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WEISSFLOG

Impressum

1. Auflage

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer Abbildung, sind vorbehalten.

ISBN: 978-3-902480-94-1
eISBN: 978-3-902480-84-1

Redaktionelle Mitarbeit und Recherche: Jens Jahn

Lektorat: Katharina Martl

Fotos: Privatarchiv Jens Weißflog, APA Picturedesk, Werek, Foto Müller, Bildagentur Camera 4

Grafische Gestaltung und Satz:

Printed in the EU

Gesamtherstellung:

WEISSFLOG

GESCHICHTEN MEINES LEBENS

VON JENS WEISSFLOG
MIT EGON THEINER

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Inhalt

ANFAHRT

1 Kindheit und Jugend

2 Die ersten Sprünge

3 Der Elektroinstallateur

ABSPRUNG

4 Mister Vierschanzentournee

5 Ein Kampf auf der Schanze und der Waage

6 Doping

FLUGPHASE

7 Ein Sturz aus zwölf Metern Höhe

8 Wütend in Oberhof, siegreich in Sarajevo

9 Weltmeister in Seefeld, Gewerkschafter in Štrbské Pleso

10 Harte Zeiten

11 Eine Ampel kürt den Weltmeister

12 Eine Frage des Stils

13 In Elend und Sorge

14 Zweimal Gold, einmal Stinkefinger

15 Rücktritt, Rücktritt vom Rücktritt, Rücktritt

LANDUNG

16 Auf der Suche nach Typen

17 Meine Frauen, meine Kinder

18 Hotelier, Politiker, Privatmensch

AUSLAUF

19 Finale Bemerkungen

20 Zeitleiste

21 Literaturverzeichnis

22 Danksagung

ANFAHRT
ABSPRUNG FLUGPHASE LANDUNG AUSLAUF

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1 Kindheit und Jugend

2 Die ersten Sprünge

3 Der Elektroinstallateur

1

Kindheit und Jugend

Rollende Reifen Verstopfte Gallengänge „Können wir einen kleineren Berg kaufen?” Eine Eins im Sticken Im Mini-Klassenzimmer der KJS

Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als wir Kinder in Pöhla wieder einmal an unserem „Hexenfeuer“ bauten. Dieses wird auch heute noch alljährlich am 30. April angezündet, doch die Vorbereitungen dafür beginnen bereits Wochen oder gar Monate vorher. Wir waren tagelang im Wald unterwegs, um herumliegendes Holz zusammenzutragen, und auch Bäume wurden gefällt. Es hätte keine Forstwirtschaft gebraucht zu diesen Zeiten, denn der Wald wurde einmal im Jahr von uns Kindern regelrecht leergeräumt. Das „Hexenfeuer“ war nämlich nicht nur ein Brauchtum zur Vertreibung böser Geister, sondern auch ein Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Ortsteilen oder Teilen von Ortsteilen. Meine Familie wohnte am Berghang und unser Feuer war das „von der Viehtrift“. Es gab das Feuer „drüben bei der Fliegerschule“, weil es auf dem Grundstück der Segelfliegerschule Pöhlas lag, jenes des Ortsteils Siegelhof, das des „Derrhäusls“, und viele andere mehr. Jeder wollte das größte Feuer zustande bringen. Wir Kinder bereiteten alles vor, angezündet wurde es aber von den Erwachsenen. Der Wettbewerb wurde dermaßen erbittert geführt, dass man sich gegenseitig die Feuer auch schon vorzeitig ansteckte. Unser brennbarer Haufen war davon nie betroffen, dennoch musste man Vorsicht walten lassen. Alle Materialien wurden in Zwischenlagern versteckt und erst kurz vor der großen Nacht zum vorgesehenen Platz geschafft.

Es muss wie gesagt Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, als ich aus einem der Zwischenlager einen Autoreifen zum Feuerplatz hinüberrollte. Reifen von Autos oder Traktoren mussten immer mit dabei sein, sie brannten besonders gut, und Gedanken über Umweltverschmutzung oder CO2-Werte waren uns damals fremd. Es kostete mich einige Mühe, diesen Reifen überhaupt den Berg hochzubringen – normalerweise wäre ich da auch ohne zusätzliche Last nicht freiwillig hochgelaufen. Doch das „Hexenfeuer“ war unser aller Anliegen. Nun rollte ich also diesen Reifen seiner finalen Bestimmung entgegen, als er sich plötzlich verselbstständigte und den Berghang hinuntersprang. Ich sah, wie er auf ein geparktes Auto zusteuerte, und während ich dem Reifen nachlief, dachte ich: Wenn der diesen Trabi erwischt, wird er ihn zwar nicht zerlegen, aber das gibt ein paar ordentliche Dellen. Das Auto wurde um einen Meter verfehlt, doch nachdem er eine Feldmauer aus Steinen überwunden hatte, machte der Reifen 500 Meter weiter unten aus einem Gartenzaun Kleinholz, bevor das Geschoss von einer Hausmauer gestoppt wurde. Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Minuten, doch während dieser Zeit starb ich tausend Tode. Ich fürchtete mich zuerst, dass Schlimmeres passieren könnte, und als das ausblieb, fürchtete ich mich doch vor der Beichte bei meinen Eltern. Nachdem ich den Reifen nach Hause geschleppt hatte, stellte ich mich Vater und Mutter und erzählte, was passiert war. Mein Vater musste den Gartenzaun reparieren, ich wurde streng ermahnt, doch vorsichtiger zu sein. Meine Erziehung war konsequent aber fair. Wenn es sein musste, galt eine Ohrfeige als letzte pädagogische Maßnahme. Doch in diesem Fall des „rollenden Reifens“ kam ich mit harten Worten und dem Schrecken davon. Letztlich waren wir alle froh, wie diese Geschichte ausgegangen war – ohne größere Schäden.

