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Inhalt

Rotwein aus Valdepenas

Eine Sachertorte aus Moskau

Plaudertaschen unter sich

Keine Carlotta

Hähnchen auf der A 1

Die dunkelgrüne Limousine

Aufforderung zum Waldspaziergang

Der Mann im Wald

Vergoldete Realitäten

Überwundener Widerspruch

Tanz mit dem Wolf

Experten mischen sich ein

Galopper in der Zielgeraden

Drei Bier

Eine spanische Firma und Kekse mit Mandeln

Willis Enthüllung

Ausgetrickst

Im Land der »blauen Vertikalen«

Zwei Ohren und viele gelbe Rosen

Neuer Haarschnitt und alte Torte

Hermanns letztes Großprojekt

Ein Mann für alle Fälle

Ein süßer Zahn

Eigenarten eines Killers

Ein Leibwächter für Arme

Immer der Nase nach

Die Zeit vergeht im Flug

Die Schleife des Tajo

Das »Tor der Sonne«

Die Stadt und ihre Straßen

Fußball und Schönheitspflege

Nachrichten aus der Heimat

Der Postmann kommt

Rettende Fragezeichen

Der Stoff, aus dem Schokoladentorten sind

Die Fäden der Erkenntnis

Wolf und Lamm

Fische mit schlechtem Image

Toter Fisch in Roh

Cervantes und seine Zeit

Zwei Tickets und ein Plan

Schwarz-gelb über alles

Vorübergehende Nordwanderung

Eine gute Beziehung

Die Erde der Mancha

Er war schneller

Der Countdown läuft

Eine Witwe lädt ein

Mama knallt durch

Der große Bluff

Begegnung im Zweierpack

Zwei Koffer, zwei Männer

Einfach vergessen

Übergeordnete Interessen in einer Bananenrepublik

Rockys Nebenjob

Unfehlbar

 

Zögernd trat ich näher. Willi deutete mit dem Finger auf die rechte Kopfseite. »Sein Ohr ist weg«, meinte er lapidar.

Tatsächlich. An der Stelle, an der normalerweise die Ohrmuschel saß, war nur eine blutverkrustete Wunde.

»Mir wird schlecht«, kündigte ich an.

»Reiß dich zusammen«, befahl Willi, »kotzen kannst du später. Jetzt müssen wir die Bullen rufen.«

»Okay«, nickte ich, »es wird Zeit, dass sich Experten der Sache annehmen. Du verschwindest jetzt am besten, sonst nehmen dir die Grünen noch den Film und die Bilder weg.«

 

*

 

Maria Grappa und Killer El Lobo liefern sich ein spannendes Duell im Umfeld eines Plutoniumschmuggels von Moskau nach Bierstadt.

 

*

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1996 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-985-3

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa und der Wolf

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

(in alphabetischer Reihenfolge)

Anton Brinkhoff behält den Überblick

El Lobo telefoniert gern

Maria Grappa spielt Rotkäppchen und begegnet dem Wolf

Peter Jansen wird manchmal schwach

Rocky Jedwabski trägt einen falschen Namen

Werner Conrad Knall liebt Zierfische

Luise Lasotta ist eine gute Witwe

Hermann Lasotta hasst Waldspaziergänge

Max Lidor weiß, was er tut

Dr. Egbert von Liliencron will unbedingt alles

Carmen Roja lernt fliegen

Carlotta Roja macht manchmal Fehler

Urs Stäubli überlässt nichts dem Zufall

Amadeus Viep kämpft für die Unterdrückten

Willi Wurbs isst gern Kuchen

 

Dies ist ein Roman. Personen und Handlung sind frei erfunden.

»Freund Sancho, schläfst du? Schläfst du, Freund Sancho?«

»Wie zum Kuckuck soll ich schlafen? Scheinen es doch in dieser Nacht alle Teufel auf mich abgesehen zu haben!«

 

Aus: »Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von La Mancha« von Miguel de Cervantes Saavedra

Rotwein aus Valdepenas

 

 

Auf der anderen Seite der Straße stand eine dunkelgrüne Limousine. Ich konnte die Marke nicht erkennen; es war ein starker Wagen, der dort breitbeinig auf dem Pflaster lag. Am Steuer saß regungslos ein Mann, sein Gesicht war im Schatten. Wenn er an seiner Zigarette zog, glühte ein milder, roter Schein über sein Gesicht. Das Auto stand am Ausgang einer Einbahnstraße. Das rote Verbotsschild mit dem weißem Querbalken hing lose in seiner Befestigung von der Hauswand herab. Der Name der Straße – weiße Schrift auf blauem Grund – war unleserlich. Zumindest aus meiner Perspektive. Das Haus – es war übrigens die Straßenecke – war ein müder, grauer Bau; der Verputz bröckelte und legte einen schäbigen Untergrund frei. Ein totes Haus, das ein bisschen Glanz nur von einer grünen Markise erhielt, die über einem Fenster im dritten Stock angebracht war.

