

»Ich kenne keine wirklichen Feinde von ihr: Sie war ein freundlicher Mensch, ging einem ordentlichen Beruf nach, wie Sie ja inzwischen wohl wissen, war ein lebenslustiger, großzügiger Mensch.«

Ich bemerkte mit Schrecken, dass ich von Laura bereits in der Vergangenheitsform sprach. Ich blickte mich in dem Zimmer um, in dem die Kripo jetzt ihr Büro eingerichtet hatte. Laura nannte es ihr »Studierzimmer«. Ein Schreibtisch, auf dem das Chaos herrschte, Poster aus seligen Studententagen an der Wand. Auf dem Ohrensessel eine lässig hingeworfene Strickstola aus altrosa Angora-Wolle. So, als sei sie nur mal schnell einkaufen gegangen und würde jeden Augenblick zurückkommen.

Der graue Kommissar wollte die Vernehmung zu Ende bringen. »Kennen Sie die Leute, die gestern und vergangene Nacht hier waren?«

»Nicht alle. Aber einige Namen kann ich Ihnen geben.« Ich legte los. Er schrieb unglaublich langsam. Mein Magen knurrte. Ich musste etwas essen, sonst würde ich den Tag nicht überstehen!

»Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt in der Nacht?«

Ich berichtete ihm von dem Stöhnen und dem Rascheln hinter Lauras Tür und erzählte, warum ich dies zu dem Zeitpunkt noch für normal gehalten hatte.

»So, so«, sein Beamtengehirn tippte auf eine Sex-Orgie, in seinen mittelgrauen Augen glomm so etwas wie Interesse auf. »War dies so üblich bei den Festen, die Frau Gutweil gab? Dass Sie sich einen der Gäste in ihr Bett einlud?«

»Nein, das war keineswegs üblich. Außerdem, woher wollen Sie wissen, dass der Mann hinter der Tür ihr Mörder war? Dass der Mörder überhaupt einer der Gäste war?«

»Natürlich wissen wir das noch nicht. Aber Sie haben selbst gesehen, dass die Tote nackt und gefesselt war. Das deutet ja nun nicht gerade auf einen Einbrecher hin, der das Silber entwenden wollte.«

»Was ist die Todesursache?«

»Vermutlich Erstickungstod. Mehr kann erst der Pathologe nach der Obduktion sagen.«

»Ist sie vergewaltigt worden?«

»Ich vermute nicht. Es sieht eher danach aus, dass eine Vergewaltigung vorgetäuscht werden sollte. Aber eigentlich stelle ich hier die Fragen, Frau Grappa.«

Er kritzelte etwas auf seinen Block. »Frau Gutweil hatte doch bestimmt einen festen Freund, oder?«

»Nein, zurzeit nicht. Sie hatte eigentlich die Nase voll von Männern.«

»Tatsächlich? Und? Wer war der letzte?«

Nein, ich würde seinen Namen nicht nennen. Laura hatte die Beziehung zwischen sich und dem medizinischen Halbgott nie an die große Glocke gehängt. Sie würde nicht wollen, dass die Polizei im trauten Heim der Professoren-Familie Ellenbogen Ermittlungen anstellen würde. Auch wenn ich dem Kerl jeden Stress der Welt an den Hals wünschte!

»Ich weiß es nicht. Irgendein Bengel fürs Bett …«

»Irgendein Bengel fürs Bett!«, echote er. Er sah seine Vorurteile über selbständige und gut aussehende Frauen wieder bestätigt. In seinen grauen Augen schimmerte Neugier auf weitere Details. »Und, wer war er? Hat der Mann auch einen Namen, oder spielt der keine Rolle in Ihren Kreisen?«

Ich wurde ärgerlich. »Was fällt Ihnen ein? Wie reden Sie mit mir? Bleiben Sie mir mit Ihren Moralvorstellungen vom Leib. Ich weiß nicht, wie Lauras letzter Liebhaber hieß. Es war auch schon seit Wochen vorbei.«