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Meine Eltern Christof und Sieglinde stammen beide aus bäuerlichen Betrieben. Meine Großeltern väterlicherseits hatten in der Zwischenkriegszeit ein paar Stück Vieh und ein wenig Land. Mit der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, in die alle Bauern ihr Hab und Gut einbringen mussten. Dies geschah mehr oder weniger freiwillig. Aus heutiger Sicht, in der Tourismus und damit verbunden kulinarische Eigenheiten der Gegend eine große Rolle spielen, führte dieser Ansatz zum Verlust von regionalen Besonderheiten. Nach der Wende wurde versucht, diese traditionellen Bezüge wieder herzustellen.

Jedenfalls wurden in der LPG auf großen Flächen Lebensmittel produziert. Die Theorie dahinter war, dass es schwieriger war, eine Masse von Menschen über das Kleinbauerntum zu ernähren (was aber vor dem Krieg auch funktioniert hatte). Meine Großeltern betrieben also für die LPG einen Stall mit 60 Schweinen, hatten Schafe, Enten, Hühner, Hasen, einen Ochsen und einen Zuchtbullen, der Moritz hieß.

Kennen gelernt hatten sich Christof und Sieglinde bei der Arbeit. Meine Mutter war in Pöhla als Geflügelzüchterin tätig, mein Vater arbeitete mit Pferdefuhrwerken. 1962 heirateten sie, bald danach kam mein Bruder Andreas zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt lebten sie in Langenberg bei den Eltern meiner Mutter. Am 21. Juli 1964 kam ich im Krankenhaus Erlabrunn, das vom Bergbauunternehmen Wismut betrieben wurde und einen sehr hohen Standard erfüllte, zur Welt: mit den Füßen voraus, wie es sich für einen angehenden Skispringer gehört, mit 49 Zentimetern Körpergröße und 2,9 Kilogramm Gewicht. „Groß und schwer ist er ja nicht“, soll mein Vater Christof gesagt haben.

Zwei, drei Wochen nach meiner Geburt befand ich mich wieder in einem Krankenhaus, und zwar in der Kinderklinik in Aue. Es bestand der Verdacht, dass ich an Gelbsucht litt. In Wahrheit waren Gallengänge verstopft, und die Behandlung war langwierig. Der Stau der Gallenflüssigkeit kann tatsächlich zu Gelbsucht führen und ist unter Umständen auch lebensbedrohlich. „Wir hatten Angst um ihn“, sagt Christof heute, „Er war in Lebensgefahr“, ergänzt Sieglinde. Meine Mutter fuhr die rund zwölf Kilometer von Langenberg nach Aue mit dem Moped. Nicht täglich – sie ging ja ihrer Arbeit nach und hatte sich um Andreas zu kümmern –, aber sehr oft. Mir wurden Medikamente und Blutinfusionen verabreicht und so überlebte ich die wohl schwerste Krankheit meines Lebens, ohne sie bewusst wahrzunehmen.

Bis 1966 lebten wir in Langenberg, dann zogen wir in das vier Kilometer entfernte Pöhla, wo Christofs Eltern eine Scheune zur Wohnung umgebaut hatten, die auch ein eigenes Bad besaß, was zu dieser Zeit noch nicht üblich war. Toiletten waren in der Regel noch außerhalb der Wohnung oder des Hauses angelegt.

Meine Kindheit war wie „Urlaub auf dem Bauernhof“. Es machte mir Spaß, die Tiere zu füttern, und interessiert beobachtete ich, wie in einem Riesendämpfer Kartoffeln gedämpft und zerquetscht, mit Milch, Kraftfutter und Getreide vermischt und so zur Pampe für die Schweine verarbeitet wurden. Man benötigt eine Menge Futter, um 60 Ferkel und Schweine zu versorgen, und auch einige Kraft, die gefüllten Blecheimer zu den Trögen zu schleppen. Jedenfalls gefiel mir die Arbeit mit den Tieren dermaßen gut, dass es mein erster Berufswunsch war, Tierarzt zu werden. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, erlebte ich das erste Mal mit, wie der Doktor mit einem langen Handschuh von hinten in eine Kuh hineinfuhr. Diese Bilder haben meine Vorstellungen von der Arbeit eines Tierarztes doch etwas relativiert, und mein Traumjob war schon wieder Vergangenheit. Immerhin wollte ich mir für die Zukunft alle Optionen offen halten und wechselte nicht gleich zum nächsten Beruf. Ich wollte nie Feuerwehrmann werden.

Der Umzug nach Pöhla fiel in das Jahr, in dem sich mein Vater für 18 Monate zum Militärdienst verabschiedete und zuweilen sechs Wochen oder länger nicht daheim war. Mein Bruder ging in den Kindergarten, ich wurde in die Krippe nach Raschau gebracht. Meine Mutter trug in dieser Zeit doppelte Verantwortung: Ihr oblag unsere Erziehung, und sie musste auch Geld verdienen. In dieser Zeit arbeitete sie in einem Betrieb, der Arbeiterschutzbekleidung herstellte, zum Beispiel Regenjacken oder Gummimäntel für die Hochseefischerei. Wenn ich sie bei der Arbeit besuchte, stank der ganze Raum nach Leim. Spaß machte es ihr nicht, der Job war Mittel zum Zweck. Der Leimgeruch verschwand, als sie 1972 die Stelle wechselte und einer Büroarbeit bei der LPG nachging. Vater war Feldbaubrigadeleiter und in der LPG für die Futterbeschaffung für 7000 Tiere verantwortlich. Später studierte er Agrarökonomie und der Lohn lief weiter.

