Umschlag

Stephan Reinbacher, geboren 1964, ist in Hamburg aufgewachsen, lebt aber seit dreißig Jahren in Hessen, heute in der Nähe von Wiesbaden. Nach Jura- und Psychologiestudium, Jobs als Autowäscher, Vorleser und Songwriter landete er beim Fernsehen: Seit fünfundzwanzig Jahren arbeitet er als Autor für TV-Magazine, seit zwanzig Jahren auch als Kameramann. Seine Kurzgeschichten wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. »Die Schatten von Wiesbaden« ist sein Romandebüt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Franziska Emons
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-901-1
Originalausgabe

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Für Babs

Prolog

Wann kommt er wieder?, fragte sie sich. Wann bin ich dran?

»Ich hab doch gar nichts gemacht«, wimmerte sie leise. Doch auch wenn sie lauter geschluchzt hätte, hätte niemand sie hören können in dem elenden dunklen Loch.

Sind da Schritte? Kommt er? Muss ich jetzt sterben?

Am schlimmsten waren die Kälte und die Dunkelheit. Nur ein schmaler gelblicher Streifen Licht fiel durch den Lüftungsschacht. Um die Quelle dieses Lichts sehen zu können, musste sie sich wie eine Schlange winden und ihren Kopf in eine schmerzhafte Position drehen. Sie hatte einen Ring um den Hals, und dieser Ring hing an einer viel zu kurzen Kette, die an einem Haken knapp über dem Boden festgeschlossen war. Sie hatte die Kettenglieder gezählt. Es waren genau vierunddreißig. Anfangs hatte sie noch an der Kette gezerrt. So heftig, dass der Ring ihr fast die Luft zum Atmen nahm. Bis ihr klar wurde, dass Metall und Beton viel stärker waren als ein siebenjähriges Mädchen.

Mara hatte es etwas besser gehabt. Der Haken, an dem ihr Ring befestigt war, hing ein Stück höher. Sie hatte immerhin sitzen können.

Hatte. Als sie noch da gewesen war.

Inzwischen war sie nicht mehr bei ihr. Er hatte sie abgeholt. Ganz allein lag Elisa seitdem da. Die kurze Kette und der Haken knapp über dem Boden machten jede andere Haltung unmöglich. Der Beton scheuerte ihren nackten Körper wund.

Soweit Schmerz und Angst nicht alles überlagerten, war es ein Gedanke, der Elisa nicht losließ: Eigentlich hatte Frau Petroll an allem Schuld. Anneliese Petroll, ihre Musiklehrerin. Wäre sie nicht jedes Mal so hysterisch geworden, wenn ein Kind zu spät zur Schule kam, wäre nichts passiert. Dann hätten Mara und sie es gemacht, wie ihre Eltern es ihnen immer wieder gesagt hatten. Sie hätten die Abkürzung durch den Sauerlandpark auf keinen Fall genommen. Schon gar nicht in der Dunkelheit.

An dem Dezembermorgen aber, als es geschehen war, hatten sie vor der Wahl gestanden: außen herum und wieder einmal zu spät – oder durch den Park und vielleicht noch pünktlich.

Sie hatten sich für die zweite Möglichkeit entschieden.

Ganz plötzlich war der Mann aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Dunkel gekleidet, groß, kräftig. Er hatte es nicht gemacht wie in den Büchern, die Elisas Eltern vorgelesen hatten: Er hatte sie nicht mit einem Hundefoto, irgendwelchen Süßigkeiten oder anderen Versprechungen gelockt. Er hatte sie einfach gegriffen. So schnell und so hart, dass sie vor Schreck zu schreien vergessen hatten. Ein Tuch auf Mund und Nase, ein stechender Geruch – und aus.

Als sie erwachten, waren sie in dem Verlies. Und jetzt war nur noch Elisa dort. Mara hatte er mitgenommen. Ihre Schreie waren lauter gewesen als jedes menschliche Geräusch, das Elisa zuvor gehört hatte. Seitdem war nur noch Stille. Totenstille.

Wann kommt er wieder?, fragte sich Elisa. Wann bin ich dran?

 

 

 

 

Zwanzig Jahre später

1

Ihre rechte Hand glitt routiniert über das Grafiktablett, während die linke auf der Tastatur die Programmebenen bestimmte. Elisa runzelte die Stirn und drehte den Kopf zur Seite. Neben ihr saß Irmtraud Wagner vor einem Monitor und starrte auf das Gesicht, das Elisa gerade entstehen ließ.

Elisa liebte diesen Augenblick, in dem die Mischung aus Flächen, Linien und Farben zum Leben erwachte, diesen Moment, in dem plötzlich ein Mensch aus dem Monitor schaute. Auch wenn es bei ihrer Arbeit fast immer böse Menschen waren. Sie ließ Gesichter von Menschen entstehen, hinter deren Stirn sich Abgründe verbargen: Mörder, Totschläger, Vergewaltiger und alle anderen, die Gewalt, Qualen und Leid verbreiteten.

»Ungefähr so? Oder schmaler?«, fragte sie jetzt.

»Das stimmt ganz gut, aber die Hautfarbe … Die war irgendwie rosiger.« Irmtraud Wagner war aufgeregt. Elisa merkte es, weil die Stimme der Zeugin zitterte. Nichts Ungewöhnliches in dieser Situation. Schließlich hatte die ältere Dame vor wenigen Stunden ein Verbrechen beobachtet und sollte nun versuchen, sich an das Gesicht des Täters zu erinnern. »Wissen Sie, das sah so brutal aus. Ich habe gleich gedacht …«

»Frau Wagner, was ist zum Beispiel mit den Augen? Wie waren die?«

Elisa sah die Zeugin lächelnd an. Es war wichtig, eine entspannte, vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Aber es war auch jedes Mal anstrengend. Und manchmal nervte es sie. Vor allem das Zuhören-Müssen. Freundlich zuhören und nicht drängeln. Irmtraud Wagner wandte den Blick vom Monitor ab und beugte sich zu ihr hinüber.