Der Kommissar schrieb eifrig. Sein Interesse für Lauras Sexualleben würde ihn irgendwann zu Dr. Ellenbogen führen. Ich stand auf, war wütend und traurig, wie Lauras Ruf posthum demontiert wurde. Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Die Erinnerung an ihn. Aber es bleibt auch sein Ruf, seine Ehre. Und Lauras würde ich nicht von einem Polizisten ruinieren lassen! Natürlich musste der Mörder gefunden werden. Ich bezweifelte allerdings, ob dieser von Vorurteilen durchdrungene Kriminalist der Bierstädter Polizei dazu in der Lage sein würde.

»Sie müssen Ihre Aussage noch unterschreiben, wenn das Protokoll getippt ist …«, rief er mir nach, als ich das Zimmer schon halb verlassen hatte.

Ich verließ Lauras Haus, ging in ein Café und bestellte mir ein Frühstück. Hier hatte ich mit Laura häufig gesessen, wenn wir zur gleichen Zeit Mittagspause hatten. Erst vor zwei Tagen waren wir noch hier gewesen.

Wie oft hatten wir uns über die Einrichtung mokiert, die aus der Hochzeit der Nierentische stammte. Hatten die verschiedenen Torten lustvoll durchprobiert und schließlich die Linzer Torte zu unserem Lieblingskuchen gekürt. Ich konnte nicht fassen, dass dies alles Vergangenheit war.

»Hallo«, sprach mich die Bedienung an, »heute ohne Ihre Freundin?«

Ich schaute sie irritiert an. Sie reichte mir ein zusammengefaltetes Tuch aus indischer Seide. »Können Sie ihr das geben? Sie hat es vorgestern hier vergessen.«

Wortlos nahm ich das Tuch und starrte es an. Ich roch daran und zog den pudrigen Duft von Lauras Parfum in mich hinein. Dann hob ich die Hand über die Augen, um die Tränen zu verbergen, die mir die Wangen herunterliefen. Was war nur geschehen in der vergangenen Nacht und … warum?

Der Stoff, aus dem die Blätter sind

 

 

»Ein Mord! Wir haben einen Mord! Und das im Sommerloch!«, jubelte der Kollege Chef vom Dienst Peter Jansen, als ich das Großraumbüro betrat. Solche »Witze« hatte ich auch oft gemacht bei schweren Unfällen, Großbränden oder anderen Unglücken. Unfälle auf der Autobahn waren nur interessant, wenn es mindestens vier Tote und viel Blut gab. Morde bekamen den »Kick« erst dadurch, dass Sex im Spiel war. Großbrände waren erst dann schön, wenn eine Familie kurz davor war, abgefackelt zu werden. Sehr beliebt war der »kleine Hund«, der von der Feuerwehr in einer dramatischen Rettungsaktion den Flammen entrissen wurde. Krawalle, Verbrechen, Tiergeschichten, Unglücksfälle und Katastrophen – das ist der Stoff, aus dem unsere Blätter zusammengeflickt werden.

Bei uns, dem Bierstädter Tageblatt, war es noch nicht ganz so schlimm. Da stand die Kommunalpolitik noch auf der Seite Eins. Die kleinen Skandälchen der lokalen Größen verdrängten jedoch auch im »Tageblatt« immer häufiger Berichte über politische Entscheidungen in Bierstadt auf die mittleren Seiten. Der Mord an einer jungen Frau gehörte selbstverständlich auf die erste Lokalseite als Aufmacher. Doch wie brutal über den Mord an Laura gesprochen wurde! Es lief mir kalt den Rücken hinunter.

Wir Journalisten sind doch Zyniker, dachte ich, uns ist nichts heilig, wir fühlen und leiden nur solange mit, bis die Story im Kasten oder im Blatt ist. Ich unterschied mich da überhaupt nicht von meinen Kollegen. Manchmal war ich sogar noch schlimmer als sie. Erfolg hieß für mich, gute Geschichten zu haben, die sonst niemand hatte. Und das nicht nur einmal im Leben, sondern möglichst jede Woche.