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Ein Bild aus Kindertagen, 1968

Doch trotz aller Mehrfachbelastungen nahmen sich meine Eltern für uns Kinder alle Zeit, die sie aufbringen konnten. Meine Mutter holte mich vom Kindergarten ab, in dem ich in der Gruppe von Frau Päßler betreut wurde.

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Im Kindergarten

Während wir über die Feldwege heimspazierten, erzählte ich ihr meine neuesten Geschichten, und wir schauten bei fast jedem Stall auf dem Weg zu den Kühen hinein. Als mir der letzte Anstieg hinauf zu unserem Haus wieder einmal sehr lang und beschwerlich vorkam, sagte ich zu ihr: „Mutti, könnten wir uns mal einen kleineren Berg kaufen, dann müssten wir nicht immer den größeren hinaufgehen.“

Auch als ich älter wurde, packte ich immer wieder gerne in der Landwirtschaft mit an. Um das Haushaltsgeld aufzubessern, hatten sich meine Eltern einige Schweine und einen Mastbullen angeschafft, die natürlich auch Arbeit verursachten. Privatbesitz im landwirtschaftlichen Sektor war in diesem kleinen Rahmen erlaubt. Im Sommer, wenn Heu eingefahren wurde, waren wir Kinder mit von der Partie und weil es bei der Feldarbeit auf jeden guten Tag ankam, wurde selbstverständlich auch an meinem Geburtstag „geheut“. Bei aller Liebe zu Tier und Natur war ich gleichermaßen auch ein häuslicher Typ. „Dich schicken wir zum Ballett“, scherzte meine Mutter oft, wenn ich wieder einmal elegant einen Meter vom Türstock zum Teppich sprang. Doch ich unterhielt nicht nur, ich packte auch mit an. Einmal wurde im Elternhaus das Bad renoviert, und der Fliesenleger hatte gute Arbeit geleistet, die auch ihre Spuren hinterlassen hatte. Als Mutter am Abend nach Hause kam, dachte sie, der Fliesenleger sei noch gar nicht dagewesen – so sauber hatte ich in der Zwischenzeit geputzt. Nach dem Frühstück hätten wir Kinder lediglich den Tisch abräumen sollen, ehe es zur Schule ging. Die Zeit, feinsäuberlich eine Tischdecke über das Möbelstück zu legen und einen Blumenstrauß darauf zu stellen, nahm ich mir allemal. „Das sieht doch gleich besser aus, oder etwa nicht?“, fragte ich dann mit dem unschuldigen Blick eines Acht- oder Neunjährigen, der nach Zustimmung sucht.

Ich war ein Kind, das gerne lachte und andere zum Lachen brachte. Über die Witze von Dieter Hallervorden konnten sich mein Bruder und ich regelrecht kaputtlachen. Und da ich gerne ein bekanntes Sketchduo der „Herkuleskeule“ aus Dresden mit dessen ausgeprägtem sächsischen Dialekt imitierte, wurde ich als Zehn-, Elfjähriger gerne als „mei Erich“ tituliert. „Mei Gustav und mei Erich“ waren Hans Glauche (1928–1981) und Friedrich „Fritz“ Ehlert (1935–1984). Sie befassten sich mit dem Alltag des kleinen Mannes im Sozialismus der DDR und Gustav begrüßte Erich bei Bier und Zigarette meist mit den Worten „Mei Erich“, worauf Erich mit „Mei Gustav“ antwortete. Typische Phrasen des DDR-Sozialismus wurden auf das tägliche Leben des Normalbürgers projiziert, doch weil dies subtil geschah, passierten die Texte die Zensur: „Bei uns kann jeder werden, was er will. Ob er will oder nicht.“

Meine Schulzeit ist mir in vager Erinnerung. Frau Klemm war meine Klassenlehrerin während der ersten drei Jahre. Die erste Klasse war schon noch in Ordnung und doch war ich froh, wenn die Schulzeit vorbei war – an jedem einzelnen Tag, jedes Schuljahr, oder ganz allgemein. Ich entschied mich, kein Abitur zu machen (auch wenn mich später mein Trainer Joachim Winterlich dahingehend bedrängte), und war einfach nur froh, dass die zehnte Klasse Geschichte war. Schulstunden waren für mich immer ewig lang. Im Sportunterricht fühlte ich mich wohl, doch ich war nicht in jeder Disziplin Klassenbester, beispielsweise im 60-Meter-Sprint oder im Weitsprung. Musikunterricht liebte ich weniger, dafür fühlte ich mich in der Nadelarbeit bei Frau Schmiedl wohl. Bis zur vierten Klasse wurden wir gelehrt, verschiedenste Stickereien und Knöpfe auf feinen Kissen anzubringen – und in diesem Fach hatte ich eine Eins! Als ich zehn oder elf Jahre alt war, bastelten mein Bruder und ich im Werken für die „Messe der Meister von Morgen“, die regelmäßig in jeder Schule in jedem Ort abgehalten wurde, ein Modell der Pöhlaer Schanze. Frau Röde war meine Pionierleiterin und ich erinnere mich auch an den Lehrer Herr Ebert, der mich noch heute ab und zu im Hotel besucht und den ich damals als sehr streng empfand, heute indes als angenehmen Zeitgenossen schätze. Später, an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) war einer der Mathematiklehrer Herr Hunger, und so sehr ich seine Materie hasste, so viel gab ich auf seine Fähigkeit, Dinge zu erklären. Zudem war er auch sehr interessiert an meinem sportlichen Werdegang und ließ mich bis zu einer halben Stunde erzählen, wenn ich wieder mal von Auslandsfahrten zurückkam.