Diesem Gebäude gegenüber standen in verwirrender Unordnung viele leuchtend rote Plastikstühle, gruppiert um weiße Kunststofftische. Dahinter breitete sich ein Stückchen verwilderter Garten aus. Zur Straße hin war er gesichert durch eine niedrige Mauer mit einem starken Eisengitter, in dessen unterem Teil sich allerhand Müll verfangen hatte.

Die Stühle gehörten zu einer Bar. Haus, Garten und alles drum herum hatte ich im Blick, denn ich hatte mich vor der Bar niedergelassen, wo ein halbes Dutzend der gleichen Stühle aufgebaut waren. Niemand saß mit mir unter freiem Himmel. Ich war allein, hatte gerade eine Auswahl von Tapas bestellt. Kurz gebratene Wachteln und geröstete Ringe von Calamares, gegrillte, scharf gesalzene Fleischstückchen und was noch dazu gehört: Weißbrot, schwarze Oliven, ein wenig Salat und eine ganze Hasche Vino tinto, Landwein aus Valdepenas, wie der Barmann versichert hatte.

Es war angenehm, hier zu sitzen, so allein. Dagegen herrschte drinnen in der Bar, die Meson Las Tapas hieß, ein völliges Durcheinander – nur Männer waren dort, die mehr Lärm machten, als ich vertragen konnte. Dazwischen mischte sich noch das Geheul einer Flamencosängerin aus vollem Busen.

Es wurde Abend. Die Sonne war hinter dem Schatten der Häuser verschwunden, einige Vögel steuerten ihre Schlafplätze an, und aus ein paar Fenstern drang bereits elektrisches Licht. Ein streunender Stadtkater strich scheu an meinem Tisch vorbei, um die Lage im Hinblick auf Essbares zu überprüfen. Er schnappte das halb abgegessene Wachtelskelett aus meiner Hand und machte sich davon.

Plötzlich zerbrach ein Klirren die Ruhe der Straße. Es kam von gegenüber, vom grauen Haus, vor dem der dicke Wagen stand, dessen Fahrer noch immer ruhig auf seinem Platz saß. Hinter dem Fenster im dritten Stock, dem mit der grünen Markise, entdeckte ich einen Schatten. Ein Schrei folgte. Irgendetwas Schreckliches geschah dort! Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, fiel der Körper einer Frau aus dem Fenster. Der Fall war lautlos, der Aufprall ein dumpfer Schlag.

Ich vergaß vor Entsetzen zu atmen. Am Fenster erschien der Kopf eines jungen Mannes, ich glaubte Hände zu sehen, das kurze Aufleuchten eines Fingerringes. Die Straße blieb von dem Fall unberührt, niemand außer mir schien etwas bemerkt zu haben, niemand stand als Schatten neugierig am Fenster, aufgeschreckt durch dieses plötzliche Klirren. Die Männer in der Bar hinter mir grölten noch immer, die Sängerin stieß rhythmische, gutturale Schreie zu schweren Gitarrenakkorden aus.

Ich hatte mich wieder gefasst, sprang auf und lief über die Straße. Der Täter musste noch im Haus sein. Als ich an dem wartenden Wagen vorbeirannte, beobachtete ich eher zufällig, dass sich der Fahrer über das Lenkrad gebeugt hatte, als ob er sein Gesicht verbergen wollte. Er rauchte nicht mehr. Ich klopfte heftig ans Fenster. Es war ein Mann mit Baskenmütze, der dort saß. Er rührte sich nicht. Meine Hand versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. »Nun helfen Sie doch!«, schrie ich. Keine Reaktion.

Ich lief zu der Frau. Sie war jung, hatte dunkles kurzes Haar, das Gesicht war zur Erde gekehrt. Sie trug ein rotes Kostüm, dessen kurze Jacke durch die ungewollte Lage des Körpers etwas hochgerutscht war. Ich beugte mich zu ihr hinab, suchte nach Lebenszeichen und fand sie nicht. Mit einer Hand versuchte ich den Kopf zur Seite zu ziehen. Ihre Haut war warm, die Augen halb geschlossen und starr. Ich blickte zur Eingangstür. Sie hing ruhig in ihren Angeln, der Mörder war entweder noch im Haus oder hatte einen anderen Weg hinaus gefunden.

Ohne zu überlegen, stürmte ich durch die angelehnte Tür ins Innere. Die Flure waren ziemlich ramponiert. Die Türen waren aufgebrochen, manche standen offen, Möbel waren nirgends zu sehen. Ich erklomm die Treppe, deren Bohlen knarrten. Vorsichtig ging ich bis in die dritte Etage. Auch die Tür hier oben war nicht verschlossen. Behutsam drückte ich sie auf. Die Wohnung war in einem besseren Zustand, so als würde sie gelegentlich benutzt. Nicht zum Wohnen, sondern zu anderen Zwecken. Es standen ein paar schäbige Sessel herum, ein großer Tisch, kein Bett. Dann noch ein paar kleinere Gegenstände. Es roch ungelüftet und nach altem Zigarettenrauch. Ich trat ans Fenster, sah die Reste einer Glasscheibe auf der Fensterbank liegen. Gerade wollte ich einen Blick auf die Straße werfen, als mich ein Geräusch im Hausflur zusammenzucken ließ. Ich lief aus der Wohnung, horchte in die Etagen unter mir.