Es war schön, Dinge zu bewegen, eingefahrene Gleise zu verlassen, aus Leuten jede mögliche Information herauszuholen, um sie professionell zu verarbeiten. Doch mein Interesse an Menschen war oft nur geheuchelt, das Mitleid vorgetäuscht und die Versprechungen rasch wieder vergessen.

Informationen flossen ins Gehirn, wurden wie in einem Durchlauferhitzer auf die richtige Temperatur gebracht, verarbeitet und vermarktet … und so schnell wie möglich wieder vergessen. Da gab es keine Zeit für längeres Nachdenken.

»Wo steckt denn wieder der Polizeireporter?«, brüllte Jansen. Wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte, wurde er gleich laut. Meine Nerven vibrierten. Erst diese schreckliche Nacht und nun der Stress in der Redaktion! Mein Magen meldete sich. Das üppige Frühstück vertrug sich nicht mit den Überbleibseln meiner geplatzten Rohkostdiät.

Jansens Laune wurde immer schlechter. Ich kannte ihn schon einige Jahre, doch erst seit Kurzem arbeiteten wir zusammen. Er war das, was im Journalismus »Macher« genannt wird, reagierte schnell und sicher, erkannte heiße Storys ohne Thermometer.

Wie die meisten männlichen Journalisten ab 45 träumte er davon, einen Bestseller zu schreiben und mit dem Wohnmobil oder dem Segelboot die Welt zu umrunden. Für den Urlaub plante er entweder ein Überlebenstraining in den Rocky Mountains, eine Drachenfliegertour in den Schweizer Alpen oder einen Taucherkurs am australischen Barriereriff.

Doch Bluthochdruck, ein schwacher Magen, seine Frau und die drei kleinen Jungs sorgten dafür, dass die Träume Träume blieben. Zehn Bier und fünf Schnäpse genügten gewöhnlich, um Jansen den tiefen Schmerz über die verpassten Gelegenheiten vergessen zu lassen.

»Ich habe gefragt, wo der Polizeireporter ist, verdammt noch mal!«, brüllte er wieder.

»Der baggert die Telefonistin im Polizeipräsidium an …«, schrie der Volontär aus der rechten Ecke.

»Grappa, kannst du dich darum kümmern?« Jansen steuerte auf mich zu, die ich immer noch in der Tür stand. »Tolle Geschichte. Junge Frau, nach einer Fete vergewaltigt und umgebracht. Heute früh ist sie von ihren Gästen gefunden worden. Die Bullen sind noch da … wo hab ich denn die Adresse?«

Die Kollegen hatten mal wieder den Polizeifunk abgehört.

Hans Meister, der Polizeireporter, stürmte in den Raum. »Mord! Und was für ein schnuckeliger!«, schnaubte er, denn er war fett und jede Bewegung brachte ihn in Atemnot. »Junge Frau, vergewaltigt, mit mindestens 30 potentiellen Zeugen.«

»Wissen wir schon. Es kam über Funk. Warum, zum Teufel, sind Sie noch nicht dort? Vielleicht kriegen wir die Blechkiste mit der Leiche noch ins Bild. Geh du mit, damit du endlich mal was lernst«, schrie Jansen den Volontär an. »Knipst alles, was sich bewegt, und versucht 'ne Stellungnahme des Staatsanwaltes zu bekommen. Der ist bestimmt auch da. Und quetscht die Leute von der Mordkommission aus. Seid ihr noch nicht weg!«

»Perverse Lolitas« kommen per Post

 

 

In Lauras Haus und in Lauras Straße würde alles so ablaufen wie immer. Fragen an die Nachbarn: Was war das für eine? Erzählen Sie doch mal! Und wenn die Leute zurückhaltend waren, dann würde die nächste Platte aufgelegt: Sie sind doch auch daran interessiert, dass die Sache aufgeklärt wird, oder? Die Öffentlichkeit interessiert sich sehr dafür, das verstehen Sie doch? Sie können sich darauf verlassen, dass Ihr Name nicht genannt wird. Ihr Nachbar hat mir übrigens auch Informationen gegeben.