»Wissen Sie, ich wohne doch so gerne in der Drudenstraße. Ich fühle mich wohl da. Ich mag auch diese alten Häuser so gern, die verzierten Balkone … Aber dass da so etwas passiert.«

Die Hand der weißhaarigen Dame strich nervös über Elisas Schreibtisch. Ihre runzeligen Finger hinterließen eine dünne Spur auf der blank polierten Oberfläche.

»Ja, das ist ganz furchtbar. Trotzdem, Frau Wagner. Vielleicht können wir ja mit Ihrer Hilfe … Verstehen Sie: Je besser das Phantombild wird, das ich meinen Kollegen geben kann, desto größer sind die Chancen, den Täter zu fassen. Also – die Augen. Waren sie vielleicht … so?«

»Er hat den kleinen Jungen einfach gepackt und auf den Rücksitz geworfen. Ich habe das Kennzeichen leider nicht erkannt. Das ging alles so schnell.«

Verdammt, gleich weint sie wieder. Wenn sie sich nicht endlich auf das Gesicht konzentriert, wird das hier alles nichts.

Elisa atmete tief durch und schloss kurz die Augen. »Es tut mir leid, Frau Wagner. Ich muss Sie damit quälen. Rufen Sie sich die Situation noch einmal ganz genau in Erinnerung, ja? So als wäre es ein Film, den Sie gesehen haben. Tun Sie ruhig einmal so, als sei das alles gar nicht wirklich passiert, sondern im Fernsehen gewesen. Meinen Sie, Sie schaffen das?«

»Vielleicht …« Irmtraud Wagner presste die schmalen Lippen zusammen. Dann griff sie mit beiden Händen nach den zwei Nadeln, die ihre dünnen Haare in einem kleinen Dutt zusammenhielten.

Elisas rechte Hand drückte den Stift etwas fester. Mit der linken strich sie Irmtraud Wagner vorsichtig über den Handrücken. Endlich sprach die Zeugin wieder.

»Die Augen, haben Sie gefragt? Ja, an die erinnere ich mich. Ich glaube …«

Die Tür ging auf. »Und? Kommt ihr voran? Es ist echt eilig. Sogar der Innenminister …«

»Mensch, Ludger. Ich kann nicht zaubern.« Ausgerechnet jetzt platzte der Blödmann herein. Elisa hatte große Lust, ihm den Zeichenstift an den Kopf zu werfen. POK Ludger Bechstein. Eilig, eifrig, eitel – und immer knapp daneben. Warum hatte dieser Kerl so gar kein Gefühl dafür, wann er störte? Elisa arbeitete seit fast vier Jahren beim Landeskriminalamt in Wiesbaden, und genauso lange ging Ludger ihr schon auf den Geist. Nicht dass er unfreundlich wäre. Im Gegenteil. Manchmal glaubte sie, dass er sogar etwas mehr an ihr interessiert war, als es sich für einen Kollegen gehörte. Aber sie fand ihn anstrengend. Anstrengend und, was noch schlimmer war, distanzlos.

Auch jetzt beugte er sich viel zu tief über den Monitor, auf dem das Bild des Entführers entstehen sollte. Sie konnte sein Aftershave riechen. Und auch den Kaffee, den er gerade getrunken hatte. Er wandte sich an die Zeugin.

»Sah er wirklich so aus, Frau Wagner? Ist das der Mann?«

»Ludger, das ist mein Job. Okay? Und wir haben noch nicht mal richtig angefangen.«

»Ich muss aber doch wohl sagen können, dass es echt sehr eilig ist. Der Fall ist auf Priorität gesetzt worden. Und der Minister …«

»Vom Drängeln wird es nicht besser. Und schon gar nicht schneller«, sagte Elisa ärgerlich. Sie stand vom Schreibtisch auf, ging zur Tür und öffnete sie. »Lass uns in Ruhe arbeiten.«

»Ich gehe ja schon.«

Elisa und die Zeugin atmeten hörbar aus, als die Tür von außen geschlossen wurde. Irmtraud Wagner lächelte sogar. »Sie haben es auch nicht leicht.«

»Also weiter. Hatte der Täter einen Bart?«

»Nein, kein Bart.«

»Haare? Blond, dunkel?«

Irmtraud Wagner zögerte einen Moment. »Das weiß ich nicht. Er hatte etwas auf dem Kopf. Ich glaube, eine Baseballkappe – nennt man das so?«

»Schirmmütze?«

»Ja, genau.«

»Und jetzt die Augen … Sie haben gesagt, an die erinnern Sie sich relativ genau.«

Schritt für Schritt wurde das Gesicht deutlicher.

»Sie sind wirklich erstaunlich gut, ganz erstaunlich …« An Irmtraud Wagners Tonfall war zu hören, dass Elisas Fähigkeiten sie beeindruckten. »Das ist schon ganz dicht dran. Warten Sie, vielleicht die Augen etwas tiefer …«

Elisa schaute dem Mann auf dem Monitor ins Gesicht. Was war das für ein Kribbeln, das plötzlich schmerzhaft ihre Wirbelsäule hinaufstieg? Die Innenflächen ihrer Hände wurden feucht.