Große schulische Sorgen bereitete ich meinen Eltern jedenfalls nicht. Ich war nicht der Beste, aber ich schaffte als guter Durchschnitt immer das Klassenziel. Ich habe mein Zeug gemacht, würde man heute sagen. Eine Drei empfand ich anfänglich als eine schlechte Note, doch ich lernte im Laufe der Schuljahre, mich mit ihr anzufreunden. Selbstverständlich spielte ich auch, gewollt oder ungewollt, einige Streiche. Einmal, es muss in der dritten Klasse gewesen sein, zog ich mit anderen an einem Zigarillo, aber weil ich danach zur Kartoffelernte musste und es mir so richtig schlecht ging, flog der Zigarrenkonsum auf. Noch dazu gab es am gleichen Abend einen Elternabend und ich wurde mehrfach bestraft: Ich durfte nicht zum Training und eine Vier in Betragen gab es obendrein.

Als ich als 13-Jähriger in die KJS nach Oberwiesenthal wechselte, kam ich gleichzeitig auch ins Internat. Der Vorteil dort war, dass die Lehrer Verständnis für die Notwendigkeiten der Sportschüler hatten (oder haben mussten) und dass es aufgrund der sportlichen Verpflichtungen einen eigenen Stundenplan gab. Da ich mit 15 Jahren in den Nationalkader berufen worden war und dadurch sehr viele Stunden versäumt hatte, war auch eine Schulzeitverlängerung von einem Jahr kein Problem. Die letzten Prüfungen legte ich im Oktober 1981 ab. Der Nachteil war, dass man sich nicht verstecken konnte. Es gab winzige Klassenzimmer mit einem Tisch und einer Wandtafel, und die zehnte Klasse besuchten wir zu zweit, Kerst Rölz und ich. Jens Weißflog-Bonus gab es keinen und mein Ehrgeiz ließ es nicht zu, eine Vier oder Fünf im Zeugnis zu haben. Ich schloss mit der Gesamtnote Zwei ab.

Mein Vater Christof war selbst als Jugendlicher und Junior ein guter Langläufer auf Kreis- und Bezirksebene, Springen, sagt er selbst, hat er sich nicht getraut. Von ihm habe ich die Konzentrationsfähigkeit, Gelassenheit und Zurückhaltung. Wir beide können auf ein Ziel fokussieren und alles andere außen vor lassen. Das war vielleicht nicht immer gut, half mir aber, nicht in einen Zwiespalt zu geraten. Ich konnte zu Wettbewerben fahren und meine Familie „zu Hause“ lassen – was meine Liebe zu meinen Eltern oder Frauen oder Kindern nicht schmälert, mir aber nichtsdestotrotz die Fähigkeit gab, mich auf das Hier und Jetzt an den Schanzen zu konzentrieren. Von meiner Mutter Sieglinde habe ich den Ehrgeiz, den Gerechtigkeitssinn und das Aufgeregte in meinem Charakter. Ich höre heute noch ihre Worte, als sie mir 1996 sagte: „Weißt du, wie stressig es ist, dir die ganze Zeit zuzusehen? Wir müssen zeitiger essen, damit wir rechtzeitig vor dem Fernseher sitzen. Ich brauche einen Schnaps, um ruhiger zu werden. Und du wolltest schon vor zwei Jahren zurücktreten. Wenn du jetzt nicht wirklich aufhörst, hacke ich dir eigenhändig deine Ski zusammen!“

2

Die ersten Sprünge

Skifahren im Spätsommer Skispringer aus reiner Faulheit Wie drücke ich mich vor Langlauf? Erster Sprung, erster Sturz Am Klondike River in Alaska

Ja, Fußball hat mich auch interessiert und auch ich sehe das Tor von Jürgen Sparwasser bei der WM 1974 in Hamburg: langer Pass in den Strafraum, der Magdeburger lässt einen Verteidiger aussteigen, schießt trocken von rechts nach links ein und jubelt mit einem Purzelbaum! Die DDR spielt eine gute WM und wird Vierter. Aber die meisten Kindheitserinnerungen sind mit dem Skifahren und dem Skispringen verbunden. Wir hatten einen Kohlenkeller und dort standen die Skier meiner Eltern. Als ich im Alter von fünf, sechs Jahren eigene erhielt, zog ich diese einmal im Spätsommer hervor und wollte auf dem Gras den Berg hinunterrutschen. Das funktionierte bedauerlicherweise nicht wie geplant, und meine Mutter meinte lächelnd: „Du musst warten, bis Schnee liegt!“ Woher sollte ich wissen, dass es nicht ohne Schnee ging? Kinder probieren eben alles aus. Für mich hieß die Gleichung: Ski an den Füßen festmachen = Berg hinunterrutschen. Die ersten Versuche auf Schnee unternahm ich jedenfalls mit meiner Mutter: Ich stand hinter ihr auf den Brettern. Auch so ändern sich die Zeiten. Meine Kinder erlernten diesen Sport, indem sie auf eigenen Skiern standen und zwischen den Beinen der Eltern den Hang hinunterfuhren.