Doch die meisten Zeugen aus der Nachbarschaft redeten schon viel früher. Wir Journalisten sorgten schon dafür, dass anfängliche Hemmungen bald verschwanden. Wir gaben den Leuten das Gefühl, eine wichtige Informationsquelle zu sein, stellten sie für wenige Minuten in den Mittelpunkt unseres beruflichen Interesses, lechzten nach jedem Wort und drückten auf den Auslöser einer Fotokamera.

Peter Jansen musste das Blatt umstricken, er rief der Kulturredakteurin zu: »Blümchen, die Theaterkritik wandert auf die Fünf und darf nicht länger als 50 Zeilen sein. Wir haben einen Mord!« Und zu mir gewandt: »Wir reißen den Mord auf der Eins an und bringen auf der Drei die Fortsetzung.« Ich schaute ihn an und hatte das Gefühl, neben mir zu stehen.

Kulturredakteurin Blume hob nur kurz den Kopf, verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln und brütete dann weiter über dem Computer. Sie war es gewohnt, dass ihre Kultur im Blatt zusammengestrichen wurde, wenn was Aktuelles passierte. Niemand nahm mehr von mir Notiz. Ich setzte mich an den Schreibtisch und sortierte meine Post. Es war Montagmorgen, ein schöner sonniger Tag, Mitte August. Es musste in der Nacht geregnet haben, denn auf den Alu-Rolläden blitzten Wassertropfen wie Diamanten. Ich musste das tun, was ich immer tat, um nicht die Balance zu verlieren. Meine Finger öffneten automatisch die Briefumschläge. Einladungen, Honorarabrechnungen von Zeitschriften, für die ich ab und zu arbeitete, Anfragen, Anregungen und Beschwerden. Ein Verlag bot mir sein neuestes Kochbuch zur Rezension an. Es trug den Titel 300 mal schön und schlank. Ich blätterte. Von der Bier-Diät über die Manager-Tage bis hin zur Ein-Nährstoff-Kur war alles drin. Die oberflächliche Lektüre der Diät-Programme machte für mich zur Gewissheit, was ich schon immer vermutet hatte: Der einzige Weg, dünner zu werden, ist die sofortige Einstellung der Nahrungsaufnahme!

Ich seufzte tief und dachte an Gänseleberpastete mit frischen Trüffeln. Ich schämte mich und legte das Buch beiseite. Weit weg, aber nicht so weit, dass ich es nicht wiederfinden würde. Ich nahm den nächsten Umschlag vom Stapel und hielt ein Heftchen in der Hand. Perverse Lolitas prangte auf dem Titelblatt. Ich sah das Gesicht eines Mädchens. Es streckte dem Betrachter die Zunge entgegen. Kein übliches »Zungerausstrecken« war das, sondern ganz eindeutig eine sexuelle Pose. Die Kleine auf dem Titelbild war höchstens dreizehn. Ich schaute auf den Briefumschlag. Keine Briefmarke, jemand hatte den Umschlag direkt in den Redaktionsbriefkasten eingeworfen. Eine merkwürdige Post! Ich hatte von solchen Magazinen, die unter den Ladentischen von Erotik-Shops verkauft werden, schon gehört, aber in der Hand hatte ich noch nie eins gehabt. Ich schlug das Heft auf, hob es hoch und schüttelte es. Vielleicht gab es innen einen Hinweis. Nichts! Kein eingelegter Zettel, kein Anschreiben, kein Absender.

Der Inhalt bestand fast nur aus Anzeigen und Fotos, schlechte Schwarzweiß-Qualität meist, einiges in Farbe. Mädchen – höchstens elf Jahre alt – in den unterschiedlichsten Posen. Ein kleines Mädchen saß rittlings auf der Armlehne eines Polstermöbels, es war nackt und lachte in die Kamera. In der rechten Hand hielt es einen Telefonhörer, die dunklen Haare waren zu einem Zopf geflochten, an dessen unterem Ende eine Schleife baumelte – wohl um den Eindruck der Unschuld noch zu verstärken. Um das Handgelenk trug das arme Ding eines dieser falschen Perlenarmbänder, die als Beigabe aus Kaugummiautomaten herausfielen.