»Die Augen – etwa so?«

»Ja, das könnte hinkommen. Vielleicht noch etwas größer und … ja genau.« Irmtraud Wagner sah sie irritiert an. »Ist alles in Ordnung?«

Der Stift rutschte aus Elisas Hand.

»Sie sind ja ganz bleich.«

Elisa griff sich an die Stirn. »Vielleicht … ich glaube. Ich glaube, ich muss mal zur Toilette. Entschuldigen Sie.«

Sie presste sich die Hand vor den Mund und hätte Irmtraud Wagner fast umgerissen. Wie von Sinnen rannte sie über den Flur. Vor dem Spiegel im Waschraum stützte sie sich ab und blickte in ihr Gesicht. Es war weiß wie die Kacheln ringsherum. Das Spiegelbild verschwamm. Sie sah den Mann vor sich, den sie gerade gezeichnet hatte. Dieses Gesicht. Kalter Schweiß schoss aus allen Poren ihrer Haut. Ihr Herz raste. Was sie fühlte – war Todesangst.

2

Vor dem Gebäude war es kalt, und Elisa hatte vergessen, ihre Jacke zu holen. Sie verschränkte die Arme, knetete mit den Handflächen ihre Oberarme durch. Immerhin hatte sie es noch geschafft, Ludger zu informieren. Sollte der sich doch um die Zeugin kümmern.

»Ich muss mal raus, mir ist irgendwie nicht gut.«

»Nicht gut« war eine glatte Lüge. Das Gefühl war einfach grauenhaft. So schrecklich, dass ihr Verstand wie ausgeschaltet schien. Nur ganz langsam setzten die Gedanken wieder ein.

Konnte das wirklich Er sein?

Die Bilder blitzten in ihrem Kopf auf wie vom Gewitter erleuchtete Szenen. Bruchstücke erschienen im Sekundentakt und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Angst schnürte ihre Kehle zu.

War es denn möglich, dass nach zwanzig Jahren derselbe Entführer wieder zugeschlagen hatte?

Sie sah das Verlies vor sich, als sei alles erst gestern gewesen: sie und Mara. Nackt, gefesselt, zitternd vor Schrecken, Schmerzen und Kälte. Der dunkel gekleidete Mann. Der hereinkommt wie ein Schatten. Der mal ihr, mal Mara eine Spritze setzt und danach Notizen auf seinem Klemmbrett macht. Der dann damit beginnt, Mara für einige Zeit aus dem Verlies zu holen und nach oben zu bringen. Bis Mara nicht mehr zurückkehrt.

Maras Schreie werde ich nie vergessen. Warum konnte ich ihr nicht helfen? Warum hat er sie genommen? Warum nicht mich? Warum bin ich geflohen, ohne mich um sie zu kümmern?

Tränen rannen über ihr Gesicht. Laufen, beschloss sie. Laufen, weglaufen, alles herauslaufen.

Der Pförtner kannte Elisa. Er machte das Tor auf, verzichtete auf die eigentlich auch beim Verlassen des Geländes vorgeschriebene Kontrolle.

»So, wie Sie rennen, schaffen Sie es noch nach Olympia, Frau Lowe.« Er lachte.

Als sie die Waldstraße erreicht hatte, ließ die Verkrampfung nach. Ihre Angst wurde zu Wut. Wut über das, was geschehen war. Damals. Immerhin konnte sie wieder freier atmen. Wie immer, wenn die Vergangenheit sie einholte, legte sie all ihren Zorn in ihren Lauf. Sie ignorierte das Hupen, als sie im Slalom durch den fließenden Verkehr auf der Schiersteiner Straße joggte. Ein Autofahrer zeigte den Stinkefinger. Sie drehte sich kurz um und streckte ihm die Zunge raus. Ohne recht zu wissen, warum, bog sie rechts ab, folgte ein paar Meter der Bahnlinie, dann wieder links. Um sie herum wurde es grüner. Der Verkehrslärm war nur noch gedämpft zu hören.

Sie spürte, welches Ziel sie hatte. Nach zehn Minuten war sie da. Sie erreichte den Sauerlandpark. Hier hatte er sie geschnappt. Sie und Mara. Vor zwanzig Jahren. Sie setzte sich auf eine Bank, streckte die Beine aus und schloss die Augen.

Ich will, dass er endlich gefasst wird. Und ich will wissen, was er mit Mara gemacht hat.

Es war, als würde sie die Kälte des Kellers wieder spüren, die Schreie ihrer Freundin wieder hören. »Mara«, flüsterte sie. »Wenn ich doch nur etwas für dich hätte tun können.«

Aber jetzt kann ich etwas tun.

Sie wusste, was ihre Aufgabe war.

Elisa stand auf, schüttelte sich noch einmal, als könnte sie Angst und Schmerz einfach herausschleudern. Sie lief den Weg zurück, den sie gerade genommen hatte. Ihre Beine flogen über den Kiesweg, dann über den Asphalt. Diesmal brauchte sie sogar nur neun Minuten. Und sie war noch nicht einmal außer Atem. Sie würde jetzt sofort beginnen, das beste Phantombild zu zeichnen, das sie je gemacht hatte. Sie würde sich mehr anstrengen als je zuvor. Sie würde jetzt endlich dafür sorgen, dass Er geschnappt wurde.

Als sie ihr Büro betrat, war Irmtraud Wagner nicht mehr da. Ludger lächelte sie an.

»Wieder besser? Was war denn?« Aber er wartete gar keine Antwort ab. »Dein Bild ist klasse. Wir haben es schon in die Fahndung gegeben. Die Wagner hat gemeint …«

»Das hätte ich aber gerne selbst entschieden.« Mit einem Schnauben ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen.