Nichts regte sich. Niemand war da. Stille, als habe sich nichts ereignet, kein Unfall und schon gar kein Mord.

Ich verharrte einen Augenblick. Ratlos. War ich Opfer einer Täuschung geworden? Nach einer Flasche Vino tinto von zwölfeinhalb Prozent (auch wenn er aus Valdepenas war) und unter dem Eindruck der leeren Straßen, knallroten Plastikstühlen, grölenden Männern, die nichts zu kümmern schien, war es vielleicht nicht so einfach, die Nerven zu behalten.

Jetzt wagte ich es nicht mehr, zum Fenster zu gehen und nach unten zu schauen. Auf der Straße startete jemand ein Auto. Ich musste raus hier, der Mörder lauerte vielleicht auf mich.

Als ich wieder unten war, war die dunkelgrüne Limousine weg. Und die Frau? Es gab keine tote Frau. Sie war verschwunden. Ich lief zum Meson Las Tapas zurück.

Der Barmann hatte mich schon vermisst. Ein freundlicher Typ. Er sprach ein wenig deutsch, denn er war erst vor fünf Jahren aus Deutschland in seine Stadt zurückgekehrt.

»Wie viel Wein habe ich getrunken?«

Der Barmann grinste. »Eine Flasche Tinto, und vorher haben Sie noch den Weißen probiert. Soll ich noch eine bringen, Señora?«

Ich winkte ab. »Lieber nicht. Ich habe eben schon Gespenster gesehen.«

Er verstand nicht den Grund für meine Worte, doch er lachte. Ich setzte mich wieder auf meinen roten Stuhl. Der Salat lag inzwischen schlapp in der Soße, die Fleischbällchen hatten Außentemperatur.

»Wer wohnt in dem grauen Haus dort drüben?« Ich versuchte, meiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.

»Das ist fast unbewohnt«, antwortete er und räumte den abgegessenen Teller ab, »manchmal kommt ein Mann, er hat immer einen grünen Pullover an. Er kommt aber sehr selten. Eine alte Frau gibt es dort auch noch, aber sie ist ein bisschen verrückt.«

»Haben Sie das Auto bemerkt, das die ganze Zeit gegenüber geparkt hat?«

Der Barmann schüttelte den Kopf und sah mich an, als hätte ich dummes Zeug gesagt.

»Ich meine die große Limousine, sie muss vor ein paar Minuten weggefahren sein.« Ich deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite.

»Ich bin mit meinen Gästen beschäftigt, das Haus interessiert mich nicht«, behauptete er. Dann verschwand er schnell.

»Café con leche, por favor«, rief ich ihm nach. Ich wusste nicht, ob er meine Bestellung mitbekommen hatte. Es war mir auch egal, ich wollte noch eine Weile hier sitzen und nachdenken. Sollte ich der Polizei meine Beobachtung schildern? Quatsch, dachte ich, ohne Leiche kein Mord. Niemand außer mir schien etwas gesehen zu haben, und ich war nicht gerade nüchtern.

Ein Mann kam die Straße entlang – quer herüber auf mich zu. Er war dürr, hatte einen Vogelkopf – so lang und spitz war seine Nase. Die linke Hand zitterte, sie war angewinkelt, die Schritte nervös. Er schob sich heran und öffnete die rechte Hand. Ich verstand zwar nicht, was er sagte, doch die Geste war unmissverständlich. Hastig kramte ich aus meiner Geldbörse ein Hundertpesetenstück und gab es ihm. Er zitterte fort.

Mein Gott, dachte ich, wie das alles zusammenpasst! Die Typen in der Kneipe, die leere Straße, auf der abends eigentlich Leben sein müsste wie anderswo auch. Eine Frau wird aus einem Fenster im dritten Stock geworfen und ist plötzlich verschwunden. Der Tinto war ja gut, aber zu schnell getrunken. Du bist reif fürs Bett, und zwar sofort.

Ich betrat die Bar. »La cuenta por favor!«

Der Barmann nickte und reichte mir einen Kassenzettel herüber. Die Männer beobachteten mich neugierig und rückten zur Seite, als ich dreitausend Peseten über die Theke schob. Die Luft hier drinnen war teerhaltig, auf dem Steinboden lagen Zigarettenstummel und Papiere von Zuckerstückchen.