Das Foto war mit einer Bildunterzeile versehen:

Ich heiße Marina, bin 12 Jahre jung und lasse mich in allen Lagen fotografieren, evtl. auch mehr. Bitte nur gepflegte Herren melden.

Auf den nächsten Seiten kam es noch schlimmer: Eine vielleicht Dreijährige, die von dem Fotografen auf eine Couch gestellt worden war. Kurze blonde Babyhaare, ein weißer Pulli, einen Schnuller im Mund, weiße Söckchen mit Rüschen an den Füßchen. Mit der rechten Hand hob das Kind das Röckchen, die linke Hand lag zwischen den Schenkeln. Das Foto kündigte eine ganze Serie von Aufnahmen an, die für 500 DM zu haben waren. Mein Gott, wer geilte sich an so was auf?

Die Text-Anzeigenseite war mit Lolita-Börse übertitelt. Ich las: Mutter mit 10-jähriger Tochter sucht sexuelle Kontakte zu nettem großzügigen Herrn, der gern fotografiert.

Oder: Welche hübsche Lolita möchte einem freundlichen Mann, 35, ledig, ein- oder zweimal die Woche einen mit der Hand wichsen. Ich biete sehr hohes Taschengeld, etwa 300 Mark wöchentlich oder mehr.

In dem Stil ging es weiter. Auch auf der zweiten Seite. Doch hier war eine der Anzeigen mit einem Text-Marker herausgehoben worden. Als ich zu Ende gelesen hatte, wusste ich warum:

Hallo, Lolita-Mütter: Erfahrener, gut aussehender Unternehmer, vermögend, elegante gepflegte Erscheinung, Anfang 50, weiht Ihre kleine Tochter in alle sexuellen Spielarten ein. Bis 12 Jahre. Zahle hohes Honorar. 1000 Mark für Defloration, gerne im Beisein der Eltern. Da beruflich angespannt, bitte nur Meldungen aus Bierstadt und Umgebung.

Angebote unter: Onkel Herbert.

War das die Spur, auf die mich der anonyme Zusender führen wollte? Vermutlich, aber was hatte ich, was hatte unser Blatt mit diesem Thema zu tun? Nur weil so ein Schwein aus Bierstadt kam?

Warum kümmerte sich die Polizei nicht darum? Die las solche Blätter bestimmt auch. Kinderpornografie war nun wirklich nicht mein Thema. Ich war in dieser Stadt für Kommunalpolitik zuständig, da passierten zwar auch manchmal Sauereien, aber die hatten eine andere »Qualität«.

Ich schob das Magazin in die Schublade. Auch wenn mir jemand einen Tipp geben wollte für eine heiße Geschichte, dieser Pornosumpf war nichts für mich. Zu dreckig. Zu mühsam. Und zu traurig.

Ich wusste, wovon ich sprach. Denn Laura hatte mit solchen Mädchen gearbeitet und mir davon erzählt. Oft spielten die Eltern der armen Opfer eine Rolle bei der sexuellen Vermarktung ihrer Kinder, häufig »lernten« die leiblichen Väter ihre Töchter an, machten sie fit fürs Geschäft. Die Kinder waren kaputt fürs ganze Leben. Und die Täter kamen mit geringen Gefängnisstrafen davon.

Da wäre ein chirurgisch sauberer Schnitt, meinetwegen in Narkose, die optimale Lösung, und das Elend hätte ein Ende. Für beide Seiten!

Ein Frauenprojekt in Papua-Neuguinea

 

 

Ach, Laura! Erinnerst du dich, wie wir uns kennengelernt haben? Das war auf einer dieser Frauenfeten, die ich aus alter Verbundenheit ab und zu noch besuchte, um den Kontakt zu den Mädels von früher nicht ganz zu verlieren. Es war vor etwa drei Jahren, ich hatte eigentlich gar nicht erscheinen wollen auf dieser feministischen Ohne-Männer-Veranstaltung.