Mit anderen Jungen in der Nachbarschaft war ich immer irgendwo im Wald unterwegs. Einmal spielten wir etwa Verstecken. Nachdem man mich nicht finden konnte, brachen die anderen ab und ich kam sehr viel später halb erfroren nach Hause. Immerhin hatte ich das beste Versteck und lag eine Stunde unter einem Reisighaufen. Es war ein 29. März, der Geburtstag meiner Mutter. Ansonsten betätigten wir uns sportlich. Da ein Skilift fehlte und es mir zu beschwerlich war, den Hausberg hinaufzuwandern, um danach im Schuss abfahren zu können, begann ich sehr schnell damit, mit den Nachbarskindern am unteren Ende des Berges einen Hügel zu bauen und darüber zu springen. Die Höchstweite war sieben Meter, weiter schafften wir es nicht. Wenn ich letztlich Skispringer geworden bin, dann vorrangig aufgrund von zwei Argumenten: wegen der Messbarkeit der Leistung – und aus Faulheit.

Das ist jetzt natürlich ein wenig überzogen. Mir hat es einfach Spaß gemacht, mich im Freien aufzuhalten und herumzutollen. Schon als Vierjähriger bin ich meinem späteren Trainer Herbert Neudert aufgefallen. Er trainierte Mitte der 1960er Jahre die Langläuferinnen aus Schwarzenberg und bei ihren Trainingstouren kamen sie auch hinauf „Zum Hahnel“, wo wir in Pöhla wohnten. Da sah er mich, wie ich mit meiner Mütze durch den Schnee stapfte. Da Neudert von 1966 bis 1968 in Oberwiesenthal tätig war, waren Gerolf Löffler und Dieter Blechschmidt meine ersten Trainer. Übungsleiter waren ehemalige Athleten oder auch Väter der Kinder und sie erhielten für diese Tätigkeiten stundenweise Freistellungen von den Betrieben, in denen sie arbeiteten. Im Trainingszentrum von Pöhla wurden Ski Alpin, Langlauf und Skispringen angeboten und das Ziel war, Kinder zu finden, die geeignet wären, um in der Sportschule in Oberwiesenthal an einer sportlichen Karriere zu arbeiten.

Ich war schmächtig wie ein „Schluck Wasser“ und insofern werden mir die Langlaufeinheiten, die ich auch machen musste, nicht geschadet haben. Doch sie wurmten mich und ich drückte mich vor Skirollern und Langlaufskiern wo ich nur konnte. Bei den Wettbewerben der Nordischen Kombination startete ich aufgrund der Sprungleistung mit guten Ergebnissen in den Langlauf, um dann Letzter oder Vorletzter zu werden.

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Nichts Besseres konnte mir passieren als die Vereinbarung, dass ich in der sechsten Klasse zum Skispringen wechseln würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon im Mannschaftsspringen den „Trommel-Pokal“ für Kinder gewonnen, der von der Pionierzeitschrift „Die Trommel“ ausgeschrieben worden war und jenen jungen Sportler der Altersklasse 12 auszeichnete, der die beste Technik hatte. Die Weite war dabei weniger relevant. In Marienberg war ich stilistisch der Beste. Dies geschah in einer Zeit, in der es die Trainer nicht so einfach hatten. Zwar gab es Leitbilder für den Skisprung, aber nicht allzu viele Videokameras. So analysierte Neudert mit freiem Auge meinen Sprung, ehe Imitationen auf dem Trockenen oder auf dem Rollbrett stattfanden, um Korrekturen einzuarbeiten.

Als Zwölfjähriger beinhaltete meine Trainingswoche bei der Betriebssportgemeinschaft (BSG) „Traktor“ Pöhla, meinem Heimatverein, bereits fünf Einheiten: eine in der Halle, zwei auf der Schanze und zwei auf der Laufstrecke, wobei es neben Ski und Skiroller auch Crossläufe auf Zeit gab, um die Grundlagenausdauer zu verbessern. An den Wochenenden standen Wettbewerbe an, bei denen ich in der Nordischen Kombination und bei den Skispringern antrat. Wenn im Winter nur wenige Sprungwettbewerbe auf dem Programm standen, startete ich auch bei den Spezial-Langläufern. Die Wahrheit ist: geglänzt habe ich im Langlauf höchstens bei Ortsmeisterschaften. Dem Pionierauftrag „Sport treiben und gute Leistung bringen“ bin ich gerade in dieser Sportart wohl nicht gerecht geworden. Wenn in der Schule ein Freundschaftstreffen mit vietnamesischen Gastarbeitern anstand und dieses just auf ein Ausdauertraining fiel, dann ging ich lieber zur Schule. Selbstverständlich kündigte ich mein Fernbleiben nicht an! Wurde ich tags darauf vom Trainer ermahnt, schob ich die Verantwortung auf die Klassenleiterin, „Sie hat gesagt, wir müssen dabei sein.“ Dann ging Neudert zu den Pädagogen, sprach mit ihnen über meine Prioritäten und ich musste mir neue Tricks einfallen lassen, um dem Langlauf zu entgehen.