»Die Frau am Fenster haben Sie wohl auch nicht gesehen?«, versuchte ich es noch einmal, als mir der Barmann einen Teller mit Münzen zurückschob.

Er sah mich überrascht an. »Vergessen Sie es«, meinte er dann, »unser Wein ist rein und gut für die Gesundheit, und morgen sieht alles ganz anders aus.« Ich resignierte, ließ die Münzen auf dem Teller und verschwand.

Das Hotel, in dem ich wohnte, war vielleicht fünfhundert Meter entfernt. Ich überquerte die Straße und schlenderte an dem grauen Haus vorbei. Auf dem Bürgersteig lagen Glassplitter. Also doch! Ein paar Schritte weiter, gerade neben dem Bordstein, glänzte etwas Goldenes. Ich sah genauer hin. Es war eine Puderdose, deren Deckel offen stand. Ich hatte nicht den Mut, mich einfach zu bücken, öffnete rasch meine Tasche, suchte etwas, das ich unbemerkt fallen lassen konnte. Meinen Zimmerschlüssel! Er klirrte zu Boden, ich ging in die Hocke, bekam die Puderdose in die Finger und ließ sie in meiner Handtasche verschwinden.

Als ich mich verstohlen umsah, bemerkte ich den Barmann. Er stand im Eingang seiner Bude, das Gesicht zu mir gewandt, sonst war niemand auf der Straße. Hatte er gesehen, dass ich etwas aufgehoben hatte? Und wenn schon! Vermutlich hielt er mich nur für eine seltsame Touristin, die seinen viel gepriesenen Vino tinto aus Valdepenas nicht gut vertragen hatte.

Eine Sachertorte aus Moskau

 

 

Mein Schlaf war tief in dieser Nacht. Als ich aufwachte und auf die Uhr schaute, war es schon neun und taghell, trotz der geschlossenen Vorhänge an den Fenstern. Ich machte schnell Toilette, um an den Frühstückstisch zu kommen, denn mein Appetit ist morgens immer beachtlich.

Während ich an der Bar einen belebenden Kaffee trank, überlegte ich, wie ich diesen Tag gestalten sollte. An den letzten Abend hatte ich nur vage Erinnerungen; ich wusste noch, dass ich eine Bar besucht hatte, um endlich einmal die viel gepriesenen spanischen Tapas zu genießen. Ach ja, zu viel Wein und merkwürdige Erscheinungen waren da auch noch gewesen.

In der Hotelhalle bahnte ich mir den Weg durch ein Rudel ziemlich munterer älterer Damen, die hier genächtigt hatten und deren Bus draußen mit brummendem Motor auf seinen Inhalt wartete.

Die Temperatur war noch morgendlich kühl, die Luft frisch. Ich atmete tief durch. Der Abend war mir doch besser bekommen, als es zunächst den Anschein hatte. Weniger Wein, dachte ich, dann hast du auch keine Halluzinationen mehr. Mein Stimmungspegel hob sich – wie immer bei guten Vorsätzen, deren Ausführung sich meist dann doch nicht ergab.

Ich bummelte ein bisschen durch die engen Straßen der Altstadt von Toledo, die sich langsam mit wabernden Touristenmassen füllte, die von ihren Reiseleitern wie Schafe zur Tränke getrieben wurden. Ich presste mein Täschchen an mich, der Guide hatte vor dreisten Taschendieben gewarnt, die beim Rempeln Zugriffen. Toledo war im Mittelalter die Stadt der Bettler gewesen.

»Ist Post für mich gekommen?«, fragte ich, ins Hotel zurückgekehrt, den Empfangschef.

»Moment«, antwortete der und sah in meinem Fach nach. Da lag nur der Zimmerschlüssel. Ich hatte nirgendwo meine Adresse hinterlassen und konnte also überhaupt keine Post bekommen. In übermütiger Laune geht's mir wie vielen anderen auch, ich mache Scherze auf Kosten anderer. Um noch einen draufzusetzen und weil der junge Mann so hübsche braune Augen mit langen Wimpern hatte, bat ich ihn, sofern Post käme, sie mit meinem Namen zu versehen und dann an das Waldorf-Astoria in New York weiterzuleiten. Aber per Luftpost. Er notierte alles langsam und gewissenhaft, klimperte mich amüsiert an.

Bester Laune schuf ich in meinem Zimmer ein bisschen Ordnung, steckte mein kleines Täschchen, das mich auf meiner Tour eben begleitet hatte, in meine große Handtasche. Meine Finger ergriffen dabei eine goldene Puderdose. Mir gehörte sie nicht. Langsam formte die Erinnerung in meinem Kopf das Bild einer toten jungen Frau. Ich öffnete den Deckel, der ein wenig verklemmt war. Der Spiegel war zerbrochen, und dahinter steckte ein Zettel. Ich zog ihn vorsichtig zwischen den Splittern hervor.