»Du hast doch gesagt, es ist fast fertig.«

»Ja, fast. Fast ist nicht fertig.«

»Jetzt komm schon. Außerdem bist du einfach abgehauen. Also, ich meine – was war eigentlich los?«

Für einen Moment überlegte sie, ob sie Ludger alles erzählen sollte. Vielleicht täte das sogar gut.

»Was weiß man über den entführten Jungen?«, fragte sie.

Ludger hob abwehrend die Hände. »Du weißt, dass du nur die Zeichnung machen sollst. Nicht wieder ›Detective Lowe, very special Agent‹.«

»Ha, ha.« Die Idee, Ludger einzuweihen, verschwand so schnell aus ihrem Kopf, wie sie gekommen war. »Blödmann.«

Ludger hob eine Augenbraue. »Echt, Elisa. Du weißt schon noch – diese Unfallsache damals.«

Wie hätte sie es vergessen können. Vor zwei Jahren hatte sie geglaubt, einen von ihr gezeichneten Unfallfahrer auf der Straße erkannt zu haben, und war ihm auf eigene Faust hinterhergefahren. Aber für filmreife Verfolgungsjagden sollte man lieber Stuntman gelernt haben. Phantombildzeichnerin jedenfalls war mit Sicherheit nicht die richtige Ausbildung dafür. Das hatte sie schmerzvoll begreifen müssen. Am Ende hatte sie den Mann aus den Augen verloren und beim Versuch, ein Stück abzukürzen, das Fahrwerk ihres neuen Polos ruiniert.

»Also, wer ist nun der Junge? Ein Prominentenkind? Millionärsfamilie? Oder geht es gar nicht um Geld?«

»Ich weiß es selbst nicht.« Ludgers Blick wurde ernst. »Aber die Sache wird sehr wichtig genommen. Wir können ja mal rübergehen ins Präsidium.« Er sah auf die Uhr. »Gleich ist Lagebesprechung.«

Diesmal zog Elisa ihre Jacke über. Sie gingen den schmalen Fußweg entlang an den Tennisplätzen vorbei.

»Wer darf hier eigentlich spielen?«, fragte sie.

»Wir jedenfalls nicht. Ich glaube, die Plätze gehören dem Ingenieurbüro. Oder sie haben sie an das Fitnessstudio nebenan verpachtet. Ist aber egal. Ich bin sowieso eine Vollniete im Tennis.« Ludger grinste.

Nicht nur im Tennis, dachte Elisa und musste kichern.

»Was ist so komisch?« Ludger blieb stehen.

Elisa presste die Lippen zusammen, um das Kichern zu beenden. »Lass uns schneller gehen. Die Sitzung fängt sicher gleich an.«

Am Eingang zum Polizeipräsidium hielten sie kurz ihre Dienstausweise hoch und wollten durch die Automatiktür gehen, aber die blieb verschlossen.

»Elisa Lowe, Ludger Bechstein vom Landeskriminalamt«, pampte Ludger den Mann im Glaskasten an und wedelte noch einmal mit seinem Ausweis.

»Zurzeit nur vorangemeldete Besucher«, schnarrte es durch den Lautsprecher.

»Das kann ja wohl …« Ludgers Gesicht lief rot an.

Der Pförtner setzte eine selbstgefällige Miene auf. »Ohne Ausnahmen.«

»Schon gut.« Elisa zog ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Sie hatte kaum aufgelegt, als das Telefon in der Pförtnerloge klingelte. Der arrogante Gesichtsausdruck des Aufpassers wich einem devoten Nicken. Er räusperte sich, und es knackte heftig im Lautsprecher, der seine Stimme in den Vorraum übertrug.

»Bitte entschuldigen Sie, Frau Lowe. Selbstverständlich dürfen Sie …«

Die Tür ging auf.

»Na endlich«, knurrte Ludger. »Wie hast du das hingekriegt?«

»Kontakte …« Mehr wollte sie nicht verraten. Nicht ihm. Elisa ging neben Ludger die Treppe hinauf zum Konferenzraum. Ihr Herz klopfte. Sie würde gleich Einzelheiten über die Kindesentführung erfahren. Und was, wenn sie die Details nicht ertrug? Wenn das entsetzliche Bildergewitter in ihrem Kopf wieder losschlug? Wenn sie sich nicht beherrschen könnte und vor all den Kollegen die Fassung verlöre?

3

Als sie den Saal betraten, war der Beamer schon an. Das von Elisa erstellte Phantombild erstrahlte in zwei mal drei Metern Größe vorne an der Leinwand.

»Ich habe gesagt, es ist noch nicht ganz fertig«, flüsterte sie Ludger zu.

»Das Bild ist super. Wenn du bloß nicht immer –«

Im selben Augenblick eröffnete Jürgen Bender die Sitzung.

»Wow, der Chef himself.« Ludger setzte sich kerzengerade auf einen Stuhl. Offenbar bemühte er sich, einen engagierten Eindruck zu machen.

Elisa zog die Stirn kraus. »Ist doch klar, dass Bender das macht – bei so einer Riesensache.«

Der Polizeipräsident lächelte in ihre Richtung. »Das Bild wirkt vielversprechend. Eine gute Basis für unsere Arbeit, glaube ich. Vielen Dank, Frau Lowe. Wollen wir nur hoffen, dass jemand den Mann erkennt.«

Seine Miene wurde wieder ernst. »Als Erstes möchte ich Sie aber alle um äußerste Diskretion bitten. Was wir gar nicht gebrauchen können, ist ein Medienauflauf vor dem Haus der Familie des entführten Jungen. Ich werde deshalb in dieser großen Runde auch keine Details nennen. Bitte verstehen Sie das nicht als Misstrauen gegen jeden Einzelnen von Ihnen, aber –«

»Die Paparazzi wissen doch sowieso schneller Bescheid, als wir gucken können.«

Die Stimme kam aus der letzten Reihe, und sie gehörte einem jungen Beamten mit Schnurrbart und Ohrring. Elisa hatte ihn noch nie gesehen.