Meine Eltern sahen es gerne, dass ich mich dem Sport widmete. Sie wussten mich in dieser Szene gut aufgehoben, bedauerten es nur zuweilen, dass mir wenig Zeit zum Spielen blieb. So waren Metallbaukästen, die ich als Geschenke erhalten hatte, noch Jahre später originalverpackt. Bei den Kinderwettbewerben versuchten sie, regelmäßig dabei zu sein, und fuhren auch bis nach Oberhof, um mich bei der Spartakiade zu sehen. Doch sie setzten mich nicht unter Druck, dachten auch nicht daran, dass ich in der internationalen Skisprungszene etwas werden könnte. Ich war nur ihr Kind, das begeistert von einem gesunden und schönen Hobby war. Trainer Neudert war es lieber, wenn Christof und Sieglinde daheim blieben. Fürchtete er, dass ich nervös werden könnte? Vielleicht war dies in der Tat der Fall. Wenn meine Eltern dabei waren, wollte ich besonders gut sein. Ich freute mich jedenfalls immer auf die Konkurrenzen und wenn es einmal nicht so lief, wie es laufen sollte, dann brauchten meine Eltern nicht lange zu fragen, wenn ich zur Tür hereinkam. Mein Gesichtsausdruck hatte schon alles gesagt.

Jedenfalls war nicht nur die Beziehung zwischen meinen Trainern und mir, sondern auch zwischen diesen und meinen Eltern gut. Elternbesuche der Übungsleiter waren vom System her verpflichtend vorgesehen und zu protokollieren und in diesen Diskussionen ging es darum, dass mein Vater es gerne gesehen hätte, wenn ich Nordischer Kombinierer geworden wäre. Neudert wies ihn jedoch darauf hin, dass meine gesamte Konstitution ideal für das Skispringen sei. Man stelle sich vor, mein Vater hätte sich durchgesetzt!

Die körperlichen Voraussetzungen werden schon gepasst haben, allerdings habe ich nicht von Anfang an alles gewonnen. Ich muss neun Jahre alt gewesen sein, als ich bei der Bezirksmeisterschaft in Johanngeorgenstadt antrat. Im Vorfeld des Springens war ich krank gewesen, aber beim Wettkampf dennoch dabei. Mich hat’s so richtig hineingeklatscht – und dann heulte ich meinen Frust und Ärger hinaus. Es war nicht mein erster Wettkampf, aber ein wichtiger, und ich hasste es schon damals, zu verlieren. Auch an meinen allerersten Sprung, der eigentlich ein Sturz war, kann ich mich erinnern. Es geschah im Sommer auf Matten. Die Schanze in Pöhla war etwas zu groß für einen Anfänger wie mich, ich geriet schon beim Losfahren mit einem Ski aus der Spur, schaffte es dennoch fast bis zum Schanzentisch, stürzte aber seitlich darüber und dann hart auf den Vorbau. Ich rutschte den Hang hinunter. Unten angekommen tat mir alles weh. Und Herbert Neudert rief von oben: „Soll ich runterkommen?“ – „Geht schon“, antwortete ich und sprang gleich nochmals. Prinzipiell war ich ein pflegeleichter Sportler, zornig wurde ich nicht, der Helm flog auch noch nicht durch die Gegend. Wir sprangen damals ohne Kopfschutz, im Winter dafür mit einer Mütze.

Die Bezirksmeisterschaft 1976 in Johanngeorgenstadt fand zeitgleich mit den Olympischen Winterspielen in Innsbruck statt. Während ich mich mit den lokalen Konkurrenten wie Jens Flemming oder Heiko Groschwald maß, wurde über den Lautsprecher verkündet, dass auf der Normalschanze in Seefeld Hans-Georg Aschenbach vor Jochen Danneberg gewonnen hätte. Jubel brandete auf, und mir lief die Gänsehaut über den Rücken.

Ab meinem 14. Lebensjahr feierte ich jedenfalls mehr Siege als Niederlagen und gewann fast alle Spartakiaden, an denen ich teilnahm. Mit 13 Jahren zog ich nach Oberwiesenthal. In der KJS, in die auch mein Bruder Andreas als Nordischer Kombinierer zwei Jahre lang ging, betreute mich zuerst Herbert Öhmt, ehe ich unter die Fittiche von Joachim Winterlich kam. Die Erzieher im Internat waren streng, aber das mussten sie wohl auch sein, wenn man bedenkt, dass sie es mit einer Horde bewegungsfreudiger Pubertierender zu tun hatten. Ihre Fragen oder Anordnungen ließen jedenfalls keine Widersprüche zu. „Habt ihr aufgeräumt?“ oder „Jetzt ist Hausaufgabenzeit, da könnt ihr nicht rumlaufen!“, hieß es dann.

Obwohl ich bemüht war, Problemen aus dem Weg zu gehen, fanden sie mich doch. Einmal wurde ich gemaßregelt, weil ich in einem Goldgräberroman las, der die Goldsuche am Klondike River in Alaska thematisierte. Bei diesem Goldrausch Ende des 19. Jahrhunderts waren auch Bergingenieure von der Universität Freiberg mit dabei gewesen, und in diesem Buch, das in altdeutscher Schrift gedruckt war, ging es um alles, was das Kopfkino eines Jungen zum Laufen bringt – um unwirtliche Gegenden und Bärenjagden, um Pioniergeist und die Suche nach Glück. Doch im Internat war man weniger davon angetan. Das Buch hatte ich von meiner Oma und es war vom Verlag Stuttgart, aber zu hören bekam ich: „Diese Literatur gehört nicht in die sozialistische Bildungseinrichtung!“