»Carlotta« – stand da in Druckbuchstaben mit blauer Tinte. Darunter eine Telefonnummer. Die Vorwahlnummer von Bierstadt! Ich fiel fast vom Hocker. Der Rest der Nummer war fast unleserlich – Feuchtigkeit hatte die Tinte verschwimmen lassen – aber mit einiger Mühe konnte ich sie entziffern. Bierstadt – nicht zu fassen!

Erst jetzt hatte ich die Bilder und Ereignisse des vergangenen Abends wieder voll im Gedächtnis. Die Puderdose hatte der Frau in dem roten Kostüm gehört, die vor meinen Augen aus dem dritten Stock des grauen Hauses gegenüber der Tapa-Bar gefallen war. In dieser unheimlichen, verlassenen Straße mit den knallroten Plastikstühlen. Der Mann im dunkelgrünen Wagen fiel mir wieder ein, der später genauso verschwunden war wie die tote Frau.

Ich dachte an das Gesicht des Barmannes, wie er mir eine Flasche Vino tinto aus Valdepenas und köstliche Tapas auf den Tisch stellte. Fast war mir, als hörte ich das Männergegröle und die brünstigen Flamencoklänge. Ich starrte auf die Puderdose. Sie war Realität.

Was tun? Die Nummer einfach anzurufen, das schien mir absurd. Aber warum eigentlich nicht? Neben dem Telefon lag eine auf Pappe gedruckte Anweisung zur Benutzung des Zimmertelefons. Como utilizar el servicio telefonico desde su Hotel. No problema!

Aus meinem Reiseführer notierte ich die Auslandsvorwahl für Deutschland, ließ bei der Bierstädter Vorwahl die Null weg und wählte den Anschluss.

»Roja!«, sagte eine Frauenstimme.

»Carlotta?«, fragte ich.

»Carmen! Endlich! Warum rufst du erst jetzt an? Ich habe schon gestern mit deinem Anruf gerechnet, die Sache ist doch jetzt schon in der Entscheidung.«

Es war die sympathische, warme Stimme einer Frau in mittlerem Alter, so schätzte ich. Sie wusste nicht, dass sie mit einer Fremden sprach, der Carmens Puderdose und die eigene Telefonnummer nur zufällig in die Hände gefallen waren. Ein Strom von spanischen und deutschen Worten sprudelte aus der Ohrmuschel, als stünde Carlotta unter Druck oder hätte Eile, so viel wie möglich in diesem Telefongespräch unterzubringen.

»Die Sache läuft gut«, erzählte sie weiter, »ich hoffe, dass du etwas rausbekommen hast. Der dunkle Typ muss in Spanien sein, ich habe ihn hier nicht mehr gesehen. Die Sache ist jetzt absolut heiß. Du musst sofort zurückkommen, hörst du? Ich erwarte dich morgen. Ich habe erfahren, dass sie die Sachertorte in Moskau bestellt haben.« Beim letzten Satz senkte sie ihre Stimme.

»Sachertorte? Moskau?«, entfuhr es mir. Sofort merkte ich, dass das ziemlich blöd gewesen war, denn Carlotta begriff endlich.

»Mit wem spreche ich denn?« Es klang entsetzt. »Carmen? Bist du es nicht? O Gott! Wer sind Sie?«

»Maria Grappa«, antwortete ich, »ich wollte nur …«

»Mit wem telefonieren Sie, Carlotta?«, hörte ich eine männliche Stimme im Hintergrund fragen. Sie war deutlich und scharf.

»Was wollen Sie hier?«, schrie die Frau. »Gehen Sie!«

»Sie haben sich in Dinge eingemischt, die Sie nichts angehen«, sagte der Mann. Ich konnte seine Stimme jetzt noch deutlicher hören, er musste direkt neben der Frau stehen.

»Kommen Sie, Carlotta«, sprach er, »wir werden die Sache in Ruhe besprechen. Geben Sie jetzt erst mal den Hörer her!«

Ich hörte Geräusche, dann wieder die Stimme: »Hallo, wer ist dort? Sagen Sie sofort Ihren Namen!«

Ich hatte meine Geistesgegenwart zurückgewonnen, obwohl ich noch immer sehr erregt war. »Du kannst mich mal!«, rief ich wütend. Da wurde es plötzlich sehr still. Der Hörer war aufgelegt worden.

Jetzt hatte ich also einen Mord am Hals, eine Leiche verschwinden sehen und ein mysteriöses Telefongespräch mit einer Frau namens Carlotta geführt, die etwas von einer Sachertorte erzählt hatte, die ausgerechnet aus Moskau kommen sollte.

Ich kenne mich in den Feinheiten der Confiserie nicht besonders gut aus, aber ich weiß, dass Sachertorten eine Wiener Spezialität sind, dass in ihnen viel Schokolade und Butter verarbeitet wird und sie deshalb im Magen liegen wie ein Stein. Von den vielen Kalorien ganz zu schweigen. Nicht zuletzt deshalb hatte ich seit Jahren an Sachertorten noch nicht mal gedacht.