»Ich darf doch bitten, bei dem Ernst der Lage auf Zwischenrufe zu verzichten.« Bender richtete sich in seinem Stuhl auf. Die angespannte Stimmung im Saal war überdeutlich.

»Denen geht der Arsch auf Grundeis, wenn du mich fragst«, flüsterte Ludger in Elisas Ohr. »Das müssen ganz hohe Tiere … die Familie mit dem Jungen, meine ich.«

»Und ich dachte, wir hören jetzt hier alles ganz genau. Ich hatte fast …« Sie verstummte, als Polizeipräsident Bender zu ihnen hinübersah.

»Ruhe bitte.«

Ludger und Elisa pressten die Lippen zusammen.

»Ich komme jetzt zum Überblick über das Geschehen, soweit es uns bekannt ist.« Bender griff nach seinem Laserpointer. »Ein unbekannter Täter – der dem Mann auf diesem Bild hoffentlich sehr ähnlich sieht – hat heute in den frühen Morgenstunden einen siebenjährigen Jungen in der Drudenstraße abgepasst und verschleppt.«

Das Bild auf der Leinwand wechselte, und ein grinsendes Kindergesicht erschien.

»Wie ich eben sagte, geben wir aufgrund der besonderen Sachlage den Namen des entführten Jungen noch nicht bekannt, ich bleibe zunächst einmal bei ›dem Siebenjährigen‹ – wir werden sehen, wie im weiteren Verlauf der Ermittlungen … Also, dieser Junge hier wurde heute Morgen höchstwahrscheinlich entführt. Eine Zeugin hat beobachtet, wie er von diesem Mann …« Wieder wechselte das Bild, zum zweiten Mal erschien Elisas Zeichnung – »… von diesem Mann ins Auto gezerrt wurde. Bei der Familie ist inzwischen bereits ein Brief eingetroffen. Es wird die unerhörte Summe von …«

Die dunkelblonde Frau neben Bender neigte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Also das geht vielleicht doch zu weit jetzt.« Bender wirkte verärgert. »Wenn wir nicht einmal mehr die Summe … also gut. Dann eben: Bei der Familie ist inzwischen eine Lösegeldforderung über einen hohen Betrag eingegangen.«

Er begann damit, die Aufgabenverteilung zwischen den Kommissariaten zu erklären.

»Wir können genauso gut gehen«, murrte Ludger. Ausnahmsweise musste Elisa zugeben, dass er recht hatte. Diese Konferenz war ein Witz.

»Wer nichts zu sagen hat, redet am meisten.«

Ludger stimmte ihr zu. Als sie das Gebäude verließen, hatte es zu nieseln begonnen.

»Warum sagen die nicht einmal, wie viel Lösegeld gefordert wird?«, fragte er. »Das ist schon irgendwie bekloppt, oder?«

»Na, das könnte durchaus ein Hinweis sein.« Elisa blieb stehen. Ludger hastete weiter. Der Regen war jetzt heftiger.

»Jetzt mach schon, wir werden ja total nass.«

Wenn er es nicht wissen will, dann eben nicht, dachte sie. Im Laufschritt kehrten sie zurück ins LKA. Schon in der Tür klingelte Ludgers Handy.

»Ja, natürlich«, hörte Elisa ihn sagen. »Ja, komme schon. Ja, gleich …«

Sie grinste. Immer schön dienstbeflissen, der Herr Kollege. Und den einzigen halbwegs brauchbaren Hinweis in der Konferenz hatte er nicht mitbekommen.

4

Sie hatte das Telefon schon zweimal in die Hand genommen und wieder hingelegt. Warum zum Teufel machte es sie so nervös, Silviu anzurufen?

Ach Quatsch, ich lasse das. Bestimmt weiß er auch nichts.

Silviu Thoma war Kameramann und Fotograf. Elisa hatte ihn vor einem halben Jahr kennengelernt. Er war zusammen mit einem jungen Typen gekommen, der sich als Reporter für ein Regionalmagazin vorgestellt hatte und einen Bericht über ihre Arbeit als Phantombildzeichnerin machen wollte. Das Filmchen war ganz nett geworden, aber das hatte nicht so sehr an dem Reporter gelegen. Sondern sehr viel mehr an Silviu. Seine Bilder waren einfach 

»Verdammt noch mal.« Elisa sagte den Satz so laut, dass sie über ihre eigene Stimme erschrak.

Als er damals mit den Filmaufnahmen fertig gewesen war, hatte Silviu ihr ein verschmitztes Lächeln geschenkt – und eine Visitenkarte. »Hat viel Spaß gemacht, mit Ihnen zu arbeiten, Elisa. Vielleicht trifft man sich mal wieder. Würde mich echt freuen.«

Jetzt drehte sie die Visitenkarte in der Hand hin und her. Das Ding war schon ganz abgegriffen. Es war nicht das erste Mal, dass sie überlegte, einfach anzurufen. Sie hatte schon oft daran gedacht. Aber nicht gewusst, was sie sagen sollte. »Hallo, wie geht es Ihnen?« war ja wohl ziemlich dämlich und kein Grund für einen Anruf. Doch diesmal hatte sie einen Anlass. Das müsste es leichter machen. Eigentlich. Oder eben auch nicht. Sie schloss die Augen, atmete tief durch.