Ein anderes Mal flog ich fast aus dem Internat. In unserem Zimmer sprang einer meiner Kameraden vom oberen Doppelstockbett auf ein Einzelbett und dieses brach halb zusammen. Wir hielten es für eine bessere Idee, es zu reparieren als den Schaden zu melden und fanden auf dem Dachboden auch die notwendigen Werkzeuge. Eine Axt, um die Hölzer zurecht zu klopfen, entnahm ich dem Notfallkasten für Brände. Doch als ich mit dem Beil mitten im Raum stand, kam ein Internatserzieher ins Zimmer, der mich postwendend beim Leiter meldete. Dieser ließ mich zu sich rufen und hielt mir eine Strafpredigt im Sinne von „Sollen wir erst warten, bis du uns die Feuerlöschgeräte abmontierst?“ Nach dem Zusammenschiss galt es, meine Sachen zu packen, die Eltern zu informieren und die Einrichtung zu verlassen. Verwirrt kam ich auf das Zimmer zurück. „Ich bin gerade rausgeflogen“, sagte ich meinen Freunden. Doch ich dachte, dass ich vor meiner Abreise noch Trainer Herbert Öhmt informieren sollte. Auch der Internatsleiter schien überlegt und sich beruhigt zu haben, jedenfalls suchte er mich und machte aus dem Rauswurf eine „strenge Ermahnung“. Ich konnte bleiben und war darüber sehr erleichtert.

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Als Spartakiadesieger

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Der Elektroinstallateur

Ein Berufsbild als Alibi-Geschichte Arbeit in den Toiletten und unter Webstühlen Ein „sehr gut” mit Defiziten Trainerausbildung kurz vor der Wende

Noch bevor ich die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, stand ich bereits erstmals im Kader der DDR-Nationalmannschaft und hatte bereits einen Lehrvertrag als Elektroinstallateur bei den Obererzgebirgischen Posamenten- und Effekten-Werken (OPEW) in Annaberg-Buchholz. Dieses Unternehmen stellte vom Gummi für Unterhosen über Quasten und Kordeln für Uniformen bis zu Handtüchern und Waschlappen so ziemlich alles her. Es war ein Betrieb mit mehreren tausend Angestellten. Für Sportschüler standen drei Berufe zur Wahl, und ich entschied mich für den vermeintlich leichtesten. Denn soviel war klar: Es war eine reine Alibi-Geschichte. Ich hatte keinerlei Ambitionen, tatsächlich Elektriker zu werden. Während andere in der Gruppe das Abitur machen und studieren wollten und wieder andere sich für Maschinenschlosserei oder KFZ-Mechanik interessierten, wählte ich das kleinere Übel. Der Lehrvertrag lief ab 1. September 1980, tatsächlich begann ich am 29. März 1982, einen Tag nach meinem Erfolg beim „Freie Presse“-Pokal in Oberwiesenthal.

Da Joachim Winterlich ein Jahr lang die SED-Parteischule in Mittweida besuchte, hatte mich zu diesem, meinem ersten großen internationalen Sieg, Eberhard Riedel geführt – der ehemalige Alpine Skirennläufer hatte 1961 den Riesentorlauf von Adelboden gewonnen und war bei drei Olympischen Winterspielen dabei. Einen Tag nach meinem Triumph, der gleichzeitig mein erster Tag in der Lehre war, las einer der Arbeiter im Pausenraum des Unternehmens die Zeitung, stupste einen Kollegen an und meinte: „Schau, beim Skispringen hat ein ganz Junger aus der Region gewonnen!“ Der andere erwiderte: „Ja, da drüben sitzt er“, und deutete in meine Richtung.

Die Arbeit hat letztlich Spaß gemacht, weil es mir prinzipiell gefällt, mich handwerklich zu betätigen. Ich bin nicht so geschickt wie mein Bruder, doch mit einem Hobel kann ich heutzutage auch noch umgehen. Damals begann ich auf Anweisung meines Vorarbeiters Erwin Müller, Lichter in Toiletten zu installieren. Und bei jeder Toilette fragte ich mich immer wieder: War da vorher keines drin? Wir arbeiteten in einem uralten Gebäude und sollten die Leitungen in PVC-Rohren auf dem Mauerputz installieren. Die Wände bestanden aus Feldsteinmaurerei, die Decken aus „Sauerkrautplatten“, wobei Strohmatten verputzt oder Holzspäne mit Zement vermischt und zu Platten geformt worden waren. Während es heute spezifische Lochbohrer gibt, mussten wir damals mit Hammer und Meißel Löcher für die Schalter herausstemmen – und dabei hoffen, dass nicht der ganze Stein heraus- oder die Platte zusammenbrach. Es war zuweilen schwierig, das Loch dort zu bohren, wo es benötigt wurde, und oft musste mit einem Eimer Gips die Wand wieder vervollständigt werden.

Sehr viel wurde in den OPEW an Webstühlen gearbeitet, die einen großen Fehler hatten. Wenn einer der vielen Fäden, die miteinander verwoben wurden, riss, arbeitete die Maschine trotzdem weiter. Das Muster war dann unvollständig und musste in mühsamer Kleinarbeit vervollständigt werden. Zur Kontrolle schritten Angestellte auf und ab, um – als Qualitätssicherung quasi – darauf zu achten, dass kein Faden gerissen sei.

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Wahl des kleineren Übels – eine Lehre zum Elektroinstallateur

Für einen verbesserten Produktionsprozess wurde eine Maschine hergestellt, die den Webstuhl bei einer fehlerhaften Verarbeitung des Materials zum Stoppen bringen sollte. Die Aufgabe der Elektriker bestand darin, Kontaktwannen am Motor zu installieren. Eine an den Fäden angebrachte Klammer sollte in diese fallen, wenn ein Faden riss, und durch den entstehenden Kontakt stoppte der Motor. Somit würde kein Webfehler zustande kommen. Gefühlt verbrachte ich Monate auf verölten Fußböden unter öltriefenden Motoren, aber im Kleinen habe ich damals – Achtung: Ironie – dem Sozialismus zum Siegen verholfen. Es war alles Marke Eigenbau, primitiv und entwicklungsfähig. Erfindungen, die die Produktion oder die Qualität der Produkte verbesserten, wurden aber von staatlichen Stellen monetär belohnt.