Mich schauderte. Ich hatte noch immer die Stimme des unbekannten Mannes im Ohr, der mein Gespräch mit Carlotta unterbrochen hatte. Sie hatte die wohlige Wärme von Trockeneis.

In meiner Hand lag die Puderdose. Ich untersuchte sie näher. Sie war schon älter, ursprünglich aus Silber, später hatte sie jemand vergoldet. Das Material war dünn, an manchen Stellen schon ein wenig verbeult. Der Puder war sehr leicht, ein bisschen feucht und von zarter, schillernder Fleischfarbe. Ein teures Nachfüllprodukt. Das mehrfach benutzte Schwämmchen hatte die Farbe des Puders angenommen und etwas vom Hautfett der Besitzerin aufgesaugt.

Ich war in einer Situation, die gefährlich werden konnte. Als Augenzeugin eines Mordes sollte ich nicht länger in Toledo bleiben, sagte ich mir, vielleicht hat mich doch jemand gesehen.

Nein, hier in Spanien kam ich nicht weiter mit der Geschichte. Ich musste zurück nach Bierstadt. Herauskriegen, wer diese Carlotta war, die auf den Anruf einer Frau namens Carmen gewartet hatte.

Ich blickte auf die Uhr. Es war früher Nachmittag. Zeit genug, die Sachen zu packen, den Mietwagen zu starten und die rund siebzig Kilometer nach Madrid zu schaffen. Die Maschine ging um kurz nach sieben, es war ein Linienflug. Ein Ticket hatte ich, es musste nur noch umgeschrieben werden.

Der Empfangschef quittierte meine Flucht mit einem bedauernden Klimpern seiner langen Wimpern und der Versicherung, alle meine Post umgehend nach New York ins Waldorf-Astoria weiterzusenden. Ich starrte ihn fragend an, hatte meinen eigenen Witz längst vergessen.

Ich bekam den Flug. Gegen elf Uhr abends trudelte ich in Bierstadt ein. Im Telefonbuch suchte ich die Nummer von Carlotta Roja. Ich fand sie, doch sie stimmte nicht mit der Zahlenkombination aus der Puderdose überein.

Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Vorher ließ ich noch minutenlang das warme Wasser der Dusche über mich laufen. Womit sollte ich beginnen? Den Anfang des Knäuels hielt ich in meinen Händen: Carlotta Roja. Ich musste unbedingt mit ihr reden!

Plaudertaschen unter sich

 

 

Die sogenannten Redaktionskonferenzen waren nichts anderes als eine Form sozial verbrämter Plaudertaschenkultur. Ich war auf dem Weg in eine solche Sitzung. Eigentlich mochte ich solche Veranstaltungen nicht, doch nur so konnte ich mitbestimmen, was morgens im Blatt stehen würde.

»Das war aber ein kurzer Urlaub«, stellte eine Kollegin aus der Nachrichtenredaktion hämisch fest, die nicht gerade zu meinen besten Freundinnen zählte.

»Lang genug, um mich prächtig zu erholen«, gab ich zurück und wartete auf den nächsten Angriff.

»Es muss ja auch langweilig sein, so ganz allein in Urlaub zu fahren«, seufzte sie und bedachte mich mit einem mitfühlenden Von-Frau-zu-Frau-Blick.

»Auch im Urlaub kann man Leute kennenlernen«, knurrte ich.

»Und? Hast du?«

»Klar. Er hieß Don Fernando, hatte Augen wie glühende Kohlen, einen Arsch wie Adonis und eine Stimme wie Luciano Pavarotti in seiner allerbesten Zeit. Tagsüber kämpfte er gegen wilde Stiere, abends sang er vor meinem Balkon, und nachts arbeiteten wir den Flamenco in der Waagerechten nach. Hat dein Mann eigentlich noch immer die Affäre mit der geilen Tussi aus der Anzeigenabteilung?« Den letzten Satz hatte ich geflötet. Ihr Blick sagte mir, dass ich für heute Ruhe haben würde.

»Zwei Kolleginnen in einem Gespräch von Frau zu Frau«, brummte eine tiefe Männerstimme neben mir, »wie schön, wenn sich zwei Menschen so gut verstehen.«

»Peter!« Ich war erfreut. Peter Jansen war noch immer Chef vom Dienst beim Bierstädter Tageblatt. Seine Karriere war seit Jahren von einem aufregenden Stillstand bestimmt, nichts rührte sich. Chefredakteur hätte er werden sollen, doch die Verlagsleitung hatte sich für Werner Conrad Knall entschieden, einen Fast-Sechziger mit öligem Haupthaar und Seehundschnäuzer. Als Knall – wir nannten ihn WC – installiert worden war, war Jansen zusammengeklappt. Doch übermäßiger Alkoholgenuss löste seine Probleme nicht, er »verschwand« für einige Wochen in einer Klinik.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte ich und haute ihm auf die Schulter. »Alles in Ordnung zu Hause?«

Er nickte.