Du bist doch sonst kein Feigling, Elisa.

Schließlich wählte sie die Nummer. Es klingelte viermal, und sie überlegte schon, wieder aufzulegen, als er sich meldete.

Er sagte nur »Hallo«, aber sie erkannte die Stimme sofort.

»Silviu … äh … Herr Thoma?«

»Richtig. Silviu Thoma. Und wer ist da?«

»Elisa Lowe, Landeskriminalamt.«

»LKA?« Das Staunen in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Was hab ich denn jetzt schon wieder …« Er räusperte sich. »Moment bitte. Lowe? Elisa Lowe? Sie sind doch …«

»Ja, die Zeichnerin.«

»Das ist nett, dass Sie sich mal melden. Wie geht es Ihnen?«

»Danke. Ich habe einen bestimmten Grund, weswegen ich anrufe. Könnten Sie mir vielleicht helfen?«

»Aber gerne.«

Stille in der Leitung.

Ein kurzes Lachen. Elisa erinnerte sich an das Lachen. Es gefiel ihr.

»Ja und womit?«

»Womit was?«

»Womit ich Ihnen helfen kann, Frau Lowe.«

Frau Lowe – bei den Dreharbeiten hatte er immer Elisa zu ihr gesagt.

»Ich möchte Sie etwas fragen.« Was zum Teufel hatte sie da eigentlich vor? Und warum? Sie könnte auch zurückfragen, wie es ihm ginge, und das war es dann.

»Hallo – sind Sie noch dran?«

Wenn sie es nicht tat, würde es sich anfühlen, als würde man die Treppe vom Drei-Meter-Brett wieder hinuntersteigen. Fast geschafft war eigentlich schlimmer als gar nicht probiert. Sie holte tief Luft.

»Wir haben da einen Entführungsfall. Und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht wissen … also, ob Sie vielleicht schon auf dem Weg zu dem Haus der Familie sind. Und ob Sie mir sagen können, wie die Leute heißen.«

Wieder ein Moment der Stille. Dann brach Silviu Thoma in ein derartiges Gelächter aus, dass Elisa den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten musste.

»Das ist gut …« Noch eine Lachsalve. »Das ist echt … einmalig. Die Bullen fragen bei mir nach. Das hatte ich ja noch nie. Entschuldigung, dass ich …« Die nächste Lachsalve war so heftig, dass er husten musste.

»Was ist daran so komisch? Wissen Sie denn, wer die Leute sind, oder wissen Sie es nicht?«

»Elisa, hören Sie …« – wenigstens sagte er nicht wieder »Frau Lowe« – »… also, Sie haben keine Ahnung, wie viele Bul… wie viele Beamte ich heute Morgen schon angerufen habe, um zu erfahren, wo das Entführungsopfer wohnt. Die behaupten allerdings alle, sie wissen es nicht. Obwohl das natürlich gelogen ist. Das heißt, wenn nicht einmal Sie … Also ehrlich, Elisa, dass jemand wie Sie, also jemand von der Polizei, bei mir, dem Paparazzo, anruft – das ist echt cool.«

Vielleicht war die Idee ja auch einfach nur bescheuert gewesen. Sie könnte sich entschuldigen, ihm einen schönen Tag wünschen und auflegen. Sie könnte das alles einfach vergessen. Aber dann würde sie nicht weiterkommen. Und dass sie weiterkommen wollte, spürte sie überdeutlich. Sie musste einfach weiterkommen. Sie musste herausfinden, ob Er etwas mit der Entführung zu tun hatte. Und da war etwas in Silvius Stimme, das ihr ein gutes Gefühl gab. Deshalb sprach sie weiter:

»Kennen Sie sich vielleicht aus mit der Wiesbadener Oberschicht?«

»Warum?«

»Ich weiß nur so viel: Das müssen extrem reiche Leute sein. Der PP hält sogar die Summe der Lösegeldforderung unter der Decke. Das habe ich noch nie erlebt.«

»Oha.« Sie konnte hören, wie Silviu lang gezogen ausatmete. »Sie meinen eine Million oder mehr?«

»So wie das klang, würde ich sagen, zehn Millionen oder mehr.«

»Da kommen nicht mehr sehr viele in Frage. Erst recht nicht mit einem siebenjährigen Sohn.«

»Und wer?«

Silviu zögerte einen Moment. Dann sagte er: »Man müsste einfach mal vorbeifahren. Meist sieht man sehr schnell, wer es ist. Man bekommt so ein Gespür dafür. Wenn man oft Häuser oder Personen gesucht hat … Das ist fast, als gäbe es eine innere Magnetnadel, die vom richtigen Ort angezogen wird. Wollen Sie …«, Elisa meinte an seiner Stimme zu hören, wie er ganz leicht schmunzelte, »… wollen Sie vielleicht mitfahren?«

Die Frage kam zu plötzlich, um lange nachzudenken. Sie hatte das Gefühl, gar nicht selbst entschieden zu haben. Sie straffte ihre Schultern, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann hörte sie sich selbst sprechen, als sei sie eine ganz andere. Diese andere schien gar keine Bedenken zu haben, sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang einzulassen. Diese andere vertraute Silviu, obwohl sie ihn kaum kannte, und sagte laut und deutlich:

»Ja, sehr gerne. Ich komme mit.«

»Ich hole Sie in zehn Minuten ab. Bis gleich.«

Mit dem Hörer in der Hand starrte Elisa aus dem Fenster. Was sie da tun wollte, verstieß gegen so ziemlich alle ihre Dienstvorschriften. Und außerdem war es garantiert brandgefährlich. Und das alles war ihr gerade völlig egal.