Das Häuschen lag im Grünen. Viele Frauen und ein paar Kinder waren da. Leise Musik im Hintergrund. Die heißen Themen der Gespräche unter Frauen waren mir bekannt: Wann läuft denn deine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aus? Wie schaffst du deine Arbeit als bewusst alleinerziehende Mutter? Findest du nicht auch, dass mit der Unterdrückung lesbischer Autorinnen am Bierstädter Theater endlich Schluss sein muss?

Eine der Frauen gab sich irgendwann an diesem Abend als Frauenbeauftragte einer nahegelegenen Mittelstadt zu erkennen. Diese Stadt lag etwa 40 Kilometer von Bierstadt entfernt und war eine Mischung aus Industriebrache und westfälischem Brauchtum. Hier wurde alljährlich ein großer Pferdemarkt abgehalten, auf dem die Schlachtfleisch-Preise für die gesamte Republik ermittelt wurden.

Sie war eine zarte Person, durchsichtig und filigran, die unaufhörlich mit ihren metallenen Armreifen klingelte, und sich die durch besondere Friseurkunst ins Gesicht fallenden Haare aus der Stirn strich. Sie trug flache Ballerinas, eine schwarze Samthose und ein zitronenfarbenes Leinenjäckchen im militärischen Stil.

»Und was machst du als Frauenbeauftragte in dieser Stadt?«, entschloss ich mich zu fragen. Sie schaute mich an mit dem Blick, den Frauen haben, die kurz davor sind, das Hohe Lied der Unterdrückung der Frau anzustimmen.

Ich hatte sie aus dem Konzept gebracht mit meiner schlichten Frage, die lediglich auf die Erlangung von Informationen abzielte. Doch sie war gewillt zu antworten. »Zurzeit habe ich mich für ein Jahr beurlauben lassen«, klärte sie mich auf.

»Ich verstehe … Erziehungsjahr!«

»Oh nein«, sagte sie triumphierend und hob die Stimme. »Ich habe mich für ein Jahr beurlauben lassen, um zu mir selbst zu finden.«

Rücksichtslos legte ich nach: »Und – hast du schon was gefunden?« Diese Frage ignorierte sie. Das spontane Geständnis über die Suche nach Sich-Selbst hatte ihr die Aufmerksamkeit der gesamten Frauenrunde beschert. Alle hingen an ihren Lippen.

Sie setzte sich in Positur, entfernte eine nicht vorhandene Fluse vom Zitronenjäckchen und schwärmte in die Runde: »Ich habe in den letzten Monaten viel ausprobiert … Doch ich sage euch, Jazz-Dance, das ist das Größte! Es hat mich ein Stück weit befreit. Ich begreife seitdem meinen Körper irgendwie ganz anders, ich kann viel offener auf Menschen zugehen, mich auf sie einlassen, mental und so.«

Ich hörte ergriffen zu. Wie konkret und doch weiblich sensibel sie über ihren Selbstzustand sprechen konnte! Wie leicht ihr die Worte von den Lippen perlten! Aber – genug ist genug! Ich wollte mich erheben, weil mein Glas leer war. Nur mit Chablis premier cru ließe sich der Abend noch weiter ertragen. Doch die Frauenbeauftragte hatte ihre Leidensgeschichte noch nicht beendet. Ich fiel in meinen Sessel zurück.

»Fast wäre ich ja ganz aus Deutschland weggegangen«, fuhr sie fort und seufzte.

»Das wäre aber schade gewesen, unsere Republik ohne eine Frau wie dich«, mischte ich mich ein. Die Tussi nervte, und sie merkte es noch nicht einmal. Frauen wie sie verstehen die Ironie anderer Frauen nie.

»Und … wo hätte es denn hingehen sollen?«, recherchierte ich weiter.