Während mir die praktische Arbeit durchaus Spaß machte – obwohl ich tatsächlich nur genau tat, was man mir auftrug –, erwies sich der Besuch der Berufsschule als schwierig, weil ich nie so richtig in den Stoff hineinfand. Saß ich im Klassenzimmer, hatte ich keinen Schimmer davon, über was gerade gesprochen wurde. Es interessierte mich zwar schon, aber nicht stark genug, um autodidaktisch zu arbeiten. Bücher nahm ich auf Trainingslager und Wettkämpfe keine mit, dazu hatte ich keinen Bock. Ich war eher faul.

Der Mann, dem ich den erfolgreichen Abschluss meiner Lehre zu verdanken habe, heißt Horst Lux, war ein begeisterter Alpin-Skifahrer und somit ein Sportfreund. Als es im Juli 1985 meine Facharbeiterprüfung abzulegen galt, war er mein Mentor. Das Thema gestaltete sich folgendermaßen: Es wird eine Produktionsstätte des OPEW, Standort Geyer rekonstruiert. Es ist erforderlich, die Elektroinstallationen zu erneuern. Im neu zu installierenden Raum stehen vier Maschinen, eine Unterverteilung ist einzurichten und die Anlage in Betrieb zu nehmen.

Mit Unterstützung von Mentor Lux schaffte ich die schriftliche Hürde, doch auch wenn auf der letzten Seite steht: „Ich versichere, die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die angegebene Literatur benutzt zu haben“, so muss ich hinzufügen: ich bin froh, dass dieses Schriftstück wohl nicht tiefer greifenden Prüfungen unterzogen wird, da es sich nicht um eine Doktorarbeit handelt. Doch ich musste ja auch noch zur Verteidigung meiner Arbeit vor einem dreiköpfigen Prüfungskomitee antreten und wurde mit Fragen konfrontiert, mit denen ich gar nichts anfangen konnte. Mein Lehrmeister versuchte, mit Gestik und Mimik weiterzuhelfen. Ich war schlichtweg überfordert, und so erklärte ich den Prüfern, dass es in Zusammenhang mit der Elektrizität wichtig sei, zu wissen, „wie man was anfasst“ …

Das Urteil fiel ernüchternd aus. Die Hausarbeit sei in Ordnung, sagte man mir, doch ich hätte Defizite, theoretische Dinge anschaulich zu erklären. Als Olympiasieger und Weltmeister wäre ich ein Vorbild für die Werktätigen und die Jugend, „deswegen lassen wir Sie mit ‚sehr gut‘ abschließen“. Man wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass man aus mir keinen Elektriker würde machen können und dass ein Beruf, der zeitgleich Anstellung und Freistellung mit sich bringt, eben eine Notwendigkeit für den Werdegang eines Hochleistungssportlers darstellte. Wahrscheinlich haben sich meine Prüfer gedacht: besser, wenn wir dich nie wieder sehen.

In der Tat räumte ich bei den OPEW nicht einmal mehr meinen Spind aus, und wenn es ihn noch gibt, müssten dort noch meine Werkzeugtasche, Jeans und Hemd aus dem Jahre 1985 liegen. Die Auszeichnung als „Aktivist der ersten Stunde“ erhielt ich wohl eher als Motivation für den Rest der Belegschaft. Doch während meiner Zeit dort hatte ich in Zweigbetrieben der OPEW interessante Begegnungen und wurde überall wohlwollend empfangen, wo ich in meiner Elektriker-Montur auftauchte. „Ach, der Jens Weißflog“, hieß es, und bei gemeinsamen Mittagessen tauschte man sich über Leben und Sport aus.

Nach meinem Abschluss war ich bis 1990 bei den OPEW angestellt, doch der Kontakt ging verloren. Wenn wir am Wochenende trainierten, sah ich im Winter Horst Lux zuweilen Ski fahren. Und nach der Wende hatte ich ein persönliches Gespräch mit Direktor Horst Göbel, der mir mitteilte: „So sieht es aus: Ich muss 300 Personen entlassen, ich kann mir dich nicht mehr leisten.“ Auch mir war klar, dass sich zum Zeitpunkt der Wende, ab dem Firmen um ihr Überleben kämpften, sich niemand einen Elektriker leisten konnte, der nur auf dem Papier anwesend war.

Joachim Winterlich hatte versucht, Ulf Findeisen und mich davon zu überzeugen, doch das Abitur nachzuholen und zu studieren. Das war 1987 und er hat es sicherlich gut gemeint. Doch der Zeitaufwand, der dafür notwendig war, und das damit verbundene andauernde Eigenstudium machten die Sache schrecklich. Nach einem Jahr kannte ich den Stoff von einem Vierteljahr. Ich kam nicht vorwärts und ich war heilfroh, als sich mir bei der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig die Möglichkeit bot, ein Fachschulstudium zum Übungsleiter zu beginnen. Dafür war Abitur keine Voraussetzung, und der Blockunterricht würde in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) abgehalten werden. Im Herbst 1989 schrieb ich mich ein und saß in der Klasse mit Trainern aus dem Kinder- und Jugendbereich. In vier Jahren sollten wir alle den B-Schein erlangen.