5

»Warum interessiert dich das eigentlich so?« Silviu lenkte seinen C4 mit der linken Hand. Mit der rechten drückte er so heftig auf dem Bildschirm des Navis herum, dass Elisa fürchtete, die Scheibe könnte brechen.

»Ich nehme an, du fährst jetzt nach Sonnenberg?«, fragte sie, ohne seine Frage zu beantworten. »Weil da die meisten von den Wohlhabenden, den Reichen, also …« Sie hatten bereits einen vergeblichen Versuch in Dotzheim hinter sich. Aber die Familie, die Silviu im Auge gehabt hatte, war seit einer Woche verreist, wie sie von einem Nachbarn erfahren hatten, und kam deshalb nicht in Frage.

»Ich hab dich was gefragt, Elisa.«

Verdammt, der Kerl war aufmerksamer, als sie gedacht hatte. Und er sagte einfach »du« zu ihr. Aber es klang natürlich und freundlich bei ihm. Nicht so aufgesetzt und künstlich wie das gewaltsame Duzen, das Radiosender und Möbelhäuser immer häufiger durchzusetzen versuchten.

»Weiß nicht. Interessiert mich einfach. Wegen des kleinen Jungen – vielleicht. Muss doch schlimm für ihn sein.«

»Mmh.« Silviu klang nicht so, als wäre er mit dieser Auskunft zufrieden. »Nein, nicht nach Sonnenberg. Meinst du echt, dafür brauche ich das Navi?«

»Aber es ist doch die Richtung.« Sie fuhren am Hauptbahnhof vorbei.

»Mein Lieblingshochhaus.« Silviu zeigte auf das leer stehende R+V-Gebäude auf der linken Seite. »War ich vorgestern drin – zum Drehen. Sehr geiles Ambiente: abgerissene Wandverkleidungen, raushängende Kabel. Riecht allerdings ziemlich übel, weil die Penner immer mal ein anderes Zimmer zur Toilette machen.«

»Darf man denn da rein?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber du warst drin.«

»Musste ich ja wohl. Bilder von außen kann jeder.«

Dass Männer immer dazu neigen, mit ihren halb legalen Heldentaten anzugeben. Sogar Silviu.

Elisa zog eine Augenbraue hoch. »Also – wohin fahren wir?«

»Aufs Land.«

Sie sah ihn erstaunt an. Silviu ignorierte die Geschwindigkeitsbeschränkung. Wenige Minuten später sah die Umgebung schon ganz anders aus. Sie wirkte nicht, als wären sie in der Landeshauptstadt, sondern irgendwo in der Provinz.

Rechts von ihnen lag ein Acker, links stand eine Baumreihe. Es nieselte schon wieder. Der Scheibenwischer quietschte.

Auf einmal bekam Elisa Angst. Was, wenn er sie verschleppte? Wenn er die Situation ausnutzen wollte? Sie kannte ihn doch eigentlich gar nicht.

»Kloppenheim?«, fragte sie schließlich, als sie das Ortsschild sah. »Das ist aber nicht gerade die High-Society-Wohngegend.«

»Nein, ist es nicht. Aber eine Familie lebt da, die muss stinkreich sein. Und einen kleinen Sohn haben die auch. Echtes Understatement, verstehst du? Ich war mal da. Von außen nur ein hübsches Fachwerkhaus. Aber innen: voll der Luxus. Das glaubt man kaum.«

»Was hast du denn da gemacht?«

»Es ging um eine Heizung. So eine brandneue Anlage. Mit Holzpellets. Der Mann hat eine Firma, die so was herstellt. Er wollte sein neuestes Modell im Regionalfernsehen zeigen. War für ihn kostenlose Werbung. Da war er ganz scharf drauf. Und weil sonst noch keiner so eine Heizungsanlage hatte, durften wir in seinem Privathaus drehen. Es war ihm allerdings total wichtig, dass niemand die Adresse erfährt. Und seine Frau hat immerzu gesagt, dass sie das eigentlich gar nicht gut findet, dass wir da sind.«

»Und wieso meinst du, dass gerade die …?«

»Doof ist, dass ich die Anschrift nicht mehr habe. Ist schon ein paar Jahre her.«

»Hallo – ich hab dich was gefragt.«

Silviu lachte. »Du magst das also auch nicht.«

»Was?«

»Wenn man deine Fragen nicht beantwortet.«

»Wieso?«

»Ich will auch, dass man mir antwortet. Und du hast noch immer nicht gesagt, warum du so scharf auf den Fall bist.«

»Ich bin nicht …« Elisa zögerte. Sie konnte doch unmöglich diesem Mann, den sie kaum kannte, das schrecklichste Ereignis ihres Lebens, ihren persönlichen Alptraum, anvertrauen. Andererseits: Welche vernünftige Erklärung konnte sie dafür geben, dass sie auf eigene Faust in einem Entführungsfall ermitteln wollte?

»Vielleicht sollten wir es einfach lassen«, sagte sie schließlich, Resignation in der Stimme.

Silviu wandte kurz den Blick von der Straße ab. Er lächelte. »Nein, ich muss das ja gar nicht so genau wissen.« Kurze Pause. Dann: »Also – warum gerade diese Familie? Ich kann es dir nicht wirklich sagen. Das ist so ein Gefühl. Und …« Er unterbrach seinen Satz, riss erschrocken das Lenkrad herum. Wie aus dem Nichts war ein Radfahrer vor ihnen aufgetaucht. »Scheiße, Mann, du kannst doch nicht einfach direkt vor meine Nase fahren.«

Gerade noch rechtzeitig schlitterte der C4 über die Gegenspur an dem Radler vorbei.