Wir setzten uns. Auf dem Tisch lagen die Zeitungsausgaben vom heutigen Tage, denn die Konferenzen begannen mit einer sogenannten »Manöverkritik« der täglichen Ausgabe.

Die Kolleginnen und Kollegen waren bereits vollständig im Sitzungsraum versammelt. Es waren ungefähr zwanzig Leute. Da gab es die harten Rücksichtslosen, die gnadenlosen Zyniker, die schleimigen Gestaltlosen, die geschmeidigen Scherzbolde, die frustrierten Ideologen und ab und zu mal eine schrille Gestalt. Ich zählte mich noch zur letzten Kategorie, befand mich aber auf dem Weg zur Zynikerin.

WC Knall betrat den Raum. Der Stuhl ächzte, als er sich auf ihn fallen ließ.

»Guten Morgen, die Herren!«, schnarrte er. Einige Kollegen suchten sofort Blickkontakt mit ihrem Alpha-Männchen. Dass WC die wenigen Frauen im Raum nicht extra begrüßte – daran hatten sich alle gewöhnt. Er tat es nicht, weil er etwas gegen Journalistinnen hatte – ganz im Gegenteil. Vielen jungen Damen hatte er im Laufe der Jahre den Weg zum Journalismus gezeigt – in seiner zupackenden, väterlichen Art.

Nachdem WC Knall die Ausgabe des heutigen Tages gelobt hatte – »Weiter so, meine Herren!« –, wurde das Programm des Tages abgespult.

»Was liegt heute an?« Auch diese Frage gehörte zum morgendlichen Ritual. Der Redakteur der Seite ›Aus aller Welt‹, Amadeus Viep, krabbelte in seinen Zetteln. Er war jeden Morgen als Erster an der Reihe. Viep gehörte zu den frustrierten Ideologen, die noch heute davon zehrten, dass sie in den 70ern an Vietnamdemonstrationen teilgenommen hatten und fast von einem polizeilichen Wasserwerfer getroffen worden waren. Damit war sein persönlicher Beitrag zum politischen und gesellschaftlichen Widerstand geleistet.

»Als aktuellen Aufmacher habe ich eine Geschichte eingekauft, die wieder einmal ein Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft wirft«, begann Viep, »es geht um einen aidsinfizierten Asylbewerber aus Nigeria, der seine Papiere verloren hat. Jetzt droht ihm die sofortige Abschiebung, er ist in Abschiebehaft genommen worden. Ich finde, wir sollten dafür kämpfen, dass der Mann bleiben darf oder wenigstens bis zu seiner Rückkehr in die Heimat eine menschenwürdige Unterkunft bekommt und …«

»Papperlapapp!« WC Knall haute auf den Tisch. Sein Kinneskinn vibrierte. »Menschenskind, Viep! Nicht immer diese Jammergeschichten! Vor zwei Tagen erst lief auf der ›Welt‹ die herzzerreißende Story über die Rollstuhlfahrerin, die im fünften Stock in einer Sozialwohnung haust. Klar, dass die gerne eine Parterre-Villa im Grünen mit Swimmingpool hätte. Aber für was soll unsere Gesellschaft nicht noch alles zuständig sein? Wenn Sie meine Steuerabzüge kennen würden! Ich persönlich ziehe fünf oder sechs solcher Leute mit durch. Nein, Viep! So geht's nicht! Wir tragen zwar eine gewisse Verantwortung sozial schwachen Menschen gegenüber, aber was zu viel ist, ist zu viel. Das Leben besteht nicht nur aus Jammergestalten und Jammergeschichten. Also lassen Sie sich was Besseres einfallen.«

Die Kollegenschaft hatte sich unter dem Geprassel seiner Worte in die Stühle gedrückt.

»Ich habe da eine bessere Idee. Heute Nachmittag wird auf das Grab der verstorbenen Brauereibesitzerin Veitmann ein Gingko-Baum gepflanzt«, teilte WC mit, »ich erwarte, dass wir morgen darüber berichten. Aus dem Archiv können Sie genug Daten abfragen über das Leben dieser Frau. Immerhin handelt es sich um eine alteingesessene Familie aus unserem Verbreitungsgebiet. Und das Bier kennt auch jeder. Erhebt sich Widerspruch?«

Niemand regte sich. Alle kannten die freundschaftliche Verbindung zwischen WC und dem Bierwitwer, die bei gemeinsamen Jagdabenteuern begann und bei Besuchen in einschlägigen Nobelbars und Saunas endete.

Ich dachte an meine Mordgeschichte. Nein, in dieser Runde davon zu erzählen, wäre schädlich. Außerdem hatte ich noch nicht genug Fakten. Also hielt ich den Mund. Ich werde mit Peter Jansen darüber reden, dachte ich.