Elisa sah in den Spiegel. »Das ist so ’n Opa auf dem Rad. Der fährt, als wäre er nicht richtig bei Sinnen. Nicht zu fassen.« Sie sah den Mann rechts in einen Wirtschaftsweg einbiegen. Sein Fahrrad schwankte bedenklich.

»Das war verdammt knapp«, stöhnte Silviu und hielt am Straßenrand an. »Mann, mir zittern die Knie. Ich hab gedacht, jetzt erwisch ich ihn. Als hätte ich das Krachen schon gehört. Einen Menschen anfahren – das ist irgendwie das Schlimmste. Wenn man sich vorstellt, man hat dann Schuld, dass er ewig gelähmt ist. Oder tot.«

Wenn man Schuld hat, dass jemand tot ist.

Ein paar Jahre lang hatte Elisa es geschafft, dieses Gefühl zu verdrängen. Jetzt war es wieder da.

Habe ich Schuld an Maras Tod? Warum konnte ich fliehen und sie nicht?

Sie fröstelte.

Das Auto stand zur Hälfte auf dem Bürgersteig, der Motor lief noch. Ein Mann mit einem Rollkoffer runzelte die Stirn, weil er nur schwer vorbeikam. Er verschwand in der Tür eines Gasthofs, von dessen grünen Fensterläden die Farbe abzublättern begann.

»Willst du mal aussteigen?« Elisa tippte Silviu leicht auf die rechte Hand, die noch immer das Lenkrad umklammert hielt. »Sollen wir in dem Hotel nach einem Glas Wasser fragen?«

»Aussteigen reicht.« Neben dem Wagen drückte Silviu das Kreuz durch und stemmte die Arme in die Hüften. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn.

»Weißt du, Elisa …«

»Ja …«

Was will er mir erzählen? Gibt es auch in seinem Leben einen Alptraum? Etwas, das er mit sich herumträgt?

Silvius Gesichtsfarbe wurde wieder frischer. »Weißt du«, fuhr er fort, »ich glaube, wir sollten jetzt rechtsherum fahren und dann noch einmal rechts. Irgendwie meine ich, das Haus war in der Nähe von diesem Bach.«

Sie stiegen wieder ein und bogen in einen schmalen Weg ein, dessen Asphaltdecke löcherig war.

»Alles wieder okay mit dir?« Elisa sah abwechselnd nach vorn und nach links zu Silviu.

»Völlig okay. Das war nur … also eben …« Er sprach nicht zu Ende. »Da vorne. Das Fachwerkhaus mit den Schnitzereien im Gebälk. Ich glaube, das ist es.«

»Und jetzt?« Elisa überfielen plötzlich Zweifel. »Wir können ja wohl kaum klingeln und fragen: ›Entschuldigung, wurde Ihr Kind entführt?‹ – Oder was meinst du?«

»Nee, wohl kaum.«

Langsam fuhren sie an dem Haus vorbei und bogen in die nächste Seitenstraße ein.

»Lass uns mal von hinten schauen«, schlug Silviu vor.

»Das ist doch viel zu weit weg.«

»Wart doch ab, Elisa. Hier.« Er parkte den C4 unter einer alten Birke.

»Was – hier?«

»Wir gehen durch die Gärten. An dem Kirchturm da vorne können wir uns orientieren. Wenn wir genau in die Richtung gehen, müssten wir am Grundstück der Familie rauskommen.«

»Aber wir dürfen doch nicht …«

»Ja, wenn du nur machen willst, was wir dürfen, dann können wir es auch gleich lassen.«

»Und wenn das wieder nicht das richtige Haus ist?« Elisas Stimme klang auf einmal dünn, mutlos. Genau so, wie sie sich fühlte.

»Das ist sogar höchstwahrscheinlich nicht das richtige Haus. Schließlich gibt es noch mehr reiche Leute in und um Wiesbaden. Aber wenn wir gar nicht erst suchen, finden wir auf keinen Fall etwas heraus. Also was jetzt – kommst du mit, oder soll ich alleine?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, stapfte Silviu durch das nasse Gras. Elisa hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie spürte ein eigenartiges Druckgefühl im Hals und ein Ziehen in der Magengegend. So, als würde sie gleich bei etwas Verbotenem erwischt werden. Immer wieder drehte sie sich um. War da nicht ein Geräusch? Wahrscheinlich spielten ihre Nerven ihr nur einen Streich. Das war ja auch wirklich kein Wunder nach dem Schock mit dem Phantombild. Unruhig scannte sie die Gärten rechts und links mit ihren Augen ab. Dort hinter dem Busch, hatte sich da gerade etwas bewegt?

»Kommst du jetzt, oder was?«, zischte Silviu.

Sein Orientierungssinn war bemerkenswert. Sie durchquerten drei Gärten, zwängten sich durch mehrere dicht bepflanzte Rosenbeete und standen schließlich auf einem frisch gemähten Rasenstück, an dessen Ende die Rückseite des Fachwerkhauses mit den durch Schnitzereien verzierten Balken zu sehen war.

»Wie heißen die Leute eigentlich?«, flüsterte Elisa.

»Sandmann. Nein, könnte auch Sander sein. Ich glaube, Sander. Ja, das ist richtig, meine ich. Oder … nein, ich bin doch nicht ganz sicher. Aber irgendwas mit Sand …«

»Sieht aber hier auch nicht nach Entführung aus, oder?«

»Wieso meinst du?«

»So wenig los.«