Peter Jansen trug anschließend das Programm der Politikseite vor. Die rot-grüne Koalition und ihre Aktivitäten waren seit der letzten Landtagswahl Dauerbrenner. Heute würde WC höchstpersönlich den Beschluss des Kabinetts kommentieren, einige Regionalflughäfen im Lande zu schließen. Zum Glück war der Bierstädter Airport nicht dabei, den ich gerne benutzte, wenn mir mal wieder nach südlicher Sonne war. Ich gähnte verstohlen. Die Konferenz wollte gar kein Ende nehmen. Bleierne Müdigkeit drückte meine Lider auf die Augäpfel. Heute lasse ich es langsam angehen, nahm ich mir vor, der Urlaub war wohl doch zu kurz gewesen.

»Ich hatte eigentlich deine Unterstützung erwartet«, nörgelte Viep auf dem Flur.

»Wobei?«, meinte ich geistesabwesend.

»Bei der Geschichte mit dem Asylbewerber!«

»Irgendwann können die Leute solche Geschichten nicht mehr ertragen«, gab ich zurück. »Auch wenn ich zugebe, dass sie wichtig sind. Vielleicht kannst du dem Mann ja privat helfen – bei deinen Verbindungen!«

»Hast du was gegen Schwarze?«

»Lass gut sein, Amadeus«, winkte ich ab. »Ich hab absolut nichts gegen Schwarze – besonders wenn sie männlich und gut gebaut sind.«

»Das war eine rassistische Äußerung!«, empörte sich Viep.

»Nein, das war schwarzer Humor«, sagte ich und ließ ihn stehen.

Keine Carlotta

 

 

Endlich allein. Ich öffnete die Fenster meines Zimmers und atmete durch. Die Luft war kühler als in Spanien, nicht so seidig und fest. In der Post, die sich während meines Urlaubs angesammelt hatte, befand sich nichts Besonderes. Ich startete die Kaffeemaschine und wartete, bis die schwarze Brühe in die Glaskanne gelaufen war. Süßstoff und Milch in die Tasse, der harte Arbeitstag einer Zeitungsjournalistin konnte beginnen.

Eigentlich mochte ich meinen Job. Immer interessant, jeder Tag verlief anders, der Stress hielt mich fit und gesund. Klar, nicht jeden Tag gab es die superheißen Storys, die tollen Stoffe, die die Welt oder zumindest die Stadt veränderten. Aber ab und zu hatte ich Glück gehabt und eine Wahnsinnsgeschichte an der Angel. Der spanische Fenstersturz würde dazu gehören – ich spürte es körperlich. Ich drehte die vergoldete Puderdose in der Hand. Leichen, die verschwinden, Sachertorten, die aus Moskau kommen, und ein Mann, der Telefongespräche einer Frau unterbricht, die ganz offensichtlich Angst hat.

Nach ein paar Schlucken Kaffee drückte ich die sieben Ziffern aus der Puderdose in die Tastatur meines Telefons. Dreimal ging der Ruf raus, dann wurde der Hörer abgehoben. Mein Herz klopfte.

»Krause«, meldete sich eine dünne Männerstimme. Es war nicht der Mann, der Carlotta den Hörer aus der Hand genommen hatte.

»Guten Tag«, säuselte ich, »mein Name ist Müller. Kann ich bitte Frau Carlotta Roja sprechen?«

»Da sind Sie bei mir nicht richtig«, stellte der Mann fest. »Dies ist nicht der Anschluss von Frau Roja.«

»Sie hat mir diese Nummer aber gegeben«, widersprach ich.

»Das kann gut sein«, sagte er, »das war dann aber vor meiner Zeit. Frau Roja arbeitet nicht mehr bei uns.«

»Seit wann?«

»Ich weiß nicht. Ich sitze erst seit gestern in dieser Abteilung. Kann ich Ihnen helfen, oder ist es etwas Privates?«

Ich überlegte. »Es geht um etwas Dienstliches«, versuchte ich, »Frau Roja hat eine Bestellung aufgegeben, von der ich nicht weiß, ob …«

»Das geht über unsere Disposition«, sagte er, »die können Ihnen bestimmt weiterhelfen. Augenblick. Ich verbinde Sie!«

Eine kurze Warteschleife, in der Mozarts »Kleine Nachtmusik« malträtiert wurde.

»Hilfe ohne Grenzen«, flötete eine Frau, »mein Name ist Baumann. Was kann ich für Sie tun?«

Hilfe ohne Grenzen! Carlotta Roja hatte bei einer Wohlfahrtsorganisation gearbeitet. Auf diese Idee wäre ich zuletzt gekommen. Sachte legte ich den Hörer auf.

Hähnchen auf der A 1

 

 

An diesem ersten Arbeitstag war ich für die Blaulicht-Einsätze unserer aktuellen Reporter und freien Mitarbeiter zuständig. Kein aufreibender Job –